Ein Licht am Ende des Winters
Zu wem gehört mein Kind?
Hannah hat immer alles richtig gemacht: Sie hat geheiratet und ein Kind bekommen, hat ihre pflegebedürftige Mutter versorgt und ist erfolgreich im Beruf. Ihre Schwester Holly dagegen hat das College...
Hannah hat immer alles richtig gemacht: Sie hat geheiratet und ein Kind bekommen, hat ihre pflegebedürftige Mutter versorgt und ist erfolgreich im Beruf. Ihre Schwester Holly dagegen hat das College...
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Produktinformationen zu „Ein Licht am Ende des Winters “
Zu wem gehört mein Kind?
Hannah hat immer alles richtig gemacht: Sie hat geheiratet und ein Kind bekommen, hat ihre pflegebedürftige Mutter versorgt und ist erfolgreich im Beruf. Ihre Schwester Holly dagegen hat das College abgebrochen, arbeitet in einem Coffeshop und träumt von einer Karriere als Countrysängerin. Dann, eines Tages, lässt sie ihr Kind bei Holly und verschwindet - einfach so. Holly hat keine Ahnung von Babys, und so nimmt sie den kleinen Mason mit nach Cedar Springs, wo sie aufgewachsen ist: zu Wyatt Clark, dem schweigsamen Cowboy, der so gut mit Kindern umgehen kann. Doch gerade als sich Holly ein Leben ohne Wyatt und Mason nicht mehr vorstellen kann, kommt Hannah zurück und will ihren Sohn wieder haben.
"Eine herzzerreißende Geschichte"
Romantic Times
Hannah hat immer alles richtig gemacht: Sie hat geheiratet und ein Kind bekommen, hat ihre pflegebedürftige Mutter versorgt und ist erfolgreich im Beruf. Ihre Schwester Holly dagegen hat das College abgebrochen, arbeitet in einem Coffeshop und träumt von einer Karriere als Countrysängerin. Dann, eines Tages, lässt sie ihr Kind bei Holly und verschwindet - einfach so. Holly hat keine Ahnung von Babys, und so nimmt sie den kleinen Mason mit nach Cedar Springs, wo sie aufgewachsen ist: zu Wyatt Clark, dem schweigsamen Cowboy, der so gut mit Kindern umgehen kann. Doch gerade als sich Holly ein Leben ohne Wyatt und Mason nicht mehr vorstellen kann, kommt Hannah zurück und will ihren Sohn wieder haben.
"Eine herzzerreißende Geschichte"
Romantic Times
Lese-Probe zu „Ein Licht am Ende des Winters “
Ein Licht am Ende des Winters von Julia London Aus dem Amerikanischen von Sabine Schäfer
1
Der Cowboy erhob sich beim ersten Licht der Morgendämmerung und zog ein Paar abgetragene, dreckige Jeans an. »Komm«, sagte er zu seinem Hund. Während er sich seinen nackten Bauch kratzte, der von der Arbeit auf der Ranch schlank und hart geworden war, tappte er durch den Flur des unscheinbaren Hauses aus rotem Backstein in die Küche.
Da war etwas Klebriges unter seinen Füßen auf dem Linoleum, doch da die Leuchtstoffröhre über ihm aus war, konnte er nichts genau erkennen. Schläfrig dachte er darüber nach, dass er am Sonntag, wenn er seine Kleider in dieser alten, gelben Waschmaschine wusch, auch ein paar Dinge im Haus saubermachen könnte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals den Boden gewischt zu haben. Wahrscheinlich war es nach einem Jahr einfach mal Zeit dafür.
Er betrachtete die Reihe von Knöpfen auf dieser neumodischen Apparatur, die manche eine Kaffeemaschine nannten, aber für ihn nur ein Quell ständigen Ärgers darstellte. Sie war eines der wenigen Dinge, die er aus seiner Ehe behalten hatte. Er hatte sie natürlich für seine Frau gekauft, der sie auch irrsinnig gut gefallen hatte. Es war ihm allerdings nicht gelungen herauszufinden, wie man sie korrekt bediente. Warum hatte er sie behalten? Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur, dass es Wyatt und Macy Clark nicht mehr gab.
... mehr
Er drückte ein paar Knöpfe, und die Maschine gab Geräusche wie eine Dampflokomotive von sich. Er drehte sich um und stolperte beinahe über seinen schwarzen Labrador. Milo schlich sich immer auf diese Weise an ihn heran, tauchte zwischen seinen Füßen auf, mit diesem verdammten Schwanz, der immer wedelte. Wyatt hatte nie einen glücklicheren Hund gekannt, und er hatte in seinem Leben bereits einige besessen. Egal was er dem Hund zumutete, er grinste und wedelte mit dem Schwanz und benahm sich, als wollte er mehr vom harten Leben.
Milo war die andere Sache, die er aus seiner Ehe behalten hatte. Denn Milo war sein Hund. Nicht ihrer. Seiner.
Sein Hund war hungrig. Wyatt öffnete einen Sack Hundefutter, den er in einem Mülleimer vor der schmierigen Küchenwand aufbewahrte. Er schöpfte zwei Becher Futter heraus und kippte es in einen schmutzigen Hundenapf. Milo störte es nicht, dass er aus einer Petrischale fraß. Er hatte eine gierige Pfote im Napf, während er sein Futter herunterschlang.
Wyatt ging zurück zu seinem Schlafzimmer und fand ein Hemd auf dem Stapel ungewaschener Kleidung, das nicht zu übel roch. Heute würde er sich um den kaputten Zaun kümmern, den das Vieh immer wieder niedertrampelte, und er musste nicht sauber sein oder gut riechen, um das zu tun. Er kleidete sich an, zog seine Stiefel an, putzte seine Zähne und fuhr mit den Fingern durch sein schwarzes Haar. Es war ziemlich lang geworden, und er hatte begonnen, es in einem kleinen Pferdeschwanz in seinem Nacken zu tragen. Er hätte nie gedacht, dass er das eines Tages tun würde - er war immer die gepflegte Sorte Mann gewesen, bevor seine Welt zusammenbrach. Zum Teufel damit. Er lebte allein. Die einzige Person, die er regelmäßig traf, war seine Tochter Grace, ein Baby, dem es egal war, wie er aussah. Er musste niemanden beeindrucken, und Milo würde ihn auch mögen, wenn er nackt herumlief. Was er, um ehrlich zu sein, einoder zweimal getan hatte.
Wyatt kehrte in die Küche zurück. An der Kaffeemaschine leuchteten jetzt alle Lichter grün, also goss er sich eine Tasse ein und setzte sich an den Küchentisch. Da stand eine ordentliche Reihe von Sachen, die er jeden Tag benutzte: Salz- und Pfefferstreuer, Tabascosauce. Ein Stapel Papierservietten neben einem Stapel Papierteller. Und sein Notebook, seine einzige wirkliche Verbindung zur Außenwelt. Oh, er hatte einen Fernseher mit Zimmerantenne, damit er Football und Golf sehen konnte, viel mehr bekam er damit auch nicht herein.
Er öffnete das Notebook und seine Startseite erschien, mit den Nachrichten, den Sportergebnissen und seinem persönlichen Favoriten, dem Wort des Tages. Das heutige Wort war zurückhaltend.
Zurückhaltend. Bedeutet behutsam, vorsichtig. Wie in: Der Herr ist zurückhaltend damit, seine Bedenken zu äußern.
Zurückhaltend.
Wyatt trank seinen Kaffee und klickte weiter zu den Sportnachrichten, um die Baseball-Ergebnisse durchzuklicken. Er sah nichts, was er nicht bereits wusste, und schloss das Notebook. Er blickte hinaus. Wyatt hielt sich nie mit Frühstück auf. Er mochte es, früh hinauszukommen, wenn es noch kühl und windstill war. Er mochte den Gesang der Vögel am Morgen, bevor ihnen der Tag zu warm wurde und sie ins Unterholz verschwanden.
Er hörte ein schwaches Jaulen und blickte über seine Schulter. Milo hatte sein Frühstück beendet und stand abmarschbereit an der Hintertür. Die Farbe war an der Stelle völlig abgekratzt, wo Milo sich festkrallte, wenn Wyatt nicht aufpasste. Wyatt stand auf, nahm seinen schweißfleckigen Hut vom Tisch und setzte ihn auf.
Er öffnete die hintere Fliegengittertür. Milo machte sich davon, rannte mit der Nase über dem Boden über den ungepflegten Rasen. Mit der Kaffeetasse in der Hand latschte Wyatt hinunter zur Scheune, stellte seine Kaffeetasse auf ein Regal in der Scheune neben zwei andere Kaffeetassen. Drinnen hatte er drei Pferde, von denen er zwei auf die Weide schickte, indem er auf ihre Hinterteile klatschte und sie zum Traben brachte, damit sie sich ihre Beine vertraten. Das dritte sattelte er. Troy nannte er es, nach dem großartigen Quarterback der Dallas Cowboys, Troy Aikman.
Nachdem er Troy gesattelt hatte, führte er ihn hinaus, pfiff nach Milo und schwang sich in den Sattel. Der Hund kam aus dem Unterholz gerast und rannte neben Troy her, während Wyatt ihn am Zügel herumführte.
Er ritt über sich selbst überlassenes Weideland, durch ein Wäldchen aus Zedern und Sumpfeichen und um einen Feigenkaktus herum, der die Größe eines Swimmingpools hatte.
Seine Ranch war groß für diesen Teil von Texas: um die fünfzehntausend Morgen oder ein wenig mehr als dreiundzwanzig Quadratmeilen. Da gab es eine Menge Zäune auszubessern, lange Strecken, die das Vieh und die Pferde zurücklegen mussten. Wyatt hatte einen alten Laster, den er benutzte, wenn die Arbeit es rechtfertigte, aber meistens ritt er lieber.
Er ritt zu der südöstlichen Ecke des Zaunes, wo das Vieh seine dicken Köpfe durchgesteckt und den Stacheldraht heruntergedrückt hatte. Er verschaffte sich einen Überblick über den Schaden: Der Draht würde herausgeschnitten und neu gespannt werden müssen. Er beschloss, Jesse Wheeler anzurufen, damit der herauskam und ihm half. Jesse war Cedar Springs' ortsansässiger Mann für alle Fälle. Zu seinen Fähigkeiten war er gekommen, während er von Bett zu Bett und Frau zu Frau gehüpft war und dabei Gelegenheitsjobs angenommen hatte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Wyatt verbrachte den Morgen damit, den Stacheldraht von den Pfosten zu schneiden. Um elf war es wahnsinnig heiß geworden, und er machte eine Pause, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen und etwas aus seiner Feldflasche zu trinken. Er stand neben Troy im Schatten, als er die Fahrzeuge hörte. Als er sich umdrehte, sah er einen Leichenwagen in die Auffahrt des angrenzenden Besitzes einbiegen. Ein weiteres Auto fuhr genau hinter ihm. Und noch eines. Eine Beerdigungsprozession bewegte sich in Richtung des alten Fisher- Friedhofs. Wyatt hatte gehört, dass die alte Dame, die dort lebte, an Krebs litt. Doch ihm war neu, dass sie gestorben war. Ehrlich gesagt, hatte er den richtigen Augenblick abgewartet, in der Hoffnung, das Land kaufen zu können, wenn sich die Gelegenheit ergab.
Denn das war es, was Wyatt tat. Oder zumindest früher getan hatte. Er hatte Land gekauft und verkauft, manchmal ein Bauvorhaben darauf verwirklicht. Wyatt Clark von Clark Properties würde halb Texas aufkaufen, wenn das nötig war, um sich die Zivilisation vom Leib zu halten. Seit seine Ehefrau Macy ihn wegen ihres ersten Mannes verlassen hatte, war ihm nicht sehr danach gewesen, mit der Welt in Kontakt zu kommen. Je mehr Land er zwischen sich und alle anderen Menschen bringen konnte, desto besser.
Er sah blinzelnd den Autos nach, während sie auf dem Weg hinauf zu diesem alten Privatfriedhof zwischen den Zedern verschwanden, und nahm einen weiteren ordentlichen Schluck aus seiner Feldflasche.
Es sah so aus, als wäre ihm gerade die Gelegenheit geboten worden, zurückhaltend ein paar Erkundigungen einzuziehen.
2
Als Peggy Fisher erfahren hatte, dass nichts mehr sie vor dem Krebs retten konnte, der sie zerfraß, machte sie sich daran, mit letzter Kraft ihre Beerdigung zu planen.
Diese ging genau so vonstatten, wie sie es gewollt hatte, dank ihrer Tochter Hannah. Sie wurde in dem blauen Leinenkostüm beerdigt, das sie selbst ausgesucht hatte. Dank ihrer Anweisungen passte die Farbe des Sarges hervorragend zu dem Kostüm. Ihr Cousin D.J., seines Zeichens Schweißer und aufstrebender Sänger, sang »Amazing Grace«, und ein Gesteck aus Maßliebchen lag auf ihrem Grab. Die Trauernden wurden freundlich gebeten, statt Kränzen an die Susan-G.-Komen-Stiftung zu spenden.
Peggy war nicht an Brustkrebs gestorben, sie hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs gehabt, doch sie hatte gedacht, dass Brustkrebs im Nachruf besser klingen würde. »Niemand weiß, was eine Bauchspeicheldrüse überhaupt ist«, hatte sie gesagt, deutlich verärgert darüber, dass sie Krebs in einem Organ bekommen hatte, das niemand verstand.
Es gab nur zwei Fotos von Peggy auf der Beerdigung. Die Vergrößerungen waren zu beiden Seiten des Sarges platziert worden, sodass auch Trauernde hinten in der verfallenden, alten presbyterianischen Kalksteinkirche mit dem durchhängenden Balkon sie sehen konnten.
Peggy hatte oft bedauert, dass sie nicht etwas mit Fotos gemacht hatte, als ihr Ehemann Dale vor fünfzehn Jahren gestorben war. Er hatte an einem heißen Nachmittag draußen den Rasen gemäht und war direkt neben den Rosen tot umgefallen, die er in jenem Frühjahr gepflanzt hatte.
»Er hatte nach dem Tod von Dale Junior nicht mehr viel Lebensmut«, hatte Peggy Hannah und ihrer zweiten Tochter Holly erklärt, als sie ihnen die schlechte Nachricht überbrachte. »Sein altes Herz hat schließlich nicht mehr mitgemacht.«
Holly, ihre Jüngste, hatte diese Vorstellung ein wenig merkwürdig gefunden, da Dale Junior vor zwanzig Jahren mit einem Loch in seinem Herzen geboren worden war und nicht mehr als ein paar Tage gelebt hatte. Sie hielt es für wahrscheinlicher, dass der irrwitzig hohe Cholesterinspiegel ihres Vaters der Grund für sein Ableben gewesen war. Doch Holly diskutierte nicht mit ihrer Mutter, denn ihrer Mutter gefiel es, die Dinge für die Außenwelt auf eine bestimmte Weise erscheinen zu lassen. Ihr gefiel die Vorstellung, dass ihr Ehemann an gebrochenem Herzen gestorben war und dass ihre Töchter leuchtende Beispiele für das weibliche Ideal waren. Was auch immer das sein sollte.
Nach der Beerdigung und dem Trauergottesdienst am Grab auf dem alten Fisher-Gehöft, wo Peggy an die vierzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, schleppte eine gute Seele ihre Fotos zurück zum Haus. Dort hatten sich Familie und Freunde versammelt, um ihr Beileid zu bekunden und das Essen zu verzehren, das Frauen aus der Kirchengemeinde vorbereitet hatten. Die beiden Fotos wurden nebeneinander gegen die Schiebetür des Esszimmers gelehnt, wo sie den Blick auf den Rasen, die sanft geschwungene Weide und die Zedern hinter dem Haus verstellten.
Holly betrachtete die Bilder. Sie hatte höflich das Angebot von Bohnen, Kartoffelsalat und Schinken abgelehnt und nur beim Eistee nachgegeben. Gelegentlich fühlte sie, wie ein kalter Tropfen Kondenswasser von dem schwitzenden Glas ihre Zehen zwischen den Riemen ihrer Sandalen traf. Die Fotos ihrer Mutter rief in ihrem benommenen Kopf einen einzigen Gedanken hervor: Jetzt gab es nur noch sie und Hannah. Holly war offiziell zu keinen Gefühlen mehr fähig, da sie bereits in den gesamten letzten, schmerzhaften Monaten im Leben ihrer Mutter getrauert hatte. Sogar schon länger, wenn sie darüber nachdachte. Was sie nicht tun wollte.
Ihre Mutter hatte sich verrückt damit gemacht, welche Bilder sie auswählen sollte, und sich schließlich für diese beiden entschieden. Das Erste, aufgenommen im Alter von etwa zehn Jahren, zeigte in verschwommenem Schwarz-Weiß ein Mädchen mit Rattenschwänzen, das auf einem alten Fahrrad saß. Es besaß keine besondere Ähnlichkeit mit Peggy. »Ich war damals so glücklich«, hatte sie mit einem Seufzen gesagt, während sie sich in dem rothaarigen Kind mit vollen Lippen bewunderte.
Das zweite Foto war aufgenommen worden, nachdem Peggy Mutter geworden war. Sie lachte den Fotografen an, wer auch immer das gewesen war. Ein spontanes Lachen mit offenem Mund. Sie hatte Holly und Hannah, die zwei Jahre Ältere, auf ihrem Schoß. Sie trugen aufeinander abgestimmte, grüne Sommerkleider. Hannahs kastanienbraunes Haar war auf Schulterlänge geschnitten, und sie hatte einen Pony. In ihren blauen Augen lag ein glückliches Leuchten. Hollys rotblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen, ihre graugrünen Augen blickten düster. Peggys Arme waren fest um ihre Mädchen gelegt.
Ab wann hatte Peggy Fisher ihre Mädchen nicht mehr im Griff gehabt? Wann waren sie von ihrem Schoß gerutscht und hatten aufgehört, aufeinander abgestimmte Sommerkleider und Pferdeschwänze zu tragen?
Holly schätzte, dass das Foto vor etwa dreißig Jahren aufgenommen worden war, als Hannah sechs und sie vier gewesen war. Hatte ihre Mutter es ausgesucht, weil Hannah und Holly jung und noch frei von den Spannungen waren, die seit einigen Jahren zwischen ihnen bestanden? War es aufgenommen worden, bevor die Vergleiche angefangen hatten, oder hatte ihre Mutter bereits damit begonnen gehabt, sie anzustellen? Eine Erinnerung daran blitzte in ihr auf, wie sie mit ihrer Mutter Brötchen backten. Sie und Hannah hatten Schürzen umgebunden bekommen, die ihnen viel zu groß waren, und hatten auf Stühlen neben ihrer Mutter gestanden. Holly konnte sich erinnern, wie sie den Teig ausgerollt und dann mit den Deckeln von Einmachgläsern Kreise ausgestochen hatte.
Holly, sieh dir die Schweinerei an, die du veranstaltet hast. Schau dir Hannah an! Siehst du, wie ordentlich sie das gemacht hat? Holly konnte immer noch Hannahs Reihe von perfekt geformten Brötchen sehen, aufgereiht wie Soldaten und mit gleichem Abstand zueinander. Und ihre Brötchen - nicht ganz rund, nicht ganz gerade in Reihe gelegt. Eines hatte die Form eines Hündchens gehabt.
Warum kannst du es nicht wie Hannah machen?
Ein kollektiver Alarmschrei schreckte Holly aus ihren Gedanken auf. Sie blickte um die beiden Fotos herum auf den hinteren Rasen. Die Rasensprenger waren genau dort angesprungen, wo ein paar Leute mit ihren voll beladenen Tellern herumliefen. Hannah hatte damals darauf bestanden, dass diese Sprenger installiert wurden, damit sich Peggy keine Sorgen um den Garten machen musste.
»Ich habe Loren gesagt, dass er die Rasensprenger abstellen soll.«
Holly hatte nicht bemerkt, dass Hannah neben ihr stand, bis sie anfing zu sprechen. Sie sah, wie Hannah mit müder Unzufriedenheit die Gäste betrachtete, die ungeschickt aus der Reichweite der Rasensprenger hüpften.
Sie sieht blass aus, dachte Holly. Abgespannt. Sie isst nichts, trinkt nur Tee.
Doch Hannah war schön wie immer, tadellos gekleidet in einem schwarzen Kostüm und einem Paar Pumps mit unglaublich hohen Absätzen. Ihre Haare waren im Nacken ordentlich geknotet, und ein Diamantanhänger funkelte an ihrem Hals. Wie gewöhnlich fühlte sich Holly neben ihrer Schwester ein wenig plump. Ihr zottiges Haar hing bis auf ihre Schultern, Clips hielten es aus ihrem Gesicht. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Etuikleid und ein Paar unscheinbare, schwarze Sandalen, die sie bei einem Schuhdiscounter mitgenommen hatte.
»Was wirst du mit denen machen?«, fragte Holly und nickte in Richtung der vergrößerten Bilder, während Hannahs Ehemann Loren nach draußen eilte, um den Leuten vom Rasen zu helfen und die Rasensprenger auszuschalten.
»Sie wegwerfen«, sagte Hannah mit einem Schulterzucken. »Es sei denn, du möchtest ein paar riesige Bilder von Mom in deinem Apartment hängen haben.« Sie lächelte.
Halt, war das etwa ein Witz? Holly konnte sich nicht daran erinnern, wann ihre Schwester das letzte Mal einen Witz gemacht hatte.
»Ich passe«, sagte Holly und erwiderte ihr Lächeln. Doch Hannah sah aus, als langweilte sie sich. Ein unbehagliches Schweigen erfüllte den Raum um sie herum. Sie beide hatten sich derzeit sehr wenig zu sagen. Der Tod ihrer Mutter hatte ihre zerbrechliche Beziehung arg strapaziert.
Holly sah an Hannah vorbei zum Esszimmer, wo die Auflaufformen mit dem Essen standen. »Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«
Hannah richtete ihren von müder Unzufriedenheit erfüllten Blick auf Holly. »Nein, danke. Es ist für alles gesorgt«, sagte sie, als hätte Holly zu lange gewartet, um eine offensichtliche Frage zu stellen.
Hannah war wahrscheinlich immer noch wütend auf sie. Sie hatte Holly gebeten, die Krankenschwestern des Cedar-Springs- Memorial-Hospital anzurufen und ihnen von der Trauerfeier zu erzählen, aber Holly hatte es vergessen. Sie hatte versucht, so viele Schichten wie möglich zu arbeiten, damit sie es sich leisten konnte, nach der Beerdigung ein paar Tage freizunehmen. Deswegen hatte sie es vergessen.
Nur eine Schwester war gekommen, und Hannah machte Holly dafür verantwortlich.
»Ich versuche nur zu helfen«, sagte Holly jetzt.
Hannah Blick glitt über sie hinweg. »Ich denke, ich hole mir etwas zu essen.«
Holly versuchte, sich nicht beleidigt zu fühlen, als Hannah wegging. Okay, es stimmte schon, dass Hannah sich um alles in Bezug auf ihre Mutter gekümmert hatte. Wirklich um alles -von dem Augenblick an, als sie das mit dem Krebs herausgefunden hatten, bis ganz zum Schluss.
Obwohl sie als Büroleiterin in einer großen Rechtsanwaltskanzlei im Zentrum von Austin arbeitete, war Hannah diejenige, die die Zeit gefunden hatte, jeden Tag nach ihrer Mutter zu sehen, vierzig Meilen pro Strecke bis hier herauszufahren, wo sie aufgewachsen waren. Es war Hannah gewesen, die ihre Mutter zu jedem Arzttermin gebracht hatte, zu jeder Chemotherapiesitzung, und die sichergestellt hatte, dass ihre Rezepte ausgestellt wurden und dass sie ihre Medikamente nahm. Es war Hannah gewesen, die die Krankenschwester angestellt hatte, die nach Mom sehen sollte, als sie schwächer geworden war, sich aber weigerte, das Haus zu verlassen, das sie ihr ganzes Erwachsenenleben lang bewohnt hatte. Und am Ende war es auch Hannah gewesen, die Mom nach Austin mitgenommen hatte, damit sie bei ihr, Loren und ihrem neugeborenen Baby Mason wohnen konnte. Niemand konnte behaupten, dass Hannah Fisher Drake nicht ihr Leben lang die perfekte Tochter gewesen war.
Niemand konnte behaupten, dass sie sich während der Krankheit ihrer Mutter nicht als stark und tugendhaft erwiesen hatte. Hannah war der Fels in der Brandung. Sie wusste genau, was in jeder möglichen Lebenslage zu tun war. Sie war, in Hollys Augen, die Mutter aller Kontrollfreaks.
Doch niemand konnte sagen, dass Holly nicht versucht hatte, bei ihrer Mutter auszuhelfen. Immer - immer - hatte sie versucht gleichzuziehen. Nur dass Holly nicht jeden Tag hinausfahren konnte, um nach ihrer Mom zu sehen. Holly war Songschreiberin, wohnte in einer Einzimmerwohnung und überlebte mithilfe ihres Gehalts als Bedienung in einem Café und dem winzigen Bisschen Tantiemen, die sie von der Austin Sound Company oder ASC bekam, einem Musikverlag, der drei ihrer Songs gekauft hatte.
Hollys Leben war das genaue Gegenteil von Hannahs. Sie konnte nicht bei der Arbeit fehlen. Wenn sie nicht auftauchte, bekam sie kein Geld, und wenn sie kein Geld hatte, konnte sie die Miete nicht bezahlen. Holly hatte nicht wie Hannah diverse Bankkonten mit verschiedenen Spareinlagen. Sie hatte keine Sicherheitspolster, auf die sie sich zurückfallen lassen konnte. Sie war nicht so organisiert oder so effizient wie ihre Schwester. Sie hatte versucht, ihr das zu erklären, als Hannah sie wenige Monate vor Moms Tod gebeten hatte, nach ihr zu sehen.
»Ich kann nicht«, hatte Holly gesagt und sich schrecklich schuldig und unzulänglich gefühlt. »Ich muss arbeiten. Die Miete ist nächste Woche fällig.«
Hannah hatte einen sehr langen Augenblick geschwiegen. »Ist das so, Holly?«, hatte sie schließlich gesagt, ihre Stimme voller Skepsis. »Ich habe ein Baby, arbeite fünfzig Stunden die Woche und kümmere mich um Mom. Und du kannst innerhalb der nächsten Tage kein einziges Mal hinausfahren?«
»Ich kann am Mittwoch kommen«, hatte Holly angeboten.
»Mittwoch ist zu spät.«
»Siehst du, deshalb habe ich letzte Woche versucht, für dich einzuspringen«, hatte Holly gereizt gesagt. Sie war sich ihrer Unzulänglichkeiten bewusst, ihrer Unfähigkeit, eine vorbildliche Schwester oder Tochter zu sein. »Da hatte ich ein paar freie Tage. Aber du hattest alles so gut durchorganisiert, da war kein Platz für mich, erinnerst du dich?«
»Kein Platz?« Hannah hatte ihre Meinung dazu durch ein Schnauben zu Ausdruck gebracht. »Du konntest Mom nicht zur Chemo bringen, erinnerst du dich? Was sollte das? Ich musste mir extra frei nehmen.«
»Aber ich hätte zumindest etwas tun können, Hannah. Komm schon, du weißt, dass ich nicht den gleichen Grad von Freiheit habe wie du. Ich bin bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinausgefahren, um nach Mom zu sehen. Ich bin letzte Woche mit ihr Lebensmittel einkaufen gegangen. Ich bin mit ihr zu Onkel D.J. gefahren.«
»Ja, ich weiß, dass du sie zum Lebensmittelladen und zu Onkel D.J. gebracht hast. Aber du hast diese Dinge getan, als es für dich günstig war. Ich habe früher im College als Kellnerin gearbeitet, also tu nicht so, als wüsste ich nicht, dass du Schichten tauschen kannst.«
»Ich bin Schichtführerin«, hatte Holly klargestellt. »Ich kann nicht einfach mit jedem tauschen. Es muss ein anderer Schichtführer sein. Also lass uns lieber jemanden einstellen, Hannah. Dann muss du nicht alles machen.«
»Du willst für jemanden zahlen?«, hatte Hannah geblafft. »Nun, mach dir keine Sorgen deswegen. Ich werde alles regeln, so wie ich es immer regle. Ich hätte es besser wissen müssen. Es war sinnlos, darauf zu zählen, dass du da sein wirst.«
»Ich hätte es besser wissen müssen, als zu erwarten, dass du dich nicht wie ein totaler Kontrollfreak verhalten würdest«, hatte Holly zurückgeschossen.
»Gott, Holly, unsere Mutter liegt im Sterben! Willst du ausgerechnet jetzt mit mir streiten?«
»Oh, großartig, du ziehst die Trumpfkarte aus dem Ärmel und hast das letzte Wort«, hatte Holly gehöhnt.
Dieses Telefongespräch hatten sie wie so viele ihrer Telefongespräche beendet: mit einem wütenden Patt. Es hatte weitere Telefonate gegeben, alle in demselben Tonfall. Hannah wurde immer distanzierter, und Holly tat nie genug.
Holly schüttelte den Kopf, als sie auf das Foto mit den beiden Mädchen blickte. So viel gefrorenes, bitteres Wasser war inzwischen ihren Bach hinuntergeflossen. Im letzten Jahr hatte es sich wie eine Flutwelle angefühlt, die sich zu schnell vorwärts bewegte, die drohte, sie hinwegzufegen und ihre Beziehung zu vernichten. Und dann hatte Hannah doch eine Krankenschwester eingestellt, die ein paar Stunden am Tag nach Mom sehen sollte. Sie hatte es getan, ohne Holly zu konsultieren. Sie hatte es einfach getan.
Es war nicht immer so gewesen zwischen ihnen. Holly konnte jedoch nicht sagen, wann sich die Risse zwischen ihnen angefangen hatten aufzutun. Es hatte eine Zeit gegeben, zu der Holly Hannah angebetet hatte. Ihre Schwester war klug und witzig und hatte ein sonniges Gemüt. Sie hatten zusammen mit Puppen und Cowboy und Indianer gespielt. Sie hatten in zwei Einzelbetten in einem Zimmer am Ende des Flures im Obergeschoss geschlafen. Die Sommerbrise war durch die geöffneten Fenster hereingeweht und ihr Hund Tigger hatte stillgehalten, während er in alberne Verkleidungen gesteckt wurde.
Als Holly in der ersten Klasse zum ersten Mal den Schulbus bestieg, war es Hannah gewesen, die ihre Hand gehalten und eine Sitzbank gefunden hatte, die sie sich teilen konnten. Hannah hatte sie zu ihrer Klasse gebracht und nach der Schule abgeholt. Hannah half ihr dabei, das Einmaleins zu lernen und hängte die Zeichnungen, die Holly in der Schule angefertigt hatte, in ihrem Zimmer auf. Hannah war mitfühlend, als Hollys schlechte Leistungen in der Schule als Legasthenie diagnostiziert wurden und hatte mit ihr die Tricks gepaukt, die ihr dabei halfen, damit fertigzuwerden. Nicht, dass es geholfen hätte - Holly war keine großartige Schülerin geworden.
Hannah war die erste Person gewesen, an die Holly sich gewandt hatte, als sie ihren ersten Freund und ihre erste Trennung gehabt hatte - mit dreizehn. Sie hatte Holly mit fünfzehn geholfen, sich auf das Vorsprechen für das Schulmusical vorzubereiten. Als Holly mit einer Hauptrolle belohnt worden war, hatte sie sich um ihr Kostüm gekümmert.
Wann waren die Dinge so kalt und distanziert zwischen ihnen geworden?
Im Augenblick konnte Holly sehen, wie Hannah hierhin und dorthin flitzte, um sicherzustellen, dass kein Teller leer und kein Glas ungefüllt blieb. Sie war eine vorbildliche Gastgeberin, und eine Kleinigkeit wie die Beerdigung ihrer Mutter konnte sie nicht vom Kurs abbringen.
Holly war stumm durch den Tag gegangen, hatte nicht gefühlt, nicht geholfen ... Sie wandte den Blick von Hannah ab, und er fiel auf Hannahs Ehemann Loren. Igitt. Eine Hand in die Anzughose geschoben und mit einer Schulter an die Wand gelehnt, sprach Loren mit Stella, der Tochter von Hollys Cousine Renette. Stella war ein hübsches neunzehnjähriges Mädchen mit ausdrucksvollen braunen Augen. Sie lachte über etwas, das Loren sagte, und um ehrlich zu sein, schien Loren ein wenig zu viel zu lächeln. Als wäre er auf einem Grillnachmittag und nicht bei einem traurigen Anlass. Holly hatte nie viel für Loren übrig gehabt. Er war ein bisschen zu glatt für ihren Geschmack. Sie würde niemals verstehen, was Hannah in ihm sah, und das hatte einen weiteren Keil zwischen sie getrieben.
Oh, sicher, der offensichtliche Teil war ihr klar - Loren sah mit seinem blonden Haar und den blauen Augen sehr gut aus. Er war Anwalt und hatte sich auf Öl- und Schürfrechte spezialisiert. Es gefiel ihm, als Berater in den Flugzeugen der Ölgesellschaften herumzujetten. Er gab mit seinen Golferfolgen und Jagdausflügen an, und es schien, als wäre er jedes Wochenende unterwegs, um dem einen oder anderen Sport zu frönen.
Hannah hatte Loren bei der Arbeit getroffen. Sie war in der Verwaltung der Kanzlei Baker Botts in Austin beschäftigt gewesen, als Loren dort angestellt wurde. Holly hatte den Eindruck gehabt, dass er sofort anfing, sie anzubaggern. Das war verständlich, da Hannah einfach schön war. Durchtrainiert und gebräunt, hatte sie zudem hübsche blaue Augen. Doch für gewöhnlich verhielt sich Hannah sehr reserviert in solchen Dingen, besonders an ihrem Arbeitsplatz. Hannah lebte nach Regeln, jeder Menge Regeln.
Holly würde nie den Tag vergessen, an dem Hannah ankündigte, dass sie die Firma verlassen werde, da sie und Loren offiziell ein Paar waren. Das war vor acht oder neun Jahren gewesen. Holly und Hannah waren hier auf dem »Gehöft« gewesen, wie ihre Eltern die Familienranch genannt hatten, genauso wie Dads Eltern vor ihm. Es handelte sich dabei um ein weitläufiges altes, viktorianisches Haus mit einer umlaufenden Veranda. Durch die großen Fenster strömte viel Licht herein. Von jedem Zimmer hatte man einen Ausblick auf Weiden voller Gräser, Lebenseichen, Pappeln und Zedern. Und auf Kühe. Auf eine Unmenge von ziellos umherirrenden, wiederkäuenden, muhenden Kühen.
Die Böden waren mit Holzdielen bedeckt, und die fünf Schlafzimmer besaßen hohe Decken und winzige Kleiderschränke. Es gab zwei gemeinsam genutzte Bäder im Obergeschoss, ein Gästebad im Erdgeschoss sowie eine große Wohnküche mit einem verschrammten Tisch, an dem die Familie all die Jahre gegessen hatte. Das Wohnzimmer oder der Salon, wie Hollys Großmutter es genannt hatte, war klein und gemütlich, mit einem großen Kamin als Blickfang.
An jenem Sonntag hatte Hollys Mutter einen Schinken gebacken und Hannah ihren ausgeklügelten fettarmen Kartoffelsalat in der angeschlagenen, blauen Keramikschüssel mit den kleinen Blumen zubereitet, die ihre Mutter immer benutzte, um Kuchenteig anzurühren.
Holly hatte ihren üblichen Beitrag zu dem Sonntagstreffen mitgebracht: Chips, Salsa und ein Sechserpack Bier, das außer ihr niemand trank. Holly gab jederzeit freimütig zu, dass sie in der Küche nicht gut zu gebrauchen war, egal wie viele Versuche ihre Mutter gemacht hatte, aus ihr eine Köchin zu machen.
Holly hatte auf einem roten Barhocker gesessen und Hannah und ihrer Mutter zugesehen. Ihre Mutter war damals gesund gewesen, vielleicht ein wenig füllig um die Mitte. Ihr rotes Haar begann zu ergrauen, aber sie trug es seit ein paar Jahren kurz und lockig. Wenn sie sonntags zur Kirche ging, sah es aus, als würde es mit Schellack in Form gehalten werden.
»Bist du noch mit diesem Jungen zusammen, der in der Band ist?«, hatte ihre Mutter Holly gefragt.
Holly hatte nachdenken müssen, welchen Typen ihre Mutter meinte. Sie hatte nicht viel Glück gehabt, was ihre Beziehungen anging. Es war eine Tatsache, dass Musiker lausige Freunde abgaben. Und sie traf nicht immer eine gute Wahl, befürchtete Holly. Sie hatte sich immer zu den bösen Jungs hingezogen gefühlt, wilden Cowboys, die sie im Broken Spoke traf, oder Musikern, die sich gern von Gig zu Gig treiben ließen.
»Welchen Kerl meinst du?«, hatte sie wissen wollen.
»Ru-al oder so ähnlich«, hatte ihre Mutter gesagt, in dem Versuch, Hollys Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.
»Raul?« Das war der Gitarrist mit den dunklen Augen und den süßen Lippen gewesen, der eine Weile mit Charlie Sexton gespielt hatte. Sie war drei- oder viermal mit ihm ausgegangen, bevor er zur nächsten Frau wechselte. Holly war im Saxon Pub gewesen, um ihn spielen zu sehen, und da hatte er eine andere Frau geküsst. »Nein«, hatte sie zu ihrer Mutter gesagt und die Salsa betrachtet. »Ich glaube, er wohnt jetzt in San Antonio.«
»San Antonio«, hatte ihre Mutter wiederholt, als wäre sie nicht ganz sicher gewesen, wo oder was das war. »Das ist zu schade.«
»Nicht wirklich«, hatte Holly ihr fröhlich versichert. Sie war über Raul hinweg. Sie kam immer über sie hinweg.
»Nun, als deine Mutter würde ich mich sicherlich besser fühlen, wenn du einen netten Mann wie Hannahs Loren treffen könntest.«
Als könnte ein Mann Holly irgendwie besser machen. Und Hannahs Loren? Holly war ihm zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar Mal begegnet, und beide Male hatte er langsam und beiläufig ihren Körper mit seinen Augen abgetastet. Es war ihr kalt den Rücken heruntergelaufen.
»Wo wir gerade von Loren sprechen: Ich habe Neuigkeiten«, hatte Hannah leichthin gesagt. Sie hatte ein süßes, grünes Baumwollkleid und Sandalen mit kleinen Absätzen getragen. Holly in ihren Shorts und Flip-Flops hatte einen Stich Eifersucht verspürt. »Es ist ziemlich ernst geworden«, hatte Hannah gesagt und eine Pause gemacht, um ihre Mutter mädchenhaft anzulächeln, was Holly überraschte. »Ich verlasse Baker Botts zum Ende des Monats.«
»Was?«, hatte ihre Mutter gerufen. Peggy Fisher war der Meinung, dass es nichts Schlimmeres gab als Arbeitslosigkeit - Holly wusste das besser als sonst jemand.
»Nun, wir sind offiziell ein Paar, und bei Baker Botts gibt es eine Richtlinie für Beziehungen innerhalb der Belegschaft, also ...« Sie hatte mit den Schultern gezuckt. Mit einem kecken kleinen Lächeln auf ihrem Gesicht hatte sie den Kartoffelsalat erneut umgerührt.
»Du wirst aufhören?«, hatte Holly ungläubig gefragt. Sie war schockiert gewesen, dass Hannah aufhören würde, dort zu arbeiten - die getriebene, ehrgeizige Hannah.
»Hannah!«, hatte ihre Mutter ausgerufen und Holly ignoriert. Sie strahlte, als hätte Hannah gerade verkündet, dass sie eine Million Dollar im Garten gefunden hatte. »Das muss bedeuten, dass es mit euch beiden sehr ernst ist.«
»Wir werden sehen«, hatte Hannah verschämt geantwortet.
»Warum musst du deinen Job aufgeben?«, hatte Holly gefragt. »Da, wo ich arbeite, interessiert es niemanden, wer mit wem ausgeht, solange jeder zur Arbeit auftaucht.«
»Aber du arbeitest bei Whole Foods«, hatte Hannah ruhig klargemacht.
Holly hatte nicht gewusst, was genau das bedeuten sollte, aber es kam ihr nicht besonders schmeichelhaft vor.
»Darf ich annehmen, dass bedeutendere Neuigkeiten folgen werden?«, hatte Hollys Mutter aufgeregt gedrängt.
»Beruhige dich, Mom«, hatte Hannah lachend gesagt. »Im Moment wollen wir erst einmal abwarten, wo das hinführt.«
Das hatte Hannah gesagt, die Frau, die alles bis ins kleinste Detail vorausplante. Hannah, die seit ihrer Teenagerzeit gewusst hatte, wo (die Universität von Texas) und was sie studieren würde (Betriebswirtschaftslehre). Sie hatte niemals irgendetwas ohne einen festen Plan getan, während Holly die ganze Zeit völlig planlos vor sich hin lebte. Aber nicht Hannah. Sie würde niemals einen Job aufgeben, nur um »abzuwarten, wo das hinführt«.
»Ich kapiere das nicht«, hatte Holly gesagt. »Du würdest wirklich deinen Job aufgeben?«
Hollys Frage hatte ihr einen von Hannahs offenkundig ungeduldigen Blicken eingetragen. »Nun, ich kann nicht dort arbeiten und mit Loren ausgehen. Also gebe ich meinen Job auf.«
»Warum musst du diejenige sein, die aufhört?«, hatte Holly gefragt, während sie einen weiteren Chip in die Salsa tunkte. »Scheint eine riesengroße Sache zu sein, und du hast wirklich hart gearbeitet, um diese Stelle zu bekommen. Warum geht nicht er?«
»Weil«, hatte Hannah gesagt und ihren Löffel weggelegt, um Holly ihre volle Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. »Weil wir es so wollen. Er hat dort eine großartige Stelle.«
»So wie du.«
»Ich werde mir einen anderen Job suchen, Holly, okay? Findet das deine Zustimmung?«
»So meine ich das nicht«, hatte Holly verschnupft geantwortet. »Ich denke nur an dich, um ehrlich zu sein. Ich meine, wie leicht wird es für dich sein, einen Job wie den zu finden, den du jetzt hast?«
»Holly, hör sofort damit auf«, hatte ihre Mutter sie gescholten. »Du weißt nicht, wovon du redest.«
»Ich würde das nicht tun, wäre ich nicht der Ansicht, dass ich einen anderen Job finden kann«, hatte Hannah gesagt und sich wieder ihrem Kartoffelsalat zugewandt. »Ich habe ein paar wirklich gute Empfehlungen, und Loren kennt jede Menge Leute in der Stadt. Ich denke, dass das überhaupt kein Problem sein wird.«
»Ehrlich gesagt, Holly, würdest du gut daran tun, wenn du dich auf deine eigene Jobauswahl konzentrieren würdest«, hatte ihre Mutter eingeworfen. Ihre Mutter hatte es immer genossen, eine bereits spannungsgeladene Unterhaltung noch mehr aufzuheizen.
Es hatte funktioniert: Holly hatte mit dem Chip in der Salsa innegehalten. »Was soll das heißen?«
»Du weißt sehr gut, was ich meine: In einem Lebensmittelladen zu arbeiten, ist nicht das, was ich einen richtigen Job nennen würde. Du hattest jede Gelegenheit, das College abzuschließen und etwas aus dir zu machen. Aber du wolltest nicht.«
So hatten sie begonnen, einem vertrauten Pfad zu folgen: Holly hatte die Universität von Texas verlassen, während Hannah ihren Abschluss mit Auszeichnung machte. Holly hatte nicht vier Jahre damit verbringen wollen herauszufinden, was sich mit dem Songschreiben vertragen würde. Denn das war es, was sie wirklich tun wollte. Doch als sie in ihrem ersten Semester Musiktheorie und Klavier belegte, hatte ihre Mutter gedroht, ihr den Geldhahn zuzudrehen. Also hatte Holly wie Hannah sich für Geschichte und Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben und war so gelangweilt und sprachlos gewesen, dass sie alles Interesse am Lernen verloren hatte.
»Ich schätze, dass Lebensmittelhändler überall auf der Welt es nicht schätzen würden, wie du ihren Beruf herabsetzt, Mom. Und müssen wir alles in einem Vortrag darüber enden lassen, warum ich einen Collegeabschluss haben sollte?«, hatte Holly heftig gefragt.
»Ich will damit nur sagen, dass du dein ganzes Leben lang von einer Sache zur nächsten gewechselt hast«, war ihre Mutter ziemlich unbekümmert fortgefahren. »Wie viele Jobs hast du bis jetzt gehabt?«
»Ein paar«, hatte Holly zugegeben und ihre Verärgerung kaum noch im Zaum halten können. »Aber das sind nur Jobs. Du scheinst zu vergessen, dass meine Berufung, seit ich ein kleines Mädchen war, die Musik ist. Ich hatte verschiedene Jobs, um daneben meine Songs schreiben zu können, Mom. Das ist es, was ich wirklich machen will.«
»Nun, ich habe ein Recht auf eine eigene Meinung, und meine Meinung ist, dass du ein hartes Leben vor dir hast. Du bist vierunddreißig, Holly. Ich kenne keinen Songschreiber, der von dieser Tätigkeit leben kann«, hatte ihre Mutter gesagt, als würde sie unzählige Songschreiber kennen. »Deine Schwester hat das College abgeschlossen und sie hat ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie eine andere hervorragende Stelle finden wird, wenn es das ist, was sie will. Und ich bin sicher, dass sie das will, denn Hannah ist sehr konzentriert und ehrgeizig. Also anstatt sie ins Kreuzverhör zu nehmen, solltest du dir ansehen, wie Hannah so viel in ihrem Leben erreichen konnte, und dir eine Scheibe davon abschneiden. «
Als wäre Holly faul. Als würde sie Songs schreiben wollen, weil sie es sich damit irgendwie leichter machte. Sieh dir deine Schwester an.
Holly war tief getroffen gewesen, und sie hatte ihre Mutter mit offenem Mund angestarrt. »Denkst du ehrlich, dass es eine gute Idee ist, dass Hannah ihren Job kündigt, damit sie sehen kann, wie sich die Dinge mit irgendeinem Kerl entwickeln, mit dem sie zufällig ausgeht?«
»Herrgott noch mal, Holly«, hatte Hannah gesagt und war auf dem Weg zu dem Tisch mit dem Kartoffelsalat an ihr vorbeigefegt. »Doch nicht zufällig.«
»Lass mich dir etwas sagen, Holly Lynn«, hatte ihre Mutter gerufen und mit dem Schinkenmesser auf sie gezeigt. »Loren Drake ist ein guter Mann. Du solltest dir einen Mann wie ihn suchen.«
Sei wie Hannah, geh aus wie Hannah.
In einem Pavlow'schen Reflex hatte Holly reagiert, ohne nachzudenken. »Ich brauche keine Ehemann, Mom.« In demselben Augenblick, in dem die Worte aus ihrem Mund sprudelten, wusste sie, dass sie genauso reagiert hatte, wie ihre Mutter es gewollt hatte. Dennoch hatte sie weitergesprochen. »Ich muss keinen Kerl haben, um das Gefühl zu haben, dass mein Leben vollständig ist.«
»Nein, ich schätze, das hochbezahlte Songschreiben reicht dafür«, hatte ihre Mutter mit einem Schnauben gesagt.
Der Gedanke daran machte sie immer noch genauso wütend wie damals. Ihr Songschreiben war kein Jux, es war Hollys Leidenschaft, und sie war gut darin. Sie fing endlich an, Fortschritte zu machen. Außerdem hatte sie ihre Mutter niemals um Geld gebeten, sie hatte es immer allein geschafft, und sie konnte nicht verstehen, warum ihre Mutter sie nicht einfach unterstützen konnte.
Weil sie nicht perfekt war. Sie war nicht Hannah.
Holly blickte jetzt durch das Wohnzimmer zu Hannah hinüber. Sie sah abwesend aus, wie auf Autopilot, als sie leere Teller in die Küche trug und sie einer der Kirchendamen reichte. Holly richtete ihren Blick wieder auf Loren. Er war näher an Stella herangerückt.
Über das Babyfon auf dem Kaminsims hörte sie den Schrei ihres Neffen Mason im gleichen Moment wie Hannah. Hannah machte sich augenblicklich auf den Weg zur Treppe, aber Holly fing sie ab. »Ist es in Ordnung, wenn ich mich um ihn kümmere?«
Hannah blinzelte und stand einen Moment da, als könnte sie Hollys Frage nicht verarbeiten. Dann nickte sie knapp. »Sicher.«
Holly ging die Stufen mit dem abgetretenen roten Teppichläufer hinauf und den Flur entlang bis zum Kinderzimmer.
Die Jalousien waren heruntergezogen, und es dauerte einen Augenblick, bis Hollys Augen sich an den abgedunkelten Raum gewöhnt hatten. Die Wände waren immer noch von der verblichenen, gelben Tapete mit den grünen Efeuranken bedeckt, die sich in einer Ecke bereits von der Wand ablöste. Der alte Flechtteppich war auch schon zu Hollys und Hannahs Kinderzeit da gelegen. Aber jetzt gab es zusätzlich ein Gitterbett, einen Wickeltisch und einen Schaukelstuhl in einer Ecke des Raumes, der aussah, als stammte er von einem Garagenverkauf. Außerdem lag da eine tragbare Babyspielwiese.
Mason saß in der Mitte seines Gitterbettes wie ein Buddha, die Fäuste auf den mit Grübchen übersäten Oberschenkeln. Er beobachtete Holly mit großen blauen Augen, und als Holly näher kam, schenkte er ihr plötzlich ein großes zahnloses Grinsen und gluckste.
Holly grinste ebenfalls und tauchte unter das ausgeklügelte Mobile mit den Flugzeugen und Helikoptern und nahm ihn hoch. »Hey, Mason«, flüsterte sie. Sie liebte das fast gewichtslose Gefühl von Mason in ihren Armen, den Geruch der Babylotion und das glatte, seidige Gefühl seiner Haut. Vorsichtig ließ sie sich auf dem Boden nieder mit ihm, legte ihn auf seiner Spielwiese auf den Bauch und beobachtete, wie er an der Flosse eines Delfins kaute.
Sie könnte ihm tagelang zusehen, sinnierte Holly. Sie fand Babys irgendwie faszinierend, und in einem Winkel ihres Herzens wünschte sich Holly ein eigenes. Nicht dass sie gewusst hätte, wie sie das bewerkstelligen sollte, mit ihrem Lebensstil und Einkommen oder der nicht vorhandenen Erfahrung. Ganz zu schweigen vom Fehlen eines Samenspenders. Doch sie war vierunddreißig Jahr alt, und es gab Zeiten wie diese, wo sie sich nach einem Mason sehnte.
Sie hob ihn unter den Armen hoch und stellte ihn in ihrem Schoß hin. Er fing an zu glucksen und auf seinen dicken, kleinen Beinen zu hüpfen, auf und ab, auf und ab, während er nach ihrer Nase und ihren Ohrringen griff. Er hatte es geschafft, das kleine silberne Friedenszeichen, das sie an einer Kette um ihren Hals trug, in seinen Mund zu nehmen, als Hannah mit seiner Flasche und einer blauen Plastiktasse hereinkam.
»Da ist er ja«, gurrte sie und stellte die Flasche beiseite, um die Arme für ihr Baby zu öffnen. Holly reichte ihr Mason hinauf und stand auf.
Hannah küsste Masons runden Kopf. Sie legte eine Hand auf seine Hinterseite und runzelte die Stirn.
»Hast du ihm nicht die Windeln gewechselt?«
Es war Holly nicht in den Sinn gekommen. »Nein, ich ...«
»Babys sind grundsätzlich nass, wenn sie von einem Schläfchen aufwachen«, sagte Hannah. Sie legte Mason auf den Wickeltisch. »Mein kleiner Mann«, gurrte sie, während sie seine Windeln wechselte. »Hast du gut geschlafen? Bist du hungrig?« Als sie ihn in einer frischen Windel verpackt hatte, nahm sie ihn hoch und hob ihn über ihren Kopf, wobei sie ihn spielerisch schüttelte. Mason trat mit seinen Beinen und stopfte seine Faust in seinen Mund. »Ich liebe dich, Baby«, sagte Hannah und küsste sein Gesicht, bevor sie sich ihn auf die Hüfte setzte.
»Er wächst so schnell«, sagte Holly.
»Und er hat einen gesunden Appetit«, stimmte ihr Hannah zu.
»Was mag er?«, fragte Holly.
»Hm?«
»An Essen«, erläuterte sie.
Hannah blickte verständnislos. »An Essen?«
»Du sagtest ...«
»Das übliche Babynahrungszeug«, sagte Hannah mit einem Achselzucken, wobei sie Holly unterbrach. »Es gibt nichts, was dieses Kind nicht isst. Stimmt das nicht, Schnuffibärchen?«, fragte sie und zwickte Mason in die Nase. Mason griff nach dem Finger seiner Mutter und versuchte, ihn in seinen Mund zu stecken. »Die Leute fangen an aufzubrechen«, ergänzte Hannah, ohne den Blick von Mason zu wenden. Sie wiegte sich jetzt von Seite zu Seite und ließ ihn ein wenig hüpfen.
»Oh, in Ordnung«, sagte Holly. »Ich werde gehen und ihnen für ihr Kommen danken.«
»Wenn es dir nichts ausmacht.«
Holly beugte sich hinüber, um Masons Wange zu küssen, doch als sie das tat, kam es ihr vor, als würde sie Alkohol riechen und sah ihre Schwester neugierig an. »Hast du etwas getrunken? «
»Ja«, sagte Hannah. »Es war ein anstrengender Tag.«
Das war er ganz sicher gewesen. »Ja, es war anstrengend«, stimmte Holly zu. »Okay, Mase, das ist deine Tante Holly, die hinausgeht, um allen dafür zu danken, dass sie gekommen sind«, sagte sie und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und sah zu ihrer Schwester zurück. Hannah war völlig auf Mason konzentriert. Sie sprach leise auf ihn ein, plapperte in der Sprache der Mütter.
»Hannah.«
Hannah sah auf.
»Danke, dass du dich um alles gekümmert hast«, sagte Holly und machte eine vage Geste in Richtung Erdgeschoss. »Die Beerdigung, meine ich. Du hast wirklich großartige Arbeit geleistet, und ich weiß, dass es schwer war, mit deinem Job und Mason und allem anderen.«
Hannah sagte gar nichts, stand nur da und starrte Holly an, während Mason ihre Schulter vollsabberte.
Holly erwartete, dass sie wenigsten »Kein Problem« sagen würde. Oder sogar: »Danke, dass du es bemerkt hast.« Irgendetwas. Warum sagte sie nichts? »Okay«, sagte Holly. »Ich wollte nur Danke sagen.« Verwirrt wandte sie sich zur Tür.
»Es war hart«, sagte Hannah mit leiser Stimme. »Härter als du möglicherweise denkst.«
Holly blickte zu ihrer Schwester zurück. Sie konnte Stress erkennen, wenn sie ihn sah, und fragte sich, ob Hannah sich ihr vielleicht tatsächlich öffnen wollte.
»Ich habe jede wache Stunde damit verbracht sicherzustellen, dass Mom hatte, was sie brauchte«, sagte Hannah und wischte plötzlich die Flasche von der Kommode. »Ich hatte keinen Moment mehr für mich selbst, seit sie krank geworden ist.«
Da war eine anklagende Schärfe in ihrem Ton, und Holly bereitete sich mental auf einen Angriff vor. »Ich weiß. Du bist bis an deine Grenzen gegangen und darüber hinaus.«
»Dann kannst du vielleicht verstehen«, sagte Hannah, während sie Mason in ihre Arme manövrierte und ihm die Flasche reichte, die Mason gierig nahm, »wie verletzt ich war, dass Mom alles dir hinterlassen hat.«
Holly hatte bereits angefangen zu nicken, hörte aber plötzlich auf. »Warte ... Was?«
Hannahs Blick war hart, ihr Kinn angespannt. »Du hast mich schon verstanden.«
»Ja, ich habe dich verstanden, aber das ist verrückt«, sagte Holly. »Was willst du damit sagen?«
»Tu nicht so, als wüsstest du nicht ...«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest!«
Hannah warf ihren Kopf mit einem Stöhnen zurück. »Komm schon, Holly! Willst du mir sagen, dass du in den letzten paar Monaten nicht mit Mom darüber gesprochen hast?«
In Hollys Kopf drehte sich alles. »Mit ihr worüber gesprochen habe?«
»Über ihr Testament!«
»Ihr Testament? Machst du Witze?« Holly versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie und ihre Mutter jemals über ihr Testament gesprochen hatten, außer um zu erwähnen, dass ihre Mutter zumindest eins hatte. »Es ist mir niemals in den Sinn gekommen, Hannah. Sie sagte, sie hätte eins, und ich habe es dabei belassen. Ich nahm einfach an, dass alles an uns gehen würde.«
»Wirklich?«, fragte Hannah skeptisch. »Du hast dich niemals gefragt, was Mom mit dem Gehöft machen würde? Was ihr letzter Wunsch dafür sein könnte? Erwartest du ehrlich, dass ich dir das glaube?«
»Ich mag deinen vorwurfsvollen Tonfall nicht«, sagte Holly und verschränkte ihre Arme. »Du hast offensichtlich daran gedacht. Du hast es offensichtlich gelesen, und Mom ist noch nicht einmal richtig unter der Erde. Also, wenn du etwas zu sagen hast, Schwester, sag es einfach.«
»Mom hat dir das Gehöft und alle ihre Ersparnisse hinterlassen. «
Holly war fassungslos. »Da liegt offensichtlich irgendein Irrtum vor. Ich weiß nicht, woher du die Idee hast, aber ich bin sicher, das lässt sich leicht aufklären, weil es nicht wahr ist.«
Doch Hannah schüttelte bereits den Kopf. »Das ist kein Irrtum. « Mason schob die Flasche weg, aber Hannah steckte sie ihm gleich wieder in den Mund. »Sie hat alles dir hinterlassen, Holly. Und ich habe Schwierigkeiten damit zu glauben, dass du das nicht wusstest.«
Holly verstand gar nichts mehr. Das war unvorstellbar - ihre Mutter hatte Hannah für die großartigste Tochter in der Geschichte der Menschheit gehalten. »Du verstehst da etwas falsch, Hannah. Sie hat es sicher uns beiden hinterlassen.«
Hannah schnaubte und wandte sich ab. »Lies den Brief selbst.«
»Welchen Brief?«, fragte Holly aufseufzend.
»Den, den sie bei ihrem Pastor hinterlegt hat, zusammen mit der Kopie eines Testaments, das ich nie gesehen habe. Den, in dem sie schreibt, dass sie alles dir hinterlassen hat, der armen, unglückseligen Holly, weil du es dringender brauchen würdest als ich. Weil du niemanden hättest, der sich um dich kümmert, und du dich in der großen, bösen Welt nicht durchsetzen könntest.«
Das traf sie. Sogar im Tod hatte Hollys Mutter eine Möglichkeit gefunden, sie zu kritisieren. »Wenn das wahr ist, und ich glaube nicht, dass es das ist, aber nur um der Diskussion willen, wenn es wahr ist, werde ich dir von allem die Hälfte geben, Hannah. Ich meine ... ist da noch irgendetwas außer dem Haus? Was auch immer es ist, ich werde dir die Hälfte ...«
»Himmel, das ist so typisch für dich, das Wesentliche einfach nicht zu begreifen«, sagte Hannah kalt und legte Mason mit der Flasche ins Gitterbett. Nur wollte Mason nicht in sein Gitterbett. Er fing an zu weinen. Hannah krallte sich den Becher von der Kommode und trank gierig.
»Was begreife ich nicht?«, wollte Holly wissen. »Du beschuldigst mich praktisch, dir dieses heruntergekommene alte Haus zu stehlen! Ich hatte keine Ahnung, dass Mom das getan hat. Das ist das erste Mal, das ich davon höre, und ich sage dir, wir werden es teilen ...«
»Es ist nicht das Gehöft«, schrie Hannah. Mason heulte. »Du begreifst es einfach nicht. Während du hier in Austin deine Kaffeegetränke gebraut und deine Songs geschrieben hast«, sagte sie und wedelte mit ihren Händen vor Hollys Gesicht. »Während dieser Zeit habe ich fünfzig Stunden die Woche gearbeitet, mich um Mason, Loren und Mom gekümmert. So wie immer! Ich habe mich um alles gekümmert, während du unterwegs warst und getan hast, was auch immer du tust, und sie belohnt dich?«
Holly wich zurück. »Komm schon. Ich habe nicht darum gebeten. Ich wusste es nicht einmal.«
»Du magst sie nicht direkt darum gebeten haben, aber du bist genau da gelandet, wo du hinwolltest. Du musst nie mehr arbeiten, ist dir das klar? Du musst dich nie mehr um etwas kümmern. Du kannst tun, was auch immer zur Hölle du tun willst, während ich hinter dir aufräume. Himmel noch mal.«
Holly zitterte plötzlich vor Verärgerung und Frustration. Die Finger einer Hand krümmten sich zu einer Faust, während sie sich bemühte, nicht zu explodieren. »Hör auf, mir Schuldgefühle einzureden, Hannah. Willst du wissen, was Mom von mir hielt? Sie hielt mich für dumm und nutzlos und meinte, ich würde es niemals zu etwas bringen, weil ich nicht du war. Mein ganzes Leben habe ich versucht, die zu sein, die ich bin. Das war nie gut genug für sie, weil ich nicht du war!«
»Bockmist«, sagte Hannah ärgerlich. »Du konntest dir alles erlauben.«
Holly atmete tief durch. »Ich will mich nicht mit dir streiten, nicht ausgerechnet heute. Dein Baby weint, und ich gehe jetzt.«
Sie verließ das Zimmer. Der Kopf schwirrte ihr noch von Moms letzter Spitze gegen sie aus dem Grab heraus.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Er drückte ein paar Knöpfe, und die Maschine gab Geräusche wie eine Dampflokomotive von sich. Er drehte sich um und stolperte beinahe über seinen schwarzen Labrador. Milo schlich sich immer auf diese Weise an ihn heran, tauchte zwischen seinen Füßen auf, mit diesem verdammten Schwanz, der immer wedelte. Wyatt hatte nie einen glücklicheren Hund gekannt, und er hatte in seinem Leben bereits einige besessen. Egal was er dem Hund zumutete, er grinste und wedelte mit dem Schwanz und benahm sich, als wollte er mehr vom harten Leben.
Milo war die andere Sache, die er aus seiner Ehe behalten hatte. Denn Milo war sein Hund. Nicht ihrer. Seiner.
Sein Hund war hungrig. Wyatt öffnete einen Sack Hundefutter, den er in einem Mülleimer vor der schmierigen Küchenwand aufbewahrte. Er schöpfte zwei Becher Futter heraus und kippte es in einen schmutzigen Hundenapf. Milo störte es nicht, dass er aus einer Petrischale fraß. Er hatte eine gierige Pfote im Napf, während er sein Futter herunterschlang.
Wyatt ging zurück zu seinem Schlafzimmer und fand ein Hemd auf dem Stapel ungewaschener Kleidung, das nicht zu übel roch. Heute würde er sich um den kaputten Zaun kümmern, den das Vieh immer wieder niedertrampelte, und er musste nicht sauber sein oder gut riechen, um das zu tun. Er kleidete sich an, zog seine Stiefel an, putzte seine Zähne und fuhr mit den Fingern durch sein schwarzes Haar. Es war ziemlich lang geworden, und er hatte begonnen, es in einem kleinen Pferdeschwanz in seinem Nacken zu tragen. Er hätte nie gedacht, dass er das eines Tages tun würde - er war immer die gepflegte Sorte Mann gewesen, bevor seine Welt zusammenbrach. Zum Teufel damit. Er lebte allein. Die einzige Person, die er regelmäßig traf, war seine Tochter Grace, ein Baby, dem es egal war, wie er aussah. Er musste niemanden beeindrucken, und Milo würde ihn auch mögen, wenn er nackt herumlief. Was er, um ehrlich zu sein, einoder zweimal getan hatte.
Wyatt kehrte in die Küche zurück. An der Kaffeemaschine leuchteten jetzt alle Lichter grün, also goss er sich eine Tasse ein und setzte sich an den Küchentisch. Da stand eine ordentliche Reihe von Sachen, die er jeden Tag benutzte: Salz- und Pfefferstreuer, Tabascosauce. Ein Stapel Papierservietten neben einem Stapel Papierteller. Und sein Notebook, seine einzige wirkliche Verbindung zur Außenwelt. Oh, er hatte einen Fernseher mit Zimmerantenne, damit er Football und Golf sehen konnte, viel mehr bekam er damit auch nicht herein.
Er öffnete das Notebook und seine Startseite erschien, mit den Nachrichten, den Sportergebnissen und seinem persönlichen Favoriten, dem Wort des Tages. Das heutige Wort war zurückhaltend.
Zurückhaltend. Bedeutet behutsam, vorsichtig. Wie in: Der Herr ist zurückhaltend damit, seine Bedenken zu äußern.
Zurückhaltend.
Wyatt trank seinen Kaffee und klickte weiter zu den Sportnachrichten, um die Baseball-Ergebnisse durchzuklicken. Er sah nichts, was er nicht bereits wusste, und schloss das Notebook. Er blickte hinaus. Wyatt hielt sich nie mit Frühstück auf. Er mochte es, früh hinauszukommen, wenn es noch kühl und windstill war. Er mochte den Gesang der Vögel am Morgen, bevor ihnen der Tag zu warm wurde und sie ins Unterholz verschwanden.
Er hörte ein schwaches Jaulen und blickte über seine Schulter. Milo hatte sein Frühstück beendet und stand abmarschbereit an der Hintertür. Die Farbe war an der Stelle völlig abgekratzt, wo Milo sich festkrallte, wenn Wyatt nicht aufpasste. Wyatt stand auf, nahm seinen schweißfleckigen Hut vom Tisch und setzte ihn auf.
Er öffnete die hintere Fliegengittertür. Milo machte sich davon, rannte mit der Nase über dem Boden über den ungepflegten Rasen. Mit der Kaffeetasse in der Hand latschte Wyatt hinunter zur Scheune, stellte seine Kaffeetasse auf ein Regal in der Scheune neben zwei andere Kaffeetassen. Drinnen hatte er drei Pferde, von denen er zwei auf die Weide schickte, indem er auf ihre Hinterteile klatschte und sie zum Traben brachte, damit sie sich ihre Beine vertraten. Das dritte sattelte er. Troy nannte er es, nach dem großartigen Quarterback der Dallas Cowboys, Troy Aikman.
Nachdem er Troy gesattelt hatte, führte er ihn hinaus, pfiff nach Milo und schwang sich in den Sattel. Der Hund kam aus dem Unterholz gerast und rannte neben Troy her, während Wyatt ihn am Zügel herumführte.
Er ritt über sich selbst überlassenes Weideland, durch ein Wäldchen aus Zedern und Sumpfeichen und um einen Feigenkaktus herum, der die Größe eines Swimmingpools hatte.
Seine Ranch war groß für diesen Teil von Texas: um die fünfzehntausend Morgen oder ein wenig mehr als dreiundzwanzig Quadratmeilen. Da gab es eine Menge Zäune auszubessern, lange Strecken, die das Vieh und die Pferde zurücklegen mussten. Wyatt hatte einen alten Laster, den er benutzte, wenn die Arbeit es rechtfertigte, aber meistens ritt er lieber.
Er ritt zu der südöstlichen Ecke des Zaunes, wo das Vieh seine dicken Köpfe durchgesteckt und den Stacheldraht heruntergedrückt hatte. Er verschaffte sich einen Überblick über den Schaden: Der Draht würde herausgeschnitten und neu gespannt werden müssen. Er beschloss, Jesse Wheeler anzurufen, damit der herauskam und ihm half. Jesse war Cedar Springs' ortsansässiger Mann für alle Fälle. Zu seinen Fähigkeiten war er gekommen, während er von Bett zu Bett und Frau zu Frau gehüpft war und dabei Gelegenheitsjobs angenommen hatte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Wyatt verbrachte den Morgen damit, den Stacheldraht von den Pfosten zu schneiden. Um elf war es wahnsinnig heiß geworden, und er machte eine Pause, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen und etwas aus seiner Feldflasche zu trinken. Er stand neben Troy im Schatten, als er die Fahrzeuge hörte. Als er sich umdrehte, sah er einen Leichenwagen in die Auffahrt des angrenzenden Besitzes einbiegen. Ein weiteres Auto fuhr genau hinter ihm. Und noch eines. Eine Beerdigungsprozession bewegte sich in Richtung des alten Fisher- Friedhofs. Wyatt hatte gehört, dass die alte Dame, die dort lebte, an Krebs litt. Doch ihm war neu, dass sie gestorben war. Ehrlich gesagt, hatte er den richtigen Augenblick abgewartet, in der Hoffnung, das Land kaufen zu können, wenn sich die Gelegenheit ergab.
Denn das war es, was Wyatt tat. Oder zumindest früher getan hatte. Er hatte Land gekauft und verkauft, manchmal ein Bauvorhaben darauf verwirklicht. Wyatt Clark von Clark Properties würde halb Texas aufkaufen, wenn das nötig war, um sich die Zivilisation vom Leib zu halten. Seit seine Ehefrau Macy ihn wegen ihres ersten Mannes verlassen hatte, war ihm nicht sehr danach gewesen, mit der Welt in Kontakt zu kommen. Je mehr Land er zwischen sich und alle anderen Menschen bringen konnte, desto besser.
Er sah blinzelnd den Autos nach, während sie auf dem Weg hinauf zu diesem alten Privatfriedhof zwischen den Zedern verschwanden, und nahm einen weiteren ordentlichen Schluck aus seiner Feldflasche.
Es sah so aus, als wäre ihm gerade die Gelegenheit geboten worden, zurückhaltend ein paar Erkundigungen einzuziehen.
2
Als Peggy Fisher erfahren hatte, dass nichts mehr sie vor dem Krebs retten konnte, der sie zerfraß, machte sie sich daran, mit letzter Kraft ihre Beerdigung zu planen.
Diese ging genau so vonstatten, wie sie es gewollt hatte, dank ihrer Tochter Hannah. Sie wurde in dem blauen Leinenkostüm beerdigt, das sie selbst ausgesucht hatte. Dank ihrer Anweisungen passte die Farbe des Sarges hervorragend zu dem Kostüm. Ihr Cousin D.J., seines Zeichens Schweißer und aufstrebender Sänger, sang »Amazing Grace«, und ein Gesteck aus Maßliebchen lag auf ihrem Grab. Die Trauernden wurden freundlich gebeten, statt Kränzen an die Susan-G.-Komen-Stiftung zu spenden.
Peggy war nicht an Brustkrebs gestorben, sie hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs gehabt, doch sie hatte gedacht, dass Brustkrebs im Nachruf besser klingen würde. »Niemand weiß, was eine Bauchspeicheldrüse überhaupt ist«, hatte sie gesagt, deutlich verärgert darüber, dass sie Krebs in einem Organ bekommen hatte, das niemand verstand.
Es gab nur zwei Fotos von Peggy auf der Beerdigung. Die Vergrößerungen waren zu beiden Seiten des Sarges platziert worden, sodass auch Trauernde hinten in der verfallenden, alten presbyterianischen Kalksteinkirche mit dem durchhängenden Balkon sie sehen konnten.
Peggy hatte oft bedauert, dass sie nicht etwas mit Fotos gemacht hatte, als ihr Ehemann Dale vor fünfzehn Jahren gestorben war. Er hatte an einem heißen Nachmittag draußen den Rasen gemäht und war direkt neben den Rosen tot umgefallen, die er in jenem Frühjahr gepflanzt hatte.
»Er hatte nach dem Tod von Dale Junior nicht mehr viel Lebensmut«, hatte Peggy Hannah und ihrer zweiten Tochter Holly erklärt, als sie ihnen die schlechte Nachricht überbrachte. »Sein altes Herz hat schließlich nicht mehr mitgemacht.«
Holly, ihre Jüngste, hatte diese Vorstellung ein wenig merkwürdig gefunden, da Dale Junior vor zwanzig Jahren mit einem Loch in seinem Herzen geboren worden war und nicht mehr als ein paar Tage gelebt hatte. Sie hielt es für wahrscheinlicher, dass der irrwitzig hohe Cholesterinspiegel ihres Vaters der Grund für sein Ableben gewesen war. Doch Holly diskutierte nicht mit ihrer Mutter, denn ihrer Mutter gefiel es, die Dinge für die Außenwelt auf eine bestimmte Weise erscheinen zu lassen. Ihr gefiel die Vorstellung, dass ihr Ehemann an gebrochenem Herzen gestorben war und dass ihre Töchter leuchtende Beispiele für das weibliche Ideal waren. Was auch immer das sein sollte.
Nach der Beerdigung und dem Trauergottesdienst am Grab auf dem alten Fisher-Gehöft, wo Peggy an die vierzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, schleppte eine gute Seele ihre Fotos zurück zum Haus. Dort hatten sich Familie und Freunde versammelt, um ihr Beileid zu bekunden und das Essen zu verzehren, das Frauen aus der Kirchengemeinde vorbereitet hatten. Die beiden Fotos wurden nebeneinander gegen die Schiebetür des Esszimmers gelehnt, wo sie den Blick auf den Rasen, die sanft geschwungene Weide und die Zedern hinter dem Haus verstellten.
Holly betrachtete die Bilder. Sie hatte höflich das Angebot von Bohnen, Kartoffelsalat und Schinken abgelehnt und nur beim Eistee nachgegeben. Gelegentlich fühlte sie, wie ein kalter Tropfen Kondenswasser von dem schwitzenden Glas ihre Zehen zwischen den Riemen ihrer Sandalen traf. Die Fotos ihrer Mutter rief in ihrem benommenen Kopf einen einzigen Gedanken hervor: Jetzt gab es nur noch sie und Hannah. Holly war offiziell zu keinen Gefühlen mehr fähig, da sie bereits in den gesamten letzten, schmerzhaften Monaten im Leben ihrer Mutter getrauert hatte. Sogar schon länger, wenn sie darüber nachdachte. Was sie nicht tun wollte.
Ihre Mutter hatte sich verrückt damit gemacht, welche Bilder sie auswählen sollte, und sich schließlich für diese beiden entschieden. Das Erste, aufgenommen im Alter von etwa zehn Jahren, zeigte in verschwommenem Schwarz-Weiß ein Mädchen mit Rattenschwänzen, das auf einem alten Fahrrad saß. Es besaß keine besondere Ähnlichkeit mit Peggy. »Ich war damals so glücklich«, hatte sie mit einem Seufzen gesagt, während sie sich in dem rothaarigen Kind mit vollen Lippen bewunderte.
Das zweite Foto war aufgenommen worden, nachdem Peggy Mutter geworden war. Sie lachte den Fotografen an, wer auch immer das gewesen war. Ein spontanes Lachen mit offenem Mund. Sie hatte Holly und Hannah, die zwei Jahre Ältere, auf ihrem Schoß. Sie trugen aufeinander abgestimmte, grüne Sommerkleider. Hannahs kastanienbraunes Haar war auf Schulterlänge geschnitten, und sie hatte einen Pony. In ihren blauen Augen lag ein glückliches Leuchten. Hollys rotblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen, ihre graugrünen Augen blickten düster. Peggys Arme waren fest um ihre Mädchen gelegt.
Ab wann hatte Peggy Fisher ihre Mädchen nicht mehr im Griff gehabt? Wann waren sie von ihrem Schoß gerutscht und hatten aufgehört, aufeinander abgestimmte Sommerkleider und Pferdeschwänze zu tragen?
Holly schätzte, dass das Foto vor etwa dreißig Jahren aufgenommen worden war, als Hannah sechs und sie vier gewesen war. Hatte ihre Mutter es ausgesucht, weil Hannah und Holly jung und noch frei von den Spannungen waren, die seit einigen Jahren zwischen ihnen bestanden? War es aufgenommen worden, bevor die Vergleiche angefangen hatten, oder hatte ihre Mutter bereits damit begonnen gehabt, sie anzustellen? Eine Erinnerung daran blitzte in ihr auf, wie sie mit ihrer Mutter Brötchen backten. Sie und Hannah hatten Schürzen umgebunden bekommen, die ihnen viel zu groß waren, und hatten auf Stühlen neben ihrer Mutter gestanden. Holly konnte sich erinnern, wie sie den Teig ausgerollt und dann mit den Deckeln von Einmachgläsern Kreise ausgestochen hatte.
Holly, sieh dir die Schweinerei an, die du veranstaltet hast. Schau dir Hannah an! Siehst du, wie ordentlich sie das gemacht hat? Holly konnte immer noch Hannahs Reihe von perfekt geformten Brötchen sehen, aufgereiht wie Soldaten und mit gleichem Abstand zueinander. Und ihre Brötchen - nicht ganz rund, nicht ganz gerade in Reihe gelegt. Eines hatte die Form eines Hündchens gehabt.
Warum kannst du es nicht wie Hannah machen?
Ein kollektiver Alarmschrei schreckte Holly aus ihren Gedanken auf. Sie blickte um die beiden Fotos herum auf den hinteren Rasen. Die Rasensprenger waren genau dort angesprungen, wo ein paar Leute mit ihren voll beladenen Tellern herumliefen. Hannah hatte damals darauf bestanden, dass diese Sprenger installiert wurden, damit sich Peggy keine Sorgen um den Garten machen musste.
»Ich habe Loren gesagt, dass er die Rasensprenger abstellen soll.«
Holly hatte nicht bemerkt, dass Hannah neben ihr stand, bis sie anfing zu sprechen. Sie sah, wie Hannah mit müder Unzufriedenheit die Gäste betrachtete, die ungeschickt aus der Reichweite der Rasensprenger hüpften.
Sie sieht blass aus, dachte Holly. Abgespannt. Sie isst nichts, trinkt nur Tee.
Doch Hannah war schön wie immer, tadellos gekleidet in einem schwarzen Kostüm und einem Paar Pumps mit unglaublich hohen Absätzen. Ihre Haare waren im Nacken ordentlich geknotet, und ein Diamantanhänger funkelte an ihrem Hals. Wie gewöhnlich fühlte sich Holly neben ihrer Schwester ein wenig plump. Ihr zottiges Haar hing bis auf ihre Schultern, Clips hielten es aus ihrem Gesicht. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Etuikleid und ein Paar unscheinbare, schwarze Sandalen, die sie bei einem Schuhdiscounter mitgenommen hatte.
»Was wirst du mit denen machen?«, fragte Holly und nickte in Richtung der vergrößerten Bilder, während Hannahs Ehemann Loren nach draußen eilte, um den Leuten vom Rasen zu helfen und die Rasensprenger auszuschalten.
»Sie wegwerfen«, sagte Hannah mit einem Schulterzucken. »Es sei denn, du möchtest ein paar riesige Bilder von Mom in deinem Apartment hängen haben.« Sie lächelte.
Halt, war das etwa ein Witz? Holly konnte sich nicht daran erinnern, wann ihre Schwester das letzte Mal einen Witz gemacht hatte.
»Ich passe«, sagte Holly und erwiderte ihr Lächeln. Doch Hannah sah aus, als langweilte sie sich. Ein unbehagliches Schweigen erfüllte den Raum um sie herum. Sie beide hatten sich derzeit sehr wenig zu sagen. Der Tod ihrer Mutter hatte ihre zerbrechliche Beziehung arg strapaziert.
Holly sah an Hannah vorbei zum Esszimmer, wo die Auflaufformen mit dem Essen standen. »Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«
Hannah richtete ihren von müder Unzufriedenheit erfüllten Blick auf Holly. »Nein, danke. Es ist für alles gesorgt«, sagte sie, als hätte Holly zu lange gewartet, um eine offensichtliche Frage zu stellen.
Hannah war wahrscheinlich immer noch wütend auf sie. Sie hatte Holly gebeten, die Krankenschwestern des Cedar-Springs- Memorial-Hospital anzurufen und ihnen von der Trauerfeier zu erzählen, aber Holly hatte es vergessen. Sie hatte versucht, so viele Schichten wie möglich zu arbeiten, damit sie es sich leisten konnte, nach der Beerdigung ein paar Tage freizunehmen. Deswegen hatte sie es vergessen.
Nur eine Schwester war gekommen, und Hannah machte Holly dafür verantwortlich.
»Ich versuche nur zu helfen«, sagte Holly jetzt.
Hannah Blick glitt über sie hinweg. »Ich denke, ich hole mir etwas zu essen.«
Holly versuchte, sich nicht beleidigt zu fühlen, als Hannah wegging. Okay, es stimmte schon, dass Hannah sich um alles in Bezug auf ihre Mutter gekümmert hatte. Wirklich um alles -von dem Augenblick an, als sie das mit dem Krebs herausgefunden hatten, bis ganz zum Schluss.
Obwohl sie als Büroleiterin in einer großen Rechtsanwaltskanzlei im Zentrum von Austin arbeitete, war Hannah diejenige, die die Zeit gefunden hatte, jeden Tag nach ihrer Mutter zu sehen, vierzig Meilen pro Strecke bis hier herauszufahren, wo sie aufgewachsen waren. Es war Hannah gewesen, die ihre Mutter zu jedem Arzttermin gebracht hatte, zu jeder Chemotherapiesitzung, und die sichergestellt hatte, dass ihre Rezepte ausgestellt wurden und dass sie ihre Medikamente nahm. Es war Hannah gewesen, die die Krankenschwester angestellt hatte, die nach Mom sehen sollte, als sie schwächer geworden war, sich aber weigerte, das Haus zu verlassen, das sie ihr ganzes Erwachsenenleben lang bewohnt hatte. Und am Ende war es auch Hannah gewesen, die Mom nach Austin mitgenommen hatte, damit sie bei ihr, Loren und ihrem neugeborenen Baby Mason wohnen konnte. Niemand konnte behaupten, dass Hannah Fisher Drake nicht ihr Leben lang die perfekte Tochter gewesen war.
Niemand konnte behaupten, dass sie sich während der Krankheit ihrer Mutter nicht als stark und tugendhaft erwiesen hatte. Hannah war der Fels in der Brandung. Sie wusste genau, was in jeder möglichen Lebenslage zu tun war. Sie war, in Hollys Augen, die Mutter aller Kontrollfreaks.
Doch niemand konnte sagen, dass Holly nicht versucht hatte, bei ihrer Mutter auszuhelfen. Immer - immer - hatte sie versucht gleichzuziehen. Nur dass Holly nicht jeden Tag hinausfahren konnte, um nach ihrer Mom zu sehen. Holly war Songschreiberin, wohnte in einer Einzimmerwohnung und überlebte mithilfe ihres Gehalts als Bedienung in einem Café und dem winzigen Bisschen Tantiemen, die sie von der Austin Sound Company oder ASC bekam, einem Musikverlag, der drei ihrer Songs gekauft hatte.
Hollys Leben war das genaue Gegenteil von Hannahs. Sie konnte nicht bei der Arbeit fehlen. Wenn sie nicht auftauchte, bekam sie kein Geld, und wenn sie kein Geld hatte, konnte sie die Miete nicht bezahlen. Holly hatte nicht wie Hannah diverse Bankkonten mit verschiedenen Spareinlagen. Sie hatte keine Sicherheitspolster, auf die sie sich zurückfallen lassen konnte. Sie war nicht so organisiert oder so effizient wie ihre Schwester. Sie hatte versucht, ihr das zu erklären, als Hannah sie wenige Monate vor Moms Tod gebeten hatte, nach ihr zu sehen.
»Ich kann nicht«, hatte Holly gesagt und sich schrecklich schuldig und unzulänglich gefühlt. »Ich muss arbeiten. Die Miete ist nächste Woche fällig.«
Hannah hatte einen sehr langen Augenblick geschwiegen. »Ist das so, Holly?«, hatte sie schließlich gesagt, ihre Stimme voller Skepsis. »Ich habe ein Baby, arbeite fünfzig Stunden die Woche und kümmere mich um Mom. Und du kannst innerhalb der nächsten Tage kein einziges Mal hinausfahren?«
»Ich kann am Mittwoch kommen«, hatte Holly angeboten.
»Mittwoch ist zu spät.«
»Siehst du, deshalb habe ich letzte Woche versucht, für dich einzuspringen«, hatte Holly gereizt gesagt. Sie war sich ihrer Unzulänglichkeiten bewusst, ihrer Unfähigkeit, eine vorbildliche Schwester oder Tochter zu sein. »Da hatte ich ein paar freie Tage. Aber du hattest alles so gut durchorganisiert, da war kein Platz für mich, erinnerst du dich?«
»Kein Platz?« Hannah hatte ihre Meinung dazu durch ein Schnauben zu Ausdruck gebracht. »Du konntest Mom nicht zur Chemo bringen, erinnerst du dich? Was sollte das? Ich musste mir extra frei nehmen.«
»Aber ich hätte zumindest etwas tun können, Hannah. Komm schon, du weißt, dass ich nicht den gleichen Grad von Freiheit habe wie du. Ich bin bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinausgefahren, um nach Mom zu sehen. Ich bin letzte Woche mit ihr Lebensmittel einkaufen gegangen. Ich bin mit ihr zu Onkel D.J. gefahren.«
»Ja, ich weiß, dass du sie zum Lebensmittelladen und zu Onkel D.J. gebracht hast. Aber du hast diese Dinge getan, als es für dich günstig war. Ich habe früher im College als Kellnerin gearbeitet, also tu nicht so, als wüsste ich nicht, dass du Schichten tauschen kannst.«
»Ich bin Schichtführerin«, hatte Holly klargestellt. »Ich kann nicht einfach mit jedem tauschen. Es muss ein anderer Schichtführer sein. Also lass uns lieber jemanden einstellen, Hannah. Dann muss du nicht alles machen.«
»Du willst für jemanden zahlen?«, hatte Hannah geblafft. »Nun, mach dir keine Sorgen deswegen. Ich werde alles regeln, so wie ich es immer regle. Ich hätte es besser wissen müssen. Es war sinnlos, darauf zu zählen, dass du da sein wirst.«
»Ich hätte es besser wissen müssen, als zu erwarten, dass du dich nicht wie ein totaler Kontrollfreak verhalten würdest«, hatte Holly zurückgeschossen.
»Gott, Holly, unsere Mutter liegt im Sterben! Willst du ausgerechnet jetzt mit mir streiten?«
»Oh, großartig, du ziehst die Trumpfkarte aus dem Ärmel und hast das letzte Wort«, hatte Holly gehöhnt.
Dieses Telefongespräch hatten sie wie so viele ihrer Telefongespräche beendet: mit einem wütenden Patt. Es hatte weitere Telefonate gegeben, alle in demselben Tonfall. Hannah wurde immer distanzierter, und Holly tat nie genug.
Holly schüttelte den Kopf, als sie auf das Foto mit den beiden Mädchen blickte. So viel gefrorenes, bitteres Wasser war inzwischen ihren Bach hinuntergeflossen. Im letzten Jahr hatte es sich wie eine Flutwelle angefühlt, die sich zu schnell vorwärts bewegte, die drohte, sie hinwegzufegen und ihre Beziehung zu vernichten. Und dann hatte Hannah doch eine Krankenschwester eingestellt, die ein paar Stunden am Tag nach Mom sehen sollte. Sie hatte es getan, ohne Holly zu konsultieren. Sie hatte es einfach getan.
Es war nicht immer so gewesen zwischen ihnen. Holly konnte jedoch nicht sagen, wann sich die Risse zwischen ihnen angefangen hatten aufzutun. Es hatte eine Zeit gegeben, zu der Holly Hannah angebetet hatte. Ihre Schwester war klug und witzig und hatte ein sonniges Gemüt. Sie hatten zusammen mit Puppen und Cowboy und Indianer gespielt. Sie hatten in zwei Einzelbetten in einem Zimmer am Ende des Flures im Obergeschoss geschlafen. Die Sommerbrise war durch die geöffneten Fenster hereingeweht und ihr Hund Tigger hatte stillgehalten, während er in alberne Verkleidungen gesteckt wurde.
Als Holly in der ersten Klasse zum ersten Mal den Schulbus bestieg, war es Hannah gewesen, die ihre Hand gehalten und eine Sitzbank gefunden hatte, die sie sich teilen konnten. Hannah hatte sie zu ihrer Klasse gebracht und nach der Schule abgeholt. Hannah half ihr dabei, das Einmaleins zu lernen und hängte die Zeichnungen, die Holly in der Schule angefertigt hatte, in ihrem Zimmer auf. Hannah war mitfühlend, als Hollys schlechte Leistungen in der Schule als Legasthenie diagnostiziert wurden und hatte mit ihr die Tricks gepaukt, die ihr dabei halfen, damit fertigzuwerden. Nicht, dass es geholfen hätte - Holly war keine großartige Schülerin geworden.
Hannah war die erste Person gewesen, an die Holly sich gewandt hatte, als sie ihren ersten Freund und ihre erste Trennung gehabt hatte - mit dreizehn. Sie hatte Holly mit fünfzehn geholfen, sich auf das Vorsprechen für das Schulmusical vorzubereiten. Als Holly mit einer Hauptrolle belohnt worden war, hatte sie sich um ihr Kostüm gekümmert.
Wann waren die Dinge so kalt und distanziert zwischen ihnen geworden?
Im Augenblick konnte Holly sehen, wie Hannah hierhin und dorthin flitzte, um sicherzustellen, dass kein Teller leer und kein Glas ungefüllt blieb. Sie war eine vorbildliche Gastgeberin, und eine Kleinigkeit wie die Beerdigung ihrer Mutter konnte sie nicht vom Kurs abbringen.
Holly war stumm durch den Tag gegangen, hatte nicht gefühlt, nicht geholfen ... Sie wandte den Blick von Hannah ab, und er fiel auf Hannahs Ehemann Loren. Igitt. Eine Hand in die Anzughose geschoben und mit einer Schulter an die Wand gelehnt, sprach Loren mit Stella, der Tochter von Hollys Cousine Renette. Stella war ein hübsches neunzehnjähriges Mädchen mit ausdrucksvollen braunen Augen. Sie lachte über etwas, das Loren sagte, und um ehrlich zu sein, schien Loren ein wenig zu viel zu lächeln. Als wäre er auf einem Grillnachmittag und nicht bei einem traurigen Anlass. Holly hatte nie viel für Loren übrig gehabt. Er war ein bisschen zu glatt für ihren Geschmack. Sie würde niemals verstehen, was Hannah in ihm sah, und das hatte einen weiteren Keil zwischen sie getrieben.
Oh, sicher, der offensichtliche Teil war ihr klar - Loren sah mit seinem blonden Haar und den blauen Augen sehr gut aus. Er war Anwalt und hatte sich auf Öl- und Schürfrechte spezialisiert. Es gefiel ihm, als Berater in den Flugzeugen der Ölgesellschaften herumzujetten. Er gab mit seinen Golferfolgen und Jagdausflügen an, und es schien, als wäre er jedes Wochenende unterwegs, um dem einen oder anderen Sport zu frönen.
Hannah hatte Loren bei der Arbeit getroffen. Sie war in der Verwaltung der Kanzlei Baker Botts in Austin beschäftigt gewesen, als Loren dort angestellt wurde. Holly hatte den Eindruck gehabt, dass er sofort anfing, sie anzubaggern. Das war verständlich, da Hannah einfach schön war. Durchtrainiert und gebräunt, hatte sie zudem hübsche blaue Augen. Doch für gewöhnlich verhielt sich Hannah sehr reserviert in solchen Dingen, besonders an ihrem Arbeitsplatz. Hannah lebte nach Regeln, jeder Menge Regeln.
Holly würde nie den Tag vergessen, an dem Hannah ankündigte, dass sie die Firma verlassen werde, da sie und Loren offiziell ein Paar waren. Das war vor acht oder neun Jahren gewesen. Holly und Hannah waren hier auf dem »Gehöft« gewesen, wie ihre Eltern die Familienranch genannt hatten, genauso wie Dads Eltern vor ihm. Es handelte sich dabei um ein weitläufiges altes, viktorianisches Haus mit einer umlaufenden Veranda. Durch die großen Fenster strömte viel Licht herein. Von jedem Zimmer hatte man einen Ausblick auf Weiden voller Gräser, Lebenseichen, Pappeln und Zedern. Und auf Kühe. Auf eine Unmenge von ziellos umherirrenden, wiederkäuenden, muhenden Kühen.
Die Böden waren mit Holzdielen bedeckt, und die fünf Schlafzimmer besaßen hohe Decken und winzige Kleiderschränke. Es gab zwei gemeinsam genutzte Bäder im Obergeschoss, ein Gästebad im Erdgeschoss sowie eine große Wohnküche mit einem verschrammten Tisch, an dem die Familie all die Jahre gegessen hatte. Das Wohnzimmer oder der Salon, wie Hollys Großmutter es genannt hatte, war klein und gemütlich, mit einem großen Kamin als Blickfang.
An jenem Sonntag hatte Hollys Mutter einen Schinken gebacken und Hannah ihren ausgeklügelten fettarmen Kartoffelsalat in der angeschlagenen, blauen Keramikschüssel mit den kleinen Blumen zubereitet, die ihre Mutter immer benutzte, um Kuchenteig anzurühren.
Holly hatte ihren üblichen Beitrag zu dem Sonntagstreffen mitgebracht: Chips, Salsa und ein Sechserpack Bier, das außer ihr niemand trank. Holly gab jederzeit freimütig zu, dass sie in der Küche nicht gut zu gebrauchen war, egal wie viele Versuche ihre Mutter gemacht hatte, aus ihr eine Köchin zu machen.
Holly hatte auf einem roten Barhocker gesessen und Hannah und ihrer Mutter zugesehen. Ihre Mutter war damals gesund gewesen, vielleicht ein wenig füllig um die Mitte. Ihr rotes Haar begann zu ergrauen, aber sie trug es seit ein paar Jahren kurz und lockig. Wenn sie sonntags zur Kirche ging, sah es aus, als würde es mit Schellack in Form gehalten werden.
»Bist du noch mit diesem Jungen zusammen, der in der Band ist?«, hatte ihre Mutter Holly gefragt.
Holly hatte nachdenken müssen, welchen Typen ihre Mutter meinte. Sie hatte nicht viel Glück gehabt, was ihre Beziehungen anging. Es war eine Tatsache, dass Musiker lausige Freunde abgaben. Und sie traf nicht immer eine gute Wahl, befürchtete Holly. Sie hatte sich immer zu den bösen Jungs hingezogen gefühlt, wilden Cowboys, die sie im Broken Spoke traf, oder Musikern, die sich gern von Gig zu Gig treiben ließen.
»Welchen Kerl meinst du?«, hatte sie wissen wollen.
»Ru-al oder so ähnlich«, hatte ihre Mutter gesagt, in dem Versuch, Hollys Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.
»Raul?« Das war der Gitarrist mit den dunklen Augen und den süßen Lippen gewesen, der eine Weile mit Charlie Sexton gespielt hatte. Sie war drei- oder viermal mit ihm ausgegangen, bevor er zur nächsten Frau wechselte. Holly war im Saxon Pub gewesen, um ihn spielen zu sehen, und da hatte er eine andere Frau geküsst. »Nein«, hatte sie zu ihrer Mutter gesagt und die Salsa betrachtet. »Ich glaube, er wohnt jetzt in San Antonio.«
»San Antonio«, hatte ihre Mutter wiederholt, als wäre sie nicht ganz sicher gewesen, wo oder was das war. »Das ist zu schade.«
»Nicht wirklich«, hatte Holly ihr fröhlich versichert. Sie war über Raul hinweg. Sie kam immer über sie hinweg.
»Nun, als deine Mutter würde ich mich sicherlich besser fühlen, wenn du einen netten Mann wie Hannahs Loren treffen könntest.«
Als könnte ein Mann Holly irgendwie besser machen. Und Hannahs Loren? Holly war ihm zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar Mal begegnet, und beide Male hatte er langsam und beiläufig ihren Körper mit seinen Augen abgetastet. Es war ihr kalt den Rücken heruntergelaufen.
»Wo wir gerade von Loren sprechen: Ich habe Neuigkeiten«, hatte Hannah leichthin gesagt. Sie hatte ein süßes, grünes Baumwollkleid und Sandalen mit kleinen Absätzen getragen. Holly in ihren Shorts und Flip-Flops hatte einen Stich Eifersucht verspürt. »Es ist ziemlich ernst geworden«, hatte Hannah gesagt und eine Pause gemacht, um ihre Mutter mädchenhaft anzulächeln, was Holly überraschte. »Ich verlasse Baker Botts zum Ende des Monats.«
»Was?«, hatte ihre Mutter gerufen. Peggy Fisher war der Meinung, dass es nichts Schlimmeres gab als Arbeitslosigkeit - Holly wusste das besser als sonst jemand.
»Nun, wir sind offiziell ein Paar, und bei Baker Botts gibt es eine Richtlinie für Beziehungen innerhalb der Belegschaft, also ...« Sie hatte mit den Schultern gezuckt. Mit einem kecken kleinen Lächeln auf ihrem Gesicht hatte sie den Kartoffelsalat erneut umgerührt.
»Du wirst aufhören?«, hatte Holly ungläubig gefragt. Sie war schockiert gewesen, dass Hannah aufhören würde, dort zu arbeiten - die getriebene, ehrgeizige Hannah.
»Hannah!«, hatte ihre Mutter ausgerufen und Holly ignoriert. Sie strahlte, als hätte Hannah gerade verkündet, dass sie eine Million Dollar im Garten gefunden hatte. »Das muss bedeuten, dass es mit euch beiden sehr ernst ist.«
»Wir werden sehen«, hatte Hannah verschämt geantwortet.
»Warum musst du deinen Job aufgeben?«, hatte Holly gefragt. »Da, wo ich arbeite, interessiert es niemanden, wer mit wem ausgeht, solange jeder zur Arbeit auftaucht.«
»Aber du arbeitest bei Whole Foods«, hatte Hannah ruhig klargemacht.
Holly hatte nicht gewusst, was genau das bedeuten sollte, aber es kam ihr nicht besonders schmeichelhaft vor.
»Darf ich annehmen, dass bedeutendere Neuigkeiten folgen werden?«, hatte Hollys Mutter aufgeregt gedrängt.
»Beruhige dich, Mom«, hatte Hannah lachend gesagt. »Im Moment wollen wir erst einmal abwarten, wo das hinführt.«
Das hatte Hannah gesagt, die Frau, die alles bis ins kleinste Detail vorausplante. Hannah, die seit ihrer Teenagerzeit gewusst hatte, wo (die Universität von Texas) und was sie studieren würde (Betriebswirtschaftslehre). Sie hatte niemals irgendetwas ohne einen festen Plan getan, während Holly die ganze Zeit völlig planlos vor sich hin lebte. Aber nicht Hannah. Sie würde niemals einen Job aufgeben, nur um »abzuwarten, wo das hinführt«.
»Ich kapiere das nicht«, hatte Holly gesagt. »Du würdest wirklich deinen Job aufgeben?«
Hollys Frage hatte ihr einen von Hannahs offenkundig ungeduldigen Blicken eingetragen. »Nun, ich kann nicht dort arbeiten und mit Loren ausgehen. Also gebe ich meinen Job auf.«
»Warum musst du diejenige sein, die aufhört?«, hatte Holly gefragt, während sie einen weiteren Chip in die Salsa tunkte. »Scheint eine riesengroße Sache zu sein, und du hast wirklich hart gearbeitet, um diese Stelle zu bekommen. Warum geht nicht er?«
»Weil«, hatte Hannah gesagt und ihren Löffel weggelegt, um Holly ihre volle Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. »Weil wir es so wollen. Er hat dort eine großartige Stelle.«
»So wie du.«
»Ich werde mir einen anderen Job suchen, Holly, okay? Findet das deine Zustimmung?«
»So meine ich das nicht«, hatte Holly verschnupft geantwortet. »Ich denke nur an dich, um ehrlich zu sein. Ich meine, wie leicht wird es für dich sein, einen Job wie den zu finden, den du jetzt hast?«
»Holly, hör sofort damit auf«, hatte ihre Mutter sie gescholten. »Du weißt nicht, wovon du redest.«
»Ich würde das nicht tun, wäre ich nicht der Ansicht, dass ich einen anderen Job finden kann«, hatte Hannah gesagt und sich wieder ihrem Kartoffelsalat zugewandt. »Ich habe ein paar wirklich gute Empfehlungen, und Loren kennt jede Menge Leute in der Stadt. Ich denke, dass das überhaupt kein Problem sein wird.«
»Ehrlich gesagt, Holly, würdest du gut daran tun, wenn du dich auf deine eigene Jobauswahl konzentrieren würdest«, hatte ihre Mutter eingeworfen. Ihre Mutter hatte es immer genossen, eine bereits spannungsgeladene Unterhaltung noch mehr aufzuheizen.
Es hatte funktioniert: Holly hatte mit dem Chip in der Salsa innegehalten. »Was soll das heißen?«
»Du weißt sehr gut, was ich meine: In einem Lebensmittelladen zu arbeiten, ist nicht das, was ich einen richtigen Job nennen würde. Du hattest jede Gelegenheit, das College abzuschließen und etwas aus dir zu machen. Aber du wolltest nicht.«
So hatten sie begonnen, einem vertrauten Pfad zu folgen: Holly hatte die Universität von Texas verlassen, während Hannah ihren Abschluss mit Auszeichnung machte. Holly hatte nicht vier Jahre damit verbringen wollen herauszufinden, was sich mit dem Songschreiben vertragen würde. Denn das war es, was sie wirklich tun wollte. Doch als sie in ihrem ersten Semester Musiktheorie und Klavier belegte, hatte ihre Mutter gedroht, ihr den Geldhahn zuzudrehen. Also hatte Holly wie Hannah sich für Geschichte und Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben und war so gelangweilt und sprachlos gewesen, dass sie alles Interesse am Lernen verloren hatte.
»Ich schätze, dass Lebensmittelhändler überall auf der Welt es nicht schätzen würden, wie du ihren Beruf herabsetzt, Mom. Und müssen wir alles in einem Vortrag darüber enden lassen, warum ich einen Collegeabschluss haben sollte?«, hatte Holly heftig gefragt.
»Ich will damit nur sagen, dass du dein ganzes Leben lang von einer Sache zur nächsten gewechselt hast«, war ihre Mutter ziemlich unbekümmert fortgefahren. »Wie viele Jobs hast du bis jetzt gehabt?«
»Ein paar«, hatte Holly zugegeben und ihre Verärgerung kaum noch im Zaum halten können. »Aber das sind nur Jobs. Du scheinst zu vergessen, dass meine Berufung, seit ich ein kleines Mädchen war, die Musik ist. Ich hatte verschiedene Jobs, um daneben meine Songs schreiben zu können, Mom. Das ist es, was ich wirklich machen will.«
»Nun, ich habe ein Recht auf eine eigene Meinung, und meine Meinung ist, dass du ein hartes Leben vor dir hast. Du bist vierunddreißig, Holly. Ich kenne keinen Songschreiber, der von dieser Tätigkeit leben kann«, hatte ihre Mutter gesagt, als würde sie unzählige Songschreiber kennen. »Deine Schwester hat das College abgeschlossen und sie hat ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie eine andere hervorragende Stelle finden wird, wenn es das ist, was sie will. Und ich bin sicher, dass sie das will, denn Hannah ist sehr konzentriert und ehrgeizig. Also anstatt sie ins Kreuzverhör zu nehmen, solltest du dir ansehen, wie Hannah so viel in ihrem Leben erreichen konnte, und dir eine Scheibe davon abschneiden. «
Als wäre Holly faul. Als würde sie Songs schreiben wollen, weil sie es sich damit irgendwie leichter machte. Sieh dir deine Schwester an.
Holly war tief getroffen gewesen, und sie hatte ihre Mutter mit offenem Mund angestarrt. »Denkst du ehrlich, dass es eine gute Idee ist, dass Hannah ihren Job kündigt, damit sie sehen kann, wie sich die Dinge mit irgendeinem Kerl entwickeln, mit dem sie zufällig ausgeht?«
»Herrgott noch mal, Holly«, hatte Hannah gesagt und war auf dem Weg zu dem Tisch mit dem Kartoffelsalat an ihr vorbeigefegt. »Doch nicht zufällig.«
»Lass mich dir etwas sagen, Holly Lynn«, hatte ihre Mutter gerufen und mit dem Schinkenmesser auf sie gezeigt. »Loren Drake ist ein guter Mann. Du solltest dir einen Mann wie ihn suchen.«
Sei wie Hannah, geh aus wie Hannah.
In einem Pavlow'schen Reflex hatte Holly reagiert, ohne nachzudenken. »Ich brauche keine Ehemann, Mom.« In demselben Augenblick, in dem die Worte aus ihrem Mund sprudelten, wusste sie, dass sie genauso reagiert hatte, wie ihre Mutter es gewollt hatte. Dennoch hatte sie weitergesprochen. »Ich muss keinen Kerl haben, um das Gefühl zu haben, dass mein Leben vollständig ist.«
»Nein, ich schätze, das hochbezahlte Songschreiben reicht dafür«, hatte ihre Mutter mit einem Schnauben gesagt.
Der Gedanke daran machte sie immer noch genauso wütend wie damals. Ihr Songschreiben war kein Jux, es war Hollys Leidenschaft, und sie war gut darin. Sie fing endlich an, Fortschritte zu machen. Außerdem hatte sie ihre Mutter niemals um Geld gebeten, sie hatte es immer allein geschafft, und sie konnte nicht verstehen, warum ihre Mutter sie nicht einfach unterstützen konnte.
Weil sie nicht perfekt war. Sie war nicht Hannah.
Holly blickte jetzt durch das Wohnzimmer zu Hannah hinüber. Sie sah abwesend aus, wie auf Autopilot, als sie leere Teller in die Küche trug und sie einer der Kirchendamen reichte. Holly richtete ihren Blick wieder auf Loren. Er war näher an Stella herangerückt.
Über das Babyfon auf dem Kaminsims hörte sie den Schrei ihres Neffen Mason im gleichen Moment wie Hannah. Hannah machte sich augenblicklich auf den Weg zur Treppe, aber Holly fing sie ab. »Ist es in Ordnung, wenn ich mich um ihn kümmere?«
Hannah blinzelte und stand einen Moment da, als könnte sie Hollys Frage nicht verarbeiten. Dann nickte sie knapp. »Sicher.«
Holly ging die Stufen mit dem abgetretenen roten Teppichläufer hinauf und den Flur entlang bis zum Kinderzimmer.
Die Jalousien waren heruntergezogen, und es dauerte einen Augenblick, bis Hollys Augen sich an den abgedunkelten Raum gewöhnt hatten. Die Wände waren immer noch von der verblichenen, gelben Tapete mit den grünen Efeuranken bedeckt, die sich in einer Ecke bereits von der Wand ablöste. Der alte Flechtteppich war auch schon zu Hollys und Hannahs Kinderzeit da gelegen. Aber jetzt gab es zusätzlich ein Gitterbett, einen Wickeltisch und einen Schaukelstuhl in einer Ecke des Raumes, der aussah, als stammte er von einem Garagenverkauf. Außerdem lag da eine tragbare Babyspielwiese.
Mason saß in der Mitte seines Gitterbettes wie ein Buddha, die Fäuste auf den mit Grübchen übersäten Oberschenkeln. Er beobachtete Holly mit großen blauen Augen, und als Holly näher kam, schenkte er ihr plötzlich ein großes zahnloses Grinsen und gluckste.
Holly grinste ebenfalls und tauchte unter das ausgeklügelte Mobile mit den Flugzeugen und Helikoptern und nahm ihn hoch. »Hey, Mason«, flüsterte sie. Sie liebte das fast gewichtslose Gefühl von Mason in ihren Armen, den Geruch der Babylotion und das glatte, seidige Gefühl seiner Haut. Vorsichtig ließ sie sich auf dem Boden nieder mit ihm, legte ihn auf seiner Spielwiese auf den Bauch und beobachtete, wie er an der Flosse eines Delfins kaute.
Sie könnte ihm tagelang zusehen, sinnierte Holly. Sie fand Babys irgendwie faszinierend, und in einem Winkel ihres Herzens wünschte sich Holly ein eigenes. Nicht dass sie gewusst hätte, wie sie das bewerkstelligen sollte, mit ihrem Lebensstil und Einkommen oder der nicht vorhandenen Erfahrung. Ganz zu schweigen vom Fehlen eines Samenspenders. Doch sie war vierunddreißig Jahr alt, und es gab Zeiten wie diese, wo sie sich nach einem Mason sehnte.
Sie hob ihn unter den Armen hoch und stellte ihn in ihrem Schoß hin. Er fing an zu glucksen und auf seinen dicken, kleinen Beinen zu hüpfen, auf und ab, auf und ab, während er nach ihrer Nase und ihren Ohrringen griff. Er hatte es geschafft, das kleine silberne Friedenszeichen, das sie an einer Kette um ihren Hals trug, in seinen Mund zu nehmen, als Hannah mit seiner Flasche und einer blauen Plastiktasse hereinkam.
»Da ist er ja«, gurrte sie und stellte die Flasche beiseite, um die Arme für ihr Baby zu öffnen. Holly reichte ihr Mason hinauf und stand auf.
Hannah küsste Masons runden Kopf. Sie legte eine Hand auf seine Hinterseite und runzelte die Stirn.
»Hast du ihm nicht die Windeln gewechselt?«
Es war Holly nicht in den Sinn gekommen. »Nein, ich ...«
»Babys sind grundsätzlich nass, wenn sie von einem Schläfchen aufwachen«, sagte Hannah. Sie legte Mason auf den Wickeltisch. »Mein kleiner Mann«, gurrte sie, während sie seine Windeln wechselte. »Hast du gut geschlafen? Bist du hungrig?« Als sie ihn in einer frischen Windel verpackt hatte, nahm sie ihn hoch und hob ihn über ihren Kopf, wobei sie ihn spielerisch schüttelte. Mason trat mit seinen Beinen und stopfte seine Faust in seinen Mund. »Ich liebe dich, Baby«, sagte Hannah und küsste sein Gesicht, bevor sie sich ihn auf die Hüfte setzte.
»Er wächst so schnell«, sagte Holly.
»Und er hat einen gesunden Appetit«, stimmte ihr Hannah zu.
»Was mag er?«, fragte Holly.
»Hm?«
»An Essen«, erläuterte sie.
Hannah blickte verständnislos. »An Essen?«
»Du sagtest ...«
»Das übliche Babynahrungszeug«, sagte Hannah mit einem Achselzucken, wobei sie Holly unterbrach. »Es gibt nichts, was dieses Kind nicht isst. Stimmt das nicht, Schnuffibärchen?«, fragte sie und zwickte Mason in die Nase. Mason griff nach dem Finger seiner Mutter und versuchte, ihn in seinen Mund zu stecken. »Die Leute fangen an aufzubrechen«, ergänzte Hannah, ohne den Blick von Mason zu wenden. Sie wiegte sich jetzt von Seite zu Seite und ließ ihn ein wenig hüpfen.
»Oh, in Ordnung«, sagte Holly. »Ich werde gehen und ihnen für ihr Kommen danken.«
»Wenn es dir nichts ausmacht.«
Holly beugte sich hinüber, um Masons Wange zu küssen, doch als sie das tat, kam es ihr vor, als würde sie Alkohol riechen und sah ihre Schwester neugierig an. »Hast du etwas getrunken? «
»Ja«, sagte Hannah. »Es war ein anstrengender Tag.«
Das war er ganz sicher gewesen. »Ja, es war anstrengend«, stimmte Holly zu. »Okay, Mase, das ist deine Tante Holly, die hinausgeht, um allen dafür zu danken, dass sie gekommen sind«, sagte sie und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und sah zu ihrer Schwester zurück. Hannah war völlig auf Mason konzentriert. Sie sprach leise auf ihn ein, plapperte in der Sprache der Mütter.
»Hannah.«
Hannah sah auf.
»Danke, dass du dich um alles gekümmert hast«, sagte Holly und machte eine vage Geste in Richtung Erdgeschoss. »Die Beerdigung, meine ich. Du hast wirklich großartige Arbeit geleistet, und ich weiß, dass es schwer war, mit deinem Job und Mason und allem anderen.«
Hannah sagte gar nichts, stand nur da und starrte Holly an, während Mason ihre Schulter vollsabberte.
Holly erwartete, dass sie wenigsten »Kein Problem« sagen würde. Oder sogar: »Danke, dass du es bemerkt hast.« Irgendetwas. Warum sagte sie nichts? »Okay«, sagte Holly. »Ich wollte nur Danke sagen.« Verwirrt wandte sie sich zur Tür.
»Es war hart«, sagte Hannah mit leiser Stimme. »Härter als du möglicherweise denkst.«
Holly blickte zu ihrer Schwester zurück. Sie konnte Stress erkennen, wenn sie ihn sah, und fragte sich, ob Hannah sich ihr vielleicht tatsächlich öffnen wollte.
»Ich habe jede wache Stunde damit verbracht sicherzustellen, dass Mom hatte, was sie brauchte«, sagte Hannah und wischte plötzlich die Flasche von der Kommode. »Ich hatte keinen Moment mehr für mich selbst, seit sie krank geworden ist.«
Da war eine anklagende Schärfe in ihrem Ton, und Holly bereitete sich mental auf einen Angriff vor. »Ich weiß. Du bist bis an deine Grenzen gegangen und darüber hinaus.«
»Dann kannst du vielleicht verstehen«, sagte Hannah, während sie Mason in ihre Arme manövrierte und ihm die Flasche reichte, die Mason gierig nahm, »wie verletzt ich war, dass Mom alles dir hinterlassen hat.«
Holly hatte bereits angefangen zu nicken, hörte aber plötzlich auf. »Warte ... Was?«
Hannahs Blick war hart, ihr Kinn angespannt. »Du hast mich schon verstanden.«
»Ja, ich habe dich verstanden, aber das ist verrückt«, sagte Holly. »Was willst du damit sagen?«
»Tu nicht so, als wüsstest du nicht ...«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest!«
Hannah warf ihren Kopf mit einem Stöhnen zurück. »Komm schon, Holly! Willst du mir sagen, dass du in den letzten paar Monaten nicht mit Mom darüber gesprochen hast?«
In Hollys Kopf drehte sich alles. »Mit ihr worüber gesprochen habe?«
»Über ihr Testament!«
»Ihr Testament? Machst du Witze?« Holly versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie und ihre Mutter jemals über ihr Testament gesprochen hatten, außer um zu erwähnen, dass ihre Mutter zumindest eins hatte. »Es ist mir niemals in den Sinn gekommen, Hannah. Sie sagte, sie hätte eins, und ich habe es dabei belassen. Ich nahm einfach an, dass alles an uns gehen würde.«
»Wirklich?«, fragte Hannah skeptisch. »Du hast dich niemals gefragt, was Mom mit dem Gehöft machen würde? Was ihr letzter Wunsch dafür sein könnte? Erwartest du ehrlich, dass ich dir das glaube?«
»Ich mag deinen vorwurfsvollen Tonfall nicht«, sagte Holly und verschränkte ihre Arme. »Du hast offensichtlich daran gedacht. Du hast es offensichtlich gelesen, und Mom ist noch nicht einmal richtig unter der Erde. Also, wenn du etwas zu sagen hast, Schwester, sag es einfach.«
»Mom hat dir das Gehöft und alle ihre Ersparnisse hinterlassen. «
Holly war fassungslos. »Da liegt offensichtlich irgendein Irrtum vor. Ich weiß nicht, woher du die Idee hast, aber ich bin sicher, das lässt sich leicht aufklären, weil es nicht wahr ist.«
Doch Hannah schüttelte bereits den Kopf. »Das ist kein Irrtum. « Mason schob die Flasche weg, aber Hannah steckte sie ihm gleich wieder in den Mund. »Sie hat alles dir hinterlassen, Holly. Und ich habe Schwierigkeiten damit zu glauben, dass du das nicht wusstest.«
Holly verstand gar nichts mehr. Das war unvorstellbar - ihre Mutter hatte Hannah für die großartigste Tochter in der Geschichte der Menschheit gehalten. »Du verstehst da etwas falsch, Hannah. Sie hat es sicher uns beiden hinterlassen.«
Hannah schnaubte und wandte sich ab. »Lies den Brief selbst.«
»Welchen Brief?«, fragte Holly aufseufzend.
»Den, den sie bei ihrem Pastor hinterlegt hat, zusammen mit der Kopie eines Testaments, das ich nie gesehen habe. Den, in dem sie schreibt, dass sie alles dir hinterlassen hat, der armen, unglückseligen Holly, weil du es dringender brauchen würdest als ich. Weil du niemanden hättest, der sich um dich kümmert, und du dich in der großen, bösen Welt nicht durchsetzen könntest.«
Das traf sie. Sogar im Tod hatte Hollys Mutter eine Möglichkeit gefunden, sie zu kritisieren. »Wenn das wahr ist, und ich glaube nicht, dass es das ist, aber nur um der Diskussion willen, wenn es wahr ist, werde ich dir von allem die Hälfte geben, Hannah. Ich meine ... ist da noch irgendetwas außer dem Haus? Was auch immer es ist, ich werde dir die Hälfte ...«
»Himmel, das ist so typisch für dich, das Wesentliche einfach nicht zu begreifen«, sagte Hannah kalt und legte Mason mit der Flasche ins Gitterbett. Nur wollte Mason nicht in sein Gitterbett. Er fing an zu weinen. Hannah krallte sich den Becher von der Kommode und trank gierig.
»Was begreife ich nicht?«, wollte Holly wissen. »Du beschuldigst mich praktisch, dir dieses heruntergekommene alte Haus zu stehlen! Ich hatte keine Ahnung, dass Mom das getan hat. Das ist das erste Mal, das ich davon höre, und ich sage dir, wir werden es teilen ...«
»Es ist nicht das Gehöft«, schrie Hannah. Mason heulte. »Du begreifst es einfach nicht. Während du hier in Austin deine Kaffeegetränke gebraut und deine Songs geschrieben hast«, sagte sie und wedelte mit ihren Händen vor Hollys Gesicht. »Während dieser Zeit habe ich fünfzig Stunden die Woche gearbeitet, mich um Mason, Loren und Mom gekümmert. So wie immer! Ich habe mich um alles gekümmert, während du unterwegs warst und getan hast, was auch immer du tust, und sie belohnt dich?«
Holly wich zurück. »Komm schon. Ich habe nicht darum gebeten. Ich wusste es nicht einmal.«
»Du magst sie nicht direkt darum gebeten haben, aber du bist genau da gelandet, wo du hinwolltest. Du musst nie mehr arbeiten, ist dir das klar? Du musst dich nie mehr um etwas kümmern. Du kannst tun, was auch immer zur Hölle du tun willst, während ich hinter dir aufräume. Himmel noch mal.«
Holly zitterte plötzlich vor Verärgerung und Frustration. Die Finger einer Hand krümmten sich zu einer Faust, während sie sich bemühte, nicht zu explodieren. »Hör auf, mir Schuldgefühle einzureden, Hannah. Willst du wissen, was Mom von mir hielt? Sie hielt mich für dumm und nutzlos und meinte, ich würde es niemals zu etwas bringen, weil ich nicht du war. Mein ganzes Leben habe ich versucht, die zu sein, die ich bin. Das war nie gut genug für sie, weil ich nicht du war!«
»Bockmist«, sagte Hannah ärgerlich. »Du konntest dir alles erlauben.«
Holly atmete tief durch. »Ich will mich nicht mit dir streiten, nicht ausgerechnet heute. Dein Baby weint, und ich gehe jetzt.«
Sie verließ das Zimmer. Der Kopf schwirrte ihr noch von Moms letzter Spitze gegen sie aus dem Grab heraus.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von Julia London
Julia London ist die Autorin mehrerer Romane, die in den Vereinigten Staaten die Bestsellerlisten stürmten. Sie lebt in Austin, Texas, reist aber häufig nach Großbritannien, um sich Anregungen für ihre Bücher zu holen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julia London
- 2013, 1, 368 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651995
- ISBN-13: 9783863651992
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