Fackeln im Sturm, Band 1-3
"Die Erben Kains", "Liebe und Krieg", "Himmel und Hölle"
Die Erben Kains: Ein grandioses Epos über den amerikanischen Bürgerkrieg!
Im Mittelpunkt stehen zwei Familien: die Hazards, ein Industriellenclan in Pennsylvania, und die Mains, Plantagenbesitzer und Sklavenhalter in...
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Produktinformationen zu „Fackeln im Sturm, Band 1-3 “
Die Erben Kains: Ein grandioses Epos über den amerikanischen Bürgerkrieg!
Im Mittelpunkt stehen zwei Familien: die Hazards, ein Industriellenclan in Pennsylvania, und die Mains, Plantagenbesitzer und Sklavenhalter in South Carolina. Ihre Söhne begegnen sich auf der Militärakademie von West Point. Sie werden Freunde und sind wie Brüder zueinander. Noch ahnen sie nicht, dass ein mörderischer Krieg sie bald zu Todfeinden machen wird
Liebe und Krieg: Ein monumentales Epos über Liebe, Hass und Tod vor dem Hintergrund des Amerikanischen Bürgerkriegs!
Das Unfassbare ist geschehen. Aus dem jahrzehntelange schwelenden Konflikt um die Frage der Sklavenhaltung ist ein offener Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten entbrannt, der auch vor den Mains und Hazards nicht haltmacht, Sie werden hineingerissen in einen Strudel von Hass und Gewalt, und ihre Freundschaft wird mehr als einmal einer harten Zerreißprobe ausgesetzt. Doch inmitten der düsteren Untergangsstimmung gibt es auch leuchtende Beispiele von Liebe und Treue, Hingabebereitschaft und Opfermut.
Lese-Probe zu „Fackeln im Sturm, Band 1-3 “
Die Erben Kains von John Jakes1686: Der Köhlerjunge
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»Es ist nun wirklich an der Zeit, daß der Junge meinen Namen annimmt«, sagte Windom nach dem Abendbrot. Die Sache verdroß ihn. Jedesmal, wenn er zuviel getrunken hatte, kam er darauf zu sprechen. Die Mutter des Jungen saß neben dem kleinen Feuer und schloß die Bibel, die sie auf den Knien hielt. Bess Windom hatte sich selbst, wie jeden Abend, etwas vorgelesen. Der Junge konnte an ihren Lippenbewegungen erkennen, daß sie nur langsam vorwärtskam. Sie war gerade bei ihrem Lieblingsvers im 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums angelangt: »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich«, als Windom mit seiner Bemerkung herausplatzte.
Der Junge, Joseph Moffat, saß mit dem Rücken zur Kaminecke und schnitzte ein kleines Boot. Er war zwölf, von untersetztem Körperbau wie seine Mutter, mit breiten Schultern, hellbraunem Haar und blaßblauen Augen, die manchmal farblos schienen.
Windom warf seinem Stiefsohn einen finsteren Blick zu. Frühlingsregen prasselte auf das Strohdach. Windoms Augen waren von Kohle-staub verschmiert, die abgebrochenen Fingernägel wiesen einen Trauerrand auf. Windom war eine verkrachte Existenz, vierzig Jahre alt. Wenn er nicht gerade betrunken war, hackte er Holz und ließ es während zwei Wochen in zwanzig Fuß hohen Stapeln verschwelen. Er stellte Holzkohle für die kleinen Hochöfen am Fluß her, eine schmutzige, erniedrigende Arbeit. Bezeichnenderweise warnten die Mütter die umherstreunenden Nachbarskinder vor dem Schwarzen Mann.
Joseph sagte nichts und starrte vor sich hin. Windom entging jedoch nicht, daß der Junge nervös mit dem Zeigefinger auf den Messergriff trommelte. Der Junge war temperamentvoll, und manchmal fürchtete sich Windom vor ihm. Aber jetzt nicht. Das hartnäckige Schweigen des Jungen, sein herausfordernder Trotz, brachten den Stiefvater in Harnisch.
Schließlich sagte Joseph: »Mein eigener Name gefällt mir« und widmete sich wieder seinem halbfertig geschnitzten Boot.
»Du unverschämter Kerl«, stieß Windom mit barscher Stimme hervor und stürzte sich auf den Jungen. Sein Stuhl kippte um. Bess warf sich dazwischen. »Laß ihn, Thad, kein wahrer Jünger unseres Herrn würde einem Kind etwas zuleide tun.«
»Fragt sich, wer wem etwas antun will. Sieh ihn dir an!« Joseph stand mit dem Rücken zum Kamin. Er keuchte. Mit starrem Blick hielt er das Messer auf Hüfthöhe, bereit zuzustechen. Langsam öffnete Windom seine geballte Faust, trat linkisch ein paar Schritte zurück und rückte seinen Stuhl zurecht. Wie immer war es Bess, die litt, wenn die Angst und der Groll des Jungen sich gegen ihn richteten. Joseph nahm seine Stellung beim Kamin wieder ein und fragte sich, wie lange er das noch aushalten konnte.
»Ich will nichts mehr von deinem heiligen Herrn hören«, sagte Windom zu seiner Frau. »Du sagst immer, daß er den armen Mann erhöhen werde. Dein erster Mann war ein Idiot, daß er für einen solchen Mist gestorben ist. Wenn dein lieber Jesus sich mal seine Hände an meinen Kohlen schmutzig macht, werde ich an ihn glauben, vorher nicht.« Er langte nach der grünen Ginflasche.
Später in der Nacht, als Joseph regungslos auf seinem Strohsack in der Ecke lag, hörte er, wie Windom seine Mutter hinter dem zerschlissenen Bettvorhang mit Worten und Fäusten mißhandelte. Bess schluchzte, und der Junge preßte die Zähne zusammen. Dann hörte er Bess stöhnen. Der Streit war wieder mal in der typischen Weise beigelegt worden, dachte er zynisch. Er konnte es seiner Mutter nicht verübeln, daß sie ein bißchen Geborgenheit und Liebe suchte. Sie hatte den falschen Mann geheiratet, das war alles. Lange nachdem das Bett schon nicht mehr quietschte, lag Joseph noch wach und dachte darüber nach, wie er den Köhler töten könnte. Nie würde er den Namen seines Stiefvaters annehmen. Er konnte etwas Besseres werden als Windom. Mit seinem Trotz zeigte er, daß er an ein besseres Leben für sich selbst glaubte. An ein Leben, wie es Andrew Archer führte, der Eisenhüttenbesitzer, zu dem Windom ihn vor zwei Jahren in die Lehre geschickt hatte.
Manchmal jedoch wurde Joseph mutlos, dann nämlich, wenn ihm seine Hoffnungen und sein Glaube an ein besseres Leben wie dumme Tagträume vorkamen. Er war doch keinen Dreck wert. Sein Körper war schmutzig, sein Verstand taugte nichts, und seine Kleider waren dauernd voller Kohlestaub. Obwohl er nicht verstand, welches Verbrechens sein Vater sich in Schottland schuldig gemacht hatte und wofür er gestorben war, konnte er es nicht ungeschehen machen; es haftete wie ein Makel an ihm. »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden ...« Kein Wunder war dies der Lieblingsvers seiner Mutter.
Sein Vater, ein hagerer, strenger Bauer, an den er sich nur schemenhaft erinnerte, war ein fanatischer Verfechter des Presbyterianismus in Schottland gewesen. Er war an den Spanischen Stiefeln und der Daumenschraube verblutet. Dies geschah während der »Zeit des Mordens«, wie Bess es nannte, nämlich während den ersten Monaten der Amtszeit des Duke of York, der später als Jakob II. den Thron bestieg. Nach einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche hatte er geschworen, den Presbyterianismus auszurotten und die Episkopalkirche im ganzen Land zu institutionalisieren. Kaum war Robert Moffat im Gefängnis eines blutigen Todes gestorben, eilten Freunde zu seinem Hof, um seiner Frau mitzuteilen, sie solle fliehen. Knapp eine Stunde, bevor der Herzog mit seinen Männern eintraf, hatte sie sich mit ihrem einzigen Sohn auf den Weg gemacht. Ihr ganzer Besitz wurde niedergebrannt. Nach Monaten der Wanderschaft gelangten Mutter und Sohn schließlich zu den Hügeln im südlichen Shropshire. Bess war müde und erschöpft, und so entschloß sie sich, dort zu bleiben.
Der Severn River schlängelte sich im Süden und im Westen durch das bewaldete Hochland, die Gegend machte einen einigermaßen sicheren und ländlichen Eindruck. Mit dem letzten Geld, das sie aus ihrer Heimat hatte retten können, mietete sie ein Häuschen. Sie arbeitete als Magd, und innerhalb von zwei Jahren begegnete sie schließlich Windom und heiratete ihn. Sie gab sogar vor, der offiziellen Kirche beigetreten zu sein, denn obwohl Robert Moffat ihr einen inbrünstigen Glauben eingeflößt hatte, hatte er ihr nicht den Mut eingeflößt, nach seinem Tod weiterhin den Behörden Widerstand zu leisten. Angesichts des Elends verwandelte sich ihr Glaube zusehends in Resignation. Ein halt- und wertloser Glaube, wie Joseph oft dachte. Das wollte er nicht für sich. Sein Vorbild war der willensstarke Archer, der oberhalb des Flusses am Hügel in einem herrschaftlichen Haus wohnte und der Besitzer der Eisenhütte war. Hatte nicht auch der alte Giles Joseph gesagt, daß er intelligent und willensstark genug sei, um einen ebensolchen Erfolg im Leben zu haben? Und in letzter Zeit hatte er es oft wiederholt. Meistens glaubte Joseph dem Alten. So lange zumindest, bis er wieder einmal den Kohlestaub unter seinen Fingernägeln sah und hörte, wie die andern Lehrlinge sich über ihn lustig machten: »Dreckiger Joe, schwarz wie ein Neger.« Dann sah er, wie verblendet seine Träume waren, und lachte so lange über seine Blödheit, bis die Scham seine blaßblauen Augen mit schier endlosen Tränen füllte.
Der alte Giles Hazard, ein Junggeselle, war einer der drei wichtigsten Männer in Archers Eisenhütte. Ihm war der mit Kohle angefeuerte Frischofen anvertraut, in welchem die vom Schmelzofen kommenden Roheisenbarren wieder eingeschmolzen wurden, damit überschüssiger Kohlenstoff und andere Elemente ausgeschieden wurden; das Gußeisen wäre sonst für die Herstellung von Hufeisen, Faßreifen und Pflugscharen zu spröde geworden. Giles Hazard hatte eine rauhe Stimme, seine Gesellen und Lehrlinge mußten wie Sklaven arbeiten. Sein ganzes Leben lang hatte er in unmittelbarer Nähe des Hochofens gewohnt und schon im Alter von neun Jahren dort zu arbeiten begonnen. Seine untersetzte, behäbige Gestalt strotzte nur so vor Energie. Man hätte ihn für eine ältere Ausgabe von Joseph halten können, und vielleicht behandelte er den Jungen deshalb wie einen Sohn. Aber Joseph lernte auch sehr schnell, und das gefiel Giles. Joseph war Giles im letzten Sommer aufgefallen, als er gerade sein zweites Lehrjahr begann. Der Hochofen-Meister hatte damit geprahlt, wie geschickt Joseph an der Sandrinne arbeitete, von wo aus das glänzende geschmolzene Eisen in weitere kleine Wannen floß. Da Giles in der Eisenhütte der Dienstälteste war, hatte er keinerlei Schwierigkeiten, den Jungen in die Frischerei versetzen zu lassen. Hier mußte Joseph nun mit der langen Eisenstange gleichzeitig in drei oder vier Wannen arbeiten, damit das Roheisen einheitlich geschmolzen werden konnte. Joseph erwies sich als sehr geschickt, und bald ertappte Giles sich dabei, wie er ihm ein Kompliment machte.
»Du bist geschickt und hast das für dieses Gewerbe nötige Verständnis. Zudem bist du umgänglich, außer wenn - wie ich festgestellt habe - die andern dich wegen dem Beruf deines Stiefvaters hänseln. Nimm dir ein Beispiel an Herrn Archer. Zugegeben, er ist ein Dickkopf, aber er weiß auch, daß es manchmal besser ist, nachzugeben. Er verkauft seine Erzeugnisse mit einem Lächeln und mit liebenswürdigen Worten und zwingt seinen Kunden nichts auf.«
Im stillen war der alte Mann davon überzeugt, daß Joseph gar nicht zuhörte. Josephs Leben und Charakter hatten bereits starre Formen angenommen. Ohne Zweifel hatten ihn Lebensumstände und ungebildete Eltern zu einem Leben im Abseits verurteilt. Und doch ermutigte Giles Joseph weiterhin. Vielleicht deshalb, weil er älter wurde und sah, daß es nicht klug von ihm gewesen war, sein Leben lang Junggeselle zu bleiben. Er zeigte Joseph nicht nur, wie man Eisen herstellt, sondern vermittelte ihm auch das dazugehörige Wissen. »Eisen regiert die Welt, mein Junge. Es bricht Erde auf und verbindet Kontinente - und auch Kriege werden damit gewonnen.« In Archers Öfen wurden Kanonenkugeln für Kriegsschiffe hergestellt. Giles wandte sein großflächiges Gesicht dem Mond zu und sagte: »Eisen kam von irgendwoher auf die Welt, von woher, weiß nur Gott. Schon in den frühesten Tagen der Menschheit kannte man Meteorsteine. «
»Was ist ein Meteor?« warf der Junge ein.
Giles lächelte. »Eine Sternschnuppe. Sicher hast du schon welche gesehen.« Der Junge nickte nachdenklich. Giles sprach von vielen Dingen, die nach und nach, je mehr Joseph vom Gewerbe erlernte, an Bedeutung gewannen. Giles erzählte die Geschichte der Eisenherstellung. Er sprach vom Stück- und vom Flüßofen, die es seit dem 10. Jahrhundert in Deutschland gab, von den hauts fourneaux, die im 15. Jahrhundert in Frankreich aufkamen, und von den Wallonen, die vor etwa sechzig Jahren in Belgien das Wiedereinschmelzungsverfahren der Schlacken entwickelt hatten. »Doch all das ist bloß ein Ticken der großen Eisenuhr. Vor 700 Jahren hat der heilige Dunstan Eisen bearbeitet. Man sagt, er habe in seinem Schlafzimmer in Glastonbury eine Schmiede gehabt. Die ägyptischen Pharaonen wurden mit eisernen Amuletten und eisernen Dolchklingen begraben, weil das Metall so wertvoll, edel und mächtig war. Ich habe über Dolche aus Babylonien und Mesopotamien gelesen, die es bereits Jahrtausende vor Christus gegeben haben soll.«
»Ich kann nicht gut lesen.«
»Dann sollte es dir jemand beibringen, oder du solltest es selber lernen«, brummte Giles. »Ein Mann kann vieles durch Lesen lernen, Joseph, nicht alles, aber vieles. Ich meine, ein Mann, der nicht unbedingt Köhler werden möchte.« Joseph verstand und nickte ohne eine Spur von Ärger. »Kannst du überhaupt lesen?« fragte Giles.
»Ja, doch.« Schweigend blickte Joseph Giles an. »Nur ein bißchen«, schränkte er ein. »Meine Mutter versuchte es mir mit der Bibel beizubringen. Ich mag die Heldengeschichten über Samson und David. Aber Windom wollte nicht, daß Mutter mir das Lesen beibrachte, und so hörte sie damit auf.« Giles überlegte. »Wenn du jeden Abend eine halbe Stunde länger bleibst, könnte ich es versuchen.« »Aber Windom ...« »Du mußt eben schwindeln«, unterbrach ihn Giles. »Wenn er fragt, warum du zu spät kommst, dann mußt du ihm eben eine Lüge auftischen. Das heißt, wenn du wirklich etwas werden willst. Wenn du nicht Köhler werden möchtest.«
»Glauben Sie, daß ich das kann, Meister Hazard?«
»Und du, glaubst du es?«
»Ja.«
»Dann wirst du's können. Dem Mutigen gehört die Welt.«
Dieses Gespräch hatte im Sommer stattgefunden. Im Herbst und Winter unterrichtete Giles den Jungen. Und sein Unterricht war gut, so gut, daß Joseph dies seiner Mutter mitteilen mußte. Eines Abends, als Windom irgendwo herumpolterte, zeigte er ihr ein Buch, das er heimlich nach Hause genommen hatte. Es war ein sehr umstrittenes Buch mit dem Titel »Metallum Martis«. Verfasser war der jüngst verstorbene Dud Dudley, ein unehelicher Sohn des fünften Lord Dudley. Dud Dudley nahm für sich in Anspruch, Eisen erfolgreich durch Mineralkohle - oder Steinkohle - eingeschmolzen zu haben, wie Joseph seiner Mutter, zwar mit etlicher Anstrengung, aber doch mit Erfolg, vorlas. Ihre Augen glühten vor Bewunderung, doch dann erlosch der Glanz. »Lernen ist etwas Herrliches, mein Junge, aber es kann zu Hochmut führen. Jesus sollte der Mittelpunkt deines Lebens sein.« Joseph hörte dies nur ungern, aber er sagte nichts. »Es gibt nur zwei Dinge, die im Leben wichtig sind«, fuhr seine Mutter fort, »die Liebe zu Gottes Sohn und die Nächstenliebe. Die Liebe, die ich für dich empfinde«, sagte sie abschließend und drückte ihn plötzlich an sich. Er hörte ihr Weinen und fühlte, wie sie zitterte. Seit der Zeit des Morden hatte sie resigniert und keine Hoffnungen mehr. Sie hoffte nur noch auf das Jenseits und glaubte nur noch an den Heiland und an ihren Sohn. Joseph hatte seine Zweifel. Er empfand Mitleid mit ihr, aber er mußte sein eigenes Leben leben. Bess erzählte Windom nichts von den Unterrichtsstunden. Sie konnte jedoch einen Anflug von Stolz nicht verbergen, was Windom zutiefst ärgerte. An einem Sommerabend, nicht lange, nachdem der Streit darüber stattgefunden hatte, ob Joseph den Namen seines Stiefvaters annehmen würde, kam Joseph nach Hause und fand seine Mutter blutend, grün und blau geschlagen, beinahe bewußtlos auf dem schmutzigen Boden. Windom war weggegangen. Sie wollte nicht sagen, was geschehen war, und flehte Joseph so lange an, bis er versprach, seine Drohungen nicht wahrzumachen. Doch der Haß auf seinen Stiefvater wuchs in ihm.
Als die Hügel von Shropshire mit dem Nahen des nächsten Herbstes rot und golden leuchteten, hatte Joseph so große Fortschritte gemacht, daß Giles einen weiteren kühnen Schritt wagte.
»Ich werde mich mit Herrn Archer unterhalten und ihn darum bitten, daß er dir eine Stunde pro Woche mit dem Hauslehrer, der im Herrenhaus wohnt, erlaubt. Sicher wird er es gestatten, daß der Lehrer dir ein bißchen Mathematik und vielleicht sogar etwas Latein beibringt.«
»Weshalb sollte er, ich bin doch niemand.«
Der alte Giles lachte und strich Joseph übers Haar, bis es ganz zerzaust aussah. »Er wird sich darüber freuen, zu einem so redlichen Gesellen zu kommen, und dies praktisch ohne Kosten. Das ist mal eins. Zum andern ist Herr Archer ein anständiger Mensch. Es gibt nur wenige auf dieser Welt.«
Joseph glaubte ihm nicht, bis Giles ihm mitteilte, daß Herr Archer seine Einwilligung gegeben hatte. Als er an jenem Abend nach Hause rannte, vergaß er in seiner Freude und Aufregung seine sonst übliche Vorsicht. Über dem Fluß und den Hügeln lag schwerer Nebel, und er fröstelte, als er die Hütte erreichte. Windom war da, rußig und halb betrunken. Joseph, der sich so darüber freute, daß jemand ihm wohlgesinnt war, reagierte nicht auf die warnenden Blicke seiner Mutter und sprudelte mit der Neuigkeit heraus. Windom war nicht beeindruckt. »Um Himmels willen, weshalb sollte der junge Narr einen Lehrer brauchen!« Er blickte den Jungen voller Spott an, und Joseph hatte das Gefühl, als ob ein Schwert ihn durchbohre. »Er ist unwissend. Genauso unwissend wie ich.« Bess nestelte an ihrer Schürze herum. Sie war verwirrt und wußte nicht, wie sie aus der Falle herauskommen sollte.
Mit raschen Schritten ging sie auf das Feuer zu und warf in ihrer Nervosität den Schürhaken um. Joseph blickte seinem Stiefvater fest in die Augen, als er sagte: »Nicht mehr. Der alte Giles hat mir Unterricht erteilt.«
»Worin?«
»Im Lesen. In Allgemeinbildung.«
Windom grinste und bohrte mit dem kleinen Finger in der Nase. Dann wischte er ihn an seinen Kniehosen ab und lachte. »Welche Verschwendung. Du brauchst doch keine Bücher, um im Frischwerk zu arbeiten.«
»Doch, wenn man so reich werden will wie Meister Archer.« »Oho, du glaubst also wirklich, daß du eines Tages reich sein wirst.« Joseph preßte die Lippen aufeinander. »Verdammt soll ich sein, wenn ich so arm und dumm bleibe wie du.«
Windom brüllte und stürzte sich auf den Jungen. Bess, die nervös im Schmortopf, der an einer Kette über dem Herd hing, herumgerührt hatte, rannte mit offenen Armen auf ihren Mann los.
»Er hat es nicht so gemeint, Thad. Sei barmherzig, so wie Jesus es uns gelehrt h ...«
»Blöde, fromme Hure. Ich tue mit ihm, was ich will«, schrie Windom und schlug sie an die Schläfe. Sie stolperte, prallte mit der Schulter hart auf dem Kaminsims auf und stieß einen Schrei aus. Der Schmerz war stärker als ihre Gottergebenheit. Sie erspähte den Schürhaken, riß ihn hastig an sich und hielt ihn abwehrend hoch. Es sah pathetisch aus, doch Windom empfand es als Bedrohung und fiel über sie her. Voller Angst und Wut fing Joseph an, mit seinem Stiefvater zu ringen, aber Windom schüttelte ihn ab. Voller Entsetzen tastete Bess nach dem verlorenen Schürhaken, war aber nicht in der Lage, ihn fest in den Griff zu bekommen. Windom konnte ihn ihr leicht entreißen und streckte sie mit zwei Schlägen an die Schläfe zu Boden. Ein feiner Blutfaden rann über Bess' Wangen.
Joseph starrte sie einen Augenblick lang an, dann stürzte er sich in einer unbändigen Wut auf den Schürhaken. Windom warf ihn gegen die Wand. Joseph rannte zum Herd, ergriff die Kette, an der der Topf hing, und goß den heißen Inhalt des Topfes über Windom. Windom schrie und preßte die Hände auf seine verbrühten Augen. Joseph hatte Brandwunden an den Händen, aber er spürte sie kaum. Er hob den leeren Topf und ließ ihn auf Windoms Kopf niedersausen. Als Windom wimmernd zu Boden fiel, wickelte Joseph die Kette um den Hals seines Stiefvaters und zog so lange daran, bis sie sich ins Fleisch eingefressen hatte. Windom bewegte sich nicht mehr.
Joseph rannte in den Nebel hinaus und erbrach sich. Seine Handflächen brannten, und es wurde ihm bewußt, was er getan hatte. Er wollte sich gehenlassen und heulen, er wollte wegrennen, aber er tat keines von beidem. Er zwang sich, in die Hütte zurückzugehen. Als er drinnen war, sah er, wie sich seine Mutter schwach bewegte. Sie war also nicht tot! Nach vielen Versuchen gelang es ihm schließlich, sie auf die Füße zu stellen. Sie murmelte zusammenhangloses Zeug und lachte dazwischen. Er hüllte sie in einen Schal und geleitete sie langsam durch den Nebel bis zur Wohnung von Giles Hazard, der etwa zwei Meilen weit weg wohnte. Sie strauchelte mehrmals auf dem Weg, aber auf sein Drängen hin ging sie weiter. Verdrossen öffnete Giles die Tür. Durch den Kerzenschimmer konnte man sein Gesicht sehen. Wenige Augenblicke später half er Bess in sein noch warmes, niedriges Bett. Nachdem er sie untersucht hatte, strich er sich nachdenklich übers Kinn.
»Ich werde den Arzt rufen«, sagte Joseph. »Wo finde ich ihn?« Der alte Giles konnte seine Besorgnis nicht verbergen. »Ein Arzt wird hier nicht mehr viel machen können.«
Joseph war wie betäubt, und endlich kamen die Tränen. »Das darf nicht wahr sein.«
»Sieh sie dir an. Sie atmet kaum noch. Und was den hiesigen Barbier anbelangt, er ist ein Analphabet. Er kann nichts für sie tun und wird bloß Fragen stellen.« Dieser Satz war bereits eine versteckte Frage, denn Joseph hatte Giles nur berichtet, daß Windom seine Mutter geschlagen hatte.
»Jetzt hilft nur warten«, sagte Giles schließlich und rieb sich die Augen.
»Und zu Gott beten«, sagte Joseph verzweifelt.
Giles setzte einen Topf auf den Herd. Joseph sank neben dem Bett auf die Knie, faltete die Hände und betete voller Inbrunst. Es gab keine Anzeichen dafür, daß sein Gebet erhört worden war. Im Gegenteil, Bess atmete leiser und schwächer. Als sich der Nebel über dem Fluß lichtete, berührte Giles behutsam Josephs Schulter, damit er aufwache. »Setz dich ans Feuer«, sagte er und zog eine Bettdecke über das zerschundene und friedliche Gesicht von Bess. »Es ist vorbei. Sie ist unterwegs zu ihrem Jesus, und wir können nichts mehr tun. Aber wie steht es mit dir? Was mit dir geschieht, hängt davon ab, ob man dich erwischt.« Giles atmete tief. »Dein Stiefvater ist tot, nicht wahr?« Der Junge nickte. »Das dachte ich mir. Sonst wärst du nicht hierhergekommen. Er hätte sie gepflegt.«
Josephs ganzer Schmerz verschaffte sich mit einem Schrei Luft: »Ich bin froh, daß ich ihn getötet habe.«
»Das glaube ich dir. Aber damit bist zu zum Mörder geworden. Herr Archer wird keinen Mörder einstellen, und ich kann es ihm nicht verübeln. Aber ...« Seine Stimme wurde weicher, die aufgesetzte Strenge verflog. »Ich will nicht, daß man dich hängt oder vierteilt. Was können wir tun?« Er fing an, auf und ab zu schreiten. »Sie werden nach Joseph Moffat suchen, oder nicht? Nun gut, dann wirst du eben nicht mehr so heißen.«
Nach dieser Entscheidung verfertigte Giles ein Schreiben, das besagte, daß der Inhaber, Joseph Hazard, sein Neffe, in Familiengeschäften auf Reisen sei. Nach kurzem Zögern unterschrieb er mit seinem Namen, fügte noch die Worte Onkel und Vormund hinzu sowie einige Schnörkel; letztere verliehen dem Ganzen ein echt urkundliches Aussehen.
Giles versprach Joseph ein christliches Begräbnis für Bess und bestand darauf, daß der Junge nicht helfen und nicht bleiben konnte. Nachdem er ihm zwei Schilling, ein in ein Halstuch gebundenes Brot und den Rat, keine Hauptstraße zu benützen, gegeben hatte, verabschiedete er sich mit einer väterlichen Umarmung und entließ den verwirrten Joseph in die nebelgrauen Hügel.
...
Übersetzung: Odette A. Brändli
Copyright © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Es ist nun wirklich an der Zeit, daß der Junge meinen Namen annimmt«, sagte Windom nach dem Abendbrot. Die Sache verdroß ihn. Jedesmal, wenn er zuviel getrunken hatte, kam er darauf zu sprechen. Die Mutter des Jungen saß neben dem kleinen Feuer und schloß die Bibel, die sie auf den Knien hielt. Bess Windom hatte sich selbst, wie jeden Abend, etwas vorgelesen. Der Junge konnte an ihren Lippenbewegungen erkennen, daß sie nur langsam vorwärtskam. Sie war gerade bei ihrem Lieblingsvers im 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums angelangt: »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich«, als Windom mit seiner Bemerkung herausplatzte.
Der Junge, Joseph Moffat, saß mit dem Rücken zur Kaminecke und schnitzte ein kleines Boot. Er war zwölf, von untersetztem Körperbau wie seine Mutter, mit breiten Schultern, hellbraunem Haar und blaßblauen Augen, die manchmal farblos schienen.
Windom warf seinem Stiefsohn einen finsteren Blick zu. Frühlingsregen prasselte auf das Strohdach. Windoms Augen waren von Kohle-staub verschmiert, die abgebrochenen Fingernägel wiesen einen Trauerrand auf. Windom war eine verkrachte Existenz, vierzig Jahre alt. Wenn er nicht gerade betrunken war, hackte er Holz und ließ es während zwei Wochen in zwanzig Fuß hohen Stapeln verschwelen. Er stellte Holzkohle für die kleinen Hochöfen am Fluß her, eine schmutzige, erniedrigende Arbeit. Bezeichnenderweise warnten die Mütter die umherstreunenden Nachbarskinder vor dem Schwarzen Mann.
Joseph sagte nichts und starrte vor sich hin. Windom entging jedoch nicht, daß der Junge nervös mit dem Zeigefinger auf den Messergriff trommelte. Der Junge war temperamentvoll, und manchmal fürchtete sich Windom vor ihm. Aber jetzt nicht. Das hartnäckige Schweigen des Jungen, sein herausfordernder Trotz, brachten den Stiefvater in Harnisch.
Schließlich sagte Joseph: »Mein eigener Name gefällt mir« und widmete sich wieder seinem halbfertig geschnitzten Boot.
»Du unverschämter Kerl«, stieß Windom mit barscher Stimme hervor und stürzte sich auf den Jungen. Sein Stuhl kippte um. Bess warf sich dazwischen. »Laß ihn, Thad, kein wahrer Jünger unseres Herrn würde einem Kind etwas zuleide tun.«
»Fragt sich, wer wem etwas antun will. Sieh ihn dir an!« Joseph stand mit dem Rücken zum Kamin. Er keuchte. Mit starrem Blick hielt er das Messer auf Hüfthöhe, bereit zuzustechen. Langsam öffnete Windom seine geballte Faust, trat linkisch ein paar Schritte zurück und rückte seinen Stuhl zurecht. Wie immer war es Bess, die litt, wenn die Angst und der Groll des Jungen sich gegen ihn richteten. Joseph nahm seine Stellung beim Kamin wieder ein und fragte sich, wie lange er das noch aushalten konnte.
»Ich will nichts mehr von deinem heiligen Herrn hören«, sagte Windom zu seiner Frau. »Du sagst immer, daß er den armen Mann erhöhen werde. Dein erster Mann war ein Idiot, daß er für einen solchen Mist gestorben ist. Wenn dein lieber Jesus sich mal seine Hände an meinen Kohlen schmutzig macht, werde ich an ihn glauben, vorher nicht.« Er langte nach der grünen Ginflasche.
Später in der Nacht, als Joseph regungslos auf seinem Strohsack in der Ecke lag, hörte er, wie Windom seine Mutter hinter dem zerschlissenen Bettvorhang mit Worten und Fäusten mißhandelte. Bess schluchzte, und der Junge preßte die Zähne zusammen. Dann hörte er Bess stöhnen. Der Streit war wieder mal in der typischen Weise beigelegt worden, dachte er zynisch. Er konnte es seiner Mutter nicht verübeln, daß sie ein bißchen Geborgenheit und Liebe suchte. Sie hatte den falschen Mann geheiratet, das war alles. Lange nachdem das Bett schon nicht mehr quietschte, lag Joseph noch wach und dachte darüber nach, wie er den Köhler töten könnte. Nie würde er den Namen seines Stiefvaters annehmen. Er konnte etwas Besseres werden als Windom. Mit seinem Trotz zeigte er, daß er an ein besseres Leben für sich selbst glaubte. An ein Leben, wie es Andrew Archer führte, der Eisenhüttenbesitzer, zu dem Windom ihn vor zwei Jahren in die Lehre geschickt hatte.
Manchmal jedoch wurde Joseph mutlos, dann nämlich, wenn ihm seine Hoffnungen und sein Glaube an ein besseres Leben wie dumme Tagträume vorkamen. Er war doch keinen Dreck wert. Sein Körper war schmutzig, sein Verstand taugte nichts, und seine Kleider waren dauernd voller Kohlestaub. Obwohl er nicht verstand, welches Verbrechens sein Vater sich in Schottland schuldig gemacht hatte und wofür er gestorben war, konnte er es nicht ungeschehen machen; es haftete wie ein Makel an ihm. »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden ...« Kein Wunder war dies der Lieblingsvers seiner Mutter.
Sein Vater, ein hagerer, strenger Bauer, an den er sich nur schemenhaft erinnerte, war ein fanatischer Verfechter des Presbyterianismus in Schottland gewesen. Er war an den Spanischen Stiefeln und der Daumenschraube verblutet. Dies geschah während der »Zeit des Mordens«, wie Bess es nannte, nämlich während den ersten Monaten der Amtszeit des Duke of York, der später als Jakob II. den Thron bestieg. Nach einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche hatte er geschworen, den Presbyterianismus auszurotten und die Episkopalkirche im ganzen Land zu institutionalisieren. Kaum war Robert Moffat im Gefängnis eines blutigen Todes gestorben, eilten Freunde zu seinem Hof, um seiner Frau mitzuteilen, sie solle fliehen. Knapp eine Stunde, bevor der Herzog mit seinen Männern eintraf, hatte sie sich mit ihrem einzigen Sohn auf den Weg gemacht. Ihr ganzer Besitz wurde niedergebrannt. Nach Monaten der Wanderschaft gelangten Mutter und Sohn schließlich zu den Hügeln im südlichen Shropshire. Bess war müde und erschöpft, und so entschloß sie sich, dort zu bleiben.
Der Severn River schlängelte sich im Süden und im Westen durch das bewaldete Hochland, die Gegend machte einen einigermaßen sicheren und ländlichen Eindruck. Mit dem letzten Geld, das sie aus ihrer Heimat hatte retten können, mietete sie ein Häuschen. Sie arbeitete als Magd, und innerhalb von zwei Jahren begegnete sie schließlich Windom und heiratete ihn. Sie gab sogar vor, der offiziellen Kirche beigetreten zu sein, denn obwohl Robert Moffat ihr einen inbrünstigen Glauben eingeflößt hatte, hatte er ihr nicht den Mut eingeflößt, nach seinem Tod weiterhin den Behörden Widerstand zu leisten. Angesichts des Elends verwandelte sich ihr Glaube zusehends in Resignation. Ein halt- und wertloser Glaube, wie Joseph oft dachte. Das wollte er nicht für sich. Sein Vorbild war der willensstarke Archer, der oberhalb des Flusses am Hügel in einem herrschaftlichen Haus wohnte und der Besitzer der Eisenhütte war. Hatte nicht auch der alte Giles Joseph gesagt, daß er intelligent und willensstark genug sei, um einen ebensolchen Erfolg im Leben zu haben? Und in letzter Zeit hatte er es oft wiederholt. Meistens glaubte Joseph dem Alten. So lange zumindest, bis er wieder einmal den Kohlestaub unter seinen Fingernägeln sah und hörte, wie die andern Lehrlinge sich über ihn lustig machten: »Dreckiger Joe, schwarz wie ein Neger.« Dann sah er, wie verblendet seine Träume waren, und lachte so lange über seine Blödheit, bis die Scham seine blaßblauen Augen mit schier endlosen Tränen füllte.
Der alte Giles Hazard, ein Junggeselle, war einer der drei wichtigsten Männer in Archers Eisenhütte. Ihm war der mit Kohle angefeuerte Frischofen anvertraut, in welchem die vom Schmelzofen kommenden Roheisenbarren wieder eingeschmolzen wurden, damit überschüssiger Kohlenstoff und andere Elemente ausgeschieden wurden; das Gußeisen wäre sonst für die Herstellung von Hufeisen, Faßreifen und Pflugscharen zu spröde geworden. Giles Hazard hatte eine rauhe Stimme, seine Gesellen und Lehrlinge mußten wie Sklaven arbeiten. Sein ganzes Leben lang hatte er in unmittelbarer Nähe des Hochofens gewohnt und schon im Alter von neun Jahren dort zu arbeiten begonnen. Seine untersetzte, behäbige Gestalt strotzte nur so vor Energie. Man hätte ihn für eine ältere Ausgabe von Joseph halten können, und vielleicht behandelte er den Jungen deshalb wie einen Sohn. Aber Joseph lernte auch sehr schnell, und das gefiel Giles. Joseph war Giles im letzten Sommer aufgefallen, als er gerade sein zweites Lehrjahr begann. Der Hochofen-Meister hatte damit geprahlt, wie geschickt Joseph an der Sandrinne arbeitete, von wo aus das glänzende geschmolzene Eisen in weitere kleine Wannen floß. Da Giles in der Eisenhütte der Dienstälteste war, hatte er keinerlei Schwierigkeiten, den Jungen in die Frischerei versetzen zu lassen. Hier mußte Joseph nun mit der langen Eisenstange gleichzeitig in drei oder vier Wannen arbeiten, damit das Roheisen einheitlich geschmolzen werden konnte. Joseph erwies sich als sehr geschickt, und bald ertappte Giles sich dabei, wie er ihm ein Kompliment machte.
»Du bist geschickt und hast das für dieses Gewerbe nötige Verständnis. Zudem bist du umgänglich, außer wenn - wie ich festgestellt habe - die andern dich wegen dem Beruf deines Stiefvaters hänseln. Nimm dir ein Beispiel an Herrn Archer. Zugegeben, er ist ein Dickkopf, aber er weiß auch, daß es manchmal besser ist, nachzugeben. Er verkauft seine Erzeugnisse mit einem Lächeln und mit liebenswürdigen Worten und zwingt seinen Kunden nichts auf.«
Im stillen war der alte Mann davon überzeugt, daß Joseph gar nicht zuhörte. Josephs Leben und Charakter hatten bereits starre Formen angenommen. Ohne Zweifel hatten ihn Lebensumstände und ungebildete Eltern zu einem Leben im Abseits verurteilt. Und doch ermutigte Giles Joseph weiterhin. Vielleicht deshalb, weil er älter wurde und sah, daß es nicht klug von ihm gewesen war, sein Leben lang Junggeselle zu bleiben. Er zeigte Joseph nicht nur, wie man Eisen herstellt, sondern vermittelte ihm auch das dazugehörige Wissen. »Eisen regiert die Welt, mein Junge. Es bricht Erde auf und verbindet Kontinente - und auch Kriege werden damit gewonnen.« In Archers Öfen wurden Kanonenkugeln für Kriegsschiffe hergestellt. Giles wandte sein großflächiges Gesicht dem Mond zu und sagte: »Eisen kam von irgendwoher auf die Welt, von woher, weiß nur Gott. Schon in den frühesten Tagen der Menschheit kannte man Meteorsteine. «
»Was ist ein Meteor?« warf der Junge ein.
Giles lächelte. »Eine Sternschnuppe. Sicher hast du schon welche gesehen.« Der Junge nickte nachdenklich. Giles sprach von vielen Dingen, die nach und nach, je mehr Joseph vom Gewerbe erlernte, an Bedeutung gewannen. Giles erzählte die Geschichte der Eisenherstellung. Er sprach vom Stück- und vom Flüßofen, die es seit dem 10. Jahrhundert in Deutschland gab, von den hauts fourneaux, die im 15. Jahrhundert in Frankreich aufkamen, und von den Wallonen, die vor etwa sechzig Jahren in Belgien das Wiedereinschmelzungsverfahren der Schlacken entwickelt hatten. »Doch all das ist bloß ein Ticken der großen Eisenuhr. Vor 700 Jahren hat der heilige Dunstan Eisen bearbeitet. Man sagt, er habe in seinem Schlafzimmer in Glastonbury eine Schmiede gehabt. Die ägyptischen Pharaonen wurden mit eisernen Amuletten und eisernen Dolchklingen begraben, weil das Metall so wertvoll, edel und mächtig war. Ich habe über Dolche aus Babylonien und Mesopotamien gelesen, die es bereits Jahrtausende vor Christus gegeben haben soll.«
»Ich kann nicht gut lesen.«
»Dann sollte es dir jemand beibringen, oder du solltest es selber lernen«, brummte Giles. »Ein Mann kann vieles durch Lesen lernen, Joseph, nicht alles, aber vieles. Ich meine, ein Mann, der nicht unbedingt Köhler werden möchte.« Joseph verstand und nickte ohne eine Spur von Ärger. »Kannst du überhaupt lesen?« fragte Giles.
»Ja, doch.« Schweigend blickte Joseph Giles an. »Nur ein bißchen«, schränkte er ein. »Meine Mutter versuchte es mir mit der Bibel beizubringen. Ich mag die Heldengeschichten über Samson und David. Aber Windom wollte nicht, daß Mutter mir das Lesen beibrachte, und so hörte sie damit auf.« Giles überlegte. »Wenn du jeden Abend eine halbe Stunde länger bleibst, könnte ich es versuchen.« »Aber Windom ...« »Du mußt eben schwindeln«, unterbrach ihn Giles. »Wenn er fragt, warum du zu spät kommst, dann mußt du ihm eben eine Lüge auftischen. Das heißt, wenn du wirklich etwas werden willst. Wenn du nicht Köhler werden möchtest.«
»Glauben Sie, daß ich das kann, Meister Hazard?«
»Und du, glaubst du es?«
»Ja.«
»Dann wirst du's können. Dem Mutigen gehört die Welt.«
Dieses Gespräch hatte im Sommer stattgefunden. Im Herbst und Winter unterrichtete Giles den Jungen. Und sein Unterricht war gut, so gut, daß Joseph dies seiner Mutter mitteilen mußte. Eines Abends, als Windom irgendwo herumpolterte, zeigte er ihr ein Buch, das er heimlich nach Hause genommen hatte. Es war ein sehr umstrittenes Buch mit dem Titel »Metallum Martis«. Verfasser war der jüngst verstorbene Dud Dudley, ein unehelicher Sohn des fünften Lord Dudley. Dud Dudley nahm für sich in Anspruch, Eisen erfolgreich durch Mineralkohle - oder Steinkohle - eingeschmolzen zu haben, wie Joseph seiner Mutter, zwar mit etlicher Anstrengung, aber doch mit Erfolg, vorlas. Ihre Augen glühten vor Bewunderung, doch dann erlosch der Glanz. »Lernen ist etwas Herrliches, mein Junge, aber es kann zu Hochmut führen. Jesus sollte der Mittelpunkt deines Lebens sein.« Joseph hörte dies nur ungern, aber er sagte nichts. »Es gibt nur zwei Dinge, die im Leben wichtig sind«, fuhr seine Mutter fort, »die Liebe zu Gottes Sohn und die Nächstenliebe. Die Liebe, die ich für dich empfinde«, sagte sie abschließend und drückte ihn plötzlich an sich. Er hörte ihr Weinen und fühlte, wie sie zitterte. Seit der Zeit des Morden hatte sie resigniert und keine Hoffnungen mehr. Sie hoffte nur noch auf das Jenseits und glaubte nur noch an den Heiland und an ihren Sohn. Joseph hatte seine Zweifel. Er empfand Mitleid mit ihr, aber er mußte sein eigenes Leben leben. Bess erzählte Windom nichts von den Unterrichtsstunden. Sie konnte jedoch einen Anflug von Stolz nicht verbergen, was Windom zutiefst ärgerte. An einem Sommerabend, nicht lange, nachdem der Streit darüber stattgefunden hatte, ob Joseph den Namen seines Stiefvaters annehmen würde, kam Joseph nach Hause und fand seine Mutter blutend, grün und blau geschlagen, beinahe bewußtlos auf dem schmutzigen Boden. Windom war weggegangen. Sie wollte nicht sagen, was geschehen war, und flehte Joseph so lange an, bis er versprach, seine Drohungen nicht wahrzumachen. Doch der Haß auf seinen Stiefvater wuchs in ihm.
Als die Hügel von Shropshire mit dem Nahen des nächsten Herbstes rot und golden leuchteten, hatte Joseph so große Fortschritte gemacht, daß Giles einen weiteren kühnen Schritt wagte.
»Ich werde mich mit Herrn Archer unterhalten und ihn darum bitten, daß er dir eine Stunde pro Woche mit dem Hauslehrer, der im Herrenhaus wohnt, erlaubt. Sicher wird er es gestatten, daß der Lehrer dir ein bißchen Mathematik und vielleicht sogar etwas Latein beibringt.«
»Weshalb sollte er, ich bin doch niemand.«
Der alte Giles lachte und strich Joseph übers Haar, bis es ganz zerzaust aussah. »Er wird sich darüber freuen, zu einem so redlichen Gesellen zu kommen, und dies praktisch ohne Kosten. Das ist mal eins. Zum andern ist Herr Archer ein anständiger Mensch. Es gibt nur wenige auf dieser Welt.«
Joseph glaubte ihm nicht, bis Giles ihm mitteilte, daß Herr Archer seine Einwilligung gegeben hatte. Als er an jenem Abend nach Hause rannte, vergaß er in seiner Freude und Aufregung seine sonst übliche Vorsicht. Über dem Fluß und den Hügeln lag schwerer Nebel, und er fröstelte, als er die Hütte erreichte. Windom war da, rußig und halb betrunken. Joseph, der sich so darüber freute, daß jemand ihm wohlgesinnt war, reagierte nicht auf die warnenden Blicke seiner Mutter und sprudelte mit der Neuigkeit heraus. Windom war nicht beeindruckt. »Um Himmels willen, weshalb sollte der junge Narr einen Lehrer brauchen!« Er blickte den Jungen voller Spott an, und Joseph hatte das Gefühl, als ob ein Schwert ihn durchbohre. »Er ist unwissend. Genauso unwissend wie ich.« Bess nestelte an ihrer Schürze herum. Sie war verwirrt und wußte nicht, wie sie aus der Falle herauskommen sollte.
Mit raschen Schritten ging sie auf das Feuer zu und warf in ihrer Nervosität den Schürhaken um. Joseph blickte seinem Stiefvater fest in die Augen, als er sagte: »Nicht mehr. Der alte Giles hat mir Unterricht erteilt.«
»Worin?«
»Im Lesen. In Allgemeinbildung.«
Windom grinste und bohrte mit dem kleinen Finger in der Nase. Dann wischte er ihn an seinen Kniehosen ab und lachte. »Welche Verschwendung. Du brauchst doch keine Bücher, um im Frischwerk zu arbeiten.«
»Doch, wenn man so reich werden will wie Meister Archer.« »Oho, du glaubst also wirklich, daß du eines Tages reich sein wirst.« Joseph preßte die Lippen aufeinander. »Verdammt soll ich sein, wenn ich so arm und dumm bleibe wie du.«
Windom brüllte und stürzte sich auf den Jungen. Bess, die nervös im Schmortopf, der an einer Kette über dem Herd hing, herumgerührt hatte, rannte mit offenen Armen auf ihren Mann los.
»Er hat es nicht so gemeint, Thad. Sei barmherzig, so wie Jesus es uns gelehrt h ...«
»Blöde, fromme Hure. Ich tue mit ihm, was ich will«, schrie Windom und schlug sie an die Schläfe. Sie stolperte, prallte mit der Schulter hart auf dem Kaminsims auf und stieß einen Schrei aus. Der Schmerz war stärker als ihre Gottergebenheit. Sie erspähte den Schürhaken, riß ihn hastig an sich und hielt ihn abwehrend hoch. Es sah pathetisch aus, doch Windom empfand es als Bedrohung und fiel über sie her. Voller Angst und Wut fing Joseph an, mit seinem Stiefvater zu ringen, aber Windom schüttelte ihn ab. Voller Entsetzen tastete Bess nach dem verlorenen Schürhaken, war aber nicht in der Lage, ihn fest in den Griff zu bekommen. Windom konnte ihn ihr leicht entreißen und streckte sie mit zwei Schlägen an die Schläfe zu Boden. Ein feiner Blutfaden rann über Bess' Wangen.
Joseph starrte sie einen Augenblick lang an, dann stürzte er sich in einer unbändigen Wut auf den Schürhaken. Windom warf ihn gegen die Wand. Joseph rannte zum Herd, ergriff die Kette, an der der Topf hing, und goß den heißen Inhalt des Topfes über Windom. Windom schrie und preßte die Hände auf seine verbrühten Augen. Joseph hatte Brandwunden an den Händen, aber er spürte sie kaum. Er hob den leeren Topf und ließ ihn auf Windoms Kopf niedersausen. Als Windom wimmernd zu Boden fiel, wickelte Joseph die Kette um den Hals seines Stiefvaters und zog so lange daran, bis sie sich ins Fleisch eingefressen hatte. Windom bewegte sich nicht mehr.
Joseph rannte in den Nebel hinaus und erbrach sich. Seine Handflächen brannten, und es wurde ihm bewußt, was er getan hatte. Er wollte sich gehenlassen und heulen, er wollte wegrennen, aber er tat keines von beidem. Er zwang sich, in die Hütte zurückzugehen. Als er drinnen war, sah er, wie sich seine Mutter schwach bewegte. Sie war also nicht tot! Nach vielen Versuchen gelang es ihm schließlich, sie auf die Füße zu stellen. Sie murmelte zusammenhangloses Zeug und lachte dazwischen. Er hüllte sie in einen Schal und geleitete sie langsam durch den Nebel bis zur Wohnung von Giles Hazard, der etwa zwei Meilen weit weg wohnte. Sie strauchelte mehrmals auf dem Weg, aber auf sein Drängen hin ging sie weiter. Verdrossen öffnete Giles die Tür. Durch den Kerzenschimmer konnte man sein Gesicht sehen. Wenige Augenblicke später half er Bess in sein noch warmes, niedriges Bett. Nachdem er sie untersucht hatte, strich er sich nachdenklich übers Kinn.
»Ich werde den Arzt rufen«, sagte Joseph. »Wo finde ich ihn?« Der alte Giles konnte seine Besorgnis nicht verbergen. »Ein Arzt wird hier nicht mehr viel machen können.«
Joseph war wie betäubt, und endlich kamen die Tränen. »Das darf nicht wahr sein.«
»Sieh sie dir an. Sie atmet kaum noch. Und was den hiesigen Barbier anbelangt, er ist ein Analphabet. Er kann nichts für sie tun und wird bloß Fragen stellen.« Dieser Satz war bereits eine versteckte Frage, denn Joseph hatte Giles nur berichtet, daß Windom seine Mutter geschlagen hatte.
»Jetzt hilft nur warten«, sagte Giles schließlich und rieb sich die Augen.
»Und zu Gott beten«, sagte Joseph verzweifelt.
Giles setzte einen Topf auf den Herd. Joseph sank neben dem Bett auf die Knie, faltete die Hände und betete voller Inbrunst. Es gab keine Anzeichen dafür, daß sein Gebet erhört worden war. Im Gegenteil, Bess atmete leiser und schwächer. Als sich der Nebel über dem Fluß lichtete, berührte Giles behutsam Josephs Schulter, damit er aufwache. »Setz dich ans Feuer«, sagte er und zog eine Bettdecke über das zerschundene und friedliche Gesicht von Bess. »Es ist vorbei. Sie ist unterwegs zu ihrem Jesus, und wir können nichts mehr tun. Aber wie steht es mit dir? Was mit dir geschieht, hängt davon ab, ob man dich erwischt.« Giles atmete tief. »Dein Stiefvater ist tot, nicht wahr?« Der Junge nickte. »Das dachte ich mir. Sonst wärst du nicht hierhergekommen. Er hätte sie gepflegt.«
Josephs ganzer Schmerz verschaffte sich mit einem Schrei Luft: »Ich bin froh, daß ich ihn getötet habe.«
»Das glaube ich dir. Aber damit bist zu zum Mörder geworden. Herr Archer wird keinen Mörder einstellen, und ich kann es ihm nicht verübeln. Aber ...« Seine Stimme wurde weicher, die aufgesetzte Strenge verflog. »Ich will nicht, daß man dich hängt oder vierteilt. Was können wir tun?« Er fing an, auf und ab zu schreiten. »Sie werden nach Joseph Moffat suchen, oder nicht? Nun gut, dann wirst du eben nicht mehr so heißen.«
Nach dieser Entscheidung verfertigte Giles ein Schreiben, das besagte, daß der Inhaber, Joseph Hazard, sein Neffe, in Familiengeschäften auf Reisen sei. Nach kurzem Zögern unterschrieb er mit seinem Namen, fügte noch die Worte Onkel und Vormund hinzu sowie einige Schnörkel; letztere verliehen dem Ganzen ein echt urkundliches Aussehen.
Giles versprach Joseph ein christliches Begräbnis für Bess und bestand darauf, daß der Junge nicht helfen und nicht bleiben konnte. Nachdem er ihm zwei Schilling, ein in ein Halstuch gebundenes Brot und den Rat, keine Hauptstraße zu benützen, gegeben hatte, verabschiedete er sich mit einer väterlichen Umarmung und entließ den verwirrten Joseph in die nebelgrauen Hügel.
...
Übersetzung: Odette A. Brändli
Copyright © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von John Jakes
John Jakes, den die »Los Angeles Times« als »das Vorbild für Autoren historischer Romane« bezeichnet, wurde 1932 in Chicago geboren und lebt heute in South Carolina und Florida. Nach dem Studium der amerikanischen Literatur und langjähriger Tätigkeit in PublicRelations-Agenturen begann er eine Karriere als Schriftsteller. Weltberühmtheit erlangte er mit seiner großen Trilogie über den Amerikanischen Bürgerkrieg, verfilmt als »Fackeln im Sturm«.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Jakes
- 2012, 1, 2656 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651332
- ISBN-13: 9783863651336
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