Sündige Gier
Julie Ruthledge, die Freundin eines ermordeten Millionärs, gerät in ein gefährliches Spiel mit bösen Überraschungen.
In einem Hotel in Atlanta wird der überaus vermögende Paul Wheeler erschossen. Die...
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Produktinformationen zu „Sündige Gier “
Julie Ruthledge, die Freundin eines ermordeten Millionärs, gerät in ein gefährliches Spiel mit bösen Überraschungen.
In einem Hotel in Atlanta wird der überaus vermögende Paul Wheeler erschossen. Die Polizei geht von einem Raubüberfall aus, doch Wheelers junge Freundin ist sich sicher: es war kaltblütiger Mord. Und sie glaubt auch den Auftraggeber des Anschlags zu kennen: Creighton Wheeler, Pauls Neffe und potenzieller Haupterbe! Sie lässt sich auf ein gefährliches Spiel mit dem Kino-Fanatiker Creighton ein, um ihn zu überführen. In seinem neuen Filmprojekt will sie die Hauptrolle übernehmen.
Klappentext zu „Sündige Gier “
»Sie wurden hereingelegt, Mr Mitchell.« Nach einer heißen Begegnung während eines Flugs von Paris nach Atlanta weiß Derek Mitchell nicht, was er von den Abschiedsworten der kühlen, schönen Unbekannten halten soll. Umso überraschter ist der bekannte Strafverteidiger, als er sie am Abend bereits wiedersieht: in den TV-Nachrichten, denn Julie Rutledge ist die Freundin des Millionärs Paul Wheeler, der vor wenigen Tagen bei einem Raubüberfall erschossen wurde. Um jeden Preis will sie verhindern, dass Derek ein Mandat für Creighton Wheeler übernimmt, Pauls Neffen und Erben. Während Julie klarmacht, dass sie den Raubüberfall für einen getarnten Mord und Creighton für den Drahtzieher hält, ist Derek hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen und seinen Zweifeln an Julies eigener Rolle in diesem Spiel. Er trifft auf zwei Meister der Manipulation, von denen einer ein ausgeklügeltes Drehbuch im Kopf hat, dessen Hauptdarsteller nicht von den tödlichen Rollen wissen, die er ihnen auf den Leib geschrieben hat.
Lese-Probe zu „Sündige Gier “
Sündige Gier von Sandra BrownAus dem Amerikanischen von Christoph Göhler
Prolog
Ein leises »Ping« meldete die Ankunft des Aufzugs. Die Doppeltür glitt auf. In der Kabine standen drei Menschen: zwei Frauen mittleren Alters, die wie alte Freundinnen plauderten, und ein Mann in den Dreißigern, der das gestresste Gehabe eines Jungmanagers zeigte. Er trat hastig zurück, um dem Mann und der Frau Platz zu machen, die einsteigen wollten.
Sie traten mit einem freundlichen Lächeln ein und drehten sich dann zur Tür. Die fünf spiegelten sich schwach in den Messingtüren, als der Aufzug die Abwärtsfahrt zur Hotellobby fortsetzte.
Das Paar stand einvernehmlich schweigend nebeneinander. Eine der beiden Frauen hinter ihnen redete immer noch, hatte die Stimme aber höflich gedämpft. Ihre Freundin presste die Hand auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, und antwortete dann leise: »O Gott. Und sie war so stolz auf das verflixte Ding.«
Als der Aufzug langsamer wurde und das nächste Ping einen Zwischenstopp im achten Stock ankündigte, warf der junge Anzugträger einen verstohlenen Blick auf seine Uhr und verzog das Gesicht, als könnte er es kaum ertragen, dass sich die Fahrt schon wieder verzögerte.
Die Aufzugtür glitt auf. Davor stand eine Person in einem dunkelblauen Jogginganzug, mit einer umlaufenden, verspiegelten Sonnenbrille und einer Skimaske. Über der Mundpartie war ein Haifischmaul mit spitzen Zähnen in das Garn gesteppt.
Noch bevor die fünf im Aufzug auch nur Zeit hatten, überrascht zu reagieren, hatte die Gestalt den Handschuh in die Kabine gestreckt und mit der Faust gegen den Nottüröffner geschlagen. In der anderen Hand hielt sie eine Pistole.
»Hinknien. Sofort! Los!«
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Der Befehl wurde in einem hohen Singsang erteilt und klang umso gruseliger, als er aus einem Haifischmaul kam. Die beiden Freundinnen ließen sich sofort auf die Knie fallen. Eine flehte wimmernd: »Bitte tun Sie uns nichts.«
»Schnauze! Du!« Der Haifisch schwenkte die Pistole auf den Geschäftsmann. »Auf die Knie.« Der junge Anzugträger hob die Hände und sank ebenfalls auf die Knie, sodass nur noch das Pärchen stand. »Seid ihr taub oder was? Runter!«
Die Frau sagte: »Er hat Arthritis.«
»Mir egal, selbst wenn er Lepra hat. Runter auf die Knie, verfluchte Scheiße! Sofort!«
Eine der Frauen an der Rückwand heulte: »Bitte tun Sie, was er sagt!«
Der grauhaarige Mann hielt sich an der Hand der Frau fest und ließ sich unter sichtbaren Schmerzen auf die Knie sinken. Widerstrebend folgte die Frau seinem Beispiel.
»Uhren und Ringe. Hier rein.« Der Angreifer hielt dem Geschäftsmann einen schwarzen Samtbeutel unter die Nase, damit der die Armbanduhr hineinlegte, die er eben noch so grimmig angesehen hatte.
Der Geschäftsmann reichte den Beutel an die Frauen hinter ihm weiter, die hastig ihren Schmuck hineinwarfen. »Die Ohrringe auch«, sagte der Räuber zu der einen Frau. Eilig kam sie seinem Befehl nach.
Als Letzter bekam der Herr mit den arthritischen Knien den Beutel gereicht. Er hielt ihn der Frau auf, die ebenfalls ihren Schmuck hineinfallen ließ.
»Tempo!«, befahl der Räuber mit seiner grauenvollen Mädchenstimme.
Der Herr legte seine Patek Philippe in den Beutel und hielt ihn dann dem Räuber hin, der ihn an sich riss und in die Tasche seiner Kapuzenjacke stopfte.
»Gut.« Der ältere Herr wirkte kein bisschen eingeschüchtert. »Sie haben bekommen, was Sie wollten. Jetzt lassen Sie uns in Frieden.«
Es knallte ohrenbetäubend.
Die beiden Freundinnen kreischten entsetzt auf.
Der junge Geschäftsmann fluchte fassungslos und heiser vor Schreck.
Die Frau neben dem älteren Herrn starrte in stummem Grauen auf die Blutspritzer an der Aufzugwand, die hinter dem langsam nach vorn kippenden Körper zum Vorschein kamen.
1
Creighton Wheeler stürmte über die Marmorterrasse, riss sich die Sonnenblende von der Stirn und schleuderte sie, nachdem er sich kurz mit der Hand den strömenden Schweiß vom Gesicht gewischt hatte, mitsamt dem feuchten Handtuch auf einen Liegestuhl, ohne dabei auch nur langsamer zu werden. »Wehe, es ist nicht wirklich wichtig. Ich war gerade dabei, ihm den Aufschlag abzunehmen.«
Die Haushälterin, die ihn vom Tenniscourt hereingerufen hatte, zeigte sich wenig beeindruckt von seinem Wutanfall. »Nicht in diesem Ton. Ihr Daddy möchte Sie sehen.«
Sie hieß Ruby. Ihren Nachnamen kannte Creighton nicht und hatte nie danach gefragt, obwohl sie schon vor seiner Geburt für seine Familie gearbeitet hatte. Wenn er mit ihr aneinandergeriet, rief sie ihm immer ins Gedächtnis, dass sie ihm schon den Hintern und die Nase geputzt hatte, dass beides nicht besonders angenehm gewesen war und dass sie es nicht besonders gern getan hatte. Dass sie einmal so vertraut mit seinem Körper war, auch wenn er damals noch ein Baby gewesen war, ärgerte ihn.
Er zwängte sich an ihrem Hundert-Kilo-Rumpf vorbei, durchquerte die Küche, mit der man ein Restaurant betreiben konnte, trat an einen der Kühlschränke und zog die Tür auf.
»Sofort, hat er gesagt.« Ohne sie einer Antwort zu würdigen, holte Creighton eine Dose Cola aus dem Kühlfach, riss die Lasche auf und nahm einen langen, tiefen Zug. Dann rollte er die kalte Dose über seine Stirn. »Bring Scott auch eine davon.«
»Ihr Tennistrainer sitzt nicht im Rollstuhl.« Sie drehte sich wieder zur Küchentheke und klatschte mit der bloßen Hand auf den Rinderbraten, den sie gerade für den Bräter vorbereitete.
Jemand sollte ihr endlich mal diese Flausen austreiben, dachte Creighton, während er sich durch die Schwingtür schob und auf den Weg zur Vorderseite des Hauses machte, wo das Arbeitszimmer seines Vaters lag. Die Tür war nur angelehnt. Er blieb kurz davor stehen, klopfte einmal mit der Coladose gegen den Türstock, drückte den Türflügel dann auf und spazierte, den Tennisschläger über der Schulter zwirbelnd, ins Zimmer. Er sah vom Scheitel bis zur Sohle aus wie ein Aristokrat, den man von der täglichen Leibesertüchtigung weggerufen hatte. Diese Rolle war ihm auf den Leib geschneidert.
Doug Wheeler saß hinter seinem Schreibtisch, der von der Größe her dem Präsidenten angestanden hätte, aber viel protziger wirkte als alles, was im Oval Office zu finden war. Der Schreibtisch wurde von zwei Flaggenständern aus Mahagoni flankiert, die mit der Staatsflagge von Georgia beziehungsweise der Flagge der Vereinigten Staaten geschmückt waren. An beiden Seitenwänden starrten die Ölporträts von finster blickenden Vorfahren von der fleckigen Zypressenvertäfelung, die wahrscheinlich bis zum Jüngsten Gericht halten würden.
»Scott lässt sich jede Minute bezahlen, und die Uhr läuft«, sagte Creighton zur Begrüßung.
»Das hier kann leider nicht warten. Setz dich.«
Creighton ließ sich in einen der Ziegenledersessel vor dem Schreibtisch seines Vaters fallen und lehnte den Tennisschläger dagegen. »Ich wusste gar nicht, dass du zu Hause bist.
Bist du heute Nachmittag nicht zum Golfen verabredet?« Er beugte sich vor und stellte die Coladose auf die polierte Schreibtischfläche.
Stirnrunzelnd schob Doug einen Untersetzer unter die Dose, damit kein Ring zurückblieb. »Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um mich umzuziehen, bevor ich zum Club fahre«, erklärte er. »Aber dann ist etwas Wichtiges ...«
»Sag nichts«, fiel Creighton ihm ins Wort. »Bei der Prüfung des Etats für Heftklammern hat sich herausgestellt, dass Geld veruntreut wurde. Diese raffinierten Sekretärinnen.«
»Paul ist tot.«
Creightons Herz setzte einen Schlag aus. Sein Lächeln fiel in sich zusammen. »Was?«
Doug räusperte sich. »Dein Onkel wurde vor einer Stunde im Hotel Moultrie erschossen.«
Creighton starrte seinen Vater wortlos an, bis er schließlich tief Luft holte. »Also, in den unsterblichen Worten von Forrest Gump oder genauer gesagt seiner Mutter: ›Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt.‹ «
Sein Vater sprang auf. »Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
»Ich finde, das trifft es ziemlich gut.«
Creighton hatte seinen Vater noch nie weinen sehen. Auch jetzt weinte er nicht, aber seine Augen wirkten gefährlich feucht, und er schluckte viel zu oft und zu schwer. Um zu vertuschen, dass seine Gefühle ihn zu übermannen drohten, trat er hinter dem Schreibtisch hervor und stellte sich an das Panoramafenster. Er blickte hinaus in den Garten, wo mexikanische Hilfsarbeiter tief gebückt das Unkraut aus den bunten Blumenbeeten zupften.
Deutlich leiser fragte Creighton: »Habe ich dich richtig verstanden, Vater? Onkel Paul wurde erschossen?«
»Mitten in die Stirn. Aus nächster Nähe. Offenbar bei einem Überfall.«
»Einem Überfall? Er wurde beraubt? Im Moultrie?«
»So unglaublich sich das anhört.«
Das Haar, das Doug mit seiner Hand durchkämmte, war genauso dicht und grau wie das seines Bruders - nunmehr verstorbenen Bruders -, der nur elf Monate älter gewesen war als er. Er und Paul gingen zum selben Friseur und zum selben Schneider. Weil sie annähernd gleich groß und gleich schwer waren, wurden sie von hinten oft verwechselt. Sie waren sich fast so vertraut gewesen wie Zwillinge.
»Genaueres weiß ich auch nicht«, fuhr Doug fort. »Julie war zu aufgewühlt, um viel zu sagen.«
»Sie wurde als Erste benachrichtigt?«
»Sie war dabei, als es passierte.«
»Im Hotel Moultrie. Am helllichten Tag.«
Doug drehte sich um und sah seinen Sohn streng an. »Sie war völlig außer sich. Sagte jedenfalls der Polizist. Ein Detective. Sie konnte nicht weitersprechen, darum übernahm er das Telefon. Er sagte, sie hätte darauf bestanden, mich persönlich anzurufen und zu benachrichtigen. Aber sie bekam nur ein paar unzusammenhängende Worte heraus, dann begann sie so zu weinen, dass ich nichts mehr verstand.« Er räusperte sich.
»Der Detective, ich glaube, er hieß Sanford, war sehr einfühlsam. Er sprach mir sein Beileid aus und sagte, ich könnte ins Leichenschauhaus kommen, wenn ich ... wenn ich Pauls Leichnam sehen wollte. Natürlich werden sie ihn obduzieren.«
Creighton wandte das Gesicht ab. »Jesus.«
»Genau.« Doug seufzte schwer. »Ich kann es auch noch nicht glauben.«
»Haben sie den Typen geschnappt, der das getan hat?«
»Noch nicht.«
»Wo im Hotel ist es passiert?«
»Das hat der Detective nicht gesagt.«
»In einem der Läden?«
»Ich weiß nicht.«
»Wer raubt denn schon ...«
»Ich weiß es nicht«, fuhr Doug ihn an.
Angespanntes Schweigen machte sich breit. Doug sackte zusammen. »Entschuldige, Creighton. Ich ... ich bin nicht ich selbst.«
»Das kann ich verstehen. Es ist auch kaum zu glauben.«
Doug massierte seine Stirn. »Der Detective meinte, er würde mir alles erklären, wenn ich erst dort bin.« Er sah auf die offene Tür, machte aber keine Anstalten, aufzustehen und zu gehen, so als wollte er diesen Gang so lang wie möglich hinauszögern.
»Was ist mit Mutter? Weiß sie schon Bescheid?«
»Sie war hier, als Julie anrief. Natürlich ist sie außer sich, aber sie muss jetzt alles organisieren. Sie ist gerade oben und macht die ersten Anrufe.« Doug trat an die Bar und schenkte sich einen Bourbon ein. »Auch einen?«
»Nein danke.«
Doug leerte sein Glas in einem Zug und griff ein zweites Mal nach der Karaffe. »So schwer diese Tragödie auch zu begreifen ist, es gibt praktische Probleme, die wir angehen müssen.«
Creighton wappnete sich. Er verabscheute alles, was mit dem Wort praktisch verbunden war.
»Ich möchte, dass du morgen früh in die Zentrale fährst und die Belegschaft persönlich informierst.«
Creighton stöhnte innerlich auf. Er wollte so wenig wie möglich mit ihrer Belegschaft zu tun haben, einem Stamm von mehreren Hundert Mitarbeitern, die allesamt große Stücke auf seinen Onkel Paul hielten, wohingegen er meistens ignoriert wurde, wenn er die Firmenzentrale mit seiner Anwesenheit beehrte, was er so selten wie möglich tat.
Wheeler Enterprises produzierte und vertrieb irgendwelche Baustoffe. Wow. Wie aufregend.
Sein Vater sah ihn über die Schulter an. Offenbar wartete er auf eine Antwort.
»Natürlich. Was soll ich ihnen sagen?«
»Ich werde noch heute Abend etwas aufsetzen. Wir berufen für zehn Uhr eine Personalversammlung im großen Saal ein. Du hältst deine Rede, danach wäre vielleicht eine Schweigeminute angebracht.«
Creighton nickte ernst. »Sehr würdevoll.«
Doug kippte den zweiten Drink hinunter und stellte das Glas entschlossen auf die Bar zurück. »Du wirst mehr Aufgaben übernehmen müssen, bis wir alles geklärt haben.«
»Was alles?«
»Das mit der Beerdigung zum Beispiel.«
»Ach, natürlich. Das wird ein richtiger Staatsakt.«
»Bestimmt.« Doug seufzte. »Ich werde darauf achten, dass es so würdig wie möglich abläuft, aber dein Onkel hatte seine Finger ...«
»Überall drin. Er war der ungekrönte König von Atlanta.«
Doug ließ sich nicht aus dem Takt bringen. »Genau, und jetzt ist der König tot. Nicht nur das, sondern er wurde umgebracht. « Bei dem Gedanken, dass sein Bruder brutal ermordet worden war, verzog er das Gesicht und fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Jesus.« Sein Blick wanderte zur Bar, als würde er mit dem Gedanken spielen, sich noch ein Glas zu genehmigen, aber er tat es nicht. »Wir müssen die Polizei nach besten Kräften unterstützen.«
»Aber wie? Wir waren nicht dabei.«
»Trotzdem muss Pauls Mörder gefasst werden. Du wirst dazu beitragen, und zwar bereitwillig. Haben wir uns verstanden? «
»Natürlich, Vater.« Creighton zögerte und sagte dann: »Obwohl ich hoffe, dass du die Rolle des Familiensprechers übernimmst. Die Reporter werden über uns herfallen wie die Aasgeier. «
Doug nickte knapp. »Ich werde dafür sorgen, dass sie dich und deine Mutter in Frieden lassen. Natürlich werden wir ihn nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit beerdigen können, trotzdem werde ich darauf bestehen, dass die Trauerfeier so würdevoll wie möglich abläuft.
Wir müssen unseren Angestellten ein Vorbild sein und die Firma am Laufen halten, denn das hätte auch Paul gewollt. Darum möchte ich, dass du dich vorbereitest. Ich habe dir alle nötigen Unterlagen zusammenstellen lassen und in dein Zimmer gelegt. Du solltest sie heute Abend durchsehen und dich über unsere neuesten Produkte, unsere Marktposition und die Geschäftsziele fürs nächste Jahr informieren.«
»In Ordnung.« Vergiss es.
Sein Vater schien seine Gedanken zu lesen. Er fixierte ihn mit einem eisenharten Adlerblick. »Das ist das Mindeste, was du tun kannst, Creighton. Du wirst bald dreißig. Ich war zu nachsichtig mit dir und bin daher mitverantwortlich dafür, dass du dich so wenig für die Firma interessierst. Ich hätte dir mehr Verantwortung übertragen, dich mehr in unser expandierendes Geschäft einbinden sollen. Paul ...« Er stockte bei dem Namen. »Paul hat mich immer dazu angehalten. Stattdessen habe ich dich gewähren lassen. Damit ist jetzt Schluss. Es ist an der Zeit, dass du dich deiner Aufgabe stellst. Jetzt, wo Paul tot ist, wirst du das Kommando übernehmen müssen, wenn ich mich eines Tages zur Ruhe setze.«
Wem wollte er etwas vormachen? Vielleicht sich selbst, aber Creighton ließ sich nicht täuschen. Sein Vater war völlig realitätsfern, wenn er glaubte, dass Creighton bereitwillig in seine unternehmerischen Fußstapfen treten würde. Er hatte keinen blassen Schimmer vom Geschäft und wollte auch nichts darüber lernen. Das Einzige, was ihn an diesem Unternehmen interessierte, war das Einkommen, das er daraus bezog. Er liebte sein Leben so, wie es war, und hatte nicht die Absicht, etwas daran zu ändern, indem er irgendeine Position übernahm, die genauso gut irgendein Wasserträger ausfüllen konnte.
Aber dies war nicht der Zeitpunkt, um ein weiteres Mal jenes Kammerspiel aufzuführen, das er und sein Vater schon tausendmal gegeben hatten und in dem ihm seine persönlichen Fehler sowie seine falsch gesetzten Prioritäten vorgehalten wurden, bevor an sein Pflichtgefühl und an seine Verantwortung als Erwachsener, als Mann und als Wheeler appelliert wurde. Der ganze Bockmist.
Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Bringen sie es schon in den Nachrichten?«
»Wenn jetzt noch nicht, dann sicher bald.« Doug kehrte an den Schreibtisch zurück, griff nach einem Blatt und reichte es Creighton. »Würdest du bitte die Liste abtelefonieren und alle darauf benachrichtigen? Sie haben es verdient, dass ihnen ein Mitglied der Familie persönlich Bescheid gibt und sie es nicht aus dem Fernsehen erfahren.«
Creighton überflog die ausgedruckte Liste und erkannte in den meisten Namen enge persönliche Freunde seines Onkels Paul, wichtige Aktionäre von Wheeler Enterprises, Vertreter von Stadt und Staat und andere prominente Geschäftsleute.
»Und würdest du auch mit Ruby sprechen?«, bat Doug. »Sie weiß, dass etwas im Busch ist, aber ich habe es nicht übers
Herz gebracht, ihr die Wahrheit zu sagen, vor allem unter diesen grässlichen Umständen. Du weißt, wie sehr sie Paul geliebt und bewundert hat.«
»Ja, mache ich.« Mit Vergnügen, dachte Creighton. Das war eine Möglichkeit, ihr die vielen Frechheiten heimzuzahlen. »Soll ich mit dir ins Leichenschauhaus fahren?«
»Danke, aber nein«, lehnte Doug ab. »Das kann ich nicht von dir verlangen.«
»Gut. Ich könnte mir tatsächlich kaum was Schlimmeres vorstellen.« Creighton tat so, als müsste er kurz überlegen, und schüttelte sich dann. »Außer vielleicht einer Seniorenkreuzfahrt.«
2
Julie?« Sie hatte ins Leere gestarrt, ohne die klingelnden Telefone wahrzunehmen, die Hektik um sie herum, die vorbeihastenden Menschen und die neugierigen Blicke, die man ihr zuwarf. Als sie ihren Namen hörte, drehte sie sich um und stand auf, um den Mann zu begrüßen, der auf sie zukam. »Doug.«
Die Blutflecken auf ihrer Kleidung ließen Pauls Bruder kurz innehalten, tiefe Trauer kerbte sich in sein Gesicht. Sie hatte Gesicht, Hals, Arme und Hände mit der stark duftenden Desinfektionsseife auf der Damentoilette in der Polizeistation abgeschrubbt, aber sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen.
Paul zuliebe hatten Doug und sie sich immer umeinander bemüht, trotzdem waren sie nie warm miteinander geworden. Doch jetzt fühlte sie bedingungslos mit ihm. Sie sah, dass es ihn schockierte, das Blut seines Bruders an ihren Kleidern zu sehen. Es war der unübersehbare Beweis dafür, wie brutal Paul aus dem Leben gerissen worden war.
Sie ging auf ihn zu, aber er war derjenige, der die Arme ausbreitete und sie umarmte. Verlegen. Trotzdem auf Abstand bedacht. So wie typischerweise ein Mann die Freundin seines Bruders umarmt.
»Es tut mir so leid, Doug«, flüsterte sie. »Du hast ihn geliebt. Er hat dich geliebt. Das muss entsetzlich für dich sein.« Er ließ sie los. In seinen Augen glänzten Tränen, aber er hielt sich standhaft, so wie sie es von ihm erwartet hatte. »Wie
geht es dir?«, fragte er dann. »Bist du verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er betrachtete sie prüfend und rieb sich dann mit beiden Händen übers Gesicht, als wollte er den Anblick der Blutflecken auf ihren Kleidern ausradieren.
Die beiden Detectives, die sich Julie vorgestellt hatten, gleich nachdem sie am Tatort eingetroffen waren, hielten sich diskret im Hintergrund, um ihr und Doug ein paar ungestörte Momente zu lassen.
Detective Homer Sanford war ein großer, breitschultriger Schwarzer, dem das Alter, Julies Schätzung nach knapp über vierzig, lediglich an einem kleinen Bäuchlein anzusehen war. Er wirkte wie ein ehemaliger Footballspieler.
Äußerlich war seine Partnerin das genaue Gegenteil. Detective Roberta Kimball war gerade mal einen Meter fünfzig groß und versuchte vergeblich, den zehn Kilo schweren Reifen um ihre Hüften zu verbergen, indem sie einen weit geschnittenen schwarzen Blazer über der grauen, straff um die Schenkel spannenden Stoffhose trug.
Auf den Notruf hin war im Hotel Moultrie zuerst eine Streife aus dem zuständigen Polizeirevier von Buckhead eingetroffen. Die Streifenbeamten hatten dann umgehend ein Spurensicherungskommando angefordert, das gemeinsam mit zwei Ermittlern vom Morddezernat angekommen war.
Julie hatte den Eindruck, dass Sanford und Kimball ausgesprochen professionell und umsichtig arbeiteten. Am Tatort hatten die beiden sie mit Glacéhandschuhen angefasst und sich immer wieder entschuldigt, dass sie schon jetzt die Ermittlungen aufnehmen und ihr Fragen stellen müssten, obwohl Julie nach dem Verbrechen, das Paul das Leben gekostet hatte, bestimmt noch unter Schock stand.
Jetzt wandte sich Kimball behutsam an Doug: »Brauchen Sie noch ein paar Minuten, bevor wir anfangen, Mr Wheeler? «
»Nein, es geht schon.« Die Antwort kam ein bisschen zu forsch, so als würde er sich selbst Mut zusprechen wollen.
Die Detectives hatten ihn direkt vom Leichenschauhaus hierhergefahren. Allen dreien haftete ein unverkennbarer Geruch an. Julie fröstelte nach ihrem Besuch in dieser freudlosen Gruft immer noch.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn Mr Wheeler zuhört, während wir noch einmal Ihre Aussage durchgehen«, sagte Sanford.
»Gar nicht.« Irgendwann würde Doug ohnehin von ihr hören wollen, was sich eigentlich zugetragen hatte. Warum nicht gleich jetzt?
Sie betraten das Morddezernat, und Sanford führte sie in einen winzigen, von Stellwänden abgetrennten Arbeitsbereich, der offenbar sein Reich war. Julie hatte richtig getippt. An einer Wand hing ein Foto, auf dem er, einen Football unter den Arm geklemmt, in einem Bulldogs-Trikot und mit verkratztem Helm in die Endzone hechtete. Auf anderen Fotos waren drei lächelnde Kinder und eine hübsche Frau zu sehen. Er trug einen Ehering. Roberta Kimball nicht.
Sanford zog für Julie einen Stuhl heraus. »Ms Rutledge.« Sie setzte sich. Dann brachte er Doug einen zweiten Stuhl. Kimball behauptete, sie würde lieber stehen. Sanford setzte sich hinter den Schreibtisch und griff nach einem Ordner, auf dem das aktuelle Datum, Pauls Name und ein Aktenzeichen standen. Er war erst vor knapp fünf Stunden gestorben, und schon war er zu einer Nummer geworden.
Sanford wandte sich an Julie. »Die anderen Zeugen haben inzwischen auch ausgesagt. Ihre vorhin aufgezeichnete Aussage wurde währenddessen niedergeschrieben. Bevor Sie die Niederschrift unterzeichnen, möchte ich alles noch einmal mit Ihnen zusammen durchgehen, um zu sehen, ob Ihnen noch etwas einfällt, ob Sie etwas hinzufügen oder ändern wollen.«
Julie nickte. Sie verschränkte die Arme und umklammerte ihre Ellbogen.
Kimball bemerkte die Geste und sagte: »Wir wissen, wie schwer das für Sie sein muss.«
»Das ist es allerdings. Aber ich möchte helfen. Ich möchte, dass der Täter gefasst wird.«
»Wir auch.« Sanford nahm einen Kugelschreiber und klickte mehrmals damit, während er die oberste Seite in seinem Ordner überflog. »Vor dem Vorfall waren Sie zusammen mit Mr Wheeler in Zimmer Nummer 901? Das ist die Suite an der Ecke, korrekt?«
»Genau.«
Die Detectives sahen sie fragend an. Doug starrte auf seine Schuhe.
»Ich habe mich dort um halb zwei mit Paul getroffen«, sagte Julie.
»Sie sind direkt in die Suite gegangen. Sie haben nicht erst eingecheckt.«
»Das hatte Paul schon erledigt. Ich hatte mich um ein paar Minuten verspätet. Als ich ins Hotel kam, war er schon in der Suite.«
Der Detective und seine Partnerin tauschten schweigend einen kurzen Blick, dann sah Sanford wieder auf sein Blatt. Julie glaubte nicht, dass er davon ablas. Sie war überzeugt, dass er auf die Unterlagen verzichten konnte. Inzwischen wusste er bestimmt schon, dass Paul und sie diese Suite für jeden Dienstag reserviert hatten, sommers wie winters, zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Sie würde sich nicht zu diesem Arrangement äußern. Das tat hier nichts zur Sache.
»Sie haben das Mittagessen beim Zimmerservice bestellt«, sagte Sanford.
Woraufhin Kimball erklärend hinzufügte: »Das wissen wir von der Hotelbelegschaft.«
Das hieß sicher, sie wussten auch, was sie und Paul gegessen hatten. Und sie wussten bestimmt auch, dass Paul heute Champagner bestellt hatte. Was würden sie daraus ableiten? Solange die beiden diesen Punkt nicht ansprachen, würde sie bestimmt nicht darauf eingehen.
Sanford fragte: »Abgesehen von dem Zimmerkellner hat niemand Sie in der Suite gesehen?«
»Nein.«
»Sie waren die ganze Zeit allein?«
»Ja.«
Nach einer vielsagenden und peinlichen Pause fuhr Sanford fort: »Sie haben vorhin ausgesagt, dass Sie die Suite gegen fünfzehn Uhr verlassen haben.«
»Ich hatte um vier Uhr einen Termin.«
»In Ihrer Galerie?«
»Genau.«
»Der Notruf ging um fünfzehn Uhr sechzehn ein«, sagte Sanford.
Als wollte sie seinen Satz vervollständigen, ergänzte Kimball: »Folglich muss sich der Raubüberfall ein paar Minuten zuvor ereignet haben.«
»Dann war es wohl kurz nach drei, als wir die Suite verlassen haben«, sagte Julie. »Weil wir von der Suite aus direkt zum Aufzug gingen und dort nicht lange warten mussten. «
Offenbar dauerte Doug die Diskussion über den genauen Zeitablauf zu lang, denn er meldete sich zu Wort: »Der Mörder konnte entkommen?«
»Genau das versuchen wir gerade herauszufinden, Mr Wheeler«, antwortete Sanford. »Wir sind dabei, alle Hotelgäste zu befragen. Und alle Angestellten.«
»Mit dieser grässlichen Maske konnte er unmöglich durchs Hotel spazieren«, sagte Julie.
»Wir vermuten, dass er sie sofort entsorgt hat«, sagte Kimball. »Aber obwohl wir das Hotel gründlich durchsucht haben, konnten wir bis jetzt nichts finden. Weder den Jogginganzug noch die Maske ...«
»Gar nichts«, beendete Sanford den Satz für sie.
»In einem so großen Hotel wie dem Moultrie gibt es unzählige Verstecke«, sagte Doug.
»Die Suche ist noch nicht abgeschlossen«, bestätigte Sanford. »Wir durchsuchen auch die Müllschlucker, Belüftungsschächte, Abflüsse, einfach jeden Fleck, an dem er die Sachen verstaut haben könnte, falls er sie mit nach draußen genommen hat.«
»Er ist einfach aus dem Hotel spaziert?«, fragte Doug fassungslos.
Kimball schien das nur ungern zuzugeben, aber dann sagte sie: »Die Möglichkeit besteht.«
Doug fluchte leise.
Sanford klickte wieder mit dem Stift und vertiefte sich in sein Material. »Gehen wir noch einmal zurück.« Er sah Julie an. »Als Sie die Suite verließen, war niemand auf dem Gang?«
»Nein.«
»Kein Zimmermädchen, kein Kellner ...«
»Niemand.« Sie rief sich ihren Weg zum Aufzug ins Gedächtnis. Paul hatte den Arm über ihre Schulter gelegt. Er hatte so schützend gewirkt. Stark, warm, voller Leben. So ganz anders als die Gestalt unter dem Laken im Leichenschauhaus. Er hatte sie gefragt, ob sie glücklich sei, und sie hatte Ja gesagt.
Kimball fragte: »Haben Sie mit jemandem gesprochen, als Sie in den Aufzug stiegen?«
»Nein.«
»Mr Wheeler auch nicht?«
»Nein.«
»Glauben Sie, dass jemand Sie oder ihn erkannt hat?«
»Nein.«
»Niemand hat Sie beide angesprochen? Oder irgendwie Kenntnis von Ihnen genommen?«
»Eigentlich nicht. Die beiden Frauen unterhielten sich und beachteten uns überhaupt nicht. Der junge Mann sagte nichts, aber er machte höflich Platz, damit wir in den Lift steigen konnten. Er schien mit den Gedanken woanders zu sein.«
»Er kommt aus Kalifornien und hatte um fünfzehn Uhr dreißig ein Vorstellungsgespräch. Er hatte Angst, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde«, erläuterte Kimball. »Wir haben das überprüft.«
»Die beiden Frauen stammen aus Nashville«, sagte Sanford. »Sie sind in Atlanta, weil ihre Nichte am Wochenende heiratet. «
»Das muss schrecklich für sie sein«, murmelte Julie.
Mit Sicherheit war jeder in diesem Aufzug traumatisiert. Aber im Unterschied zu ihr hatten die drei niemanden verloren. Abgesehen von dieser kurzen Fahrt im Lift verband sie nichts mit Paul Wheeler. Er war für sie nur ein Name, ein zu bedauerndes Mordopfer. Bestimmt würde der Vorfall Spuren hinterlassen, und sie würden sich bei jeder einzelnen Liftfahrt daran erinnern, aber er hatte in ihrem Leben kein Vakuum hinterlassen. Für sie hatte sein Tod keine irreparablen Konsequenzen.
Sanford ließ den Stift auf den Tisch fallen. »Warum schildern Sie von diesem Punkt an nicht alles noch einmal? Damit wäre Mr Wheeler geholfen und uns ebenfalls.« Er faltete die langen Finger und legte sie abwartend auf die Gürtelschnalle.
Kimball lehnte sich an die Schreibtischecke. Doug hatte eine Hand um Kinn und Mund geschlossen und sah Julie aufmerksam an.
Sie erzählte, wie sie eine Etage abwärts gefahren waren zum achten Stock, wie dort die Tür aufgegangen war, wie der Räuber in den Aufzug gefasst und den Knopf zum Öffnen der Tür in Notfällen gedrückt hatte.
»Ihr erster Eindruck?«, fragte Kimball.
»Die Maske. Das Haifischmaul.«
»Sein Gesicht konnten Sie nicht erkennen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es waren weder Haut noch Haare zu sehen. Nicht einmal die Handgelenke. Er hatte die Ärmel des Jogginganzugs über die Handschuhe gezogen. Die Maske steckte im Kragen seiner Kapuzenjacke, die er bis unters Kinn zugezogen hatte.«
»Größe, Gewicht?«
»Größer als ich, aber nicht viel. Gewicht durchschnittlich.« Die Detectives nickten, als hätten die anderen Zeugen den Täter genauso beschrieben.
Sanford sagte: »In den nächsten ein, zwei Tagen möchten wir Ihnen ein paar Bandaufnahmen vorspielen, die bei anderen Verbrechen gemacht wurden. Vielleicht erkennen Sie die Stimme wieder.«
Bei dem bloßen Gedanken an die gespenstische Stimme stellten sich die Härchen auf Julies Armen auf. »Sie war wirklich schrecklich.«
»Eine der Zeuginnen meinte, wie Fingernägel auf einer Schiefertafel.«
»Schlimmer. Viel beängstigender.«
Plötzlich tauchte verstörend real die umlaufende Sonnenbrille vor ihren Augen auf. »Die Brille war ganz dunkel, sein Blick war schwarz und undurchdringlich wie der eines Haifischs. Trotzdem konnte ich spüren, dass er mich ansah.«
Sanford beugte sich leicht nach vorn. »Woher wissen Sie, dass er Sie ansah, wenn Sie seine Augen nicht sehen konnten? «
»Ich weiß es einfach.«
Ein paar Sekunden schwiegen alle, bis Kimball auffordernd bemerkte: »Dann befahl er, dass sich alle hinknien sollten.«
Ohne noch einmal unterbrochen zu werden, erzählte sie weiter, bis sie zu dem Moment kam, in dem Paul den Räuber angesprochen hatte. »Er sagte: ›Gut. Sie haben bekommen, was Sie wollten. Jetzt lassen Sie uns in Frieden.‹ Ich hörte ihm an, dass er eher wütend als eingeschüchtert war.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Doug.
»Ich drehte mich zu ihm um und wollte ihn bitten, den Dieb nicht zu provozieren. Und in diesem Augenblick ...«
Unfreiwillig und unerwartet stieg ein Schluchzen aus ihrer Kehle auf und raubte ihr die Stimme. Sie senkte den Kopf und drückte die Hand auf die Augen, um auszublenden, wie die Kugel in Pauls Kopf eingeschlagen war.
Niemand sagte etwas, die Stille wurde nur vom Ticken einer Armbanduhr durchbrochen. Doch das war Mahnung genug. Julie senkte die Hand wieder. »Warum wollte er nur den Schmuck und die Armbanduhren? Warum keine Geldbörsen? Wäre das nicht viel praktischer gewesen? Schmuck muss verkauft oder versetzt werden, in einer Börse stecken Geld und Kreditkarten.«
»Vielleicht wollte er möglichst wenig Ballast mit sich herumtragen «, sagte Kimball. »Er wollte sich nicht mit Portemonnaies oder Handtaschen belasten, die er erst durchsuchen und dann entsorgen musste, bevor er das Hotel verlassen konnte.«
»Was hat er getan, nachdem er Paul erschossen hatte? Wo ist er hingegangen?«, fragte Doug.
»Das weiß ich nicht mehr«, erwiderte Julie. »Ich war ... nach dem Schuss weiß ich praktisch nichts mehr.«
Sanford sagte: »Die anderen drei im Aufzug waren ebenfalls zu geschockt, um mitzubekommen, wohin er lief, Mr Wheeler. Der junge Mann meint, bis er sich wieder halbwegs gefasst hatte, sei der Schütze verschwunden gewesen. Er drückte noch einmal auf den Knopf fürs Erdgeschoss. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.«
»Er hätte versuchen können, den Mann zu verfolgen.«
»Das kannst du ihm nicht vorwerfen, Doug«, ermahnte Julie ihn leise. »Er war bestimmt völlig verängstigt. Er hatte eben zusehen müssen, wie Paul in den Kopf geschossen wurde.«
Wieder sagte länger niemand ein Wort. Sanford klickte mit dem Kugelschreiber. »Also, wenn Sie sich an sonst nichts erinnern ...«
»Doch«, bemerkte Julie plötzlich. »Er hatte keine Schuhe an. Ist das noch jemandem außer mir aufgefallen?«
»Einer der Frauen aus Nashville«, bestätigte Sanford. »Sie sagte, er sei in Socken gewesen.«
»Auch das ist nur eine Vermutung«, sagte Kimball, »aber wahrscheinlich wusste er, dass Schuhe, vor allem Sportschuhe, Abdrücke hinterlassen, die sich später abnehmen lassen.«
»Hat er denn Fußabdrücke hinterlassen?«, wollte Julie wissen.
»Unsere Spurensicherung hat keine gefunden. Nein.«
Doug atmete seufzend aus. »Anscheinend hat er an alles gedacht.«
»Nicht an alles, Mr Wheeler«, widersprach Sanford. »Es gibt kein perfektes Verbrechen. Ich bin zuversichtlich, dass wir ihn kriegen.«
Kimball bekräftigte die optimistische Prognose ihres Partners. »Verlassen Sie sich darauf.«
Sanford wartete ab, ob noch jemand etwas sagen wollte, und meinte dann: »Das wäre dann vorerst alles, Ms Rutledge. Würden Sie Ihre Aussage jetzt unterschreiben?«
Sie tat es, ohne zu zögern, dann führten die beiden Detectives sie und Doug hinaus. Als sie durch den Korridor zum Aufzug gingen, nahm Kimball ihren Arm. »Möchten Sie vielleicht lieber die Treppe nehmen, Ms Rutledge?«
Julie war dankbar für ihre Einfühlsamkeit. »Danke, aber nein. Es geht schon.«
Sanford erklärte Doug eben, dass er benachrichtigt würde, sobald der Gerichtsmediziner mit seiner Arbeit fertig war und der Leichnam für die Beerdigung an die Familie übergeben werden konnte.
»Ich würde gern so schnell wie möglich wissen, wann das sein wird«, sagte Doug. »Wir müssen eine Menge organisieren. «
»Natürlich. Wir würden uns gern auch mit den anderen Familienmitgliedern unterhalten. Ihrer Frau. Ihrem Sohn. Am liebsten morgen.«
Doug blieb stehen und sah ihn an. »Wieso das?«
»Routine. Falls Ihr Bruder Feinde hatte ...«
»Hatte er aber nicht. Alle liebten Paul.«
»Bestimmt. Trotzdem könnte jemand aus seiner Umgebung etwas wissen, von dem er nicht ahnt, dass es relevant ist.«
»Wie sollte irgendjemand etwas wissen? Das war ein zufälliger Raubüberfall.«
Sanford sah kurz Kimball und dann wieder Doug an. »Im Moment gehen wir davon aus. Trotzdem müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
Doug schien schon etwas darauf erwidern zu wollen, entschied sich dann aber dagegen. Er sagte: »Ich versichere Ihnen, dass Julie und ich, dass meine ganze Familie alles tun wird, um Ihnen bei den Ermittlungen zu helfen.«
»Sie müssen eine Tragödie durchmachen, und Sie trauern, Mr Wheeler. Wir stören Sie in Ihrer Trauer. Das weiß ich, und es tut uns leid.« Trotz der Entschuldigung erklärte Sanford Doug, dass er am nächsten Vormittag anrufen würde, um ein Treffen zu vereinbaren. »Ms Rutledge«, wandte er sich an Julie. »Vielleicht werden wir uns bei Ihnen auch noch einmal melden.«
»Ich habe Ms Kimball meine Adresse und Telefonnummer gegeben. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, wann immer Sie mich brauchen.«
Falls sie die Nacht überlebte, dachte sie. Sie war so erschöpft, dass sie sich kaum noch bewegen konnte, trotzdem erschreckte sie die Aussicht, nach Hause zu fahren, ins Bett zu kriechen und die Lichter auszumachen. Wie sollte sie je wieder Schlaf finden, wo sich die Erinnerung an Pauls grauenvollen Tod so unauslöschlich in ihr Gedächtnis geätzt hatte?
Als hätte Kimball ihre Gedanken gelesen, fragte sie, ob sie jemanden hatte, der bei ihr blieb. Julie schüttelte den Kopf. »Wir könnten eine Polizistin ...«
»Nein danke«, fiel Julie ihr ins Wort. »Ehrlich gesagt wäre ich lieber allein.«
Roberta Kimball nickte verständnisvoll.
Der Aufzug kam. Julies Herz krampfte sich zusammen, trotzdem trat sie in die Kabine und drehte sich um. Doug stellte sich neben sie. Sanford sah sie nacheinander mitfühlend an. »Ich möchte Ihnen noch einmal mein aufrichtiges Beileid aussprechen.«
»Ich auch«, ergänzte Kimball.
Dann glitt die Tür zu, und Julie war mit Doug alleine. Sie sagte: »Ich werde mich so weit wie möglich zurücknehmen, um der Familie Unannehmlichkeiten zu ersparen.« Sie hoffte, er würde ihr widersprechen. Er tat es nicht. »Ich habe nur eine Bitte, Doug. Erlaubst du mir, den Blumenschmuck für Pauls Sarg auszuwählen?« Ihr wurde die Kehle eng, doch sie weigerte sich, vor ihm zu weinen. Ihr Blick blieb fest auf die Fuge in der Aufzugtür gerichtet, der Kopf blieb hoch erhoben, der Rücken durchgestreckt. »Bitte.«
»Natürlich, Julie.«
»Danke.«
Er schluckte geräuschvoll, und sie sah aus den Augenwinkeln, dass er still weinte und die Schultern unter den lautlosen Schluchzern bebten. Instinktiv wollte sie ihm eine tröstende Hand reichen, ihm ihr Mitgefühl zeigen. Aber weil sie nicht wusste, wie er reagieren würde, ließ sie es.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, flüsterte er heiser.
»Ich auch nicht.«
»Er ist wirklich tot.«
»Ja.«
»Jesus. Er seufzte schwer und rieb sich mit der Faust über die Augen. »Was für ein schrecklich brutaler Akt. Und so dreist. Nur jemand, der absolut nichts zu verlieren hat, würde so etwas wagen.«
»Oder jemand, der sicher war, dass er damit durchkommt.«
Sie drehte sich um und sah ihm offen in die Augen. Dann glitten die Aufzugtüren zur Seite, und sie trat aus der Kabine, ohne sich noch einmal umzudrehen.
3
Die Entscheidung fiel bei der zweiten Bloody Mary. Wenigstens hatte er sich bis dahin entschieden; genau wie sie, den Signalen nach zu urteilen, die sie aussandte. Die Bedingungen waren nicht ideal. Es würde ein paar vertrackte Manöver brauchen, aber zum Glück hatte er eine Schwäche für vertrackte Manöver, und wo ein Wille war ...
Im Moment drückte sein Wille vor allem gegen den Sicherheitsgurt.
Zum Glück flogen sie Erster Klasse und nicht in der Economy. Ein Erste-Klasse-Ticket war fast immer das Vermögen wert, das die Fluglinien für einen Transatlantikflug verlangten. Die Ledersessel waren weich und geräumig. Mit einem Tastendruck konnte der Passagier den Sessel genau so einstellen, wie er ihn gern hatte, auch ganz flach. Es war zwar keine Federkernmatratze, aber immerhin.
Jeder Passagier hatte sein eigenes Videosystem, obwohl er seines noch nicht genutzt hatte. Das Essen hatte für eine Fluggesellschaft besser als nur passabel geschmeckt. Seiner inneren Uhr nach war jetzt Frühstückszeit, doch man hatte ihm ein Mittagessen serviert. Während der vielen Gänge hatte er die europäische Ausgabe der New York Times studiert, die er auf seinem eiligen Gang durch den Flughafen Charles de Gaulle erstanden hatte.
Er war nie frühzeitig am Flughafen. Im Gegenteil, gewöhnlich traf er so knapp wie möglich ein und hatte gerade noch Zeit, nötigenfalls das Gepäck aufzugeben und die Security zu passieren, bevor er zum Gate eilte, wo meist gerade das Boarding begann. Jedes Mal wettete er mit sich, ob er es noch schaffen würde. Dieses Risiko verlieh der sonst so ermüdenden Prozedur etwas Spielerisches und machte die Flugreisen überhaupt erst erträglich.
Die Stewardess hatte ihn beschwatzt, nach dem Essen noch ein Hot Fudge Sundae zu bestellen, das mit seinem persönlich ausgewählten Topping gekrönt würde. Er hatte sich zu seiner Selbstdisziplin gratuliert, weil er auf die Schlagsahne verzichtet hatte.
Von den warmen Nüssen als Appetithäppchen bis zum üppigen Dessert hatte das Essen die ersten zwei Flugstunden aufs Angenehmste vertrieben. Nachdem noch acht Stunden bis zur Landung blieben, zog er die Fensterblende wie gewünscht nach unten, damit die anderen Passagiere schlafen konnten. Er schaltete seine Leselampe ein, machte es sich in seinem Sessel gemütlich und begann den neuen Thriller zu lesen, der auf Platz eins der Bestsellerliste stand. Er hatte die ersten fünf Kapitel geschafft, als die Frau von 5 C auf dem Weg zur Toilette an seiner Sitzreihe vorbeikam.
Sie fiel ihm nicht zum ersten Mal auf.
Als die Passagiere der Ersten Klasse zum Boarding aufgerufen worden und sie beide gemächlich zum Ende der Warteschlange geschlendert waren, hatten sich ihre Blicke zufällig getroffen. Natürlich hatten sie sofort wieder weggesehen, wie es Fremde tun, doch dann hatten sie beide einen zweiten Blick riskiert. Und als sie an Bord ihr Handgepäck in den Fächern über ihren Sitzen verstauten, hatte er sie dabei ertappt, wie sie in seine Richtung sah.
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Der Befehl wurde in einem hohen Singsang erteilt und klang umso gruseliger, als er aus einem Haifischmaul kam. Die beiden Freundinnen ließen sich sofort auf die Knie fallen. Eine flehte wimmernd: »Bitte tun Sie uns nichts.«
»Schnauze! Du!« Der Haifisch schwenkte die Pistole auf den Geschäftsmann. »Auf die Knie.« Der junge Anzugträger hob die Hände und sank ebenfalls auf die Knie, sodass nur noch das Pärchen stand. »Seid ihr taub oder was? Runter!«
Die Frau sagte: »Er hat Arthritis.«
»Mir egal, selbst wenn er Lepra hat. Runter auf die Knie, verfluchte Scheiße! Sofort!«
Eine der Frauen an der Rückwand heulte: »Bitte tun Sie, was er sagt!«
Der grauhaarige Mann hielt sich an der Hand der Frau fest und ließ sich unter sichtbaren Schmerzen auf die Knie sinken. Widerstrebend folgte die Frau seinem Beispiel.
»Uhren und Ringe. Hier rein.« Der Angreifer hielt dem Geschäftsmann einen schwarzen Samtbeutel unter die Nase, damit der die Armbanduhr hineinlegte, die er eben noch so grimmig angesehen hatte.
Der Geschäftsmann reichte den Beutel an die Frauen hinter ihm weiter, die hastig ihren Schmuck hineinwarfen. »Die Ohrringe auch«, sagte der Räuber zu der einen Frau. Eilig kam sie seinem Befehl nach.
Als Letzter bekam der Herr mit den arthritischen Knien den Beutel gereicht. Er hielt ihn der Frau auf, die ebenfalls ihren Schmuck hineinfallen ließ.
»Tempo!«, befahl der Räuber mit seiner grauenvollen Mädchenstimme.
Der Herr legte seine Patek Philippe in den Beutel und hielt ihn dann dem Räuber hin, der ihn an sich riss und in die Tasche seiner Kapuzenjacke stopfte.
»Gut.« Der ältere Herr wirkte kein bisschen eingeschüchtert. »Sie haben bekommen, was Sie wollten. Jetzt lassen Sie uns in Frieden.«
Es knallte ohrenbetäubend.
Die beiden Freundinnen kreischten entsetzt auf.
Der junge Geschäftsmann fluchte fassungslos und heiser vor Schreck.
Die Frau neben dem älteren Herrn starrte in stummem Grauen auf die Blutspritzer an der Aufzugwand, die hinter dem langsam nach vorn kippenden Körper zum Vorschein kamen.
1
Creighton Wheeler stürmte über die Marmorterrasse, riss sich die Sonnenblende von der Stirn und schleuderte sie, nachdem er sich kurz mit der Hand den strömenden Schweiß vom Gesicht gewischt hatte, mitsamt dem feuchten Handtuch auf einen Liegestuhl, ohne dabei auch nur langsamer zu werden. »Wehe, es ist nicht wirklich wichtig. Ich war gerade dabei, ihm den Aufschlag abzunehmen.«
Die Haushälterin, die ihn vom Tenniscourt hereingerufen hatte, zeigte sich wenig beeindruckt von seinem Wutanfall. »Nicht in diesem Ton. Ihr Daddy möchte Sie sehen.«
Sie hieß Ruby. Ihren Nachnamen kannte Creighton nicht und hatte nie danach gefragt, obwohl sie schon vor seiner Geburt für seine Familie gearbeitet hatte. Wenn er mit ihr aneinandergeriet, rief sie ihm immer ins Gedächtnis, dass sie ihm schon den Hintern und die Nase geputzt hatte, dass beides nicht besonders angenehm gewesen war und dass sie es nicht besonders gern getan hatte. Dass sie einmal so vertraut mit seinem Körper war, auch wenn er damals noch ein Baby gewesen war, ärgerte ihn.
Er zwängte sich an ihrem Hundert-Kilo-Rumpf vorbei, durchquerte die Küche, mit der man ein Restaurant betreiben konnte, trat an einen der Kühlschränke und zog die Tür auf.
»Sofort, hat er gesagt.« Ohne sie einer Antwort zu würdigen, holte Creighton eine Dose Cola aus dem Kühlfach, riss die Lasche auf und nahm einen langen, tiefen Zug. Dann rollte er die kalte Dose über seine Stirn. »Bring Scott auch eine davon.«
»Ihr Tennistrainer sitzt nicht im Rollstuhl.« Sie drehte sich wieder zur Küchentheke und klatschte mit der bloßen Hand auf den Rinderbraten, den sie gerade für den Bräter vorbereitete.
Jemand sollte ihr endlich mal diese Flausen austreiben, dachte Creighton, während er sich durch die Schwingtür schob und auf den Weg zur Vorderseite des Hauses machte, wo das Arbeitszimmer seines Vaters lag. Die Tür war nur angelehnt. Er blieb kurz davor stehen, klopfte einmal mit der Coladose gegen den Türstock, drückte den Türflügel dann auf und spazierte, den Tennisschläger über der Schulter zwirbelnd, ins Zimmer. Er sah vom Scheitel bis zur Sohle aus wie ein Aristokrat, den man von der täglichen Leibesertüchtigung weggerufen hatte. Diese Rolle war ihm auf den Leib geschneidert.
Doug Wheeler saß hinter seinem Schreibtisch, der von der Größe her dem Präsidenten angestanden hätte, aber viel protziger wirkte als alles, was im Oval Office zu finden war. Der Schreibtisch wurde von zwei Flaggenständern aus Mahagoni flankiert, die mit der Staatsflagge von Georgia beziehungsweise der Flagge der Vereinigten Staaten geschmückt waren. An beiden Seitenwänden starrten die Ölporträts von finster blickenden Vorfahren von der fleckigen Zypressenvertäfelung, die wahrscheinlich bis zum Jüngsten Gericht halten würden.
»Scott lässt sich jede Minute bezahlen, und die Uhr läuft«, sagte Creighton zur Begrüßung.
»Das hier kann leider nicht warten. Setz dich.«
Creighton ließ sich in einen der Ziegenledersessel vor dem Schreibtisch seines Vaters fallen und lehnte den Tennisschläger dagegen. »Ich wusste gar nicht, dass du zu Hause bist.
Bist du heute Nachmittag nicht zum Golfen verabredet?« Er beugte sich vor und stellte die Coladose auf die polierte Schreibtischfläche.
Stirnrunzelnd schob Doug einen Untersetzer unter die Dose, damit kein Ring zurückblieb. »Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um mich umzuziehen, bevor ich zum Club fahre«, erklärte er. »Aber dann ist etwas Wichtiges ...«
»Sag nichts«, fiel Creighton ihm ins Wort. »Bei der Prüfung des Etats für Heftklammern hat sich herausgestellt, dass Geld veruntreut wurde. Diese raffinierten Sekretärinnen.«
»Paul ist tot.«
Creightons Herz setzte einen Schlag aus. Sein Lächeln fiel in sich zusammen. »Was?«
Doug räusperte sich. »Dein Onkel wurde vor einer Stunde im Hotel Moultrie erschossen.«
Creighton starrte seinen Vater wortlos an, bis er schließlich tief Luft holte. »Also, in den unsterblichen Worten von Forrest Gump oder genauer gesagt seiner Mutter: ›Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt.‹ «
Sein Vater sprang auf. »Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
»Ich finde, das trifft es ziemlich gut.«
Creighton hatte seinen Vater noch nie weinen sehen. Auch jetzt weinte er nicht, aber seine Augen wirkten gefährlich feucht, und er schluckte viel zu oft und zu schwer. Um zu vertuschen, dass seine Gefühle ihn zu übermannen drohten, trat er hinter dem Schreibtisch hervor und stellte sich an das Panoramafenster. Er blickte hinaus in den Garten, wo mexikanische Hilfsarbeiter tief gebückt das Unkraut aus den bunten Blumenbeeten zupften.
Deutlich leiser fragte Creighton: »Habe ich dich richtig verstanden, Vater? Onkel Paul wurde erschossen?«
»Mitten in die Stirn. Aus nächster Nähe. Offenbar bei einem Überfall.«
»Einem Überfall? Er wurde beraubt? Im Moultrie?«
»So unglaublich sich das anhört.«
Das Haar, das Doug mit seiner Hand durchkämmte, war genauso dicht und grau wie das seines Bruders - nunmehr verstorbenen Bruders -, der nur elf Monate älter gewesen war als er. Er und Paul gingen zum selben Friseur und zum selben Schneider. Weil sie annähernd gleich groß und gleich schwer waren, wurden sie von hinten oft verwechselt. Sie waren sich fast so vertraut gewesen wie Zwillinge.
»Genaueres weiß ich auch nicht«, fuhr Doug fort. »Julie war zu aufgewühlt, um viel zu sagen.«
»Sie wurde als Erste benachrichtigt?«
»Sie war dabei, als es passierte.«
»Im Hotel Moultrie. Am helllichten Tag.«
Doug drehte sich um und sah seinen Sohn streng an. »Sie war völlig außer sich. Sagte jedenfalls der Polizist. Ein Detective. Sie konnte nicht weitersprechen, darum übernahm er das Telefon. Er sagte, sie hätte darauf bestanden, mich persönlich anzurufen und zu benachrichtigen. Aber sie bekam nur ein paar unzusammenhängende Worte heraus, dann begann sie so zu weinen, dass ich nichts mehr verstand.« Er räusperte sich.
»Der Detective, ich glaube, er hieß Sanford, war sehr einfühlsam. Er sprach mir sein Beileid aus und sagte, ich könnte ins Leichenschauhaus kommen, wenn ich ... wenn ich Pauls Leichnam sehen wollte. Natürlich werden sie ihn obduzieren.«
Creighton wandte das Gesicht ab. »Jesus.«
»Genau.« Doug seufzte schwer. »Ich kann es auch noch nicht glauben.«
»Haben sie den Typen geschnappt, der das getan hat?«
»Noch nicht.«
»Wo im Hotel ist es passiert?«
»Das hat der Detective nicht gesagt.«
»In einem der Läden?«
»Ich weiß nicht.«
»Wer raubt denn schon ...«
»Ich weiß es nicht«, fuhr Doug ihn an.
Angespanntes Schweigen machte sich breit. Doug sackte zusammen. »Entschuldige, Creighton. Ich ... ich bin nicht ich selbst.«
»Das kann ich verstehen. Es ist auch kaum zu glauben.«
Doug massierte seine Stirn. »Der Detective meinte, er würde mir alles erklären, wenn ich erst dort bin.« Er sah auf die offene Tür, machte aber keine Anstalten, aufzustehen und zu gehen, so als wollte er diesen Gang so lang wie möglich hinauszögern.
»Was ist mit Mutter? Weiß sie schon Bescheid?«
»Sie war hier, als Julie anrief. Natürlich ist sie außer sich, aber sie muss jetzt alles organisieren. Sie ist gerade oben und macht die ersten Anrufe.« Doug trat an die Bar und schenkte sich einen Bourbon ein. »Auch einen?«
»Nein danke.«
Doug leerte sein Glas in einem Zug und griff ein zweites Mal nach der Karaffe. »So schwer diese Tragödie auch zu begreifen ist, es gibt praktische Probleme, die wir angehen müssen.«
Creighton wappnete sich. Er verabscheute alles, was mit dem Wort praktisch verbunden war.
»Ich möchte, dass du morgen früh in die Zentrale fährst und die Belegschaft persönlich informierst.«
Creighton stöhnte innerlich auf. Er wollte so wenig wie möglich mit ihrer Belegschaft zu tun haben, einem Stamm von mehreren Hundert Mitarbeitern, die allesamt große Stücke auf seinen Onkel Paul hielten, wohingegen er meistens ignoriert wurde, wenn er die Firmenzentrale mit seiner Anwesenheit beehrte, was er so selten wie möglich tat.
Wheeler Enterprises produzierte und vertrieb irgendwelche Baustoffe. Wow. Wie aufregend.
Sein Vater sah ihn über die Schulter an. Offenbar wartete er auf eine Antwort.
»Natürlich. Was soll ich ihnen sagen?«
»Ich werde noch heute Abend etwas aufsetzen. Wir berufen für zehn Uhr eine Personalversammlung im großen Saal ein. Du hältst deine Rede, danach wäre vielleicht eine Schweigeminute angebracht.«
Creighton nickte ernst. »Sehr würdevoll.«
Doug kippte den zweiten Drink hinunter und stellte das Glas entschlossen auf die Bar zurück. »Du wirst mehr Aufgaben übernehmen müssen, bis wir alles geklärt haben.«
»Was alles?«
»Das mit der Beerdigung zum Beispiel.«
»Ach, natürlich. Das wird ein richtiger Staatsakt.«
»Bestimmt.« Doug seufzte. »Ich werde darauf achten, dass es so würdig wie möglich abläuft, aber dein Onkel hatte seine Finger ...«
»Überall drin. Er war der ungekrönte König von Atlanta.«
Doug ließ sich nicht aus dem Takt bringen. »Genau, und jetzt ist der König tot. Nicht nur das, sondern er wurde umgebracht. « Bei dem Gedanken, dass sein Bruder brutal ermordet worden war, verzog er das Gesicht und fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Jesus.« Sein Blick wanderte zur Bar, als würde er mit dem Gedanken spielen, sich noch ein Glas zu genehmigen, aber er tat es nicht. »Wir müssen die Polizei nach besten Kräften unterstützen.«
»Aber wie? Wir waren nicht dabei.«
»Trotzdem muss Pauls Mörder gefasst werden. Du wirst dazu beitragen, und zwar bereitwillig. Haben wir uns verstanden? «
»Natürlich, Vater.« Creighton zögerte und sagte dann: »Obwohl ich hoffe, dass du die Rolle des Familiensprechers übernimmst. Die Reporter werden über uns herfallen wie die Aasgeier. «
Doug nickte knapp. »Ich werde dafür sorgen, dass sie dich und deine Mutter in Frieden lassen. Natürlich werden wir ihn nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit beerdigen können, trotzdem werde ich darauf bestehen, dass die Trauerfeier so würdevoll wie möglich abläuft.
Wir müssen unseren Angestellten ein Vorbild sein und die Firma am Laufen halten, denn das hätte auch Paul gewollt. Darum möchte ich, dass du dich vorbereitest. Ich habe dir alle nötigen Unterlagen zusammenstellen lassen und in dein Zimmer gelegt. Du solltest sie heute Abend durchsehen und dich über unsere neuesten Produkte, unsere Marktposition und die Geschäftsziele fürs nächste Jahr informieren.«
»In Ordnung.« Vergiss es.
Sein Vater schien seine Gedanken zu lesen. Er fixierte ihn mit einem eisenharten Adlerblick. »Das ist das Mindeste, was du tun kannst, Creighton. Du wirst bald dreißig. Ich war zu nachsichtig mit dir und bin daher mitverantwortlich dafür, dass du dich so wenig für die Firma interessierst. Ich hätte dir mehr Verantwortung übertragen, dich mehr in unser expandierendes Geschäft einbinden sollen. Paul ...« Er stockte bei dem Namen. »Paul hat mich immer dazu angehalten. Stattdessen habe ich dich gewähren lassen. Damit ist jetzt Schluss. Es ist an der Zeit, dass du dich deiner Aufgabe stellst. Jetzt, wo Paul tot ist, wirst du das Kommando übernehmen müssen, wenn ich mich eines Tages zur Ruhe setze.«
Wem wollte er etwas vormachen? Vielleicht sich selbst, aber Creighton ließ sich nicht täuschen. Sein Vater war völlig realitätsfern, wenn er glaubte, dass Creighton bereitwillig in seine unternehmerischen Fußstapfen treten würde. Er hatte keinen blassen Schimmer vom Geschäft und wollte auch nichts darüber lernen. Das Einzige, was ihn an diesem Unternehmen interessierte, war das Einkommen, das er daraus bezog. Er liebte sein Leben so, wie es war, und hatte nicht die Absicht, etwas daran zu ändern, indem er irgendeine Position übernahm, die genauso gut irgendein Wasserträger ausfüllen konnte.
Aber dies war nicht der Zeitpunkt, um ein weiteres Mal jenes Kammerspiel aufzuführen, das er und sein Vater schon tausendmal gegeben hatten und in dem ihm seine persönlichen Fehler sowie seine falsch gesetzten Prioritäten vorgehalten wurden, bevor an sein Pflichtgefühl und an seine Verantwortung als Erwachsener, als Mann und als Wheeler appelliert wurde. Der ganze Bockmist.
Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Bringen sie es schon in den Nachrichten?«
»Wenn jetzt noch nicht, dann sicher bald.« Doug kehrte an den Schreibtisch zurück, griff nach einem Blatt und reichte es Creighton. »Würdest du bitte die Liste abtelefonieren und alle darauf benachrichtigen? Sie haben es verdient, dass ihnen ein Mitglied der Familie persönlich Bescheid gibt und sie es nicht aus dem Fernsehen erfahren.«
Creighton überflog die ausgedruckte Liste und erkannte in den meisten Namen enge persönliche Freunde seines Onkels Paul, wichtige Aktionäre von Wheeler Enterprises, Vertreter von Stadt und Staat und andere prominente Geschäftsleute.
»Und würdest du auch mit Ruby sprechen?«, bat Doug. »Sie weiß, dass etwas im Busch ist, aber ich habe es nicht übers
Herz gebracht, ihr die Wahrheit zu sagen, vor allem unter diesen grässlichen Umständen. Du weißt, wie sehr sie Paul geliebt und bewundert hat.«
»Ja, mache ich.« Mit Vergnügen, dachte Creighton. Das war eine Möglichkeit, ihr die vielen Frechheiten heimzuzahlen. »Soll ich mit dir ins Leichenschauhaus fahren?«
»Danke, aber nein«, lehnte Doug ab. »Das kann ich nicht von dir verlangen.«
»Gut. Ich könnte mir tatsächlich kaum was Schlimmeres vorstellen.« Creighton tat so, als müsste er kurz überlegen, und schüttelte sich dann. »Außer vielleicht einer Seniorenkreuzfahrt.«
2
Julie?« Sie hatte ins Leere gestarrt, ohne die klingelnden Telefone wahrzunehmen, die Hektik um sie herum, die vorbeihastenden Menschen und die neugierigen Blicke, die man ihr zuwarf. Als sie ihren Namen hörte, drehte sie sich um und stand auf, um den Mann zu begrüßen, der auf sie zukam. »Doug.«
Die Blutflecken auf ihrer Kleidung ließen Pauls Bruder kurz innehalten, tiefe Trauer kerbte sich in sein Gesicht. Sie hatte Gesicht, Hals, Arme und Hände mit der stark duftenden Desinfektionsseife auf der Damentoilette in der Polizeistation abgeschrubbt, aber sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen.
Paul zuliebe hatten Doug und sie sich immer umeinander bemüht, trotzdem waren sie nie warm miteinander geworden. Doch jetzt fühlte sie bedingungslos mit ihm. Sie sah, dass es ihn schockierte, das Blut seines Bruders an ihren Kleidern zu sehen. Es war der unübersehbare Beweis dafür, wie brutal Paul aus dem Leben gerissen worden war.
Sie ging auf ihn zu, aber er war derjenige, der die Arme ausbreitete und sie umarmte. Verlegen. Trotzdem auf Abstand bedacht. So wie typischerweise ein Mann die Freundin seines Bruders umarmt.
»Es tut mir so leid, Doug«, flüsterte sie. »Du hast ihn geliebt. Er hat dich geliebt. Das muss entsetzlich für dich sein.« Er ließ sie los. In seinen Augen glänzten Tränen, aber er hielt sich standhaft, so wie sie es von ihm erwartet hatte. »Wie
geht es dir?«, fragte er dann. »Bist du verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er betrachtete sie prüfend und rieb sich dann mit beiden Händen übers Gesicht, als wollte er den Anblick der Blutflecken auf ihren Kleidern ausradieren.
Die beiden Detectives, die sich Julie vorgestellt hatten, gleich nachdem sie am Tatort eingetroffen waren, hielten sich diskret im Hintergrund, um ihr und Doug ein paar ungestörte Momente zu lassen.
Detective Homer Sanford war ein großer, breitschultriger Schwarzer, dem das Alter, Julies Schätzung nach knapp über vierzig, lediglich an einem kleinen Bäuchlein anzusehen war. Er wirkte wie ein ehemaliger Footballspieler.
Äußerlich war seine Partnerin das genaue Gegenteil. Detective Roberta Kimball war gerade mal einen Meter fünfzig groß und versuchte vergeblich, den zehn Kilo schweren Reifen um ihre Hüften zu verbergen, indem sie einen weit geschnittenen schwarzen Blazer über der grauen, straff um die Schenkel spannenden Stoffhose trug.
Auf den Notruf hin war im Hotel Moultrie zuerst eine Streife aus dem zuständigen Polizeirevier von Buckhead eingetroffen. Die Streifenbeamten hatten dann umgehend ein Spurensicherungskommando angefordert, das gemeinsam mit zwei Ermittlern vom Morddezernat angekommen war.
Julie hatte den Eindruck, dass Sanford und Kimball ausgesprochen professionell und umsichtig arbeiteten. Am Tatort hatten die beiden sie mit Glacéhandschuhen angefasst und sich immer wieder entschuldigt, dass sie schon jetzt die Ermittlungen aufnehmen und ihr Fragen stellen müssten, obwohl Julie nach dem Verbrechen, das Paul das Leben gekostet hatte, bestimmt noch unter Schock stand.
Jetzt wandte sich Kimball behutsam an Doug: »Brauchen Sie noch ein paar Minuten, bevor wir anfangen, Mr Wheeler? «
»Nein, es geht schon.« Die Antwort kam ein bisschen zu forsch, so als würde er sich selbst Mut zusprechen wollen.
Die Detectives hatten ihn direkt vom Leichenschauhaus hierhergefahren. Allen dreien haftete ein unverkennbarer Geruch an. Julie fröstelte nach ihrem Besuch in dieser freudlosen Gruft immer noch.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn Mr Wheeler zuhört, während wir noch einmal Ihre Aussage durchgehen«, sagte Sanford.
»Gar nicht.« Irgendwann würde Doug ohnehin von ihr hören wollen, was sich eigentlich zugetragen hatte. Warum nicht gleich jetzt?
Sie betraten das Morddezernat, und Sanford führte sie in einen winzigen, von Stellwänden abgetrennten Arbeitsbereich, der offenbar sein Reich war. Julie hatte richtig getippt. An einer Wand hing ein Foto, auf dem er, einen Football unter den Arm geklemmt, in einem Bulldogs-Trikot und mit verkratztem Helm in die Endzone hechtete. Auf anderen Fotos waren drei lächelnde Kinder und eine hübsche Frau zu sehen. Er trug einen Ehering. Roberta Kimball nicht.
Sanford zog für Julie einen Stuhl heraus. »Ms Rutledge.« Sie setzte sich. Dann brachte er Doug einen zweiten Stuhl. Kimball behauptete, sie würde lieber stehen. Sanford setzte sich hinter den Schreibtisch und griff nach einem Ordner, auf dem das aktuelle Datum, Pauls Name und ein Aktenzeichen standen. Er war erst vor knapp fünf Stunden gestorben, und schon war er zu einer Nummer geworden.
Sanford wandte sich an Julie. »Die anderen Zeugen haben inzwischen auch ausgesagt. Ihre vorhin aufgezeichnete Aussage wurde währenddessen niedergeschrieben. Bevor Sie die Niederschrift unterzeichnen, möchte ich alles noch einmal mit Ihnen zusammen durchgehen, um zu sehen, ob Ihnen noch etwas einfällt, ob Sie etwas hinzufügen oder ändern wollen.«
Julie nickte. Sie verschränkte die Arme und umklammerte ihre Ellbogen.
Kimball bemerkte die Geste und sagte: »Wir wissen, wie schwer das für Sie sein muss.«
»Das ist es allerdings. Aber ich möchte helfen. Ich möchte, dass der Täter gefasst wird.«
»Wir auch.« Sanford nahm einen Kugelschreiber und klickte mehrmals damit, während er die oberste Seite in seinem Ordner überflog. »Vor dem Vorfall waren Sie zusammen mit Mr Wheeler in Zimmer Nummer 901? Das ist die Suite an der Ecke, korrekt?«
»Genau.«
Die Detectives sahen sie fragend an. Doug starrte auf seine Schuhe.
»Ich habe mich dort um halb zwei mit Paul getroffen«, sagte Julie.
»Sie sind direkt in die Suite gegangen. Sie haben nicht erst eingecheckt.«
»Das hatte Paul schon erledigt. Ich hatte mich um ein paar Minuten verspätet. Als ich ins Hotel kam, war er schon in der Suite.«
Der Detective und seine Partnerin tauschten schweigend einen kurzen Blick, dann sah Sanford wieder auf sein Blatt. Julie glaubte nicht, dass er davon ablas. Sie war überzeugt, dass er auf die Unterlagen verzichten konnte. Inzwischen wusste er bestimmt schon, dass Paul und sie diese Suite für jeden Dienstag reserviert hatten, sommers wie winters, zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Sie würde sich nicht zu diesem Arrangement äußern. Das tat hier nichts zur Sache.
»Sie haben das Mittagessen beim Zimmerservice bestellt«, sagte Sanford.
Woraufhin Kimball erklärend hinzufügte: »Das wissen wir von der Hotelbelegschaft.«
Das hieß sicher, sie wussten auch, was sie und Paul gegessen hatten. Und sie wussten bestimmt auch, dass Paul heute Champagner bestellt hatte. Was würden sie daraus ableiten? Solange die beiden diesen Punkt nicht ansprachen, würde sie bestimmt nicht darauf eingehen.
Sanford fragte: »Abgesehen von dem Zimmerkellner hat niemand Sie in der Suite gesehen?«
»Nein.«
»Sie waren die ganze Zeit allein?«
»Ja.«
Nach einer vielsagenden und peinlichen Pause fuhr Sanford fort: »Sie haben vorhin ausgesagt, dass Sie die Suite gegen fünfzehn Uhr verlassen haben.«
»Ich hatte um vier Uhr einen Termin.«
»In Ihrer Galerie?«
»Genau.«
»Der Notruf ging um fünfzehn Uhr sechzehn ein«, sagte Sanford.
Als wollte sie seinen Satz vervollständigen, ergänzte Kimball: »Folglich muss sich der Raubüberfall ein paar Minuten zuvor ereignet haben.«
»Dann war es wohl kurz nach drei, als wir die Suite verlassen haben«, sagte Julie. »Weil wir von der Suite aus direkt zum Aufzug gingen und dort nicht lange warten mussten. «
Offenbar dauerte Doug die Diskussion über den genauen Zeitablauf zu lang, denn er meldete sich zu Wort: »Der Mörder konnte entkommen?«
»Genau das versuchen wir gerade herauszufinden, Mr Wheeler«, antwortete Sanford. »Wir sind dabei, alle Hotelgäste zu befragen. Und alle Angestellten.«
»Mit dieser grässlichen Maske konnte er unmöglich durchs Hotel spazieren«, sagte Julie.
»Wir vermuten, dass er sie sofort entsorgt hat«, sagte Kimball. »Aber obwohl wir das Hotel gründlich durchsucht haben, konnten wir bis jetzt nichts finden. Weder den Jogginganzug noch die Maske ...«
»Gar nichts«, beendete Sanford den Satz für sie.
»In einem so großen Hotel wie dem Moultrie gibt es unzählige Verstecke«, sagte Doug.
»Die Suche ist noch nicht abgeschlossen«, bestätigte Sanford. »Wir durchsuchen auch die Müllschlucker, Belüftungsschächte, Abflüsse, einfach jeden Fleck, an dem er die Sachen verstaut haben könnte, falls er sie mit nach draußen genommen hat.«
»Er ist einfach aus dem Hotel spaziert?«, fragte Doug fassungslos.
Kimball schien das nur ungern zuzugeben, aber dann sagte sie: »Die Möglichkeit besteht.«
Doug fluchte leise.
Sanford klickte wieder mit dem Stift und vertiefte sich in sein Material. »Gehen wir noch einmal zurück.« Er sah Julie an. »Als Sie die Suite verließen, war niemand auf dem Gang?«
»Nein.«
»Kein Zimmermädchen, kein Kellner ...«
»Niemand.« Sie rief sich ihren Weg zum Aufzug ins Gedächtnis. Paul hatte den Arm über ihre Schulter gelegt. Er hatte so schützend gewirkt. Stark, warm, voller Leben. So ganz anders als die Gestalt unter dem Laken im Leichenschauhaus. Er hatte sie gefragt, ob sie glücklich sei, und sie hatte Ja gesagt.
Kimball fragte: »Haben Sie mit jemandem gesprochen, als Sie in den Aufzug stiegen?«
»Nein.«
»Mr Wheeler auch nicht?«
»Nein.«
»Glauben Sie, dass jemand Sie oder ihn erkannt hat?«
»Nein.«
»Niemand hat Sie beide angesprochen? Oder irgendwie Kenntnis von Ihnen genommen?«
»Eigentlich nicht. Die beiden Frauen unterhielten sich und beachteten uns überhaupt nicht. Der junge Mann sagte nichts, aber er machte höflich Platz, damit wir in den Lift steigen konnten. Er schien mit den Gedanken woanders zu sein.«
»Er kommt aus Kalifornien und hatte um fünfzehn Uhr dreißig ein Vorstellungsgespräch. Er hatte Angst, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde«, erläuterte Kimball. »Wir haben das überprüft.«
»Die beiden Frauen stammen aus Nashville«, sagte Sanford. »Sie sind in Atlanta, weil ihre Nichte am Wochenende heiratet. «
»Das muss schrecklich für sie sein«, murmelte Julie.
Mit Sicherheit war jeder in diesem Aufzug traumatisiert. Aber im Unterschied zu ihr hatten die drei niemanden verloren. Abgesehen von dieser kurzen Fahrt im Lift verband sie nichts mit Paul Wheeler. Er war für sie nur ein Name, ein zu bedauerndes Mordopfer. Bestimmt würde der Vorfall Spuren hinterlassen, und sie würden sich bei jeder einzelnen Liftfahrt daran erinnern, aber er hatte in ihrem Leben kein Vakuum hinterlassen. Für sie hatte sein Tod keine irreparablen Konsequenzen.
Sanford ließ den Stift auf den Tisch fallen. »Warum schildern Sie von diesem Punkt an nicht alles noch einmal? Damit wäre Mr Wheeler geholfen und uns ebenfalls.« Er faltete die langen Finger und legte sie abwartend auf die Gürtelschnalle.
Kimball lehnte sich an die Schreibtischecke. Doug hatte eine Hand um Kinn und Mund geschlossen und sah Julie aufmerksam an.
Sie erzählte, wie sie eine Etage abwärts gefahren waren zum achten Stock, wie dort die Tür aufgegangen war, wie der Räuber in den Aufzug gefasst und den Knopf zum Öffnen der Tür in Notfällen gedrückt hatte.
»Ihr erster Eindruck?«, fragte Kimball.
»Die Maske. Das Haifischmaul.«
»Sein Gesicht konnten Sie nicht erkennen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es waren weder Haut noch Haare zu sehen. Nicht einmal die Handgelenke. Er hatte die Ärmel des Jogginganzugs über die Handschuhe gezogen. Die Maske steckte im Kragen seiner Kapuzenjacke, die er bis unters Kinn zugezogen hatte.«
»Größe, Gewicht?«
»Größer als ich, aber nicht viel. Gewicht durchschnittlich.« Die Detectives nickten, als hätten die anderen Zeugen den Täter genauso beschrieben.
Sanford sagte: »In den nächsten ein, zwei Tagen möchten wir Ihnen ein paar Bandaufnahmen vorspielen, die bei anderen Verbrechen gemacht wurden. Vielleicht erkennen Sie die Stimme wieder.«
Bei dem bloßen Gedanken an die gespenstische Stimme stellten sich die Härchen auf Julies Armen auf. »Sie war wirklich schrecklich.«
»Eine der Zeuginnen meinte, wie Fingernägel auf einer Schiefertafel.«
»Schlimmer. Viel beängstigender.«
Plötzlich tauchte verstörend real die umlaufende Sonnenbrille vor ihren Augen auf. »Die Brille war ganz dunkel, sein Blick war schwarz und undurchdringlich wie der eines Haifischs. Trotzdem konnte ich spüren, dass er mich ansah.«
Sanford beugte sich leicht nach vorn. »Woher wissen Sie, dass er Sie ansah, wenn Sie seine Augen nicht sehen konnten? «
»Ich weiß es einfach.«
Ein paar Sekunden schwiegen alle, bis Kimball auffordernd bemerkte: »Dann befahl er, dass sich alle hinknien sollten.«
Ohne noch einmal unterbrochen zu werden, erzählte sie weiter, bis sie zu dem Moment kam, in dem Paul den Räuber angesprochen hatte. »Er sagte: ›Gut. Sie haben bekommen, was Sie wollten. Jetzt lassen Sie uns in Frieden.‹ Ich hörte ihm an, dass er eher wütend als eingeschüchtert war.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Doug.
»Ich drehte mich zu ihm um und wollte ihn bitten, den Dieb nicht zu provozieren. Und in diesem Augenblick ...«
Unfreiwillig und unerwartet stieg ein Schluchzen aus ihrer Kehle auf und raubte ihr die Stimme. Sie senkte den Kopf und drückte die Hand auf die Augen, um auszublenden, wie die Kugel in Pauls Kopf eingeschlagen war.
Niemand sagte etwas, die Stille wurde nur vom Ticken einer Armbanduhr durchbrochen. Doch das war Mahnung genug. Julie senkte die Hand wieder. »Warum wollte er nur den Schmuck und die Armbanduhren? Warum keine Geldbörsen? Wäre das nicht viel praktischer gewesen? Schmuck muss verkauft oder versetzt werden, in einer Börse stecken Geld und Kreditkarten.«
»Vielleicht wollte er möglichst wenig Ballast mit sich herumtragen «, sagte Kimball. »Er wollte sich nicht mit Portemonnaies oder Handtaschen belasten, die er erst durchsuchen und dann entsorgen musste, bevor er das Hotel verlassen konnte.«
»Was hat er getan, nachdem er Paul erschossen hatte? Wo ist er hingegangen?«, fragte Doug.
»Das weiß ich nicht mehr«, erwiderte Julie. »Ich war ... nach dem Schuss weiß ich praktisch nichts mehr.«
Sanford sagte: »Die anderen drei im Aufzug waren ebenfalls zu geschockt, um mitzubekommen, wohin er lief, Mr Wheeler. Der junge Mann meint, bis er sich wieder halbwegs gefasst hatte, sei der Schütze verschwunden gewesen. Er drückte noch einmal auf den Knopf fürs Erdgeschoss. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.«
»Er hätte versuchen können, den Mann zu verfolgen.«
»Das kannst du ihm nicht vorwerfen, Doug«, ermahnte Julie ihn leise. »Er war bestimmt völlig verängstigt. Er hatte eben zusehen müssen, wie Paul in den Kopf geschossen wurde.«
Wieder sagte länger niemand ein Wort. Sanford klickte mit dem Kugelschreiber. »Also, wenn Sie sich an sonst nichts erinnern ...«
»Doch«, bemerkte Julie plötzlich. »Er hatte keine Schuhe an. Ist das noch jemandem außer mir aufgefallen?«
»Einer der Frauen aus Nashville«, bestätigte Sanford. »Sie sagte, er sei in Socken gewesen.«
»Auch das ist nur eine Vermutung«, sagte Kimball, »aber wahrscheinlich wusste er, dass Schuhe, vor allem Sportschuhe, Abdrücke hinterlassen, die sich später abnehmen lassen.«
»Hat er denn Fußabdrücke hinterlassen?«, wollte Julie wissen.
»Unsere Spurensicherung hat keine gefunden. Nein.«
Doug atmete seufzend aus. »Anscheinend hat er an alles gedacht.«
»Nicht an alles, Mr Wheeler«, widersprach Sanford. »Es gibt kein perfektes Verbrechen. Ich bin zuversichtlich, dass wir ihn kriegen.«
Kimball bekräftigte die optimistische Prognose ihres Partners. »Verlassen Sie sich darauf.«
Sanford wartete ab, ob noch jemand etwas sagen wollte, und meinte dann: »Das wäre dann vorerst alles, Ms Rutledge. Würden Sie Ihre Aussage jetzt unterschreiben?«
Sie tat es, ohne zu zögern, dann führten die beiden Detectives sie und Doug hinaus. Als sie durch den Korridor zum Aufzug gingen, nahm Kimball ihren Arm. »Möchten Sie vielleicht lieber die Treppe nehmen, Ms Rutledge?«
Julie war dankbar für ihre Einfühlsamkeit. »Danke, aber nein. Es geht schon.«
Sanford erklärte Doug eben, dass er benachrichtigt würde, sobald der Gerichtsmediziner mit seiner Arbeit fertig war und der Leichnam für die Beerdigung an die Familie übergeben werden konnte.
»Ich würde gern so schnell wie möglich wissen, wann das sein wird«, sagte Doug. »Wir müssen eine Menge organisieren. «
»Natürlich. Wir würden uns gern auch mit den anderen Familienmitgliedern unterhalten. Ihrer Frau. Ihrem Sohn. Am liebsten morgen.«
Doug blieb stehen und sah ihn an. »Wieso das?«
»Routine. Falls Ihr Bruder Feinde hatte ...«
»Hatte er aber nicht. Alle liebten Paul.«
»Bestimmt. Trotzdem könnte jemand aus seiner Umgebung etwas wissen, von dem er nicht ahnt, dass es relevant ist.«
»Wie sollte irgendjemand etwas wissen? Das war ein zufälliger Raubüberfall.«
Sanford sah kurz Kimball und dann wieder Doug an. »Im Moment gehen wir davon aus. Trotzdem müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
Doug schien schon etwas darauf erwidern zu wollen, entschied sich dann aber dagegen. Er sagte: »Ich versichere Ihnen, dass Julie und ich, dass meine ganze Familie alles tun wird, um Ihnen bei den Ermittlungen zu helfen.«
»Sie müssen eine Tragödie durchmachen, und Sie trauern, Mr Wheeler. Wir stören Sie in Ihrer Trauer. Das weiß ich, und es tut uns leid.« Trotz der Entschuldigung erklärte Sanford Doug, dass er am nächsten Vormittag anrufen würde, um ein Treffen zu vereinbaren. »Ms Rutledge«, wandte er sich an Julie. »Vielleicht werden wir uns bei Ihnen auch noch einmal melden.«
»Ich habe Ms Kimball meine Adresse und Telefonnummer gegeben. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, wann immer Sie mich brauchen.«
Falls sie die Nacht überlebte, dachte sie. Sie war so erschöpft, dass sie sich kaum noch bewegen konnte, trotzdem erschreckte sie die Aussicht, nach Hause zu fahren, ins Bett zu kriechen und die Lichter auszumachen. Wie sollte sie je wieder Schlaf finden, wo sich die Erinnerung an Pauls grauenvollen Tod so unauslöschlich in ihr Gedächtnis geätzt hatte?
Als hätte Kimball ihre Gedanken gelesen, fragte sie, ob sie jemanden hatte, der bei ihr blieb. Julie schüttelte den Kopf. »Wir könnten eine Polizistin ...«
»Nein danke«, fiel Julie ihr ins Wort. »Ehrlich gesagt wäre ich lieber allein.«
Roberta Kimball nickte verständnisvoll.
Der Aufzug kam. Julies Herz krampfte sich zusammen, trotzdem trat sie in die Kabine und drehte sich um. Doug stellte sich neben sie. Sanford sah sie nacheinander mitfühlend an. »Ich möchte Ihnen noch einmal mein aufrichtiges Beileid aussprechen.«
»Ich auch«, ergänzte Kimball.
Dann glitt die Tür zu, und Julie war mit Doug alleine. Sie sagte: »Ich werde mich so weit wie möglich zurücknehmen, um der Familie Unannehmlichkeiten zu ersparen.« Sie hoffte, er würde ihr widersprechen. Er tat es nicht. »Ich habe nur eine Bitte, Doug. Erlaubst du mir, den Blumenschmuck für Pauls Sarg auszuwählen?« Ihr wurde die Kehle eng, doch sie weigerte sich, vor ihm zu weinen. Ihr Blick blieb fest auf die Fuge in der Aufzugtür gerichtet, der Kopf blieb hoch erhoben, der Rücken durchgestreckt. »Bitte.«
»Natürlich, Julie.«
»Danke.«
Er schluckte geräuschvoll, und sie sah aus den Augenwinkeln, dass er still weinte und die Schultern unter den lautlosen Schluchzern bebten. Instinktiv wollte sie ihm eine tröstende Hand reichen, ihm ihr Mitgefühl zeigen. Aber weil sie nicht wusste, wie er reagieren würde, ließ sie es.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, flüsterte er heiser.
»Ich auch nicht.«
»Er ist wirklich tot.«
»Ja.«
»Jesus. Er seufzte schwer und rieb sich mit der Faust über die Augen. »Was für ein schrecklich brutaler Akt. Und so dreist. Nur jemand, der absolut nichts zu verlieren hat, würde so etwas wagen.«
»Oder jemand, der sicher war, dass er damit durchkommt.«
Sie drehte sich um und sah ihm offen in die Augen. Dann glitten die Aufzugtüren zur Seite, und sie trat aus der Kabine, ohne sich noch einmal umzudrehen.
3
Die Entscheidung fiel bei der zweiten Bloody Mary. Wenigstens hatte er sich bis dahin entschieden; genau wie sie, den Signalen nach zu urteilen, die sie aussandte. Die Bedingungen waren nicht ideal. Es würde ein paar vertrackte Manöver brauchen, aber zum Glück hatte er eine Schwäche für vertrackte Manöver, und wo ein Wille war ...
Im Moment drückte sein Wille vor allem gegen den Sicherheitsgurt.
Zum Glück flogen sie Erster Klasse und nicht in der Economy. Ein Erste-Klasse-Ticket war fast immer das Vermögen wert, das die Fluglinien für einen Transatlantikflug verlangten. Die Ledersessel waren weich und geräumig. Mit einem Tastendruck konnte der Passagier den Sessel genau so einstellen, wie er ihn gern hatte, auch ganz flach. Es war zwar keine Federkernmatratze, aber immerhin.
Jeder Passagier hatte sein eigenes Videosystem, obwohl er seines noch nicht genutzt hatte. Das Essen hatte für eine Fluggesellschaft besser als nur passabel geschmeckt. Seiner inneren Uhr nach war jetzt Frühstückszeit, doch man hatte ihm ein Mittagessen serviert. Während der vielen Gänge hatte er die europäische Ausgabe der New York Times studiert, die er auf seinem eiligen Gang durch den Flughafen Charles de Gaulle erstanden hatte.
Er war nie frühzeitig am Flughafen. Im Gegenteil, gewöhnlich traf er so knapp wie möglich ein und hatte gerade noch Zeit, nötigenfalls das Gepäck aufzugeben und die Security zu passieren, bevor er zum Gate eilte, wo meist gerade das Boarding begann. Jedes Mal wettete er mit sich, ob er es noch schaffen würde. Dieses Risiko verlieh der sonst so ermüdenden Prozedur etwas Spielerisches und machte die Flugreisen überhaupt erst erträglich.
Die Stewardess hatte ihn beschwatzt, nach dem Essen noch ein Hot Fudge Sundae zu bestellen, das mit seinem persönlich ausgewählten Topping gekrönt würde. Er hatte sich zu seiner Selbstdisziplin gratuliert, weil er auf die Schlagsahne verzichtet hatte.
Von den warmen Nüssen als Appetithäppchen bis zum üppigen Dessert hatte das Essen die ersten zwei Flugstunden aufs Angenehmste vertrieben. Nachdem noch acht Stunden bis zur Landung blieben, zog er die Fensterblende wie gewünscht nach unten, damit die anderen Passagiere schlafen konnten. Er schaltete seine Leselampe ein, machte es sich in seinem Sessel gemütlich und begann den neuen Thriller zu lesen, der auf Platz eins der Bestsellerliste stand. Er hatte die ersten fünf Kapitel geschafft, als die Frau von 5 C auf dem Weg zur Toilette an seiner Sitzreihe vorbeikam.
Sie fiel ihm nicht zum ersten Mal auf.
Als die Passagiere der Ersten Klasse zum Boarding aufgerufen worden und sie beide gemächlich zum Ende der Warteschlange geschlendert waren, hatten sich ihre Blicke zufällig getroffen. Natürlich hatten sie sofort wieder weggesehen, wie es Fremde tun, doch dann hatten sie beide einen zweiten Blick riskiert. Und als sie an Bord ihr Handgepäck in den Fächern über ihren Sitzen verstauten, hatte er sie dabei ertappt, wie sie in seine Richtung sah.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Sandra Brown
Sandra Brown ist eine der erfolgreichsten Autorinnen weltweit, die mit jedem ihrer Bücher Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten erreicht. Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman "Die Zeugin", der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte - ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Brown
- 2012, 1, 512 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654315
- ISBN-13: 9783863654313
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