Keiner schützt dich vor der Nacht
"Ich habe sie nur vor dem Teufel beschützt"
Suzie Gray war erst fünfzehn Jahre alt. Jetzt liegt sie blutüberströmt in den Armen ihres Kinderfreundes Olly Matken, erstochen, nur wenige Meter von der Jacht ihres...
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Produktinformationen zu „Keiner schützt dich vor der Nacht “
"Ich habe sie nur vor dem Teufel beschützt"
Suzie Gray war erst fünfzehn Jahre alt. Jetzt liegt sie blutüberströmt in den Armen ihres Kinderfreundes Olly Matken, erstochen, nur wenige Meter von der Jacht ihres Onkels auf der Isle of Wight entfernt. Doch der psychisch schwer gestörte Olly behauptet, nicht der Mörder zu sein. DCI Charlie Trench wendet sich an die Polizeipsychologin Karen Taylor. Ist Olly fähig, einen grausamen Mord zu begehen? Sein Psychologe glaubt nicht daran - sein Vater umso mehr. Karen Taylor weiß genau, sie sollte diesen Fall nicht übernehmen, der ein diabolisches Geheimnis birgt.
"Faszinierend und unglaublich dicht geschrieben."
Guardian
Lese-Probe zu „Keiner schützt dich vor der Nacht “
Keiner schützt dich vor der Nacht von Natasha CooperProlog
Tag eins: Mittwochnachmittag
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Der Stoß einer plötzlichen Welle warf Giles gegen das Steuer-rad. Er schlug sich den Ellbogen an, und Schmerz schoss seinen Arm hinauf wie ein elektrischer Schlag.
Der jähe Nervenschmerz war übler als alles, was er damals beim Zusammenbruch der Märkte im Jahr 2008 empfunden hatte, und da hatte er drei Flaschen Schampus innerhalb von zwanzig Minuten in sich hineinschütten müssen, um den Horror zu dämpfen. Er umklammerte den Musikantenknochen mit der anderen Hand und hoffte, dass die Folter diesmal durch die Wärme seines Bluts von allein aufhören würde. In Anbetracht der schwierigen Überfahrt konnte er nicht riskieren, blau zu sein.
Während er darauf wartete, dass der Schmerz nachließ, setzte er im Stillen seine Nichte auf die Liste der Leute, die er gern tot sehen würde. In den letzten Jahren waren einige hinzu-gekommen, aber er hätte niemals gedacht, dass er jemals die hübsche Suzie hinzufügen würde. Das kleine Luder war bereits fünfundzwanzig Minuten zu spät, und das Wetter kam immer näher. Als er finster nach oben schaute, stellte er fest, dass der Himmel aussah wie eine Mischung aus verwittertem Blei und einem riesigen Haufen Gänseschiss.
Der auffrischende Wind schlug Giles ins Gesicht, als die Seen wieder hochgingen. Dieses Mal war er darauf vorbereitet und überstand das Schwanken des Schiffs, ohne weitere Probleme zu bekommen. Das Meer schien ebenso wütend zu sein wie er.
Er hatte seiner Schwester versprochen, ihre verflixte Tochter bis fünf Uhr nach Lymington zu bringen, und wenn Suzie nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten auftauchte, würden sie die Flut verpassen. Und dann würde er zu spät zu seinen Kumpeln kommen, die ein paar Meilen östlich der Mündung des Hamble eine halbe Stunde später auf ihn warten würden.
Schwache, stoßartige, rhythmische Laute drangen durch das Knarren der Schoten und das Ächzen der Spanten seiner herrlichen alten Jolle an sein Ohr. Er lehnte sich mit dem Oberkörper auf das Rad des Ruders und genoss den Druck des abgerundeten Endes einer der Speichen auf sein Sonnengeflecht. Die Worte des Singsangs wurden deutlicher: »Oh Scheiße, oh verdammt, oh Scheiße, oh verdammt, oh Scheiße, oh verdammt.«
»Suzie?«, rief er in die Düsternis hinein. »Bist du's?«
»Onkel Giles! Es tut mir leid.« Die Stimme der Fünfzehnjährigen klang atemlos, aber vergnügter, als sie hätte sein sollen. »Ich wurde aufgehalten. Sei nicht sauer. Ich bin so schnell gelaufen, wie ich konnte.«
Sie tauchte im Licht am Fuß seiner Laufplanke auf. Ihr blondes Haar war zerzaust, ihre Brüste wippten, und ihre Lippen waren geschwollen. Das kleine Miststück war mit jemandem im Bett gewesen, das war nicht zu übersehen. Ihre Haut glühte selbst in dem spärlichen Licht, und auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck von Selbstzufriedenheit einer Frau, die es so-eben geschafft hatte, aus einem Mann ein schwer atmendes, stöhnendes Wrack zu machen. Deshalb kam sie also zu spät. Hatte ihn warten lassen und ein für ihn wichtiges Treffen aufs Spiel gesetzt - für einen Minderjährigen-Fick. Diese kleine Schlampe.
Er öffnete den Mund, um ihr seine Meinung zu sagen, sah dann, dass sie auf hohen Absätzen daherkam: hohen, spitzen, zerstörerischen Absätzen.
»Zieh diese verdammten Schuhe aus, bevor du auch nur einen Schritt näher kommst«, brüllte er.
»Geht nicht, Onkel Giles. Es ist zu kalt, um barfuß zu laufen. Lass mich an Bord. Ich muss ... « Sie hielt inne und kicherte. »Komm schon, lieber Giley-Wiley, lass mich an Bord. Es ist kalt und nass, und ich muss pinkeln.«
Giles sah, dass sie unter ihrem Stretchmini keine Strumpf-hose trug. Dumme kleine Kuh. Er steckte eine Hand in seine dicke Brieftasche und zog zehn Zwanziger heraus, bevor er zu ihr nach unten lief.
»Mit diesen verdammten Stöckelschuhen kommst du mir nicht auf mein Schiff«, erklärte er und streckte ihr das Geld entgegen. »Geh zurück und kauf dir Socken und Bootsschuhe bei Captain Joe's oben am Kai. Beeil dich. Wenn ich deinetwegen die Flut verpasse, werde ich stocksauer. Und deine Mutter wird mir bis ans Ende der Tage die Schuld daran geben. Sie hält mir bis heute noch alles vor, was ich jemals getan habe.«
»Erzähl ihr nicht, dass ich zu spät gekommen bin, Onkel Giles«, sagte sie, das Kichern war aus ihrer atemlosen Stimme gewichen. »Das kannst du nicht machen. Versprich mir, dass du es ihr nicht erzählen wirst.«
Suzie packte ihn an seinem schmerzenden Ellbogen, klammerte sich verzweifelt an seinen Arm, ignorierte das Geld. Er nahm einen Hauch von Malibu-Fruchtlikör in ihrem Atem wahr. Als Crewmitglied würde sie heute nicht viel taugen. Er fragte sich, wer sie betrunken gemacht und sie gebumst hatte, aber sie hörte sich schon viel nüchterner an. Das überraschte ihn nicht.
Seine Schwester mochte zerbrechlich aussehen, aber wenn jemand ihr Missfallen erregte, konnte sie ihn mit einem Blick vernichten.
»Sie bringt mich um, wenn sie glaubt, dass ich ... Versprochen, Giley-Wiley? Bitte. Ich tue alles für dich, wenn du es mir versprichst. Alles.«
»Wir werden sehen.« Er grinste, um die Angst zu unterdrücken, die ihn plötzlich überfiel, als er darüber nachdachte, wo-zu sie ihn bringen könnte. »Mach Tempo, besorg dir ordentliche Schuhe und benimm dich anständig während der Fahrt, dann werden wir sehen, ob ich dir helfen kann. Aber versprechen tu ich dir nichts. Los, hau jetzt ab.«
Sie drückte ihm einen dicken, feuchten, nach Malibu riechenden Kuss auf die Wange und verschwand in der Düsternis. Kurz darauf hörte er, wie sie über ihre eigenen Füße stolperte, dann einen Kicheranfall. Das würde eine lustige Fahrt werden.
Seinem Ellbogen ging es besser, aber das war auch das einzig Gute. Er schielte mit zusammengekniffenen Augen hinauf in den graugrünen Himmel. Jeder auf Sicherheit bedachte Sonntagssegler, der sich bevorzugt in der Nähe der Küste aufhielt, würde jetzt zum Telefon greifen und erklären, warum er an diesem Nachmittag nicht aufbrechen konnte. Dann würde er Suzie am Fährhafen absetzen und sie von dort aus nach Hause schicken. Aber zu diesen Leuten gehörte er nicht. Er war immer ein risikofreudiger Mensch gewesen.
Plötzlich glitt ein Lächeln über Giles' Gesicht, und er zog tief die salz- und teergeschwängerte Luft ein und spürte wieder die alte Kraft und das Vergnügen, das er immer dabei empfunden hatte. Klar, er war ein waghalsiger Mensch! Wie sonst hätte er es in der City so weit gebracht? Oder die Stürme nach dem Finanz-crash überstanden und sein Einkommen seit seinem Pensionärs-dasein hier auf der Isle of Wight mehr als verdoppeln können?
Selbst Waghalsige mussten hin und wieder die Wetterbedingungen überprüfen, also ging er rasch unter Deck, um auf das Barometer zu klopfen, wobei er wie immer die Perfektion der alten Planken seiner geliebten Dasher bewunderte.
Tropfen klopften auf das Deck, gedämpft durch die Isolierung, aber immer noch laut genug, um hörbar zu sein. Regen. Nun musste er sowohl damit fertig werden als auch mit einem zunehmenden Sturm. Verdammte Suzie. Sie könnten bereits sicher und trocken zu Hause sein. Wenn die Temperatur wieder fiel und der Regen zu Schnee wurde, steckte er in echten Schwierigkeiten. Das Gewicht von gefrierendem Schnee auf den Segeln plus den anderen Problemen, die ein altes Boot mit sich brachte, forderten selbst einen erfahrenen Wintersegler wie ihn heraus.
Der Boden der Kajüte schwankte unter seinen Füßen, als wolle er ihm die bevorstehende Gefahr verdeutlichen. Giles warf einen Blick auf seinen Kartentisch und auf den Kurs, den er so sorgfältig und bis auf die Sekunde genau geplant hatte.
Bereits zweiundzwanzig Minuten nach drei. Das Tageslicht würde bald schwinden - und mit ihm die Flut. Scheiße. Es würde ihm alles verderben, wenn er für die Überfahrt den Mo-tor und die Positionslichter anwerfen musste.
Er griff zum Telefon und rief rasch einen seiner Kumpel aus seinem Investmentclub an, die sich schon bald in der kleinen Bucht östlich der Mündung des Hamble versammeln würden, um die Erträge aus ihrem letzten Coup aufzuteilen, bevor sie den Schampus köpften.
»Ha!« Giles stieß ein lautes Lachen aus, nachdem er das Gespräch beendet hatte, und lief die Kajütenleiter hinauf.
Wo zum Teufel blieb Suzie? Es konnte doch unmöglich siebzehn Minuten dauern, um fünfundvierzig Meter weit zu gehen und ein Paar Bootsschuhe zu kaufen. Vor allem nicht, wenn man sie bar bezahlte.
Zehn Minuten später verwandelte sich sein Zorn in ein weniger vertrautes und ausgesprochen unbehagliches Gefühl. Er begann, sich Sorgen um das kleine Miststück zu machen. Wo trieb sie sich herum? Sie sollte seit einer guten Viertelstunde bereits wieder hier sein. Wenn nicht schon länger.
Im Schatten des großen Schoners kauernd, der neben der Dasher lag, beobachtete Billy, wie Mr Henty die Kajüte ab-schloss, die Laufplanke hinunterstolperte und dabei in seiner vornehmen Aussprache den Namen des Mädchens rief. Als er außer dem Schreien der Möwen und dem Knarren der Bäume mit den gerefften Segeln keine Antwort bekam, beschleunigte er seinen Schritt und lief zu den Läden am Ende des Jachthafens.
Billy wartete, bis der alte Mann verschwunden war, und huschte schnell und leise wie eine Maus an Deck. Das war seine Chance, denn jetzt würde ihm niemand in die Quere kommen.
Das wackelige Vorhängeschloss an der Kajütentür stellte kein Hindernis für ihn dar, und sobald er in der Kabine war, brauchte er nur ein paar Minuten. Er wusste, wo sich die Essensvorräte und das Bargeld für Notfälle befanden. Mr Henty hatte es hinter dem Herd in der Kombüse versteckt, für den Fall, dass er auflief und auf der Stelle Seenotretter auszahlen wollte, bevor sie sein Boot als Bergungslohn beanspruchen konnten.
Er hatte ihm das alles erklärt, als sie eines Tages in einen Sturm geraten waren und Billy ihn gefragt hatte, was geschehen würde, wenn sie Hilfe bräuchten. Jeder, der dich auf eine Sand-bank schleppt, könnte dich zwingen, das Boot zu verkaufen, um ihn zu entlohnen, wenn du kein Bargeld zum sofortigen Bezahlen hättest.
Billy würde das Geld nicht auf der Insel ausgeben können. Es gab viele Überwachungskameras in der Nähe der Läden. Aber er brauchte Kohle, sobald er auf dem Festland war, und das hier war die beste Möglichkeit, an welche zu kommen.
Der Vorratsschrank war immer gefüllt mit Dosen und Flaschen. Billy lief bei dem Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen. Das war kein Diebstahl. Nicht wirklich. Nicht wie früher. Er hätte heute gefragt, ob er für sein Essen - und seine Überfahrt über den Solent - arbeiten könnte, wenn die Dinge anders gewesen wären.
Billy hatte so lange auf die Rückkehr der Dasher von dort, wohin auch immer der alte Mann sie gesteuert hatte, gewartet, dass er es sich nicht mit Fragen versauen wollte, solange Mr Henty sich nicht wieder beruhigt hatte.
Das Schloss gab Billys vor Kälte erstarrten Fingern nach, und Sekunden später befand er sich in der warmen Kajüte. Seine Hände schmerzten durch die plötzliche Wärme, und er wusste, dass sie gleich dunkelrot werden und noch mehr wehtun würden.
Was gäbe er dafür, könnte er hier im Warmen bleiben.
Billy vertrieb den Gedanken sofort wieder. Als blinder Passa-gier mitzufahren war zu riskant, vor allem jetzt. Mr Henty schien zwar auf seiner Seite zu stehen, was seine bescheuerten Eltern betraf, aber man konnte keinem Erwachsenen trauen. Nicht, wenn sie sauer waren wie Mr Henty heute. Nicht, wenn man dreizehn und von zu Hause abgehauen war. Und vor allem nicht, wenn man das alles gesehen hatte, was Billy heute gesehen hatte.
Er holte rasch einige Konserven mit Bohnen und Würstchen und Spaghetti aus dem Vorratsschrank. An seinem Taschen-messer befand sich ein Dosenöffner, mit dem er die Konserven aufmachen konnte. Nachdem er die Dosen in seinen Rucksack auf das Zeug gepackt hatte, an das er im Moment nicht denken wollte, fuhr er mit seinen jetzt warmen Händen in den Spalt hinter dem Herd. Da der Spalt breit genug war für Mr Hentys dicke Finger, hatte Billy kein Problem. Er fand das Geld und zog es heraus.
Das Bündel der Fünfziger und Zwanziger schien dicker zu sein als sonst. Es waren so viele Scheine, dass sie nicht echt, sondern eher wie Spielgeld aussahen. Billy wusste nicht, ob der alte Mann sich die Nummern notierte, also zog er für alle Fälle aus der Mitte des Bündels, wo man ein Fehlen nicht sofort bemerkte, einige Scheine heraus und legte den Rest wieder sorg-fältig aufeinander. Er zählte nicht einmal, wie viel er erwischt hatte. Das Risiko, entdeckt zu werden, war es nicht wert.
Als er sich umdrehte, um wieder an Deck zu klettern, lauschte er, streckte seinen Kopf nach vorne und nach oben, um sicherzugehen, dass die Luft rein war. Dabei fiel sein Blick auf etwas Blaues. Es war ein weicher, dicker Pullover, wie er bei näherem Hinsehen feststellte. Dem alten Mann konnte er nicht gehören - dafür war er zu klein. Billy würde er jedoch passen, und er würde ihn brauchen, wenn es kälter wurde. Er stopfte ihn in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg.
Er hätte sich lieber von der Gasse am oberen Ende des Hafens ferngehalten, aber es gab keinen anderen Weg nach Cowes.
Stimmen, die verängstigt und zornig klangen, wurden laut, als er sich ihr näherte. Eine Stimme, scharf und weiblich, wehte herüber, deutlich vernehmbarer als alle anderen.
»Ein Fuß. Ich habe zuerst nur einen nackten Fuß in einem neuen blauen Bootsschuh gesehen, an dem noch das Preisschild klebte. Deshalb habe ich hingeschaut. Und dann habe ich das Blut gesehen. Überall Blut. Sie sollten schnell etwas unternehmen. Es ist nicht richtig, dass jeder all das Blut sehen kann. Und ihr Gesicht ... «
Billy steckte sich seine Finger in die Ohren und rannte weiter.
...
Übersetzung: Ulrike Laszlo
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Stoß einer plötzlichen Welle warf Giles gegen das Steuer-rad. Er schlug sich den Ellbogen an, und Schmerz schoss seinen Arm hinauf wie ein elektrischer Schlag.
Der jähe Nervenschmerz war übler als alles, was er damals beim Zusammenbruch der Märkte im Jahr 2008 empfunden hatte, und da hatte er drei Flaschen Schampus innerhalb von zwanzig Minuten in sich hineinschütten müssen, um den Horror zu dämpfen. Er umklammerte den Musikantenknochen mit der anderen Hand und hoffte, dass die Folter diesmal durch die Wärme seines Bluts von allein aufhören würde. In Anbetracht der schwierigen Überfahrt konnte er nicht riskieren, blau zu sein.
Während er darauf wartete, dass der Schmerz nachließ, setzte er im Stillen seine Nichte auf die Liste der Leute, die er gern tot sehen würde. In den letzten Jahren waren einige hinzu-gekommen, aber er hätte niemals gedacht, dass er jemals die hübsche Suzie hinzufügen würde. Das kleine Luder war bereits fünfundzwanzig Minuten zu spät, und das Wetter kam immer näher. Als er finster nach oben schaute, stellte er fest, dass der Himmel aussah wie eine Mischung aus verwittertem Blei und einem riesigen Haufen Gänseschiss.
Der auffrischende Wind schlug Giles ins Gesicht, als die Seen wieder hochgingen. Dieses Mal war er darauf vorbereitet und überstand das Schwanken des Schiffs, ohne weitere Probleme zu bekommen. Das Meer schien ebenso wütend zu sein wie er.
Er hatte seiner Schwester versprochen, ihre verflixte Tochter bis fünf Uhr nach Lymington zu bringen, und wenn Suzie nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten auftauchte, würden sie die Flut verpassen. Und dann würde er zu spät zu seinen Kumpeln kommen, die ein paar Meilen östlich der Mündung des Hamble eine halbe Stunde später auf ihn warten würden.
Schwache, stoßartige, rhythmische Laute drangen durch das Knarren der Schoten und das Ächzen der Spanten seiner herrlichen alten Jolle an sein Ohr. Er lehnte sich mit dem Oberkörper auf das Rad des Ruders und genoss den Druck des abgerundeten Endes einer der Speichen auf sein Sonnengeflecht. Die Worte des Singsangs wurden deutlicher: »Oh Scheiße, oh verdammt, oh Scheiße, oh verdammt, oh Scheiße, oh verdammt.«
»Suzie?«, rief er in die Düsternis hinein. »Bist du's?«
»Onkel Giles! Es tut mir leid.« Die Stimme der Fünfzehnjährigen klang atemlos, aber vergnügter, als sie hätte sein sollen. »Ich wurde aufgehalten. Sei nicht sauer. Ich bin so schnell gelaufen, wie ich konnte.«
Sie tauchte im Licht am Fuß seiner Laufplanke auf. Ihr blondes Haar war zerzaust, ihre Brüste wippten, und ihre Lippen waren geschwollen. Das kleine Miststück war mit jemandem im Bett gewesen, das war nicht zu übersehen. Ihre Haut glühte selbst in dem spärlichen Licht, und auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck von Selbstzufriedenheit einer Frau, die es so-eben geschafft hatte, aus einem Mann ein schwer atmendes, stöhnendes Wrack zu machen. Deshalb kam sie also zu spät. Hatte ihn warten lassen und ein für ihn wichtiges Treffen aufs Spiel gesetzt - für einen Minderjährigen-Fick. Diese kleine Schlampe.
Er öffnete den Mund, um ihr seine Meinung zu sagen, sah dann, dass sie auf hohen Absätzen daherkam: hohen, spitzen, zerstörerischen Absätzen.
»Zieh diese verdammten Schuhe aus, bevor du auch nur einen Schritt näher kommst«, brüllte er.
»Geht nicht, Onkel Giles. Es ist zu kalt, um barfuß zu laufen. Lass mich an Bord. Ich muss ... « Sie hielt inne und kicherte. »Komm schon, lieber Giley-Wiley, lass mich an Bord. Es ist kalt und nass, und ich muss pinkeln.«
Giles sah, dass sie unter ihrem Stretchmini keine Strumpf-hose trug. Dumme kleine Kuh. Er steckte eine Hand in seine dicke Brieftasche und zog zehn Zwanziger heraus, bevor er zu ihr nach unten lief.
»Mit diesen verdammten Stöckelschuhen kommst du mir nicht auf mein Schiff«, erklärte er und streckte ihr das Geld entgegen. »Geh zurück und kauf dir Socken und Bootsschuhe bei Captain Joe's oben am Kai. Beeil dich. Wenn ich deinetwegen die Flut verpasse, werde ich stocksauer. Und deine Mutter wird mir bis ans Ende der Tage die Schuld daran geben. Sie hält mir bis heute noch alles vor, was ich jemals getan habe.«
»Erzähl ihr nicht, dass ich zu spät gekommen bin, Onkel Giles«, sagte sie, das Kichern war aus ihrer atemlosen Stimme gewichen. »Das kannst du nicht machen. Versprich mir, dass du es ihr nicht erzählen wirst.«
Suzie packte ihn an seinem schmerzenden Ellbogen, klammerte sich verzweifelt an seinen Arm, ignorierte das Geld. Er nahm einen Hauch von Malibu-Fruchtlikör in ihrem Atem wahr. Als Crewmitglied würde sie heute nicht viel taugen. Er fragte sich, wer sie betrunken gemacht und sie gebumst hatte, aber sie hörte sich schon viel nüchterner an. Das überraschte ihn nicht.
Seine Schwester mochte zerbrechlich aussehen, aber wenn jemand ihr Missfallen erregte, konnte sie ihn mit einem Blick vernichten.
»Sie bringt mich um, wenn sie glaubt, dass ich ... Versprochen, Giley-Wiley? Bitte. Ich tue alles für dich, wenn du es mir versprichst. Alles.«
»Wir werden sehen.« Er grinste, um die Angst zu unterdrücken, die ihn plötzlich überfiel, als er darüber nachdachte, wo-zu sie ihn bringen könnte. »Mach Tempo, besorg dir ordentliche Schuhe und benimm dich anständig während der Fahrt, dann werden wir sehen, ob ich dir helfen kann. Aber versprechen tu ich dir nichts. Los, hau jetzt ab.«
Sie drückte ihm einen dicken, feuchten, nach Malibu riechenden Kuss auf die Wange und verschwand in der Düsternis. Kurz darauf hörte er, wie sie über ihre eigenen Füße stolperte, dann einen Kicheranfall. Das würde eine lustige Fahrt werden.
Seinem Ellbogen ging es besser, aber das war auch das einzig Gute. Er schielte mit zusammengekniffenen Augen hinauf in den graugrünen Himmel. Jeder auf Sicherheit bedachte Sonntagssegler, der sich bevorzugt in der Nähe der Küste aufhielt, würde jetzt zum Telefon greifen und erklären, warum er an diesem Nachmittag nicht aufbrechen konnte. Dann würde er Suzie am Fährhafen absetzen und sie von dort aus nach Hause schicken. Aber zu diesen Leuten gehörte er nicht. Er war immer ein risikofreudiger Mensch gewesen.
Plötzlich glitt ein Lächeln über Giles' Gesicht, und er zog tief die salz- und teergeschwängerte Luft ein und spürte wieder die alte Kraft und das Vergnügen, das er immer dabei empfunden hatte. Klar, er war ein waghalsiger Mensch! Wie sonst hätte er es in der City so weit gebracht? Oder die Stürme nach dem Finanz-crash überstanden und sein Einkommen seit seinem Pensionärs-dasein hier auf der Isle of Wight mehr als verdoppeln können?
Selbst Waghalsige mussten hin und wieder die Wetterbedingungen überprüfen, also ging er rasch unter Deck, um auf das Barometer zu klopfen, wobei er wie immer die Perfektion der alten Planken seiner geliebten Dasher bewunderte.
Tropfen klopften auf das Deck, gedämpft durch die Isolierung, aber immer noch laut genug, um hörbar zu sein. Regen. Nun musste er sowohl damit fertig werden als auch mit einem zunehmenden Sturm. Verdammte Suzie. Sie könnten bereits sicher und trocken zu Hause sein. Wenn die Temperatur wieder fiel und der Regen zu Schnee wurde, steckte er in echten Schwierigkeiten. Das Gewicht von gefrierendem Schnee auf den Segeln plus den anderen Problemen, die ein altes Boot mit sich brachte, forderten selbst einen erfahrenen Wintersegler wie ihn heraus.
Der Boden der Kajüte schwankte unter seinen Füßen, als wolle er ihm die bevorstehende Gefahr verdeutlichen. Giles warf einen Blick auf seinen Kartentisch und auf den Kurs, den er so sorgfältig und bis auf die Sekunde genau geplant hatte.
Bereits zweiundzwanzig Minuten nach drei. Das Tageslicht würde bald schwinden - und mit ihm die Flut. Scheiße. Es würde ihm alles verderben, wenn er für die Überfahrt den Mo-tor und die Positionslichter anwerfen musste.
Er griff zum Telefon und rief rasch einen seiner Kumpel aus seinem Investmentclub an, die sich schon bald in der kleinen Bucht östlich der Mündung des Hamble versammeln würden, um die Erträge aus ihrem letzten Coup aufzuteilen, bevor sie den Schampus köpften.
»Ha!« Giles stieß ein lautes Lachen aus, nachdem er das Gespräch beendet hatte, und lief die Kajütenleiter hinauf.
Wo zum Teufel blieb Suzie? Es konnte doch unmöglich siebzehn Minuten dauern, um fünfundvierzig Meter weit zu gehen und ein Paar Bootsschuhe zu kaufen. Vor allem nicht, wenn man sie bar bezahlte.
Zehn Minuten später verwandelte sich sein Zorn in ein weniger vertrautes und ausgesprochen unbehagliches Gefühl. Er begann, sich Sorgen um das kleine Miststück zu machen. Wo trieb sie sich herum? Sie sollte seit einer guten Viertelstunde bereits wieder hier sein. Wenn nicht schon länger.
Im Schatten des großen Schoners kauernd, der neben der Dasher lag, beobachtete Billy, wie Mr Henty die Kajüte ab-schloss, die Laufplanke hinunterstolperte und dabei in seiner vornehmen Aussprache den Namen des Mädchens rief. Als er außer dem Schreien der Möwen und dem Knarren der Bäume mit den gerefften Segeln keine Antwort bekam, beschleunigte er seinen Schritt und lief zu den Läden am Ende des Jachthafens.
Billy wartete, bis der alte Mann verschwunden war, und huschte schnell und leise wie eine Maus an Deck. Das war seine Chance, denn jetzt würde ihm niemand in die Quere kommen.
Das wackelige Vorhängeschloss an der Kajütentür stellte kein Hindernis für ihn dar, und sobald er in der Kabine war, brauchte er nur ein paar Minuten. Er wusste, wo sich die Essensvorräte und das Bargeld für Notfälle befanden. Mr Henty hatte es hinter dem Herd in der Kombüse versteckt, für den Fall, dass er auflief und auf der Stelle Seenotretter auszahlen wollte, bevor sie sein Boot als Bergungslohn beanspruchen konnten.
Er hatte ihm das alles erklärt, als sie eines Tages in einen Sturm geraten waren und Billy ihn gefragt hatte, was geschehen würde, wenn sie Hilfe bräuchten. Jeder, der dich auf eine Sand-bank schleppt, könnte dich zwingen, das Boot zu verkaufen, um ihn zu entlohnen, wenn du kein Bargeld zum sofortigen Bezahlen hättest.
Billy würde das Geld nicht auf der Insel ausgeben können. Es gab viele Überwachungskameras in der Nähe der Läden. Aber er brauchte Kohle, sobald er auf dem Festland war, und das hier war die beste Möglichkeit, an welche zu kommen.
Der Vorratsschrank war immer gefüllt mit Dosen und Flaschen. Billy lief bei dem Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen. Das war kein Diebstahl. Nicht wirklich. Nicht wie früher. Er hätte heute gefragt, ob er für sein Essen - und seine Überfahrt über den Solent - arbeiten könnte, wenn die Dinge anders gewesen wären.
Billy hatte so lange auf die Rückkehr der Dasher von dort, wohin auch immer der alte Mann sie gesteuert hatte, gewartet, dass er es sich nicht mit Fragen versauen wollte, solange Mr Henty sich nicht wieder beruhigt hatte.
Das Schloss gab Billys vor Kälte erstarrten Fingern nach, und Sekunden später befand er sich in der warmen Kajüte. Seine Hände schmerzten durch die plötzliche Wärme, und er wusste, dass sie gleich dunkelrot werden und noch mehr wehtun würden.
Was gäbe er dafür, könnte er hier im Warmen bleiben.
Billy vertrieb den Gedanken sofort wieder. Als blinder Passa-gier mitzufahren war zu riskant, vor allem jetzt. Mr Henty schien zwar auf seiner Seite zu stehen, was seine bescheuerten Eltern betraf, aber man konnte keinem Erwachsenen trauen. Nicht, wenn sie sauer waren wie Mr Henty heute. Nicht, wenn man dreizehn und von zu Hause abgehauen war. Und vor allem nicht, wenn man das alles gesehen hatte, was Billy heute gesehen hatte.
Er holte rasch einige Konserven mit Bohnen und Würstchen und Spaghetti aus dem Vorratsschrank. An seinem Taschen-messer befand sich ein Dosenöffner, mit dem er die Konserven aufmachen konnte. Nachdem er die Dosen in seinen Rucksack auf das Zeug gepackt hatte, an das er im Moment nicht denken wollte, fuhr er mit seinen jetzt warmen Händen in den Spalt hinter dem Herd. Da der Spalt breit genug war für Mr Hentys dicke Finger, hatte Billy kein Problem. Er fand das Geld und zog es heraus.
Das Bündel der Fünfziger und Zwanziger schien dicker zu sein als sonst. Es waren so viele Scheine, dass sie nicht echt, sondern eher wie Spielgeld aussahen. Billy wusste nicht, ob der alte Mann sich die Nummern notierte, also zog er für alle Fälle aus der Mitte des Bündels, wo man ein Fehlen nicht sofort bemerkte, einige Scheine heraus und legte den Rest wieder sorg-fältig aufeinander. Er zählte nicht einmal, wie viel er erwischt hatte. Das Risiko, entdeckt zu werden, war es nicht wert.
Als er sich umdrehte, um wieder an Deck zu klettern, lauschte er, streckte seinen Kopf nach vorne und nach oben, um sicherzugehen, dass die Luft rein war. Dabei fiel sein Blick auf etwas Blaues. Es war ein weicher, dicker Pullover, wie er bei näherem Hinsehen feststellte. Dem alten Mann konnte er nicht gehören - dafür war er zu klein. Billy würde er jedoch passen, und er würde ihn brauchen, wenn es kälter wurde. Er stopfte ihn in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg.
Er hätte sich lieber von der Gasse am oberen Ende des Hafens ferngehalten, aber es gab keinen anderen Weg nach Cowes.
Stimmen, die verängstigt und zornig klangen, wurden laut, als er sich ihr näherte. Eine Stimme, scharf und weiblich, wehte herüber, deutlich vernehmbarer als alle anderen.
»Ein Fuß. Ich habe zuerst nur einen nackten Fuß in einem neuen blauen Bootsschuh gesehen, an dem noch das Preisschild klebte. Deshalb habe ich hingeschaut. Und dann habe ich das Blut gesehen. Überall Blut. Sie sollten schnell etwas unternehmen. Es ist nicht richtig, dass jeder all das Blut sehen kann. Und ihr Gesicht ... «
Billy steckte sich seine Finger in die Ohren und rannte weiter.
...
Übersetzung: Ulrike Laszlo
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Natasha Cooper
Natasha Cooper ist gebürtige Londonerin und arbeitete lan-ge in einem Verlag, bevor sie sich ganz dem Schreiben zu-wandte. Außer ihren Romanen schreibt sie auch für zahlreiche Zeitungen und Magazine sowie für den Rundfunk. Sie war Vorsitzende der Crime Writers' Association. 2002 wurde sie für den Dagger in Library nominiert, den Preis für das beliebteste Bibliotheksbuch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Natasha Cooper
- 2012, 1, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654307
- ISBN-13: 9783863654306
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