Dunkle Gier
Zacarias ist der einzige seiner Brüder, der noch ohne Seelengefährtin ist, und daher fest entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Als er auf den erlösenden Sonnenaufgang wartet, wird er gegen seinen Willen von einer jungen Frau...
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Produktinformationen zu „Dunkle Gier “
Zacarias ist der einzige seiner Brüder, der noch ohne Seelengefährtin ist, und daher fest entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Als er auf den erlösenden Sonnenaufgang wartet, wird er gegen seinen Willen von einer jungen Frau gerettet. Zacarias hatte in den letzten Jahren nur wenig Kontakt zu Menschen und so eröffnet die starrköpfige Marguarita dem Karpatianer eine vollkommen neue Welt. Alles könnte sich zum Guten wenden, doch Zacarias’ Todfeind ist ihm auf der Spur.
Klappentext zu „Dunkle Gier “
Zacarias de la Cruz ist ein gefürchteter und mächtiger Anführer der Karpatianer. Er hat schon vor langer Zeit die Fähigkeiten, Farben zu sehen und Gefühle zu empfinden, verloren. Nun fürchtet er, bald zum Vampir zu werden und beschließt nach einem weiteren blutigen Kampf, kein ihn nährendes Menschenblut mehr zu trinken, sondern zu sterben. Denn auch seine Seelengefährtin hat er, im Gegensatz zu seinen Brüdern, noch nicht gefunden. Marguarita ist eine junge Frau mit telepathischen Fähigkeiten und arbeitet auf einer Hacienda in Peru mit Pferden. Sie findet Zacarias, während er auf den für ihn totbringenden Sonnenaufgang wartet und rettet ihn gegen seinen Willen. Aus Angst vor ihm flüchtet sie von der Hacienda, denn sie fürchtet seine Rache.
Während seiner Suche merkt Zacarias, dass er die junge Frau nicht aus Rachegelüsten heraus sucht, sondern dass sie seine Seelengefährtin ist, die ihn plötzlich wieder Gefühle erleben lässt. Mit ihrer Entschlossenheit und ihrer Stärke ist Marguarita mehr als nur passend, um mit seinem starken männlichen willen klarzukommen und ihm Paroli zu bieten.
Er beginnt die Welt mit anderen Augen zu sehen. Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt – sein Todfeind ist ihm auf der Spur …
Lese-Probe zu „Dunkle Gier “
Dunkle Gier von Christine Feehan1 . Kapitel
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Rauch, der von den zahlreichen Feuern im umliegenden Regenwald gespeist wurde, stieg in brüllenden Wellen um ihn auf und verbrannte ihm die Lunge. Es war ein langer, erbitterter Kampf gewesen, aber er war vorbei, und Zacarias war erschöpft. Der größte Teil des Haupthauses war verbrannt, aber sie hatten zumindest die Wohnstätten der Leute retten können, die ihnen dienten. Es hatte nur wenige Tote gegeben, doch jeder einzelne war betrauert worden -- wenn auch nicht von ihm, Zacarias. Er starrte nur mit leeren Augen die Flammen an und spürte nichts; er blickte in die Gesichter der Toten, anständige Männer, die seiner Familie treu gedient hatten, sah ihre weinenden Witwen und Kinder und spürte ... nichts.
Zacarias de la Cruz blieb nur einen Moment stehen, um das Schlachtfeld zu betrachten. Wo vorher üppig grüner Regenwald gewesen war mit Bäumen, die bis in die Wolken reichten, und das Zuhause vieler wilder Tiere, stiegen jetzt Flammen und schwarzer Rauch in den Himmel auf. Der Geruch des Blutes war überwältigend; die toten, zerfleischten Körper starrten mit blicklosen Augen zu dem dunklen Himmelszelt auf. Doch dieser Anblick rührte Zacarias nicht. Er betrachtete alles wie aus einiger Entfernung und mit mitleidlosem Blick.
Wo oder in welchem Jahrhundert, spielte keine Rolle, die Szene war immer die gleiche, und er hatte in all den langen, dunklen Jahren so viele Schlachtfelder gesehen, dass er den Überblick verloren hatte. So viel Tod! So viel Brutalität! So viel Morden! So viel Zerstörung! Und er war immer mittendrin, ein schneller, grimmiger Jäger, gnadenlos, brutal und unerbittlich.
Blut und Tod waren ein Teil von ihm geworden. Er hatte so viele Feinde seines Volkes hingerichtet, dass er ohne die Jagd oder das Töten nicht mehr existieren konnte. Es gab für ihn keine andere Lebensweise. Er war ein Raubtier, das hatte er schon vor langer Zeit erkannt - wie jeder, der es gewagt hatte, sich in seine Nähe zu begeben.
Zacarias de la Cruz war ein legendärer karpatianischer Jäger, der einer fast schon ausgestorbenen Spezies angehörte, die zwar in einer modernen Welt lebte, sich aber an die alten Sitten hielt, was Ehre und Pflichtbewusstsein anging. Seine Gattung beherrschte die Nacht, schlief während des Tages und brauchte Blut zum Überleben. Nahezu unsterblich, führten Karpatianer eine lange, einsame Existenz, in der Farbe und Emotion verblassten, bis nur noch Ehre sie auf ihrem selbst gewählten Weg hielt, nach der einen Frau zu suchen, die sie vervollständigen und ihnen Farbe und Gefühle zurückgeben würde. Viele karpatianische Jäger gaben auf und töteten während der Nahrungsaufnahme, um den Rausch zu spüren - irgendwas zu spüren -, und wurden zu der abscheulichsten, gefährlichsten Kreatur, die die Menschheit kannte: dem Vampir. Und Zacarias de la Cruz, der mindestens ebenso brutal und gewalttätig war wie die Untoten, war ein Meister darin, sie zu jagen.
Blut rann aus unzähligen Wunden an seinem Körper, und die giftige Säure brannte sich bis in seine Knochen, doch er spürte, wie ihn Ruhe überkam, als er sich abwandte und sich still entfernte. Einige Feuer tobten noch, aber die konnten seine Brüder löschen. Das säurehaltige Blut, das vom Angriff der Vampire herrührte, sickerte in die stöhnende, protestierende Erde, aber seine Brüder würden sich auch darum kümmern und sie von den Giftstoffen befreien.
Seine öde, schonungslose Reise war vorbei. Endlich. Nach über tausend Jahren des Lebens in einer leeren, grauen Welt hatte Zacarias alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte.
Seine Brüder waren abgesichert. Sie alle hatten eine Frau, die sie vervollständigte. Sie waren glücklich und gesund, und er hatte die schlimmste Gefahr für sie beseitigt. Bis die Zahl ihrer Feinde sich wieder erhöhte, würden seine Brüder sogar noch stärker sein und seine Führung oder seinen Schutz nicht mehr benötigen. Er war frei.
»Zacarias ! Deine Wunden müssen versorgt werden. Und du brauchst Blut.«
Es war eine weibliche Stimme, die er da hörte. Solange, die Gefährtin Dominics, seines ältesten Freundes, würde ihrer aller Leben für immer verändern mit ihrem reinen, königlichen Blut. Und er war zu alt, zu festgefahren in seinen Gewohnheiten und viel zu müde, um die Art von Veränderungen an sich zuzulassen, die nötig waren, um in diesem Jahrhundert weiterzuleben. Er war rettungslos veraltet wie die mittelalterlichen Ritter. Der Geschmack der Freiheit war metallisch und kupferartig wie das Blut, die Essenz des Lebens, das aus ihm herausfloss.
»Zacarias, bitte!« Da war eine Bewegung in ihrer Stimme, die ihm nahegehen müsste, doch sie berührte ihn nicht. Da er nicht empfinden konnte wie die anderen, war er auch nicht durch Mitleid, Liebe oder Sanftheit umzustimmen. Er hatte keine sanftere, weichere Seite. Er war ein Killer. Und seine Zeit war abgelaufen.
Solanges Blut war ein unglaubliches Geschenk an seine Leute, das war Zacarias durchaus klar, auch wenn er es zurückwies. Wenn sie es zu sich nahmen, verlieh es Karpatianern die Fähigkeit, sich in der Sonne aufzuhalten. Karpatianer waren während der Tagesstunden verwundbar, besonders er. Je mehr sie Jäger waren -- oder Killer -, desto mehr war auch das Sonnenlicht ihr Feind. Von den meisten seiner Leute wurde Zacarias für den karpatianischen Krieger gehalten, der sich am dichtesten am Rand der Finsternis befand, und er wusste, dass das stimmte. Solanges Blut hatte ihm diesen letzten und endgültigen Grund gegeben, sich von seinem düsteren Leben zu befreien.
Mit einem tiefen Atemzug, der seine Lunge erneut mit Rauch füllte, setzte Zacarias seinen Weg fort, ohne einen Blick zurückzuwerfen oder auch nur Notiz von Solanges Angebot zu nehmen. Er hörte die alarmierten Rufe seiner Brüder, aber er ging weiter und beschleunigte sogar seine Schritte. Die Freiheit war noch weit entfernt, und er musste sie erreichen. Als er einem der letzten angreifenden Vampire, die seine Familie hatten zerstören wollen, das Herz herausgerissen hatte, hatte er gewusst, dass es nur einen Ort gab, an den es ihn zog. Es machte keinen Sinn, doch wen kümmerte das schon? Er würde trotzdem gehen.
»Bleib stehen, Zacarias!«
Er blickte auf, als seine Brüder aus dem Himmel fielen und eine solide Mauervor ihm bildeten. Alle vier. Riordan, der Jüngste, Manolito, Nicolas und Rafael. Sie waren gute Männer, und fast konnte er die Liebe zu ihnen, die er einst empfunden hatte, wieder spüren -- schwer zu fassen und gerade eben außer Reichweite. Sie verstellten ihm den Weg und hielten ihn von seinem Vorhaben ab -- aber nichts und niemand durfte sich zwischen ihn und seine Wünsche stellen. Zacarias gab ein warnendes Grollen von sich, das tief aus seiner Kehle kam, und ließ den Boden unter ihren Füßen erbeben. Sie wechselten beklommene Blicke, und Furcht flackerte in ihren Augen auf.
Diese Blicke seiner Brüder, die so große Angst vor ihm verrieten, hätte Zacarias zu denken geben müssen, doch er spürte nichts. Er hatte diesen vier Männern sämtliche kämpferischen Fähigkeiten, über die sie heute verfügten, und Überlebensstrategien beigebracht. Er hatte jahrhundertelang neben ihnen gekämpft, auf sie aufgepasst, sie angeführt, ja, einmal sogar sehr liebevolle Erinnerungen an sie gehabt. Aber nun, da er die Bürde der Verantwortung abgelegt hatte, war nichts mehr da. Nicht einmal diese schwachen Erinnerungen, um ihn aufrechtzuerhalten. Er konnte sich weder an Liebe noch an Lachen erinnern. Nur an Tod und Töten.
»Zurück!« Ein knappes Wort nur, ein Befehl -- und Zacarias erwartete, dass sie gehorchten, sowie jeder ihm gehorchte. Er hatte in seinem langen Leben unermessliche Reichtümer angehäuft, sich in den letzten Jahrhunderten jedoch nie etwas mit Geld erkaufen müssen. Ein Wort von ihm genügte, damit die Welt erzitterte und beiseitetrat, um seinen Wünschen nicht im Weg zu stehen.
Widerstrebend und viel zu langsam für seinen Geschmack tra-
ten jetzt auch seine Brüder zur Seite, um ihn vorbeizulassen. »Tu das nicht, Zacarias!«, sagte Nicolas. »Geh nicht weg!« »Lass wenigstens deine Wunden versorgen!«, fügte Rafael hin-
zu.
»Und nimm Blut zu dir!«, drängte Manolito. »Du brauchst Nahrung.«
Zacarias fuhr herum, worauf sie zurückfielen und die Furcht in ihren Augen zu schierer Panik wurde -- und er wusste, dass sie allen Grund hatten, sich zu fürchten. Die Jahrhunderte hatten ihn geformt, ihn zu einem brutalen, gnadenlosen Jäger - zu einer Tötungsmaschine -- gemacht. Es gab nur wenige wie ihn auf dieser Welt. Und er befand sich am Rande des Wahnsinns. Seine Brüder waren großartige Jäger, aber ihn zu töten würde all ihre beträchtlichen Fähigkeiten erfordern, und sie konnten sich kein Zögern leisten. Sie alle hatten ihre Seelengefährtin gefunden. Sie alle hatten Gefühle. Sie alle liebten ihn. Er dagegen spürte nichts und war ihnen gegenüber damit sehr im Vorteil.
Er hatte sie schon abgeschrieben und ihre Welt verlassen, als er ihnen den Rücken zugekehrt und sich die Freiheit genommen hatte, seine Verpflichtungen aufzugeben. Aber ihre von Kummer und Verzweiflung geprägten Gesichter ließen ihn für einen Moment in der Bewegung innehalten.
Wie mochte es sein, solch tiefen Kummer zu empfinden? Liebe zu verspüren? Überhaupt etwas zufühlen? Früher hätte er einfach an ihr Bewusstsein gerührt und mit ihnen geteilt, was sie bewegte, doch seit sie Seelengefährtinnen hatten, wollte er nicht riskieren, einen von ihnen mit der Finsternis, die er in sich trug, zu beflecken. Seine Seele war nicht nur in Stücke zerbrochen. Er hatte zu oft getötet, sich zu sehr von allen, die er schätzte, distanziert, um die, die er liebte, besser beschützen zu können. Wann war er an den Punkt gelangt, nicht mehr gefahrlos an ihr Bewusstsein rühren und ihre Erinnerungen teilen zu können? Es war so lange her, dass er sich nicht einmal mehr erinnern konnte.
»Zacarias, tu das nicht!«, bat Riordan, dessen Gesicht vom gleichen tiefen Kummer geprägt war, der sich auf denen seiner Brüder zeigte.
Er hatte viel zu lange die Verantwortung für sie getragen, um jetzt einfach wegzugehen, ohne ihnen etwas zu hinterlassen. Einen Moment lang stand Zacarias hoch erhobenen Hauptes und mit blitzenden Augen und wallendem Haar da und sah sie an. Dabei strömte unaufhörlich Blut über seine Brust und Schenkel. »Ich gebe euch mein Wort, dass ihr mich nicht werdet jagen müssen.«
Das war alles, was er für sie hatte. Sein Wort, dass er nicht zum Vampir werden würde. Nun konnte er ruhen, und diese endgültige Ruhe würde er auf seine eigene Weise suchen. Er wandte sich von ihnen und von dem Verständnis und der Erleichterung in ihren Gesichtern ab, um seine Reise anzutreten. Er hatte einen weiten Weg vor sich, wenn er vor Tagesanbruch noch sein Ziel erreichen wollte.
»Zacarias«, rief Nicolas ihm nach. »Wo gehst du hin?«
Die Frage ließ Zacarias innehalten. Wo ging er hin? Der innere Zwang war stark - unmöglich zu ignorieren. Zacarias verlangsamte dennoch seine Schritte. Wohin ging er? Warum war der Drang so stark in ihm, obwohl er doch nichts fühlte? Aber etwas war da, eine dunkle Kraft, die ihn antrieb.
»Susu -heim.« Er flüsterte das Wort, doch der Wind griff seine Stimme auf, und der leise Ton hallte in der Erde unter seinen Füßen nach. »Ich gehe heim.«
»Das hier ist dein Zuhause«, erklärte Nicolas entschieden. »Wenn du Ruhe willst, werden wir deine Entscheidung respektieren, aber bleib bei uns! Hier bei deiner Familie. Dies ist dein Daheim«, wiederholte er.
Zacarias schüttelte den Kopf. Er war getrieben von dem Drang, Brasilien zu verlassen. Er musste woanders sein, und er musste sich auf der Stelle auf den Weg machen, solange ihm noch Zeit blieb. Mit Augen, die so rot waren wie die Flammen, und einer Seele, die schwarz war wie der Rauch, verwandelte er sich und nahm die Gestalt einer großen Harpyie, eines Haubenadlers, an.
Willst du zu den Karpaten?, fragte Nicolas ihn über ihre telepathische Verbindung. Dann werde ich dich begleiten.
Nein. Ich gehe heim, wohin ich gehöre - allein. Ich muss allein gehen.
Nicolas sandte ihm seine Wärme und hüllte ihn darin ein. Kolasz arwa-arvoval! Mögest du mit Ehre sterben! Kummer schwang in seiner Stimme mit, und auch Nicolas' Herz war voll davon, aber Zacarias konnte das Gefühl nicht erwidern, nicht mal ansatzweise.
Nun war es Rafaels sanfte Stimme, die in sein Bewusstsein drang. Arwa-arvo olen isäntä, ekäm! Möge die Ehre dich aufrechterhalten, mein Bruder!
Kulkesz arwa-arvoval, ekäm! Gehe mit Ehre, mein Bruder!, fügte Manolito hinzu.
Arwa-arvo olen gaidnod susu, ekäm! Möge die Ehre dich heimführen, mein Bruder!, sagte Riordan.
Es war lange her, seit Zacarias seine Muttersprache gehört hatte. Gewöhnlich benutzten Karpatianer die Sprache und Dialekte der Orte, an denen sie sich befanden. Sie hatten andere Namen angenommen, als sie von Land zu Land gezogen waren, sogar einen Familiennamen, obwohl Karpatianer solche Namen gar nicht hatten. Zacarias' Welt hatte sich mit der Zeit unglaublich stark verändert. Jahrhunderte der Verwandlung, in denen er sich immer angepasst hatte, um dazuzugehören. Und dennoch hatte er sich nie wirklich verändert, da sein ganzes Leben sich um den Tod drehte. Und nun würde er endlich heimkehren.
Diese schlichte Feststellung bedeutete nichts - und alles. Zacarias hatte seit über tausend Jahren kein Zuhause mehr gehabt. Er war einer der Ältesten, auf jeden Fall einer der Tödlichsten. Männer wie er besaßen kein Zuhause. Nur wenige wollten ihn an ihrem Lagerfeuer haben, geschweige denn in ihrem Haus und an ihrem Herd. Was war also Daheim? Warum hatte er dieses Wort benutzt?
Seine Familie hatte in den Ländern am Amazonas und den anderen Flüssen, von denen er gespeist wurde, große Haziendas aufgebaut. Das zu kontrollierende Gebiet war sehr ausgedehnt und erstreckte sich über Tausende von Meilen, was die Überwachung schwierig machte. Doch da sie zu mehreren menschlichen Familien eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut hatten, waren die verschiedenen Häuser auch stets auf ihre Ankunft vorbereitet. Zu einem dieser Häuser würde er sich begeben, und er musste die große Entfernung dorthin noch vor der Morgendämmerung zurücklegen.
Die peruanische Hazienda lag am Rand des Regenwaldes, nur ein paar Meilen entfernt von der Stelle, wo die Flüsse sich vereinten und in den Amazonas übergingen. Selbst dieses Gebiet hatte sich mit den Jahren allmählich verändert. Seine Familie hatte sich den Anschein gegeben, mit den Spaniern in dieses Gebiet gekommen zu sein, und sich Namen ausgedacht, ohne sich darum zu scheren, wie sie klangen. Für Karpatianer spielte es keine große Rolle, wie sie von anderen genannt wurden. Natürlich hatten sie damals nicht einmal geahnt, dass sie Jahrhunderte in Südamerika verbringen würden - und diese Gebiete ihnen einmal vertrauter sein würden als ihr Heimatland.
Zacarias blickte auf das dichte Blätterdach des Regenwaldes herab, als er darüber hinwegflog. Auch der Dschungel verschwand allmählich durch ein langsames, aber stetiges Eindringen von Menschen und Maschinen, das er nicht verstand. Es gab so viele Dinge in den modernen Zeiten, die er nicht begreifen konnte - doch was machte das schon? Es war nicht mehr seine Welt oder sein Problem. Der Drang, der ihn trieb, verwirrte ihn mehr als die Erklärungen für die sich immer mehr verändernde Umwelt. Wenig erregte noch Zacarias' Neugier, doch dieser überwältigende Drang, zu einem Ort zurückzukehren, an dem er erst ein paarmal gewesen war, war irgendwie beunruhigend. Weil der Drang ein Bedürfnis war und er keine Bedürfnisse hatte. Und dass er so überwältigend war, dieser Drang, war ebenfalls sehr merkwürdig, weil nichts Zacarias zu überwältigen vermochte.
Kleine Blutströpfchen fielen in die dunstigen Wolken um die jungen Triebe der wenigen Bäume, die hier und da aus dem Blätterdach hervorragten. Unter sich konnte Zacarias die Angst der Tiere spüren, die ihn vorbeifliegen sahen. Eine Gruppe von Douroucoulis, sehr kleinen nachtaktiven Affen, hüpfte durch die Bäume und vollführte erstaunliche akrobatische Übungen auf den nicht ganz so hoch gelegenen Ästen. Einige futterten Früchte und Insekten, während andere nach Raubtieren Ausschau hielten. Normalerweise würden sie beim Anblick einer Harpyie sofort warnend loskreischen, aber als Zacarias in Adlergestalt über die Affenfamilie hinwegflog, blieben sie geradezu gespenstisch still.
Zacarias wusste, dass es nicht die Gefahr des vorüberfliegenden Raubvogels war, was diese vollkommene Stille im Wald erzeugte. Der Haubenadler saß oft stundenlang reglos in den Ästen und wartete auf die richtige Beute. Hatte er sie ausgemacht, stieß er mit verblüffender Geschwindigkeit hinab und pflückte sich ein Faultier oder einen Affen von den Bäumen, aber er jagte in der Regel nicht im Flug. Die Säugetiere versteckten sich, doch Schlangen hoben den Kopf, wenn er vorbeiflog, Insekten stiegen zu Tausenden in die Luft, und Hunderte von tellergroßen Spinnen krabbelten über die Äste und zogen in die Richtung, in die er flog.
Zacarias war an die Anzeichen gewöhnt, die auf die Düsternis in ihm hinwiesen. Selbst als junger Karpatianer war er schon anders gewesen. Seine kämpferischen Fähigkeiten waren so natürlich, als wären sie angeboren, ja ihm fast schon vor der Geburt eingeprägt worden, seine Reflexe schnell und sein Verstand sogar noch schneller. Er besaß die Fähigkeit, eine Situation im Bruchteil einer Sekunde einzuschätzen und sofort mit einer Strategie aufzuwarten. Er tötete ohne Zögern, und seine Täuschungen waren fast unmöglich zu durchschauen.
Die Düsternis in ihm ging tief und war bereits ein Schatten auf seiner Seele gewesen, lange bevor er seine Emotionen und Farben verloren hatte -- und ihm war beides viel früher abhanden-gekommen als anderen seines Alters. Zacarias stellte alles und jeden infrage. Nur seine Loyalität seinem Prinzen und seinem Volk gegenüber war unerschütterlich, und das hatte ihm den unversöhnlichen Hass seines besten Freundes eingebracht.
Mit seinen starken Schwingen flog er in schnellem Tempo durch die Nacht, ohne einen Gedanken an seine Wunden oder das Bedürfnis nach Blut zu verschwenden. Als er die Grenze überquerte und tiefer in das Blätterdach hinunterging, spürte er, wie der innere Zwang, der ihn antrieb, stärker wurde. Es zog ihn auf seine peruanische Ranch. Er musste dort sein. Weil es ... sein musste. Der Wald erstreckte sich unter ihm mit seinem dichten Gewirr von Bäumen und Blumen, und die Luft war schwer von Feuchtigkeit. Moose und Kletterpflanzen hingen wie struppige lange Bärte von den Bäumen und reichten fast bis in die Wassertümpel, Ströme oder Bäche. Ein Gewirr von Farnen, die um Platz kämpften, kroch über lange, freiliegende Wurzeln auf dem dunklen Boden unter Zacarias.
...
Übersetzung: Ulrike Moreno
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Rauch, der von den zahlreichen Feuern im umliegenden Regenwald gespeist wurde, stieg in brüllenden Wellen um ihn auf und verbrannte ihm die Lunge. Es war ein langer, erbitterter Kampf gewesen, aber er war vorbei, und Zacarias war erschöpft. Der größte Teil des Haupthauses war verbrannt, aber sie hatten zumindest die Wohnstätten der Leute retten können, die ihnen dienten. Es hatte nur wenige Tote gegeben, doch jeder einzelne war betrauert worden -- wenn auch nicht von ihm, Zacarias. Er starrte nur mit leeren Augen die Flammen an und spürte nichts; er blickte in die Gesichter der Toten, anständige Männer, die seiner Familie treu gedient hatten, sah ihre weinenden Witwen und Kinder und spürte ... nichts.
Zacarias de la Cruz blieb nur einen Moment stehen, um das Schlachtfeld zu betrachten. Wo vorher üppig grüner Regenwald gewesen war mit Bäumen, die bis in die Wolken reichten, und das Zuhause vieler wilder Tiere, stiegen jetzt Flammen und schwarzer Rauch in den Himmel auf. Der Geruch des Blutes war überwältigend; die toten, zerfleischten Körper starrten mit blicklosen Augen zu dem dunklen Himmelszelt auf. Doch dieser Anblick rührte Zacarias nicht. Er betrachtete alles wie aus einiger Entfernung und mit mitleidlosem Blick.
Wo oder in welchem Jahrhundert, spielte keine Rolle, die Szene war immer die gleiche, und er hatte in all den langen, dunklen Jahren so viele Schlachtfelder gesehen, dass er den Überblick verloren hatte. So viel Tod! So viel Brutalität! So viel Morden! So viel Zerstörung! Und er war immer mittendrin, ein schneller, grimmiger Jäger, gnadenlos, brutal und unerbittlich.
Blut und Tod waren ein Teil von ihm geworden. Er hatte so viele Feinde seines Volkes hingerichtet, dass er ohne die Jagd oder das Töten nicht mehr existieren konnte. Es gab für ihn keine andere Lebensweise. Er war ein Raubtier, das hatte er schon vor langer Zeit erkannt - wie jeder, der es gewagt hatte, sich in seine Nähe zu begeben.
Zacarias de la Cruz war ein legendärer karpatianischer Jäger, der einer fast schon ausgestorbenen Spezies angehörte, die zwar in einer modernen Welt lebte, sich aber an die alten Sitten hielt, was Ehre und Pflichtbewusstsein anging. Seine Gattung beherrschte die Nacht, schlief während des Tages und brauchte Blut zum Überleben. Nahezu unsterblich, führten Karpatianer eine lange, einsame Existenz, in der Farbe und Emotion verblassten, bis nur noch Ehre sie auf ihrem selbst gewählten Weg hielt, nach der einen Frau zu suchen, die sie vervollständigen und ihnen Farbe und Gefühle zurückgeben würde. Viele karpatianische Jäger gaben auf und töteten während der Nahrungsaufnahme, um den Rausch zu spüren - irgendwas zu spüren -, und wurden zu der abscheulichsten, gefährlichsten Kreatur, die die Menschheit kannte: dem Vampir. Und Zacarias de la Cruz, der mindestens ebenso brutal und gewalttätig war wie die Untoten, war ein Meister darin, sie zu jagen.
Blut rann aus unzähligen Wunden an seinem Körper, und die giftige Säure brannte sich bis in seine Knochen, doch er spürte, wie ihn Ruhe überkam, als er sich abwandte und sich still entfernte. Einige Feuer tobten noch, aber die konnten seine Brüder löschen. Das säurehaltige Blut, das vom Angriff der Vampire herrührte, sickerte in die stöhnende, protestierende Erde, aber seine Brüder würden sich auch darum kümmern und sie von den Giftstoffen befreien.
Seine öde, schonungslose Reise war vorbei. Endlich. Nach über tausend Jahren des Lebens in einer leeren, grauen Welt hatte Zacarias alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte.
Seine Brüder waren abgesichert. Sie alle hatten eine Frau, die sie vervollständigte. Sie waren glücklich und gesund, und er hatte die schlimmste Gefahr für sie beseitigt. Bis die Zahl ihrer Feinde sich wieder erhöhte, würden seine Brüder sogar noch stärker sein und seine Führung oder seinen Schutz nicht mehr benötigen. Er war frei.
»Zacarias ! Deine Wunden müssen versorgt werden. Und du brauchst Blut.«
Es war eine weibliche Stimme, die er da hörte. Solange, die Gefährtin Dominics, seines ältesten Freundes, würde ihrer aller Leben für immer verändern mit ihrem reinen, königlichen Blut. Und er war zu alt, zu festgefahren in seinen Gewohnheiten und viel zu müde, um die Art von Veränderungen an sich zuzulassen, die nötig waren, um in diesem Jahrhundert weiterzuleben. Er war rettungslos veraltet wie die mittelalterlichen Ritter. Der Geschmack der Freiheit war metallisch und kupferartig wie das Blut, die Essenz des Lebens, das aus ihm herausfloss.
»Zacarias, bitte!« Da war eine Bewegung in ihrer Stimme, die ihm nahegehen müsste, doch sie berührte ihn nicht. Da er nicht empfinden konnte wie die anderen, war er auch nicht durch Mitleid, Liebe oder Sanftheit umzustimmen. Er hatte keine sanftere, weichere Seite. Er war ein Killer. Und seine Zeit war abgelaufen.
Solanges Blut war ein unglaubliches Geschenk an seine Leute, das war Zacarias durchaus klar, auch wenn er es zurückwies. Wenn sie es zu sich nahmen, verlieh es Karpatianern die Fähigkeit, sich in der Sonne aufzuhalten. Karpatianer waren während der Tagesstunden verwundbar, besonders er. Je mehr sie Jäger waren -- oder Killer -, desto mehr war auch das Sonnenlicht ihr Feind. Von den meisten seiner Leute wurde Zacarias für den karpatianischen Krieger gehalten, der sich am dichtesten am Rand der Finsternis befand, und er wusste, dass das stimmte. Solanges Blut hatte ihm diesen letzten und endgültigen Grund gegeben, sich von seinem düsteren Leben zu befreien.
Mit einem tiefen Atemzug, der seine Lunge erneut mit Rauch füllte, setzte Zacarias seinen Weg fort, ohne einen Blick zurückzuwerfen oder auch nur Notiz von Solanges Angebot zu nehmen. Er hörte die alarmierten Rufe seiner Brüder, aber er ging weiter und beschleunigte sogar seine Schritte. Die Freiheit war noch weit entfernt, und er musste sie erreichen. Als er einem der letzten angreifenden Vampire, die seine Familie hatten zerstören wollen, das Herz herausgerissen hatte, hatte er gewusst, dass es nur einen Ort gab, an den es ihn zog. Es machte keinen Sinn, doch wen kümmerte das schon? Er würde trotzdem gehen.
»Bleib stehen, Zacarias!«
Er blickte auf, als seine Brüder aus dem Himmel fielen und eine solide Mauervor ihm bildeten. Alle vier. Riordan, der Jüngste, Manolito, Nicolas und Rafael. Sie waren gute Männer, und fast konnte er die Liebe zu ihnen, die er einst empfunden hatte, wieder spüren -- schwer zu fassen und gerade eben außer Reichweite. Sie verstellten ihm den Weg und hielten ihn von seinem Vorhaben ab -- aber nichts und niemand durfte sich zwischen ihn und seine Wünsche stellen. Zacarias gab ein warnendes Grollen von sich, das tief aus seiner Kehle kam, und ließ den Boden unter ihren Füßen erbeben. Sie wechselten beklommene Blicke, und Furcht flackerte in ihren Augen auf.
Diese Blicke seiner Brüder, die so große Angst vor ihm verrieten, hätte Zacarias zu denken geben müssen, doch er spürte nichts. Er hatte diesen vier Männern sämtliche kämpferischen Fähigkeiten, über die sie heute verfügten, und Überlebensstrategien beigebracht. Er hatte jahrhundertelang neben ihnen gekämpft, auf sie aufgepasst, sie angeführt, ja, einmal sogar sehr liebevolle Erinnerungen an sie gehabt. Aber nun, da er die Bürde der Verantwortung abgelegt hatte, war nichts mehr da. Nicht einmal diese schwachen Erinnerungen, um ihn aufrechtzuerhalten. Er konnte sich weder an Liebe noch an Lachen erinnern. Nur an Tod und Töten.
»Zurück!« Ein knappes Wort nur, ein Befehl -- und Zacarias erwartete, dass sie gehorchten, sowie jeder ihm gehorchte. Er hatte in seinem langen Leben unermessliche Reichtümer angehäuft, sich in den letzten Jahrhunderten jedoch nie etwas mit Geld erkaufen müssen. Ein Wort von ihm genügte, damit die Welt erzitterte und beiseitetrat, um seinen Wünschen nicht im Weg zu stehen.
Widerstrebend und viel zu langsam für seinen Geschmack tra-
ten jetzt auch seine Brüder zur Seite, um ihn vorbeizulassen. »Tu das nicht, Zacarias!«, sagte Nicolas. »Geh nicht weg!« »Lass wenigstens deine Wunden versorgen!«, fügte Rafael hin-
zu.
»Und nimm Blut zu dir!«, drängte Manolito. »Du brauchst Nahrung.«
Zacarias fuhr herum, worauf sie zurückfielen und die Furcht in ihren Augen zu schierer Panik wurde -- und er wusste, dass sie allen Grund hatten, sich zu fürchten. Die Jahrhunderte hatten ihn geformt, ihn zu einem brutalen, gnadenlosen Jäger - zu einer Tötungsmaschine -- gemacht. Es gab nur wenige wie ihn auf dieser Welt. Und er befand sich am Rande des Wahnsinns. Seine Brüder waren großartige Jäger, aber ihn zu töten würde all ihre beträchtlichen Fähigkeiten erfordern, und sie konnten sich kein Zögern leisten. Sie alle hatten ihre Seelengefährtin gefunden. Sie alle hatten Gefühle. Sie alle liebten ihn. Er dagegen spürte nichts und war ihnen gegenüber damit sehr im Vorteil.
Er hatte sie schon abgeschrieben und ihre Welt verlassen, als er ihnen den Rücken zugekehrt und sich die Freiheit genommen hatte, seine Verpflichtungen aufzugeben. Aber ihre von Kummer und Verzweiflung geprägten Gesichter ließen ihn für einen Moment in der Bewegung innehalten.
Wie mochte es sein, solch tiefen Kummer zu empfinden? Liebe zu verspüren? Überhaupt etwas zufühlen? Früher hätte er einfach an ihr Bewusstsein gerührt und mit ihnen geteilt, was sie bewegte, doch seit sie Seelengefährtinnen hatten, wollte er nicht riskieren, einen von ihnen mit der Finsternis, die er in sich trug, zu beflecken. Seine Seele war nicht nur in Stücke zerbrochen. Er hatte zu oft getötet, sich zu sehr von allen, die er schätzte, distanziert, um die, die er liebte, besser beschützen zu können. Wann war er an den Punkt gelangt, nicht mehr gefahrlos an ihr Bewusstsein rühren und ihre Erinnerungen teilen zu können? Es war so lange her, dass er sich nicht einmal mehr erinnern konnte.
»Zacarias, tu das nicht!«, bat Riordan, dessen Gesicht vom gleichen tiefen Kummer geprägt war, der sich auf denen seiner Brüder zeigte.
Er hatte viel zu lange die Verantwortung für sie getragen, um jetzt einfach wegzugehen, ohne ihnen etwas zu hinterlassen. Einen Moment lang stand Zacarias hoch erhobenen Hauptes und mit blitzenden Augen und wallendem Haar da und sah sie an. Dabei strömte unaufhörlich Blut über seine Brust und Schenkel. »Ich gebe euch mein Wort, dass ihr mich nicht werdet jagen müssen.«
Das war alles, was er für sie hatte. Sein Wort, dass er nicht zum Vampir werden würde. Nun konnte er ruhen, und diese endgültige Ruhe würde er auf seine eigene Weise suchen. Er wandte sich von ihnen und von dem Verständnis und der Erleichterung in ihren Gesichtern ab, um seine Reise anzutreten. Er hatte einen weiten Weg vor sich, wenn er vor Tagesanbruch noch sein Ziel erreichen wollte.
»Zacarias«, rief Nicolas ihm nach. »Wo gehst du hin?«
Die Frage ließ Zacarias innehalten. Wo ging er hin? Der innere Zwang war stark - unmöglich zu ignorieren. Zacarias verlangsamte dennoch seine Schritte. Wohin ging er? Warum war der Drang so stark in ihm, obwohl er doch nichts fühlte? Aber etwas war da, eine dunkle Kraft, die ihn antrieb.
»Susu -heim.« Er flüsterte das Wort, doch der Wind griff seine Stimme auf, und der leise Ton hallte in der Erde unter seinen Füßen nach. »Ich gehe heim.«
»Das hier ist dein Zuhause«, erklärte Nicolas entschieden. »Wenn du Ruhe willst, werden wir deine Entscheidung respektieren, aber bleib bei uns! Hier bei deiner Familie. Dies ist dein Daheim«, wiederholte er.
Zacarias schüttelte den Kopf. Er war getrieben von dem Drang, Brasilien zu verlassen. Er musste woanders sein, und er musste sich auf der Stelle auf den Weg machen, solange ihm noch Zeit blieb. Mit Augen, die so rot waren wie die Flammen, und einer Seele, die schwarz war wie der Rauch, verwandelte er sich und nahm die Gestalt einer großen Harpyie, eines Haubenadlers, an.
Willst du zu den Karpaten?, fragte Nicolas ihn über ihre telepathische Verbindung. Dann werde ich dich begleiten.
Nein. Ich gehe heim, wohin ich gehöre - allein. Ich muss allein gehen.
Nicolas sandte ihm seine Wärme und hüllte ihn darin ein. Kolasz arwa-arvoval! Mögest du mit Ehre sterben! Kummer schwang in seiner Stimme mit, und auch Nicolas' Herz war voll davon, aber Zacarias konnte das Gefühl nicht erwidern, nicht mal ansatzweise.
Nun war es Rafaels sanfte Stimme, die in sein Bewusstsein drang. Arwa-arvo olen isäntä, ekäm! Möge die Ehre dich aufrechterhalten, mein Bruder!
Kulkesz arwa-arvoval, ekäm! Gehe mit Ehre, mein Bruder!, fügte Manolito hinzu.
Arwa-arvo olen gaidnod susu, ekäm! Möge die Ehre dich heimführen, mein Bruder!, sagte Riordan.
Es war lange her, seit Zacarias seine Muttersprache gehört hatte. Gewöhnlich benutzten Karpatianer die Sprache und Dialekte der Orte, an denen sie sich befanden. Sie hatten andere Namen angenommen, als sie von Land zu Land gezogen waren, sogar einen Familiennamen, obwohl Karpatianer solche Namen gar nicht hatten. Zacarias' Welt hatte sich mit der Zeit unglaublich stark verändert. Jahrhunderte der Verwandlung, in denen er sich immer angepasst hatte, um dazuzugehören. Und dennoch hatte er sich nie wirklich verändert, da sein ganzes Leben sich um den Tod drehte. Und nun würde er endlich heimkehren.
Diese schlichte Feststellung bedeutete nichts - und alles. Zacarias hatte seit über tausend Jahren kein Zuhause mehr gehabt. Er war einer der Ältesten, auf jeden Fall einer der Tödlichsten. Männer wie er besaßen kein Zuhause. Nur wenige wollten ihn an ihrem Lagerfeuer haben, geschweige denn in ihrem Haus und an ihrem Herd. Was war also Daheim? Warum hatte er dieses Wort benutzt?
Seine Familie hatte in den Ländern am Amazonas und den anderen Flüssen, von denen er gespeist wurde, große Haziendas aufgebaut. Das zu kontrollierende Gebiet war sehr ausgedehnt und erstreckte sich über Tausende von Meilen, was die Überwachung schwierig machte. Doch da sie zu mehreren menschlichen Familien eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut hatten, waren die verschiedenen Häuser auch stets auf ihre Ankunft vorbereitet. Zu einem dieser Häuser würde er sich begeben, und er musste die große Entfernung dorthin noch vor der Morgendämmerung zurücklegen.
Die peruanische Hazienda lag am Rand des Regenwaldes, nur ein paar Meilen entfernt von der Stelle, wo die Flüsse sich vereinten und in den Amazonas übergingen. Selbst dieses Gebiet hatte sich mit den Jahren allmählich verändert. Seine Familie hatte sich den Anschein gegeben, mit den Spaniern in dieses Gebiet gekommen zu sein, und sich Namen ausgedacht, ohne sich darum zu scheren, wie sie klangen. Für Karpatianer spielte es keine große Rolle, wie sie von anderen genannt wurden. Natürlich hatten sie damals nicht einmal geahnt, dass sie Jahrhunderte in Südamerika verbringen würden - und diese Gebiete ihnen einmal vertrauter sein würden als ihr Heimatland.
Zacarias blickte auf das dichte Blätterdach des Regenwaldes herab, als er darüber hinwegflog. Auch der Dschungel verschwand allmählich durch ein langsames, aber stetiges Eindringen von Menschen und Maschinen, das er nicht verstand. Es gab so viele Dinge in den modernen Zeiten, die er nicht begreifen konnte - doch was machte das schon? Es war nicht mehr seine Welt oder sein Problem. Der Drang, der ihn trieb, verwirrte ihn mehr als die Erklärungen für die sich immer mehr verändernde Umwelt. Wenig erregte noch Zacarias' Neugier, doch dieser überwältigende Drang, zu einem Ort zurückzukehren, an dem er erst ein paarmal gewesen war, war irgendwie beunruhigend. Weil der Drang ein Bedürfnis war und er keine Bedürfnisse hatte. Und dass er so überwältigend war, dieser Drang, war ebenfalls sehr merkwürdig, weil nichts Zacarias zu überwältigen vermochte.
Kleine Blutströpfchen fielen in die dunstigen Wolken um die jungen Triebe der wenigen Bäume, die hier und da aus dem Blätterdach hervorragten. Unter sich konnte Zacarias die Angst der Tiere spüren, die ihn vorbeifliegen sahen. Eine Gruppe von Douroucoulis, sehr kleinen nachtaktiven Affen, hüpfte durch die Bäume und vollführte erstaunliche akrobatische Übungen auf den nicht ganz so hoch gelegenen Ästen. Einige futterten Früchte und Insekten, während andere nach Raubtieren Ausschau hielten. Normalerweise würden sie beim Anblick einer Harpyie sofort warnend loskreischen, aber als Zacarias in Adlergestalt über die Affenfamilie hinwegflog, blieben sie geradezu gespenstisch still.
Zacarias wusste, dass es nicht die Gefahr des vorüberfliegenden Raubvogels war, was diese vollkommene Stille im Wald erzeugte. Der Haubenadler saß oft stundenlang reglos in den Ästen und wartete auf die richtige Beute. Hatte er sie ausgemacht, stieß er mit verblüffender Geschwindigkeit hinab und pflückte sich ein Faultier oder einen Affen von den Bäumen, aber er jagte in der Regel nicht im Flug. Die Säugetiere versteckten sich, doch Schlangen hoben den Kopf, wenn er vorbeiflog, Insekten stiegen zu Tausenden in die Luft, und Hunderte von tellergroßen Spinnen krabbelten über die Äste und zogen in die Richtung, in die er flog.
Zacarias war an die Anzeichen gewöhnt, die auf die Düsternis in ihm hinwiesen. Selbst als junger Karpatianer war er schon anders gewesen. Seine kämpferischen Fähigkeiten waren so natürlich, als wären sie angeboren, ja ihm fast schon vor der Geburt eingeprägt worden, seine Reflexe schnell und sein Verstand sogar noch schneller. Er besaß die Fähigkeit, eine Situation im Bruchteil einer Sekunde einzuschätzen und sofort mit einer Strategie aufzuwarten. Er tötete ohne Zögern, und seine Täuschungen waren fast unmöglich zu durchschauen.
Die Düsternis in ihm ging tief und war bereits ein Schatten auf seiner Seele gewesen, lange bevor er seine Emotionen und Farben verloren hatte -- und ihm war beides viel früher abhanden-gekommen als anderen seines Alters. Zacarias stellte alles und jeden infrage. Nur seine Loyalität seinem Prinzen und seinem Volk gegenüber war unerschütterlich, und das hatte ihm den unversöhnlichen Hass seines besten Freundes eingebracht.
Mit seinen starken Schwingen flog er in schnellem Tempo durch die Nacht, ohne einen Gedanken an seine Wunden oder das Bedürfnis nach Blut zu verschwenden. Als er die Grenze überquerte und tiefer in das Blätterdach hinunterging, spürte er, wie der innere Zwang, der ihn antrieb, stärker wurde. Es zog ihn auf seine peruanische Ranch. Er musste dort sein. Weil es ... sein musste. Der Wald erstreckte sich unter ihm mit seinem dichten Gewirr von Bäumen und Blumen, und die Luft war schwer von Feuchtigkeit. Moose und Kletterpflanzen hingen wie struppige lange Bärte von den Bäumen und reichten fast bis in die Wassertümpel, Ströme oder Bäche. Ein Gewirr von Farnen, die um Platz kämpften, kroch über lange, freiliegende Wurzeln auf dem dunklen Boden unter Zacarias.
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Übersetzung: Ulrike Moreno
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Christine Feehan
Christine Feehan lebt gemeinsam mit ihrem Mann und ihren insgesamt elf Kindern in Kalifornien. Ihre Romane stürmen in den USA regelmäßig die Bestsellerlisten, und auch in Deutschland erfreut sich die Autorin einer stetig wachsenden Fangemeinde. Für ihre Serie über die Karpatianer hat sie 2002 beim "Romantic Times Award" den Preis für den besten Vampir-Liebesroman bekommen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christine Feehan
- 2012, 1, 480 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651758
- ISBN-13: 9783863651756
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