Die Fäden des Schicksals / Das Band, das uns zusammenhält
- Die Fäden des Schicksal: Nachdem sie dem traurigen Elend ihrer Scheidung entkommen ist, eröffnet Evelyn einen Quilt-Laden. Bald finden sich dort die unterschiedlichsten Frauen ein - und zwischen ihnen entspinnt sich...
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Produktinformationen zu „Die Fäden des Schicksals / Das Band, das uns zusammenhält “
- Die Fäden des Schicksal: Nachdem sie dem traurigen Elend ihrer Scheidung entkommen ist, eröffnet Evelyn einen Quilt-Laden. Bald finden sich dort die unterschiedlichsten Frauen ein - und zwischen ihnen entspinnt sich ein Netz echter, tiefer Freundschaft.
- Das Band, das uns zusammenhält
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Das Band, das uns zusammenhält von Marie BostwickProlog
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Die Beraterin ist jung, blond, hübsch und ganz offensichtlich nervös. Sie überprüft ihr Bild im Wandspiegel, als sie ins War¬tezimmer tritt, rückt ihren Kragen zurecht und räuspert sich, bevor sie mir mit einem breiten, eingeübten Lächeln die Hand entgegenstreckt und mich bittet, ihr ins Büro zu folgen.
Nach einem schnellen Kuss und dem Versprechen, dass wir uns in ein paar Minuten wiedersehen, gehen Bethany und Bobby gehorsam mit einer freiwilligen Helferin ins Spielzim¬mer, wo sie warten werden, bis ich mit dem Aufnahmege¬spräch fertig bin. Ich folge der Beraterin durch einen breiten Flur mit Deckenstrahlern und einem dicken, beigen Teppich.
Was für ein eigenartiger Ort. Eher ein gehobenes Hotel als ein Frauenhaus, zumindest anders als die anderen Frauenhäu¬ser, in denen wir bisher waren. Alles ist still, und alle Mit¬arbeiter sind so freundlich, als wären sie allesamt ehemalige Empfangsdamen oder Kinderbibliothekarinnen, freundlich und bewusst ruhig. Na ja, fast alle.
Als wir eine Biegung im Flur erreichen, höre ich zwei Frauen streiten, gesittet, aber hitzig. Eine der Stimmen ist an¬gespannt und kontrolliert, sie versucht die andere, ein wenig lautere Stimme zu beruhigen, die jemandem gehört, der ge¬übt ist darin, in einem gebieterischen Tonfall präzise formu¬lierte Sätze hervorzubringen, die jeden Widerspruch unter¬binden. Es ist die Stimme einer Frau, die es gewohnt ist, sich durchzusetzen.
»Abigail, ich bin auf Ihrer Seite. Das wissen Sie doch«, sagt die erste Stimme. »Aber dies ist eine Notunterkunft, kein Ein¬kaufsnetz. Sie können nicht einfach immer mehr Frauen wie Äpfel hineinstopfen, eine nach der anderen, und hoffen, dass alle Platz finden. Ich wünschte, wir könnten jede unterbrin¬gen, die zur Tür hereinkommt, aber das geht einfach nicht. Wir haben nur eine begrenzte Anzahl Betten.«
»Aber das ist ja genau mein Anliegen. Jeden Monat kommen mehr Menschen durch diese Tür als im Monat zuvor. Es ist doch lächerlich zu glauben, dass dieser Trend sich plötzlich umkehren würde. Warum also ziert der Vorstand sich so? Nein! Unterbrechen Sie mich nicht. Sie müssen nichts sagen. Ich habe das alles schon zigmal gehört: ›Diese Dinge brauchen Zeit. Wir sollten eine Auslastungsstudie anfertigen lassen. Oder eine Umfrage durchführen. Oder einen Berater engagie¬ren.‹ Blödsinn! Wir müssen nichts davon tun. Wir müssen einen Architekten anheuern und einen Bagger mieten. Am besten heute! Ich habe es satt, in diesen Versammlungen zu sitzen und mir anzuhören, wie Ted Carney davon erzählt, dass wir die Aufnahmebedingungen erschweren sollten, während der Rest des Vorstandes dasitzt, in die Luft glotzt und nichts tut! Wenn es am Geld liegt, schreibe ich noch morgen einen Scheck. Ich ... «
»Abigail«, entgegnet die erste Stimme müde, »es geht nicht ums Geld. Das wissen Sie. Es ist eine Platzfrage. Wir haben einfach nicht genug ... «
Der Mut verlässt mich. Es ist immer dieselbe alte Geschich¬te; keiner hat Platz für uns. Damit hätte ich rechnen sollen. Jedes Frauenhaus hat mehr Anfragen als Plätze, aber alle sind so freundlich gewesen, seit wir zur Tür hereingekommen waren, dass ich tatsächlich zu hoffen gewagt hatte, dass sie vielleicht Betten für uns finden würden. Vielleicht müssten wir nur noch ein paar Tage warten. Ich fürchte mich davor, wieder im Auto zu schlafen, aber was soll ich sonst machen? Außer¬dem sah es so nett aus, so ruhig und sauber.
Wenn wir bleiben könnten, wenigstens ein oder zwei Wo¬chen, dann würde ich vielleicht wieder zu Verstand kommen, um mir einen Plan zu überlegen. Damit ich nicht mehr von einer Notunterkunft zur nächsten taumeln müsste und den Kindern ein echtes Zuhause schaffen könnte - zumindest für eine Weile. Ich habe es so satt, jede Nacht woanders zu schla¬fen. Ich bin es leid, so verdammt müde zu sein. Aber so wie es klingt, würden sie eben doch keinen Platz für uns haben. Ich hätte es besser wissen und mir keine Hoffnung machen sollen.
Als wir um die Ecke kommen, bemerke ich, wie meine Be¬gleiterin ihre Schultern durchdrückt und sich über das Haar streicht. Die Frauen unterbrechen ihr Gespräch, als wir uns nähern. Die Stimme der Beraterin klingt ein wenig höher, als sie uns einander vorstellt. Die erste Frau, erfahre ich, die mit dem ehrlichen Lächeln und den dunkelbraunen Augen, die zu ihrem kurzgeschnittenen Haar passen, ist Donna Walsh, die Leiterin des Frauenhauses. Die zweite Frau, die nicht abwartet, bis die Beraterin so weit ist, teilt mir mit, sie sei Abigail Burgess Wynne und säße im Vorstand des Frauenhauses. Beide sind at¬traktiv, aber Abigail Burgess Wynne ist schön, beeindruckend schön. Groß gewachsen, gut gekleidet, Achtung gebietend, mit platinweißem Haar, das in ihrem Nacken zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasst ist, mit hohen Wangen¬knochen, gewölbten Augenbrauen und reiner Haut; im Alter irgendwo zwischen fünfzig und siebzig.
Donna Walsh streckt die Hand aus, und als ich sie schüttele, legt sie die zweite Hand auf meine. Die Geste überrascht mich und ich muss mich bremsen, um meine Hand nicht zurück¬zuziehen. Es ist so lange her, dass ich mitfühlend berührt wurde. Ich weiß nicht recht, wie ich reagieren soll. »Hallo, Ivy. Willkommen. Nett, Sie kennenzulernen.«
»Danke. Ganz meinerseits.« In letzter Zeit hatte ich wenig Verwendung für gute Manieren, aber ich weiß noch, wie es geht.
»Leslie wird das Aufnahmegespräch mit Ihnen führen?«, fragt sie und sieht die junge Beraterin an, woraufhin diese nickt. »Dann sind Sie in guten Händen. Ich hoffe, wir werden Ihnen helfen können.«
Abigail Burgess Wynne zieht ihre Augenbrauen nach ganz oben, als sie die Leiterin unterbricht. »Ach, machen Sie sich keine Sorgen«, sagt sie streng. »Ich bin sicher, dass wir Ihnen helfen können.«
In Leslies Büro nehme ich Platz in einem festen, aber gemütlichen Sessel ihrem Schreibtisch gegenüber. Ich be¬obachte, wie Leslie immer wieder den Druckknopf ihres Kugelschreibers mit dem Daumen betätigt, während sie die Formulare ausfüllt - Name, Name der Kinder, Geburtsdaten und so fort. Sie klickt nach jeder meiner Antworten mehrfach mit dem Kugelschreiber.
Das Klicken erinnert mich an Bethanys billige Plastikkas¬tagnetten. Sie hat immer die Nussknacker-Suite aufgelegt, sich die Kastagnetten gegriffen, die Arme über den Kopf gereckt und sie zusammenklackern lassen, dazu drehte sie sich wie eine Flamencotänzerin im Kreis. Sie liebte diese Dinger. Ich wünschte, ich hätte sie mitgenommen, aber wir hatten nicht genug Zeit. Wir mussten so viel zurücklassen.
Ihr fällt auf, dass mir ihr Kugelschreibergeklicke auffällt. Daraufhin lacht sie und gibt zu, was ich bereits vermutet habe. Sie ist neu hier und hat gerade ihre Ausbildung abgeschlossen. Ich bin ihre erste Kundin, jedenfalls die erste, um die sie sich ganz allein kümmert.
»Es muss schön sein, einen neuen Job zu beginnen.«
»Das ist es, aber es wäre noch schöner, wenn solche Jobs nicht nötig wären.« Sie zuckt mit den Achseln. »Lassen wir das, zurück zu Ihnen. Sie sind aus Pennsylvania? Das ist weit weg. Was hat Sie nach New Bern geführt?«
Ich hole Luft, tief, aber nicht zu tief, und schaue sie ganz ruhig an, ich mache dann und wann eine Pause, als müsste ich meine Gedanken sammeln, es soll nicht auswendig gelernt klingen. Ich erzähle ihr die Geschichte, die ich vorbereitet habe, die Details, die ich mir sorgsam überlegt habe, die ge¬schönte Version, die ich sogar mit Bethany geübt habe, bevor wir herkamen. Ich habe ihr eingebläut, wenn sie bei Antworten auf Fragen nicht mehr weiterwüsste oder nervös würde, sollte sie einfach gar nichts sagen. Nach allem, was sie durchgemacht hat, ist Schweigen eine ausgesprochen nachvollziehbare Ver¬haltensweise bei einem Kind. Niemand wird das infrage stellen.
Leslie nickt mitfühlend mit ihrem hübschen blonden Kopf, über das Klemmbrett gebeugt, sie macht sich Notizen. Sie glaubt mir. Ich bin überrascht, wie einfach das alles ist. Die Lügen gleiten mir über die Lippen wie Faden von einer Spule, und sie glaubt jedes Wort, das ich sage.
Ich wünschte, es wäre anders, aber ich muss tun, was zu tun ist. Mit den weißen Schindelhäusern und ordentlich gestutzten Rasenflächen sieht New Bern in Connecticut aus wie die Erfindung eines Landschaftsmalers, sicher und beständig. Dennoch möchte ich nach der letzten Nacht nicht, dass die Kinder noch länger im Auto schlafen, während wir auf einen freien Platz in der Notunterkunft warten. Wenn es bloß um mich ginge, würde ich es nicht tun, aber wenn ich diese Frau anlügen muss, um meine Kinder zu schützen, dann geht es eben nicht anders. Ich habe keine Wahl. Trotzdem stört es mich, wie gut ich darin geworden bin, Menschen nur noch sehen zu lassen, was ich sie sehen lassen will.
Aber warum sollte ich nicht gut darin sein? Ich habe so viel Übung. Und meine Lebensgeschichte ist ja nicht komplett ausgedacht. Sie ist dicht an der Wahrheit, bloß nicht dicht genug.
Ich habe mit achtzehn geheiratet. Ich habe zwei Kinder, die ich liebe. Bethany ist sechs Jahre, Bobby achtzehn Monate alt. All das ist wahr, und der Rest ist nur ein bisschen erfunden.
Wir waren beinahe eine glückliche Familie.
Aber dieses Wort ist ein Abgrund, der die glücklichen Fami¬lien von allen anderen trennt. Beinahe.
Ich frage mich, ob sie das versteht, diese frischgebackene Aufnahmeberaterin, ausgebildet in der Sorge für krisenge¬schüttelte Frauen? Sie will es verstehen, das kann ich sehen, sie will wirklich helfen, aber etwas an ihr, etwas an der runden Form ihrer Stirn und den scharfen Falten ihrer Hosenbeine, lässt mich erkennen, dass sie nur eine Beobachterin ist, sie steht am Rande des Abgrundes und starrt hinein. Sie war nicht selbst in dem Tal und wird es wahrscheinlich nie sein. Ich hoffe es, ich wünsche es ihr.
Das macht es leichter für sie, meine Geschichte zu glauben. Sie wird sie nicht in Zweifel ziehen, und ich habe alle Unter¬lagen dabei, oder jedenfalls genügend, um meine Behauptun¬gen zu untermauern. Ich bin, wer ich behaupte zu sein - Ivy Peterman. Ich verschweige allerdings, dass ich nach meiner Hochzeit nie den Namen auf meinem Führerschein und meiner Sozialversicherungskarte habe ändern lassen. Vielleicht habe ich es vergessen. Oder vielleicht wusste ich tief in meinem Innersten, dass es irgendwann so weit kommen würde. Was auch immer der Grund ist, ich habe Unterlagen, die beweisen, dass ich ich bin.
Der Rest der Geschichte - dass mein Mann mich jahrelang misshandelt hat, dass meine Kinder und ich seit Monaten von einer Notunterkunft in die nächste ziehen, die beinahe wah¬ren Teile, dass wir sonst nirgendwohin können, und die Lüge, dass mein Mann bei einem Unfall auf dem Bau ums Leben kam - akzeptiert sie ohne Fragen. Trotz ihrer Ausbildung, zu der ganz sicher die Warnung davor gehörte, nicht an die Vor¬urteile gegenüber Opfern häuslicher Gewalt zu glauben: Dass sie arm, machtlos und schlicht gestrickt seien. Mit anderen Worten: Nicht wie die Nachbarn dieser Frau, nicht wie die Leute aus den netten und wohlhabenden Vororten, mit or¬dentlich gestutzten Hecken und nagelneuen Geländewagen in der Auffahrt. Einem Teil von ihr fällt es leichter, meine Ge¬schichte genau deswegen zu akzeptieren, weil sie die Vor¬urteile bedient: Armes Teenagermädchen heiratet trunksüch¬tigen, brutalen Arbeiterjungen, von dem sie glaubte, er wäre ihre Erlösung. Sie wusste nicht, worauf sie sich einließ, bis es zu spät war.
Meine Betreuerin kann meine Geschichte leicht glauben, weil sie beinahe wahr ist und weil sie sie glauben will. Die gan¬ze Wahrheit würde ihr zu nahe gehen, würde sie zum Telefon greifen und meinen Hintergrund überprüfen lassen. Aber das hier? Sie kommt nicht einmal auf die Idee, meine Behauptun¬gen infrage zu stellen. Das kann ich sehen.
Sie lächelt und erhebt sich, entschuldigt sich für einen Au¬genblick und verspricht, gleich wieder da zu sein.
Trotz der eleganten Möblierung und des dicken Teppichs sind die Wände zwischen den Büros überraschend dünn. Ich kann Leslies Stimme hören, hoch und unsicher, wie sie im Flur mit Donna Walsh spricht. Die ruhigere, tiefere Stimme der Leiterin antwortet, gemischt und oft unterbrochen durch die abgehackte, drängende Stimme der älteren Frau, Abigail Burgess was-weiß-ich. Ich kann mich an ihren Namen nicht mehr erinnern.
Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, also konzentriere ich mich auf die Geräusche aus dem Spielzimmer nebenan, ich kann Bethanys und Bobbys gedämpfte Stimmen hören. Sie spielen mit der Helferin. Es tut mir gut, zu wissen, dass sie so nahe sind, und es tut mir gut, allein in diesem Zimmer zu sein. Trotz des Stimmengemurmels durch die Wände ist dies immer noch der ruhigste Raum, in dem ich seit Wochen war. Es tut mir gut, allein dazusitzen und nachzudenken. Es ist friedlich.
Vielleicht kann ich, wenn ich möchte, eine Weile bleiben. Es scheint eine nette Stadt zu sein, voller netter Leute. Leute wie Leslie. Sie ist bloß ein paar Jahre jünger als ich. Zweiundzwanzig, höchstens dreiundzwanzig. Frisch von der Uni. Wie komisch. Alles, was sie über die Welt weiß, hat sie in Büchern gelesen oder von ihren Professoren gehört. Ich bin vierundzwanzig, aber ich habe genug gesehen für drei Leben. Sie gibt mir das Gefühl, so alt zu sein. Und trotzdem ... wenn ich hier lebte, wären wir viel¬leicht Freunde, würden ins Kino oder einkaufen gehen. Was Freundinnen so machen. Es wäre nett, eine Freundin zu haben, jemanden, der die Wahrheit über mich weiß und mich trotzdem mag, länger hierzubleiben, hier zu leben, vielleicht für immer. Nein, schalt ich mich. Das ist unmöglich.
Wir können nicht bleiben. Weder für immer noch für eine längere Zeit. Selbst wenn ich recht habe und Leslie meine An¬gaben nie überprüft. Aber auch wenn ich unrecht habe und sie es irgendwann tut, ganz egal. Wir müssen verschwinden, bevor die Wahrheit ans Licht kommt. Wir müssen einfach.
Wenn wir irgendwo zu lange bleiben, wird er uns finden. Stillstand birgt Gefahren. Aber wenn ich vorsichtig bin - dann vielleicht? Eine Weile? Ich bin es müde, ständig über meine Schulter zu sehen, mein Leben und die Leben meiner Kinder in einem Koffer aus Halbwahrheiten mit mir herumzuschlep¬pen, der nur so groß sein darf, dass er hinten in meinen Klein¬wagen passt.
In Gedanken verloren, höre ich die Beraterin gar nicht, als sie ins Zimmer zurückkehrt.
»Mrs Peterman? Ivy? Alles in Ordnung?«
Der Klang ihrer Stimme lässt mich zusammenzucken, ich bin wieder in der Gegenwart und mir wird klar, dass sie eine ganze Weile weg war, mindestens fünfzehn Minuten. »Tut mir leid. Ich war ganz weit weg. Ich bin wohl müde.«
Leslie neigt den Kopf zur Seite und murmelt mitfühlend: »Das kann ich mir vorstellen. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind fast fertig.« Sie legt ihr Klemmbrett auf den Schreib¬tisch und setzt sich wieder. »Wir werden Ihnen und den Kin¬dern etwas zu essen besorgen, dann können Sie sich für die Nacht fertig machen.«
»Sie können uns aufnehmen? Heute?« Ich kann gar nicht glauben, was sie sagt. Vielleicht habe ich sie nicht richtig ver¬standen. »Sie haben jetzt sofort ein Zimmer für uns?«
Sie nickt, sie freut sich darüber, dass ich mich so freue, und sie strahlt, während sie mir die wirklich unglaubliche Neuig¬keit mitteilt, als würde sie mir ein wunderbares und unerwar¬tetes Geschenk machen. Und das tut sie.
»Aber ich dachte, als ich Sie im Flur habe reden hören ... ich dachte, Sie sind voll belegt.«
»Ja, das sind wir eigentlich auch, aber Mrs Burgess Wynne hat darauf bestanden, dass wir für Sie und die Kinder sofort ein Bett finden. Sie hat gesagt, wenn wir das nicht schaffen, dann nimmt sie Sie mit nach Hause. Also hat Donna ein paar Ver¬schiebungen vorgenommen, und einige der alleinstehenden Frauen gebeten, ein paar Tage mit anderen zusammenzuzie¬hen, damit wir Platz für Sie und die Kinder haben.«
»Wirklich? Vielen Dank. Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Sie müssen gar nichts sagen. Ich freue mich sehr, dass wir Sie unterbringen können. Und«, sie grinst, »es wird sogar noch besser: Wir haben einen Platz für Sie im Stanton Center. Nicht heute, aber bald.«
Ich schaue sie fragend an und sie erklärt: »Das Stanton Center ist ein Wohnhaus ausschließlich für Frauen und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, der Kern unse¬res Übergangsprogramms. Sie können dort maximal zwei Jah¬re bleiben, während Sie wieder auf die Beine kommen. An¬fangs ist es kostenlos, aber wir unterstützen Sie dabei, so bald wie möglich eine Arbeit zu finden. Danach verlangen wir eine bezahlbare Miete, die sich an Ihrem Einkommen orientiert. Während Sie dort untergebracht sind, können wir Ihnen berufliche, finanzielle und psychologische Beratung bieten, und eine Kinderbetreuung.« Sie macht eine Pause und wartet darauf, dass ich etwas sage, aber ich brauche einen Augen¬blick.
»Eine Wohnung. Eine richtige Wohnung?« Ich habe Tränen in den Augen.
Sie nickt. »Eine richtige Wohnung. Es gibt einen Gemein¬schaftsraum, in dem wir Treffen aller Bewohner abhalten, und einen Spielplatz mit einer Schaukel und einer Rutsche für die Kinder. Das Haus befindet sich an einem geheimen Ort, ohne Hinweisschild an der Tür, und hat ein gutes Überwachungssystem. Da Sie Witwe sind, ist das für Sie nicht so wichtig. Aber viele andere Bewohnerinnen sind aus gewalttätigen Be¬ziehungen geflohen, und wir tun alles, was nur möglich ist, um sicherzustellen, dass die Täter sie nicht finden können. Es ist ein sehr sicheres Haus.«
Ich kneife die Augen für einen Moment zusammen und ver¬suche, nicht zu weinen und Haltung zu bewahren. Ich will nicht, dass sie sieht, welche Wirkung diese Worte auf mich haben - ein sicheres Haus.
Es ist so lange her, dass ich von so etwas auch nur geträumt habe.
»Und?«, fragt sie fröhlich, denn sie ist sich meiner Antwort bereits sicher. »Was sagen Sie? Möchten Sie die Wohnung haben und eine Weile in New Bern bleiben?«
»Ja«, flüstere ich. »Das möchte ich. Ich danke Ihnen.«
»Gut!« Sie erhebt sich und bedeutet mir, ihr zu folgen. »Wir können den Papierkram morgen zu Ende bringen, nachdem Sie sich ein bisschen ausgeruht haben.«
Leslie öffnet die Tür und geht durch die Flure, die uns zu dem Spielzimmer führen, das an ihr Beratungsbüro grenzt. Sie redet im Gehen. Ich stehe immer noch unter Schock und kann ihr bloß kurz angebundene Antworten geben, aber sie spult auch nur die üblichen Erklärungen für neue Bewohne¬rinnen ab.
»Sie müssen die Beratungsangebote nicht in Anspruch nehmen, aber ich rate Ihnen dazu, das in vollem Umfang zu tun - vor allem die Gruppentherapie. Ihr Mann kann Ihnen nichts mehr antun, aber dennoch leiden Sie noch lange nach dem Ende des Missbrauches unter den Folgen häuslicher Ge¬walt. Die Beratung kann Ihnen dabei helfen, das aufzuar¬beiten. Ich denke, Beziehungen zu Frauen, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren, werden Sie aufbauen.«
»Ja. Da haben Sie sicher recht«, sage ich, obwohl ich weiß, dass ich nie zu einer dieser Gruppensitzungen gehen werde. Ich werde keine dieser Frauen an mich heranlassen. Ich werde
niemanden an mich heranlassen. Das kann ich nicht riskie¬ren.
»Gut.« Sie schaut über die Schulter, froh darüber, dass ich ihr zustimme.
Leslie ist ein guter Mensch. Ein Teil von mir will ihr die Wahrheit sagen, aber ich kann nicht, vor allem nicht jetzt, wo es um eine Wohnung geht. Eine Wohnung! Eine richtige Woh¬nung nur für uns. Ich kann es nicht glauben.
»Sie hatten Glück. Eine unserer Bewohnerinnen, ehema¬ligen Bewohnerinnen«, korrigiert sie sich, »hat sich entschie¬den, zu ihrem Mann zurückzukehren. Deswegen haben wir einen Platz im Stanton Center.« Sie seufzt schwer und schüttelt den Kopf. »Nach allem, was sie durchgemacht hat, würde man glauben, das wäre das Letzte, worauf sie käme, aber es passiert öfter, als man glauben möchte. Das Muster ist sehr schwer zu durchbrechen. Na ja, darüber müssen wir uns bei Ihnen keine Sorgen machen, nicht wahr?«
»Nein.«
Das ist die Wahrheit. Ich werde nicht zurückgehen. Es gab einen Moment, einen einzigen, in dem ich schwankte, aber jetzt nicht mehr. Im Geiste sehe ich das Gesicht meiner Tochter, ein dunkles Spiegelbild im Rückspiegel, klein und ernst und zu jung, um so viel zu wissen. Nein. Wir gehen nicht zurück.
»Gut«, sagt Leslie wieder, noch entschlossener. Sie bestätigt sich gerne. »Es tut mir weh, dass unsere andere Bewohnerin auszieht, aber ich freue mich, dass es Ihnen nützt. Das ist wirk¬lich ein glücklicher Zufall.«
Wir haben das Spielzimmer erreicht. Sie legt ihre Hand auf den Knauf und wendet sich mir zu, bevor sie die Tür öffnet. »Sie haben Glück.«
Wenn, dann wäre es das erste Mal.
Aber andererseits - eine beeindruckende, grauhaarige Frau, an deren Namen ich mich nicht einmal erinnern kann, hat darauf bestanden, dass man Platz für mich und meine Kinder schafft. Eine braunäugige Direktorin, die ich vorher nie getrof¬fen habe, hat alles daran gesetzt, es zu ermöglichen. Und jetzt sagt die süße, nervöse und wohlmeinende Leslie, dass es Platz für uns gibt. Ein sicheres Haus. Heute. Jetzt gleich. Nur ein paar Meilen von hier, irgendwo in dieser hübschen kleinen Stadt, wo die nettesten Menschen der Welt leben, gibt es Platz für uns.
Vielleicht hat sie recht. Vielleicht habe ich endlich einmal Glück.
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Die Beraterin ist jung, blond, hübsch und ganz offensichtlich nervös. Sie überprüft ihr Bild im Wandspiegel, als sie ins War¬tezimmer tritt, rückt ihren Kragen zurecht und räuspert sich, bevor sie mir mit einem breiten, eingeübten Lächeln die Hand entgegenstreckt und mich bittet, ihr ins Büro zu folgen.
Nach einem schnellen Kuss und dem Versprechen, dass wir uns in ein paar Minuten wiedersehen, gehen Bethany und Bobby gehorsam mit einer freiwilligen Helferin ins Spielzim¬mer, wo sie warten werden, bis ich mit dem Aufnahmege¬spräch fertig bin. Ich folge der Beraterin durch einen breiten Flur mit Deckenstrahlern und einem dicken, beigen Teppich.
Was für ein eigenartiger Ort. Eher ein gehobenes Hotel als ein Frauenhaus, zumindest anders als die anderen Frauenhäu¬ser, in denen wir bisher waren. Alles ist still, und alle Mit¬arbeiter sind so freundlich, als wären sie allesamt ehemalige Empfangsdamen oder Kinderbibliothekarinnen, freundlich und bewusst ruhig. Na ja, fast alle.
Als wir eine Biegung im Flur erreichen, höre ich zwei Frauen streiten, gesittet, aber hitzig. Eine der Stimmen ist an¬gespannt und kontrolliert, sie versucht die andere, ein wenig lautere Stimme zu beruhigen, die jemandem gehört, der ge¬übt ist darin, in einem gebieterischen Tonfall präzise formu¬lierte Sätze hervorzubringen, die jeden Widerspruch unter¬binden. Es ist die Stimme einer Frau, die es gewohnt ist, sich durchzusetzen.
»Abigail, ich bin auf Ihrer Seite. Das wissen Sie doch«, sagt die erste Stimme. »Aber dies ist eine Notunterkunft, kein Ein¬kaufsnetz. Sie können nicht einfach immer mehr Frauen wie Äpfel hineinstopfen, eine nach der anderen, und hoffen, dass alle Platz finden. Ich wünschte, wir könnten jede unterbrin¬gen, die zur Tür hereinkommt, aber das geht einfach nicht. Wir haben nur eine begrenzte Anzahl Betten.«
»Aber das ist ja genau mein Anliegen. Jeden Monat kommen mehr Menschen durch diese Tür als im Monat zuvor. Es ist doch lächerlich zu glauben, dass dieser Trend sich plötzlich umkehren würde. Warum also ziert der Vorstand sich so? Nein! Unterbrechen Sie mich nicht. Sie müssen nichts sagen. Ich habe das alles schon zigmal gehört: ›Diese Dinge brauchen Zeit. Wir sollten eine Auslastungsstudie anfertigen lassen. Oder eine Umfrage durchführen. Oder einen Berater engagie¬ren.‹ Blödsinn! Wir müssen nichts davon tun. Wir müssen einen Architekten anheuern und einen Bagger mieten. Am besten heute! Ich habe es satt, in diesen Versammlungen zu sitzen und mir anzuhören, wie Ted Carney davon erzählt, dass wir die Aufnahmebedingungen erschweren sollten, während der Rest des Vorstandes dasitzt, in die Luft glotzt und nichts tut! Wenn es am Geld liegt, schreibe ich noch morgen einen Scheck. Ich ... «
»Abigail«, entgegnet die erste Stimme müde, »es geht nicht ums Geld. Das wissen Sie. Es ist eine Platzfrage. Wir haben einfach nicht genug ... «
Der Mut verlässt mich. Es ist immer dieselbe alte Geschich¬te; keiner hat Platz für uns. Damit hätte ich rechnen sollen. Jedes Frauenhaus hat mehr Anfragen als Plätze, aber alle sind so freundlich gewesen, seit wir zur Tür hereingekommen waren, dass ich tatsächlich zu hoffen gewagt hatte, dass sie vielleicht Betten für uns finden würden. Vielleicht müssten wir nur noch ein paar Tage warten. Ich fürchte mich davor, wieder im Auto zu schlafen, aber was soll ich sonst machen? Außer¬dem sah es so nett aus, so ruhig und sauber.
Wenn wir bleiben könnten, wenigstens ein oder zwei Wo¬chen, dann würde ich vielleicht wieder zu Verstand kommen, um mir einen Plan zu überlegen. Damit ich nicht mehr von einer Notunterkunft zur nächsten taumeln müsste und den Kindern ein echtes Zuhause schaffen könnte - zumindest für eine Weile. Ich habe es so satt, jede Nacht woanders zu schla¬fen. Ich bin es leid, so verdammt müde zu sein. Aber so wie es klingt, würden sie eben doch keinen Platz für uns haben. Ich hätte es besser wissen und mir keine Hoffnung machen sollen.
Als wir um die Ecke kommen, bemerke ich, wie meine Be¬gleiterin ihre Schultern durchdrückt und sich über das Haar streicht. Die Frauen unterbrechen ihr Gespräch, als wir uns nähern. Die Stimme der Beraterin klingt ein wenig höher, als sie uns einander vorstellt. Die erste Frau, erfahre ich, die mit dem ehrlichen Lächeln und den dunkelbraunen Augen, die zu ihrem kurzgeschnittenen Haar passen, ist Donna Walsh, die Leiterin des Frauenhauses. Die zweite Frau, die nicht abwartet, bis die Beraterin so weit ist, teilt mir mit, sie sei Abigail Burgess Wynne und säße im Vorstand des Frauenhauses. Beide sind at¬traktiv, aber Abigail Burgess Wynne ist schön, beeindruckend schön. Groß gewachsen, gut gekleidet, Achtung gebietend, mit platinweißem Haar, das in ihrem Nacken zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasst ist, mit hohen Wangen¬knochen, gewölbten Augenbrauen und reiner Haut; im Alter irgendwo zwischen fünfzig und siebzig.
Donna Walsh streckt die Hand aus, und als ich sie schüttele, legt sie die zweite Hand auf meine. Die Geste überrascht mich und ich muss mich bremsen, um meine Hand nicht zurück¬zuziehen. Es ist so lange her, dass ich mitfühlend berührt wurde. Ich weiß nicht recht, wie ich reagieren soll. »Hallo, Ivy. Willkommen. Nett, Sie kennenzulernen.«
»Danke. Ganz meinerseits.« In letzter Zeit hatte ich wenig Verwendung für gute Manieren, aber ich weiß noch, wie es geht.
»Leslie wird das Aufnahmegespräch mit Ihnen führen?«, fragt sie und sieht die junge Beraterin an, woraufhin diese nickt. »Dann sind Sie in guten Händen. Ich hoffe, wir werden Ihnen helfen können.«
Abigail Burgess Wynne zieht ihre Augenbrauen nach ganz oben, als sie die Leiterin unterbricht. »Ach, machen Sie sich keine Sorgen«, sagt sie streng. »Ich bin sicher, dass wir Ihnen helfen können.«
In Leslies Büro nehme ich Platz in einem festen, aber gemütlichen Sessel ihrem Schreibtisch gegenüber. Ich be¬obachte, wie Leslie immer wieder den Druckknopf ihres Kugelschreibers mit dem Daumen betätigt, während sie die Formulare ausfüllt - Name, Name der Kinder, Geburtsdaten und so fort. Sie klickt nach jeder meiner Antworten mehrfach mit dem Kugelschreiber.
Das Klicken erinnert mich an Bethanys billige Plastikkas¬tagnetten. Sie hat immer die Nussknacker-Suite aufgelegt, sich die Kastagnetten gegriffen, die Arme über den Kopf gereckt und sie zusammenklackern lassen, dazu drehte sie sich wie eine Flamencotänzerin im Kreis. Sie liebte diese Dinger. Ich wünschte, ich hätte sie mitgenommen, aber wir hatten nicht genug Zeit. Wir mussten so viel zurücklassen.
Ihr fällt auf, dass mir ihr Kugelschreibergeklicke auffällt. Daraufhin lacht sie und gibt zu, was ich bereits vermutet habe. Sie ist neu hier und hat gerade ihre Ausbildung abgeschlossen. Ich bin ihre erste Kundin, jedenfalls die erste, um die sie sich ganz allein kümmert.
»Es muss schön sein, einen neuen Job zu beginnen.«
»Das ist es, aber es wäre noch schöner, wenn solche Jobs nicht nötig wären.« Sie zuckt mit den Achseln. »Lassen wir das, zurück zu Ihnen. Sie sind aus Pennsylvania? Das ist weit weg. Was hat Sie nach New Bern geführt?«
Ich hole Luft, tief, aber nicht zu tief, und schaue sie ganz ruhig an, ich mache dann und wann eine Pause, als müsste ich meine Gedanken sammeln, es soll nicht auswendig gelernt klingen. Ich erzähle ihr die Geschichte, die ich vorbereitet habe, die Details, die ich mir sorgsam überlegt habe, die ge¬schönte Version, die ich sogar mit Bethany geübt habe, bevor wir herkamen. Ich habe ihr eingebläut, wenn sie bei Antworten auf Fragen nicht mehr weiterwüsste oder nervös würde, sollte sie einfach gar nichts sagen. Nach allem, was sie durchgemacht hat, ist Schweigen eine ausgesprochen nachvollziehbare Ver¬haltensweise bei einem Kind. Niemand wird das infrage stellen.
Leslie nickt mitfühlend mit ihrem hübschen blonden Kopf, über das Klemmbrett gebeugt, sie macht sich Notizen. Sie glaubt mir. Ich bin überrascht, wie einfach das alles ist. Die Lügen gleiten mir über die Lippen wie Faden von einer Spule, und sie glaubt jedes Wort, das ich sage.
Ich wünschte, es wäre anders, aber ich muss tun, was zu tun ist. Mit den weißen Schindelhäusern und ordentlich gestutzten Rasenflächen sieht New Bern in Connecticut aus wie die Erfindung eines Landschaftsmalers, sicher und beständig. Dennoch möchte ich nach der letzten Nacht nicht, dass die Kinder noch länger im Auto schlafen, während wir auf einen freien Platz in der Notunterkunft warten. Wenn es bloß um mich ginge, würde ich es nicht tun, aber wenn ich diese Frau anlügen muss, um meine Kinder zu schützen, dann geht es eben nicht anders. Ich habe keine Wahl. Trotzdem stört es mich, wie gut ich darin geworden bin, Menschen nur noch sehen zu lassen, was ich sie sehen lassen will.
Aber warum sollte ich nicht gut darin sein? Ich habe so viel Übung. Und meine Lebensgeschichte ist ja nicht komplett ausgedacht. Sie ist dicht an der Wahrheit, bloß nicht dicht genug.
Ich habe mit achtzehn geheiratet. Ich habe zwei Kinder, die ich liebe. Bethany ist sechs Jahre, Bobby achtzehn Monate alt. All das ist wahr, und der Rest ist nur ein bisschen erfunden.
Wir waren beinahe eine glückliche Familie.
Aber dieses Wort ist ein Abgrund, der die glücklichen Fami¬lien von allen anderen trennt. Beinahe.
Ich frage mich, ob sie das versteht, diese frischgebackene Aufnahmeberaterin, ausgebildet in der Sorge für krisenge¬schüttelte Frauen? Sie will es verstehen, das kann ich sehen, sie will wirklich helfen, aber etwas an ihr, etwas an der runden Form ihrer Stirn und den scharfen Falten ihrer Hosenbeine, lässt mich erkennen, dass sie nur eine Beobachterin ist, sie steht am Rande des Abgrundes und starrt hinein. Sie war nicht selbst in dem Tal und wird es wahrscheinlich nie sein. Ich hoffe es, ich wünsche es ihr.
Das macht es leichter für sie, meine Geschichte zu glauben. Sie wird sie nicht in Zweifel ziehen, und ich habe alle Unter¬lagen dabei, oder jedenfalls genügend, um meine Behauptun¬gen zu untermauern. Ich bin, wer ich behaupte zu sein - Ivy Peterman. Ich verschweige allerdings, dass ich nach meiner Hochzeit nie den Namen auf meinem Führerschein und meiner Sozialversicherungskarte habe ändern lassen. Vielleicht habe ich es vergessen. Oder vielleicht wusste ich tief in meinem Innersten, dass es irgendwann so weit kommen würde. Was auch immer der Grund ist, ich habe Unterlagen, die beweisen, dass ich ich bin.
Der Rest der Geschichte - dass mein Mann mich jahrelang misshandelt hat, dass meine Kinder und ich seit Monaten von einer Notunterkunft in die nächste ziehen, die beinahe wah¬ren Teile, dass wir sonst nirgendwohin können, und die Lüge, dass mein Mann bei einem Unfall auf dem Bau ums Leben kam - akzeptiert sie ohne Fragen. Trotz ihrer Ausbildung, zu der ganz sicher die Warnung davor gehörte, nicht an die Vor¬urteile gegenüber Opfern häuslicher Gewalt zu glauben: Dass sie arm, machtlos und schlicht gestrickt seien. Mit anderen Worten: Nicht wie die Nachbarn dieser Frau, nicht wie die Leute aus den netten und wohlhabenden Vororten, mit or¬dentlich gestutzten Hecken und nagelneuen Geländewagen in der Auffahrt. Einem Teil von ihr fällt es leichter, meine Ge¬schichte genau deswegen zu akzeptieren, weil sie die Vor¬urteile bedient: Armes Teenagermädchen heiratet trunksüch¬tigen, brutalen Arbeiterjungen, von dem sie glaubte, er wäre ihre Erlösung. Sie wusste nicht, worauf sie sich einließ, bis es zu spät war.
Meine Betreuerin kann meine Geschichte leicht glauben, weil sie beinahe wahr ist und weil sie sie glauben will. Die gan¬ze Wahrheit würde ihr zu nahe gehen, würde sie zum Telefon greifen und meinen Hintergrund überprüfen lassen. Aber das hier? Sie kommt nicht einmal auf die Idee, meine Behauptun¬gen infrage zu stellen. Das kann ich sehen.
Sie lächelt und erhebt sich, entschuldigt sich für einen Au¬genblick und verspricht, gleich wieder da zu sein.
Trotz der eleganten Möblierung und des dicken Teppichs sind die Wände zwischen den Büros überraschend dünn. Ich kann Leslies Stimme hören, hoch und unsicher, wie sie im Flur mit Donna Walsh spricht. Die ruhigere, tiefere Stimme der Leiterin antwortet, gemischt und oft unterbrochen durch die abgehackte, drängende Stimme der älteren Frau, Abigail Burgess was-weiß-ich. Ich kann mich an ihren Namen nicht mehr erinnern.
Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, also konzentriere ich mich auf die Geräusche aus dem Spielzimmer nebenan, ich kann Bethanys und Bobbys gedämpfte Stimmen hören. Sie spielen mit der Helferin. Es tut mir gut, zu wissen, dass sie so nahe sind, und es tut mir gut, allein in diesem Zimmer zu sein. Trotz des Stimmengemurmels durch die Wände ist dies immer noch der ruhigste Raum, in dem ich seit Wochen war. Es tut mir gut, allein dazusitzen und nachzudenken. Es ist friedlich.
Vielleicht kann ich, wenn ich möchte, eine Weile bleiben. Es scheint eine nette Stadt zu sein, voller netter Leute. Leute wie Leslie. Sie ist bloß ein paar Jahre jünger als ich. Zweiundzwanzig, höchstens dreiundzwanzig. Frisch von der Uni. Wie komisch. Alles, was sie über die Welt weiß, hat sie in Büchern gelesen oder von ihren Professoren gehört. Ich bin vierundzwanzig, aber ich habe genug gesehen für drei Leben. Sie gibt mir das Gefühl, so alt zu sein. Und trotzdem ... wenn ich hier lebte, wären wir viel¬leicht Freunde, würden ins Kino oder einkaufen gehen. Was Freundinnen so machen. Es wäre nett, eine Freundin zu haben, jemanden, der die Wahrheit über mich weiß und mich trotzdem mag, länger hierzubleiben, hier zu leben, vielleicht für immer. Nein, schalt ich mich. Das ist unmöglich.
Wir können nicht bleiben. Weder für immer noch für eine längere Zeit. Selbst wenn ich recht habe und Leslie meine An¬gaben nie überprüft. Aber auch wenn ich unrecht habe und sie es irgendwann tut, ganz egal. Wir müssen verschwinden, bevor die Wahrheit ans Licht kommt. Wir müssen einfach.
Wenn wir irgendwo zu lange bleiben, wird er uns finden. Stillstand birgt Gefahren. Aber wenn ich vorsichtig bin - dann vielleicht? Eine Weile? Ich bin es müde, ständig über meine Schulter zu sehen, mein Leben und die Leben meiner Kinder in einem Koffer aus Halbwahrheiten mit mir herumzuschlep¬pen, der nur so groß sein darf, dass er hinten in meinen Klein¬wagen passt.
In Gedanken verloren, höre ich die Beraterin gar nicht, als sie ins Zimmer zurückkehrt.
»Mrs Peterman? Ivy? Alles in Ordnung?«
Der Klang ihrer Stimme lässt mich zusammenzucken, ich bin wieder in der Gegenwart und mir wird klar, dass sie eine ganze Weile weg war, mindestens fünfzehn Minuten. »Tut mir leid. Ich war ganz weit weg. Ich bin wohl müde.«
Leslie neigt den Kopf zur Seite und murmelt mitfühlend: »Das kann ich mir vorstellen. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind fast fertig.« Sie legt ihr Klemmbrett auf den Schreib¬tisch und setzt sich wieder. »Wir werden Ihnen und den Kin¬dern etwas zu essen besorgen, dann können Sie sich für die Nacht fertig machen.«
»Sie können uns aufnehmen? Heute?« Ich kann gar nicht glauben, was sie sagt. Vielleicht habe ich sie nicht richtig ver¬standen. »Sie haben jetzt sofort ein Zimmer für uns?«
Sie nickt, sie freut sich darüber, dass ich mich so freue, und sie strahlt, während sie mir die wirklich unglaubliche Neuig¬keit mitteilt, als würde sie mir ein wunderbares und unerwar¬tetes Geschenk machen. Und das tut sie.
»Aber ich dachte, als ich Sie im Flur habe reden hören ... ich dachte, Sie sind voll belegt.«
»Ja, das sind wir eigentlich auch, aber Mrs Burgess Wynne hat darauf bestanden, dass wir für Sie und die Kinder sofort ein Bett finden. Sie hat gesagt, wenn wir das nicht schaffen, dann nimmt sie Sie mit nach Hause. Also hat Donna ein paar Ver¬schiebungen vorgenommen, und einige der alleinstehenden Frauen gebeten, ein paar Tage mit anderen zusammenzuzie¬hen, damit wir Platz für Sie und die Kinder haben.«
»Wirklich? Vielen Dank. Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Sie müssen gar nichts sagen. Ich freue mich sehr, dass wir Sie unterbringen können. Und«, sie grinst, »es wird sogar noch besser: Wir haben einen Platz für Sie im Stanton Center. Nicht heute, aber bald.«
Ich schaue sie fragend an und sie erklärt: »Das Stanton Center ist ein Wohnhaus ausschließlich für Frauen und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, der Kern unse¬res Übergangsprogramms. Sie können dort maximal zwei Jah¬re bleiben, während Sie wieder auf die Beine kommen. An¬fangs ist es kostenlos, aber wir unterstützen Sie dabei, so bald wie möglich eine Arbeit zu finden. Danach verlangen wir eine bezahlbare Miete, die sich an Ihrem Einkommen orientiert. Während Sie dort untergebracht sind, können wir Ihnen berufliche, finanzielle und psychologische Beratung bieten, und eine Kinderbetreuung.« Sie macht eine Pause und wartet darauf, dass ich etwas sage, aber ich brauche einen Augen¬blick.
»Eine Wohnung. Eine richtige Wohnung?« Ich habe Tränen in den Augen.
Sie nickt. »Eine richtige Wohnung. Es gibt einen Gemein¬schaftsraum, in dem wir Treffen aller Bewohner abhalten, und einen Spielplatz mit einer Schaukel und einer Rutsche für die Kinder. Das Haus befindet sich an einem geheimen Ort, ohne Hinweisschild an der Tür, und hat ein gutes Überwachungssystem. Da Sie Witwe sind, ist das für Sie nicht so wichtig. Aber viele andere Bewohnerinnen sind aus gewalttätigen Be¬ziehungen geflohen, und wir tun alles, was nur möglich ist, um sicherzustellen, dass die Täter sie nicht finden können. Es ist ein sehr sicheres Haus.«
Ich kneife die Augen für einen Moment zusammen und ver¬suche, nicht zu weinen und Haltung zu bewahren. Ich will nicht, dass sie sieht, welche Wirkung diese Worte auf mich haben - ein sicheres Haus.
Es ist so lange her, dass ich von so etwas auch nur geträumt habe.
»Und?«, fragt sie fröhlich, denn sie ist sich meiner Antwort bereits sicher. »Was sagen Sie? Möchten Sie die Wohnung haben und eine Weile in New Bern bleiben?«
»Ja«, flüstere ich. »Das möchte ich. Ich danke Ihnen.«
»Gut!« Sie erhebt sich und bedeutet mir, ihr zu folgen. »Wir können den Papierkram morgen zu Ende bringen, nachdem Sie sich ein bisschen ausgeruht haben.«
Leslie öffnet die Tür und geht durch die Flure, die uns zu dem Spielzimmer führen, das an ihr Beratungsbüro grenzt. Sie redet im Gehen. Ich stehe immer noch unter Schock und kann ihr bloß kurz angebundene Antworten geben, aber sie spult auch nur die üblichen Erklärungen für neue Bewohne¬rinnen ab.
»Sie müssen die Beratungsangebote nicht in Anspruch nehmen, aber ich rate Ihnen dazu, das in vollem Umfang zu tun - vor allem die Gruppentherapie. Ihr Mann kann Ihnen nichts mehr antun, aber dennoch leiden Sie noch lange nach dem Ende des Missbrauches unter den Folgen häuslicher Ge¬walt. Die Beratung kann Ihnen dabei helfen, das aufzuar¬beiten. Ich denke, Beziehungen zu Frauen, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren, werden Sie aufbauen.«
»Ja. Da haben Sie sicher recht«, sage ich, obwohl ich weiß, dass ich nie zu einer dieser Gruppensitzungen gehen werde. Ich werde keine dieser Frauen an mich heranlassen. Ich werde
niemanden an mich heranlassen. Das kann ich nicht riskie¬ren.
»Gut.« Sie schaut über die Schulter, froh darüber, dass ich ihr zustimme.
Leslie ist ein guter Mensch. Ein Teil von mir will ihr die Wahrheit sagen, aber ich kann nicht, vor allem nicht jetzt, wo es um eine Wohnung geht. Eine Wohnung! Eine richtige Woh¬nung nur für uns. Ich kann es nicht glauben.
»Sie hatten Glück. Eine unserer Bewohnerinnen, ehema¬ligen Bewohnerinnen«, korrigiert sie sich, »hat sich entschie¬den, zu ihrem Mann zurückzukehren. Deswegen haben wir einen Platz im Stanton Center.« Sie seufzt schwer und schüttelt den Kopf. »Nach allem, was sie durchgemacht hat, würde man glauben, das wäre das Letzte, worauf sie käme, aber es passiert öfter, als man glauben möchte. Das Muster ist sehr schwer zu durchbrechen. Na ja, darüber müssen wir uns bei Ihnen keine Sorgen machen, nicht wahr?«
»Nein.«
Das ist die Wahrheit. Ich werde nicht zurückgehen. Es gab einen Moment, einen einzigen, in dem ich schwankte, aber jetzt nicht mehr. Im Geiste sehe ich das Gesicht meiner Tochter, ein dunkles Spiegelbild im Rückspiegel, klein und ernst und zu jung, um so viel zu wissen. Nein. Wir gehen nicht zurück.
»Gut«, sagt Leslie wieder, noch entschlossener. Sie bestätigt sich gerne. »Es tut mir weh, dass unsere andere Bewohnerin auszieht, aber ich freue mich, dass es Ihnen nützt. Das ist wirk¬lich ein glücklicher Zufall.«
Wir haben das Spielzimmer erreicht. Sie legt ihre Hand auf den Knauf und wendet sich mir zu, bevor sie die Tür öffnet. »Sie haben Glück.«
Wenn, dann wäre es das erste Mal.
Aber andererseits - eine beeindruckende, grauhaarige Frau, an deren Namen ich mich nicht einmal erinnern kann, hat darauf bestanden, dass man Platz für mich und meine Kinder schafft. Eine braunäugige Direktorin, die ich vorher nie getrof¬fen habe, hat alles daran gesetzt, es zu ermöglichen. Und jetzt sagt die süße, nervöse und wohlmeinende Leslie, dass es Platz für uns gibt. Ein sicheres Haus. Heute. Jetzt gleich. Nur ein paar Meilen von hier, irgendwo in dieser hübschen kleinen Stadt, wo die nettesten Menschen der Welt leben, gibt es Platz für uns.
Vielleicht hat sie recht. Vielleicht habe ich endlich einmal Glück.
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Marie Bostwick
Marie Bostwick stammt aus dem Nordwesten der Vereinigten Staaten. Nachdem sie mit ihrer Familie in acht verschiedenen US-Bundesstaaten und zwei mexikanischen Städten gewohnt hat, lebt sie heute mit ihrem Mann und dem jüngsten ihrer drei Söhne in Connecticut. Sie ist die Autorin mehrerer erfolgreicher Romane und versteht sich außerdem auf das Anfertigen hochwertiger Quilts.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marie Bostwick
- 2012, 1, 800 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652762
- ISBN-13: 9783863652760
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