Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Roman
Gehen Sie auf eine Reise der ganz besonderen Art und Sie werden verändert zurückkehren.
Harold Fry hatte eigentlich nur vor, einen Brief einzuwerfen. Einen Brief an seine alte Kollegin Queenie, die bald sterben wird. Doch...
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Produktinformationen zu „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry “
Gehen Sie auf eine Reise der ganz besonderen Art und Sie werden verändert zurückkehren.
Harold Fry hatte eigentlich nur vor, einen Brief einzuwerfen. Einen Brief an seine alte Kollegin Queenie, die bald sterben wird. Doch Harold entscheidet sich anders. Er läuft am Postkasten vorbei. Überzeugt davon, dass Queenie erst dann stirbt, wenn er den Brief abschickt. Und so läuft er weiter und weiter. Aus der Stadt hinaus und weiter. 87 Tage lang, 1.000 Kilometer weit. Bis zu Queenies Hospiz. Eine Reise, die er jeden Tag neu beginnt. Für sich selbst, für seine Frau, für Queenie. Und für uns alle.
Ein besonderer und tief berührender Roman. Ein Roman, der die Herzen erobert.
Liebe Leserinnen und Leser,
ich kann nicht oft genug sagen, wie berührend es ist, dass sich immer mehr Menschen auf der ganzen Welt Harolds (und meiner) Reise anschließen. Ich hoffe sehr, dass auch für Sie Harolds Reise eine ganz besondere sein wird.
Herzliche Grüße
Rachel Joyce
Klappentext zu „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry “
Eigentlich wollte er nur zum Briefkasten. Dann geht er 1000 Kilometer zu Fuß.Ein unvergesslicher Roman, der die ganze Welt erobert."Ich bin auf dem Weg. Du musst nur durchhalten. Ich werde Dich retten, Du wirst schon sehen. Ich werde laufen, und Du wirst leben."
Harold Fry will nur kurz einen Brief einwerfen an seine frühere Kollegin Queenie Hennessy, die im Sterben liegt. Doch dann läuft er am Briefkasten vorbei und auch am Postamt, aus der Stadt hinaus und immer weiter, 87 Tage, 1000 Kilometer. Zu Fuß von Südengland bis an die schottische Grenze zu Queenies Hospiz. Eine Reise, die er jeden Tag neu beginnen muss. Für Queenie. Für seine Frau Maureen. Für seinen Sohn David. Für sich selbst. Und für uns alle.
Ein ganz außergewöhnlicher und tief berührender Roman - über Geheimnisse, besondere Momente und zufällige Begegnungen, die uns von Grund auf verändern. Über Tapferkeit und Betrug, Liebe und Loyalität und ein ganz unscheinbares Paar Segelschuhe.
Auf der Longlist des Booker-Preises 2012.
Lese-Probe zu „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry “
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry von Rachel Joyce1
Harold und der Brief
Der Brief, der alles verändern sollte, kam an einem Dienstag. An einem ganz gewöhnlichen Vormittag Mitte April, der nach frisch gewaschener Wäsche und Grasschnitt roch. Harold saß glattrasiert und im sauberen Hemd mit Krawatte am Frühstückstisch vor einer Scheibe Toast, die er nicht aß. Er sah aus dem Küchenfenster auf den kurzgeschorenen Rasen hinaus, der an drei Seiten von den blickdichten Bretterzäunen der Nachbarn eingeschlossen war. Mittendrin steckte Maureens Teleskopwäschespinne.
»Harold!«, rief Maureen über den Staubsaugerlärm hinweg. »Post!«
Eigentlich wäre er gern hinausgegangen, aber das Einzige, was es draußen zu tun gab, war Rasenmähen, und das hatte er gestern schon erledigt. Der Staubsauger verstummte, und seine Frau erschien mit dem Brief und einem säuerlichen Gesicht. Sie setzte sich Harold gegenüber.
Maureen war eine zierliche Frau mit silbergrauem Bob und flinken Schritten. Als sie sich kennenlernten, war es Harolds größte Freude, sie zum Lachen zu bringen. Zuzusehen, wie sie ihre straffe Haltung verlor und ausgelassen zu zucken begann. »Für dich«, sagte sie. Er wusste nicht, was sie meinte, bis sie einen Umschlag über den Tisch schob und bei seinem Ellbogen liegen ließ. Beide betrachteten ihn, als hätten sie noch nie einen Brief gesehen. Er war rosa. »Abgestempelt in Berwick upon Tweed.«
Er kannte niemanden in Berwick. Er kannte nirgendwo viele Leute. »Vielleicht ist er falsch abgestempelt.«
»Ich glaube nicht. Bei so was wie Poststempeln passieren keine Fehler.« Sie nahm sich Toast aus dem Ständer. Sie mochte ihn kalt und knusprig.
... mehr
Harold studierte den geheimnisvollen Umschlag. Sein Rosa war nicht wie das Rosa im Bad, das sich in den Handtüchern und dem plüschigen Toilettenbezug wiederholte. Das grelle Pink weckte in Harold immer das Gefühl, er gehöre nicht hierher. Das Umschlagrosa dagegen war zart, ein Rosa wie Erdbeermilch. Name und Adresse waren ein einziges Gekrakel, die ungelenken Buchstaben purzelten durcheinander wie von einem Kind hingekritzelt: Mr. H. Fry, Fossebridge Road 13, Kingsbridge, South Hams. Die Handschrift sagte ihm nichts.
»Und?«, fragte Maureen. Sie reichte ihm ein Messer. Er setzte es an einer Umschlagecke an und stieß es in den Falz. »Vorsichtig«, mahnte sie.
Unter ihrem bohrenden Blick zog er den Brief heraus und schob seine Lesebrille zurecht. Das Blatt war mit Schreibmaschine getippt, die Absenderadresse kannte er nicht: Bernardino-Hospiz. Lieber Harold, dieser Brief wird Sie vielleicht überraschen. Sein Blick sprang nach unten zur Unterschrift.
»Und?«, fragte Maureen wieder.
»Du liebe Güte. Er ist von Queenie Hennessy.«
Maureen spießte ein Stück Butter auf und verstrich es bis in alle Ecken ihres Toasts. »Queenie wer?«
»Sie hat in der Brauerei gearbeitet. Vor Jahren. Erinnerst du dich nicht?«
Maureen zuckte mit den Achseln. »Ich wüsste nicht, wieso. Ich wüsste nicht, warum ich mich an jemanden erinnern sollte, den du vor Jahren mal gekannt hast. Reichst du mir die Erdbeermarmelade, bitte?«
»Sie war in der Buchhaltung. Sehr tüchtig.«
»Das ist die Orangenmarmelade, Harold. Erdbeermarmelade ist rot. Es hilft übrigens, wenn du die Dinge ansiehst, bevor du sie in die Hand nimmst.«
Harold reichte ihr das Gewünschte und wandte sich wieder seinem Brief zu. Perfekt in der Form natürlich, ganz das Gegenteil des Gekrakels auf dem Umschlag. Lächelnd erinnerte er sich, dass Queenie immer so gewesen war: Alles wurde gewissenhaft und tipptopp erledigt. »Sie erinnert sich an dich. Lässt dich grüßen.«
Maureen spitzte die Lippen. »Im Radio hab ich gehört, dass die Franzosen ganz wild auf unser Brot sind. Ihr eigenes lässt sich nicht richtig in Scheiben schneiden. Die kommen rüber und kaufen alles auf. Es hieß, das Brot könnte bis zum Sommer knapp werden.« Sie hielt inne. »Harold? Ist was?«
Er sagte nichts. Er richtete sich auf, ganz blass im Gesicht, öffnete halb den Mund. Als er die Stimme wiederfand, klang sie leise und wie aus weiter Ferne. »Sie hat - sie hat Krebs. Queenie schreibt, um sich zu verabschieden.« Er suchte nach weiteren Worten, fand aber keine. Da zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. »Ich ... ähem. Oje.« Seine Augen drohten überzufließen.
Augenblicke verstrichen, vielleicht Minuten. Maureen schluckte schwer, laut hörbar in der Stille. »Das tut mir leid«, sagte sie.
Er nickte. Er hätte aufblicken sollen, konnte aber nicht.
»Es ist ein schöner Vormittag«, setzte sie wieder an. »Du könntest doch die Terrassenstühle rausholen?« Aber Harold blieb reglos, wortlos sitzen, bis sie die Teller abräumte. Kurz darauf heulte in der Diele der Staubsauger wieder auf.
Harold fühlte sich, als bekäme er keine Luft. Als würde, wenn er auch nur einen Finger, einen Muskel rührte, ein Sturm von Gefühlen losbrechen, die er unbedingt unter Verschluss halten wollte. Warum hatte er zwanzig Jahre verstreichen lassen, ohne nach Queenie Hennessy zu forschen? Vor ihm stieg das Bild der kleinen, dunkelhaarigen Frau auf, mit der er vor langer Zeit zusammengearbeitet hatte; unvorstellbar, dass sie nun - wie alt? - sechzig sein sollte. Und in Berwick an Krebs starb. Warum ausgerechnet Berwick, dachte er; so weit nach Norden war er nie gereist. Er blickte wieder in den Garten hinaus und sah einen Plastikstreifen, der sich in der Lorbeerhecke verfangen hatte, hartnäckig herumflatterte und sich doch nicht löste. Er steckte Queenies Brief in die Tasche, klopfte zur Sicherheit zweimal darauf und stand auf.
Oben schloss Maureen leise die Tür von Davids Zimmer, stand kurz da und atmete Davids Gegenwart ein. Sie zog die blauen Vorhänge auf, die sie jeden Abend schloss, und vergewisserte sich, dass kein Staub am Gardinensaum hing, wo er ans Fensterbrett stieß. Sie polierte den Silberrahmen des Fotos, das ihn als Student in Cambridge zeigte, und das kleine schwarzweiße Babyfoto daneben. Sie hielt den Raum sauber, denn sie wartete darauf, dass David zurückkehrte - wann er kommen würde, wusste sie nicht. Eigentlich war sie ständig am Warten. Männer hatten keine Ahnung, was es bedeutet, Mutter zu sein. Schmerzlich ein Kind zu lieben, auch wenn es sich längst entfernt hat. Sie dachte an Harold unten mit seinem rosaroten Brief und wünschte, sie könnte mit ihrem Sohn darüber reden. Maureen verließ das Zimmer genauso leise, wie sie es betreten hatte, und ging die Betten abziehen.
Harold Fry nahm mehrere Blatt Briefpapier und einen von Maureens Tintenrollern aus der Schublade. Was sagt man zu einer an Krebs sterbenden Frau? Sie sollte wissen, wie leid es ihm tat, aber mein Beileid konnte er schlecht schreiben, das stand auf den Karten, die man fertig kaufen konnte, sozusagen für hinterher, und klang auch formelhaft, als nähme er keinen großen Anteil. Er machte einen Versuch: Liebe Miss Hennessy, ich hoffe aufrichtig, Ihr Zustand wird sich bessern, aber als er den Stift hinlegte und den Satz noch einmal überdachte, kam er ihm ebenso steif wie unglaubwürdig vor. Er knüllte das Blatt zusammen und versuchte es noch einmal. Er hatte sich noch nie gut ausdrücken können. Was er empfand, war so übermächtig, dass er es schwer in Worte fassen konnte, und selbst wenn es ihm gelänge, schickte es sich nicht, so an jemanden zu schreiben, mit dem er zwanzig Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatte. Wäre die Lage andersherum, wüsste Queenie genau, was zu tun wäre.
»Harold?« Maureens Stimme überraschte ihn. Er dachte, sie sei oben und poliere etwas oder spreche mit David. Sie hatte ihre gelben Gummihandschuhe an.
»Ich schreibe Queenie einen kurzen Brief.«
»Einen Brief?« Sie wiederholte oft, was er sagte.
»Ja. Möchtest du unterschreiben?«
»Ich denke, nein. Es wäre kaum passend, einen Brief an jemanden zu unterschreiben, den ich nicht kenne.«
Er konnte jetzt nicht länger um formvollendeten Ausdruck ringen, sondern musste einfach niederschreiben, was von selbst kam: Liebe Queenie, danke für Ihren Brief. Es tut mir sehr leid. Alles Gute - Harold (Fry).
Das war zwar schwach, aber immerhin. Er steckte den Brief in einen Umschlag, klebte ihn rasch zu und schrieb die Hospizadresse darauf. »Ich geh mal schnell zum Briefkasten.«
Es war kurz nach elf. Er nahm seine regendichte Jacke von dem Haken, den Maureen dafür vorgesehen hatte. An der Tür wehte ihm ein Schwall Wärme und Salzgeruch in die Nase, aber bevor er den Fuß über die Schwelle setzen konnte, stand seine Frau schon neben ihm.
»Bist du länger weg?«
»Ich geh nur die Straße runter.«
Sie sah mit ihren moosgrünen Augen zu ihm hoch, hob ihm ihr zierliches Kinn entgegen. Er wünschte, ihm würde etwas einfallen, was er zu ihr sagen könnte, aber ihm fiel nichts ein, was der Rede wert gewesen wäre. Er sehnte sich danach, wie in alten Zeiten den Arm um sie zu legen, den Kopf auf ihre Schulter sinken und dort liegen zu lassen. »Tschüss dann, Maureen.« Er schloss zwischen sich und ihr die Tür, behutsam und leise.
Die Fossebridge Road zog sich an einem Hang oberhalb von Kingsbridge entlang, und so genossen die Anwohner, was Immobilienmakler gern eine unverbaubare Panoramalage nennen, mit einer weiten Aussicht über die Stadt und die Landschaft. Allerdings neigten sich die Vorgärten gewagt steil zum Gehweg hinunter, die Pflanzen klammerten sich an Bambusstäbe, als fürchteten sie um ihr Leben. Harold ging den abschüssigen, betonierten Gartenweg etwas schneller hinunter, als ihm lieb war; dabei stachen ihm fünf neue Löwenzahn- pflanzen ins Auge. Vielleicht würde er heute Nachmittag den Unkrautvernichter herausholen. Dann hätte er etwas zu tun.
Harold blieb nicht unentdeckt: Der Nachbar nebenan winkte ihm und steuerte auf den gemeinsamen Zaun zu. Rex war nicht sehr groß, hatte kleine Füße, einen kleinen Kopf und dazwischen einen sehr rundlichen Körper, so dass Harold manchmal befürchtete, falls er stürzte, gäbe es kein Halten mehr: Wie ein Fass würde er den Hügel hinunterkullern. Rex hatte vor sechs Monaten seine Frau verloren, etwa zur gleichen Zeit, als Harold in Pension ging. Seit Elisabeths Tod redete er gern darüber, wie schwer das Leben war. Er redete gern sehr ausführlich darüber. »Zuhören ist das Mindeste, was man tun kann«, sagte Maureen. Harold war nicht sicher, ob das eine allgemeine Bemerkung war oder speziell auf ihn gemünzt.
»Na? Machst du dich zu einem Spaziergang auf?«, fragte Rex.
Harold versuchte es mit einem scherzhaft-munteren Ton, hoffentlich Andeutung genug, dass er sich jetzt nicht aufhalten lassen wollte. »Hast du Post zum Einwerfen, alter Junge?«
»Niemand schreibt mir. Seit Elisabeth nicht mehr ist, krieg ich nur noch Werbung.«
Rex starrte in unbestimmte Fernen, und Harold erkannte sofort die Richtung, die das Gespräch nehmen wollte. Er warf einen Blick nach oben: Wattewölkchen segelten an einem Seidenpapierhimmel. »Richtig schöner Tag.«
»Richtig schön«, bestätigte Rex. Er seufzte in die entstehende Pause hinein. »Elizabeth mochte die Sonne so gern.« Wieder Pause.
»Guter Tag zum Mähen, Rex.«
»Sehr guter Tag dafür, Harold. Kompostierst du deinen Grasschnitt? Oder nimmst du ihn zum Mulchen?«
»Ich finde, das Mulchen mit Grasschnitt macht eine ziemliche Sauerei, ständig klebt was an den Füßen. Maureen mag es nicht, wenn ich das Zeug ins Haus schleppe.« Harold blickte flüchtig zu seinen Segelschuhen hinunter und fragte sich, warum so viele Leute Segelschuhe tragen, wenn sie mit Segeln nichts im Sinn haben. »Ich muss jetzt los, damit ich die Mittagsleerung noch erwische.« Er wedelte mit seinem Brief und ging weiter, zum Gehweg hinunter.
Zum ersten Mal in seinem Leben war Harold enttäuscht, dass der Briefkasten so schnell erreicht war. Am liebsten hätte er die Straße überquert und sich daran vorbeimogelt, aber der Kasten stand nun einmal da, am Ende der Fossebridge Road, und wartete auf ihn. Harold hob den Brief an Queenie zum Schlitz und stockte. Er blickte auf die kurze Strecke zurück, die er gelaufen war.
Die freistehenden Häuser waren mit Stuck verziert und in unterschiedlichen Gelb-, Lachs- und Blautönen gestrichen. Manche hatten noch ihre spitzen Dächer aus den Fünfzigerjahren und wie Strahlen im Halbkreis angeordnete Zierbalken; bei anderen war das Dachgeschoss ausgebaut und mit Schieferplatten verkleidet. Ein Haus war ganz im Stil eines Schweizer Chalets umgebaut worden. Harold und Maureen waren vor fünfundvierzig Jahren hergezogen, gleich nachdem sie geheiratet hatten. Die Finanzierung hatte Harolds ganze Ersparnisse aufgezehrt; es gab kein Geld mehr für Vorhänge oder Möbel. Sie hielten Distanz zu den Nachbarn, und mit der Zeit zogen die alten Nachbarn weg und neue kamen, nur Harold und Maureen blieben. Sie hatten einmal Gemüsebeete gehabt und einen Zierteich. Maureen hatte jeden Sommer Chutneys gekocht, und David hatte Goldfische gehalten. Hinter dem Haus hatte ein Gartenschuppen gestanden, in dem es nach Dünger roch; an hohen Haken hingen Werkzeuge, aufgerollte Schnur und Seile. Aber das war alles längst verschwunden. Sogar die Schule ihres Sohnes, die einmal einen Steinwurf von seinem Fenster entfernt gestanden hatte, war abgerissen und durch fünfzig erschwingliche Häuschen in hellen Primärfarben ersetzt worden, mit einer Straßenbeleuchtung im Stil alter Gaslaternen.
Harold dachte an die paar Worte, die er Queenie geschrieben hatte, und schämte sich für ihre Dürftigkeit. Er stellte sich vor, wie er nach Hause zurückkehrte, wie Maureen David anrief, wie das Leben genauso weiterging wie bisher, außer dass Queenie in Berwick im Sterben lag. Das setzte ihm schwer zu. Er ließ den Brief auf dem Rand des dunklen Briefkastenschlunds ruhen. Er schaffte es nicht, ihn hineinzuschubsen.
»Eigentlich ist es ein schöner Tag«, sagte er laut, obwohl niemand da war. Er hatte ja sonst nichts zu tun, da konnte er genauso gut zum nächsten Briefkasten laufen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, bog er um die Ecke.
Spontane Entschlüsse waren Harolds Sache nicht. Das war ihm durchaus bewusst. Seit seiner Pensionierung vergingen die Tage in immer gleicher Einförmigkeit, außer dass sein Bauch dicker und sein Haar dünner wurde. Nachts schlief er schlecht oder manchmal überhaupt nicht. Schneller als gedacht gelangte er zum nächsten Briefkasten, und wieder hielt er inne. Er hatte etwas begonnen, was er selbst nicht durchschaute, war aber nicht bereit, mittendrin aufzuhören. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, sein Blut pochte ahnungsvoll. Wenn er seinen Brief zur Post in der Fore Street brächte, dann käme er garantiert morgen an.
Als er durch die Straßen des Neubaugebiets abwärts schlenderte, schien ihm die Sonne drückend auf den Hinterkopf und die Schultern. Verstohlen sah er in die Fenster; meist waren sie leer, manchmal erwiderte jemand seinen Blick, und Harold fühlte sich genötigt, hastig weiterzugehen. Aber manchmal entdeckte er unverhofft einen Gegenstand, eine Porzellanfigur, eine Vase, einmal sogar eine Tuba. Ausdruck der Persönlichkeit ihrer Besitzer und dazu geeignet, sich gegen die Außenwelt abzugrenzen. Harold stellte sich vor, was ein Passant aus den Fenstern der Fossebridge Road 13 über ihn und Maureen ablesen konnte - nicht sehr viel, der Gardinen wegen. Er schlug die Richtung zum Hafen ein, in seinen Oberschenkeln zuckten schon die Muskeln.
Es war Ebbe, und die Jollen, die alle einen Anstrich brauchten, lagen schief in einer Mondlandschaft aus schwarzem Schlamm. Harald hinkte zu einer freien Bank und faltete den Brief auseinander, den Queenie ihm geschrieben hatte.
Sie erinnerte sich. Nach all den Jahren. Und er hatte ganz normal weitergelebt, als ginge ihn, was sie getan hatte, überhaupt nichts an. Er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten. Er war ihr nicht gefolgt. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Neue Tränen traten ihm in die Augen, und der Himmel und der Gehweg verschwammen in eins. Dann schoben sich die wässrigen Umrisse einer Mutter mit einem Kind davor. Beide hielten Eiswaffeln in den Händen, die sie wie Fackeln vor sich hertrugen. Die Frau hob den Jungen hoch und setzte ihn auf das andere Ende der Bank.
»Schöner Tag«, sagte Harold. Er wollte nicht wie ein alter Mann erscheinen, der vor sich hin weinte. Die Frau blickte weder auf, noch stimmte sie ihm zu. Sie beugte sich über die Faust ihres Kindes und leckte seine Eiskugel glatt, damit sie nicht tropfte. Der Junge sah zu und hielt ganz still, das Gesichtchen so dicht an dem seiner Mutter, dass es fast damit verschmolz.
Harold fragte sich, ob er je mit David am Kai gesessen und Eis gegessen hatte. Hatte er bestimmt, auch wenn die Erinnerung verschüttet blieb. Er musste weiter. Er musste seinen Brief aufgeben.
Vor dem Old Creek Inn lachten Büroangestellte bei ihrem Mittagsbier, aber Harold bemerkte sie kaum. Als er die steile Fore Street hinaufzusteigen begann, dachte er an die Mutter, die so mit ihrem Sohn beschäftigt war, dass sie niemand anderen sah. Ihm fiel auf, dass immer nur Maureen mit David redete, ihm berichtete, was es Neues gab. Maureen hatte alle Briefe und Postkarten an David für Harold mit unterschrieben (Dad). Sogar das Pflegeheim für seinen Vater hatte Maureen gefunden. Harold drückte auf den Knopf der Fußgängerampel. Wenn Maureen seine Stelle einnahm, stellte sich doch die Frage: »Wer bin dann eigentlich ich?«
Er ging an der Post vorbei, ohne haltzumachen.
2
Harold, das Mädchen von der Tankstelle und eine Frage des Glaubens
Harold Fry war nun fast am oberen Ende der Fore Street angelangt. Er war an dem wegen Geschäftsaufgabe geschlossenen Woolworth vorbeigegangen, am bösen Metzger (»Der schlägt seine Frau«, sagte Maureen), am guten Metzger (»Seine Frau hat ihn verlassen«), am Uhrturm, an den Shambles-Arkaden und am Sitz der South Hams Gazette, und erreichte nun den letzten Laden.
Bei jedem Schritt spürte er ein Ziehen in den Wadenmuskeln. Die tiefeingeschnittene Meeresbucht hinter ihm glänzte in der Sonne wie eine Blechplatte; die Segelboote waren nur noch winzige weiße Flecke. Harold blieb beim Reisebüro stehen, und weil er sich ausruhen wollte, ohne dass es jemand bemerkte, tat er, als läse er die Schnäppchen-Angebote. Bali, Neapel, Istanbul, Dubai. Seine Mutter hatte früher so verträumt erzählt, sie würde am liebsten in Länder mit tropischen Bäumen und Frauen mit Blumen im Haar entfliehen, dass er als Junge dieser unbekannten Welt instinktiv misstraute. Das änderte sich auch nicht, als er Maureen heiratete und David geboren wurde. Sie verbrachten jedes Jahr zwei Wochen in derselben Ferienanlage in Eastbourne. Harold holte ein paarmal tief Luft, bis sich sein Atem beruhigte, und ging weiter in Richtung Norden.
Die Läden wichen Wohnhäusern, manche aus dem unverputzten rosagrauen Stein, der hier in Devon vorkam, andere farbig gestrichen, wieder andere mit Schieferplatten verkleidet; dann folgten die Stichstraßen zu Neubausiedlungen. Magnolien begannen zu blühen, üppige weiße Sterne auf Ästen, die so kahl waren, dass sie aussahen wie nackt. Es war schon ein Uhr; Harold hatte die Mittagsleerung verpasst. Er würde sich eine Kleinigkeit zu essen kaufen, die ihm über den Hunger hinweghalf, und dann den nächsten Briefkasten suchen. Harold wartete eine Lücke im Verkehr ab und überquerte die Straße zu einer Tankstelle, an der die Häuser aufhörten und die Felder anfingen.
Ein junges Mädchen gähnte an der Kasse. Über T-Shirt und Hose trug sie eine Weste mit einem Button, auf dem zu lesen war: Was kann ich für Sie tun? Zwischen ihren fettigen Haarsträhnen standen ihre Ohren hervor, ihre aknenarbige Haut war blass, als wäre sie lange nicht an die frische Luft gekommen. Sie wusste nicht, wovon Harold redete, als er nach einem »kleinen Imbiss« fragte. Sie machte den Mund auf und schloss ihn nicht wieder, als klemmte er, dass Harold fürchtete, Stunden später würde sie immer noch so dastehen. »Einen Snack?«, verdeutlichte er. »Eine kleine Stärkung?«
Schließlich flatterten ihre Augenlider. »Ach, Sie meinen einen Burger«, sagte sie, trottete zur Kühlung und zeigte ihm, wie er sich in der Mikrowelle einen BBQ-Riesen-Cheesie mit Pommes warmmachen konnte.
»Du meine Güte!«, sagte Harold, als sie zusahen, wie sich der Burger in seiner Schachtel hinter der Glasscheibe drehte. »Ich hatte keine Ahnung, dass man an der Tankstelle eine richtige Mahlzeit bekommt.«
Das Mädchen nahm den Burger aus der Mikrowelle und stellte Harold eine Schale mit Ketchup- und Grillsauce-Tütchen hin. »Haben Sie auch getankt?«, fragte sie und wischte sich langsam die Hände ab. Sie waren klein wie Kinderhände.
»Nein, nein, ich bin nur so vorbeigekommen. Zu Fuß übrigens. «
»Ach ja?«, sagte sie.
»Ich möchte einen Brief an eine Frau einwerfen, die ich mal gut kannte. Leider hat sie Krebs.« Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass er, bevor er das bewusste Wort aussprach, eine Pause machte und die Stimme dämpfte. Er ertappte sich auch dabei, dass er mit den Fingern eine kleine Nuss formte.
Das Mädchen nickte. »Meine Tante hatte auch Krebs«, sagte sie. »Der ist wirklich überall.« Sie ließ den Blick die Regale hinauf- und hinunterwandern, als verberge sich der Krebs womöglich sogar hinter den Straßenkarten und der Autopolitur. »Aber man muss trotzdem positiv denken.«
Harold hörte auf zu kauen und tupfte den Mund mit einer Papierserviette ab. »Positiv?«
»Man muss glauben. Meine ich jedenfalls. Es geht gar nicht um Medizin und das ganze Zeug. Man muss daran glauben, dass ein Mensch wieder gesund werden kann. Unser Geist ist viel größer, als wir begreifen. Wenn wir fest an etwas glauben, können wir alles schaffen.«
Harold sah die junge Frau ehrfürchtig an. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber auf einmal schien sie von Licht übergossen, als wäre die Sonne gewandert; ihre Haare und ihre Haut hatten etwas Schimmerndes, Transparentes. Vielleicht starrte er sie zu aufdringlich an, denn sie zuckte mit den Schultern und sog an ihrer Unterlippe. »Rede ich Mist?«
»Aber nein! Gar nicht! Das ist sehr interessant. Ich fürchte, ich habe zur Religion nie den rechten Draht gefunden.«
»Ich meine das auch nicht, äh, religiös. Ich meine, wir müssen dem Unbekannten vertrauen, müssen sogar darauf setzen. Daran glauben, dass wir etwas bewegen können.« Sie zwirbelte eine Haarsträhne um den Finger.
Harold war noch nie einer so schlichten Sicherheit begegnet, schon gar nicht bei einem so jungen Menschen. Wie sie es sagte, klang es völlig einleuchtend. »Und sie ist gesund geworden, ja? Ihre Tante? Weil Sie daran geglaubt haben? «
Der Finger war so fest mit der Strähne umwickelt, dass Harold befürchtete, er würde sich nie wieder daraus lösen lassen. »Sie hat gesagt, es lässt sie hoffen, nachdem alles andere weggebrochen ist ...«
»Arbeitet hier jemand?«, rief ein Mann im Nadelstreifenanzug von der Theke. Er klopfte mit den Autoschlüsseln auf der harten Platte herum, machte die Zeit, die er hier verschwendete, als Getrommel hörbar.
Das Mädchen schlängelte sich durch die Regale zur Kasse zurück, wo der Nadelgestreifte demonstrativ auf seine Armbanduhr schaute. Er hielt das Handgelenk hoch und deutete auf das Zifferblatt. »Ich muss in dreißig Minuten in Exeter sein.«
»Benzin?«, fragte das Mädchen und nahm wieder ihren üblichen Platz vor Zigaretten und Lotterielosen ein. Harold versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen, aber sie reagierte nicht. Sie war in die träge, geistlose Person von vorhin zurückgeschlüpft, als hätte das Gespräch über ihre Tante nie stattgefunden.
Harold ließ das Geld für den Burger auf der Theke liegen und ging zur Tür. Glaube? Hatte sie nicht dieses Wort benutzt? Es begegnete ihm nicht oft und berührte ihn seltsam. Auch wenn er nicht sicher war, was sie mit Glauben meinte oder woran er selbst noch glaubte, hallte das Wort verblüffend hartnäckig in ihm nach. Mit fünfundsechzig hatte er sich auf Schwierigkeiten eingerichtet. Die Gelenke wurden steif, ein dumpfer Dauerton summte in seinen Ohren, seine Augen tränten beim leisesten Windzug, ein spitzer Brustschmerz kündigte Unheilvolles an. Aber was stieg da für ein Gefühl in ihm hoch, dass sein Körper brummte vor Energie? Er lief in Richtung A381 los und nahm sich wieder fest vor, beim nächsten Briefkasten stehen zu bleiben.
So verließ er Kingsbridge. Die Straße wurde erst einspurig, dann verschwanden auch die Gehwege. Die Bäume über ihm schlossen ihre Äste zu einem Tunneldach zusammen, in dem sich Blütenwolken und spitze Blattknospen nur so verhedderten. Mehr als einmal musste er sich in einen Weißdornstrauch drücken, um dem Verkehr auszuweichen. Viele Fahrer saßen allein im Auto, vermutlich Büroangestellte, weil ihre Gesichter so starr wirkten, als wäre alle Freude herausgepresst. Es gab einige Frauen, die Kinder herumkutschierten, und auch sie sahen müde aus. Sogar die älteren Paare wie er selbst und Maureen hatten etwas Steifes. Harold spürte den Drang zu winken, verzichtete aber lieber darauf. Er atmete schwer, weil ihn das Gehen anstrengte, und wollte niemanden beunruhigen.
Das Meer lag hinter ihm; vor ihm dehnte sich eine bewegte Hügellandschaft aus, an ihrem Ende die blauen Umrisse des Granitmassivs von Dartmoor. Und dahinter? Die Blackdown Hills, die Mendips, die Malverns, die Pennines, die Yorkshire Dales, die Cheviot Hills und Berwick upon Tweed.
Aber gleich hier, auf der anderen Straßenseite, standen ein Briefkasten und ein Stück weiter eine Telefonzelle. Harolds Weg war zu Ende.
Sein Gang wurde schleppend. Er war an so vielen Briefkästen vorbeigelaufen, dass er gar nicht mehr mitgezählt hatte, außerdem hatten ihn zwei Postautos und ein Motorradkurier überholt. Wieder dachte er an alles, was er hatte davonziehen lassen. Lächelnde Gesichter. Angebote, zusammen ein Bier trinken zu gehen. Menschen auf dem Parkplatz der Brauerei, an denen er immer wieder vorbeigegangen war, ohne den Kopf zu heben. Nachbarn, deren Nachsendeadressen er nie aufgehoben hatte. Schlimmer noch: seinen Sohn, der nicht mit ihm redete, und seine Frau, die er im Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich an seinen Vater im Pflegeheim und an den Koffer seiner Mutter neben der Tür. Und jetzt hatte sich diese Frau gemeldet, die ihm vor zwanzig Jahren ihre Freundschaft bewiesen hatte. War das der Lauf der Dinge? Dass er immer, wenn er etwas tun wollte, genau einen Augenblick zu spät kam? Alle Bruchstücke eines Lebens letztlich loslassen musste, als ergäben sie keinen Sinn? Das Bewusstsein seiner Hilflosigkeit drückte Harold so nieder, dass ihm ganz schwach wurde. Ein Brief genügte nicht. Es musste doch eine Möglichkeit geben, etwas zu bewirken. Er tastete in der Jackentasche nach seinem Handy, um festzustellen, dass er es zu Hause hatte liegen lassen. In seinem tiefen Kummer wankte er auf die Straße hinaus.
Ein Lieferwagen bremste quietschend und streifte ihn fast im Vorbeifahren. »Pass doch auf, du Idiot!«, schrie der Fahrer.
Harold hörte es kaum. Auch den Briefkasten nahm er kaum wahr. Noch bevor sich die Tür der Telefonzelle hinter ihm schloss, hielt er den Brief, den Queenie ihm geschrieben hatte, in der Hand.
Er fand die Absenderadresse und Telefonnummer, aber seine Finger zitterten so sehr, dass er die Tasten kaum drücken konnte. In der reglosen, drückenden Luft wartete er auf den Klingelton. Er spürte, wie ihm zwischen den Schulterblättern der Schweiß herunterrann.
Nach zehnmal Klingeln klickte es endlich, und eine Stimme meldete sich in breitem schottischen Dialekt: »Bernardino- Hospiz. Guten Tag.«
»Ich würde gern mit einer Patientin sprechen, bitte. Ihr Name ist Queenie Hennessy.«
Aus dem Hörer kam Schweigen.
Er fügte hinzu: »Es ist sehr dringend. Ich muss wissen, wie es ihr geht.«
Es hörte sich an, als atmete die Frau mit einem langen Seufzer aus. Eine Gänsehaut lief Harold über den Rücken. Queenie war tot; er kam zu spät. Wieder einmal. Er presste die Fingerknöchel auf den Mund.
Die Stimme sagte: »Ich fürchte, Miss Hennessy schläft gerade. Kann ich etwas ausrichten?«
Kleine Wolken jagten ihre Schatten über das Land. Das Licht über den fernen Hügeln war rauchgrau, nicht, weil es schon dämmerte, sondern weil so riesige Landmassen davorlagen. Er hatte das Bild vor Augen, wie Queenie am einen Ende Englands schlummerte und er selbst am anderen Ende in der Telefonzelle stand, dazwischen zahllose unbekannte Dinge, die er sich nur vorstellen konnte: Straßen, Felder, Flüsse, Wälder, Moor und Heide, Berge und Täler, und Menschen über Menschen. Ihnen allen würde er begegnen und weiterziehen. Es brauchte kein Überlegen, kein Abwägen. Die Entscheidung kam zugleich mit der Idee. Er lachte, wie einfach es war.
»Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg. Sie braucht nur durchzuhalten. Denn ich werde sie retten, wissen Sie. Ich werde laufen, und sie muss weiterleben. Werden Sie ihr das sagen?«
Die Stimme versicherte es ihm. Ob es sonst noch etwas gebe? Kannte er zum Beispiel die Besuchszeiten? Die Parkbeschränkungen?
Er wiederholte: »Ich komme nicht mit dem Auto. Ich will, dass sie lebt.«
»Entschuldigung. Haben Sie etwas von Ihrem Auto gesagt? «
»Ich bin zu Fuß unterwegs, von Südengland aus. Von Devon den ganzen Weg bis nach Berwick upon Tweed.«
Die Stimme seufzte verärgert. »Die Verbindung ist furchtbar. Was machen Sie?«
»Ich komme zu Fuß«, rief er.
»Ach so«, sagte die Stimme langsam, als hätte die Frau zu einem Stift gegriffen und würde seine Nachricht mitnotieren. »Sie kommen zu Fuß. Das werde ich ihr sagen. Soll ich ihr sonst noch etwas ausrichten?«
»Ich breche jetzt auf. Solange ich gehe, muss sie leben. Bitte sagen Sie ihr, dass ich sie dieses Mal nicht im Stich lassen werde.«
Als Harold auflegte und aus der Telefonzelle trat, klopfte sein Herz so schnell, dass er das Gefühl hatte, es wäre für seine Brust zu groß und würde sie sprengen. Mit zitternden Fingern zog er die Umschlagklappe seines eigenen Briefs vorsichtig wieder auf und nahm seine Antwort heraus. Er drückte das Blatt gegen die Glasscheibe und kritzelte ein PS dazu: Warten Sie auf mich. H. Dann warf er den Brief ein und spürte es kaum, dass er ihn nun nicht mehr hatte.
Harold starrte auf das Band der Straße, das vor ihm lag, auf die finstere Mauer des Dartmoor-Massivs und auf die Segelschuhe an seinen Füßen. Er fragte sich, worauf er sich um Himmels willen gerade eingelassen hatte.
Über ihm flog mit knatternden Schwingen eine Möwe und lachte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Harold studierte den geheimnisvollen Umschlag. Sein Rosa war nicht wie das Rosa im Bad, das sich in den Handtüchern und dem plüschigen Toilettenbezug wiederholte. Das grelle Pink weckte in Harold immer das Gefühl, er gehöre nicht hierher. Das Umschlagrosa dagegen war zart, ein Rosa wie Erdbeermilch. Name und Adresse waren ein einziges Gekrakel, die ungelenken Buchstaben purzelten durcheinander wie von einem Kind hingekritzelt: Mr. H. Fry, Fossebridge Road 13, Kingsbridge, South Hams. Die Handschrift sagte ihm nichts.
»Und?«, fragte Maureen. Sie reichte ihm ein Messer. Er setzte es an einer Umschlagecke an und stieß es in den Falz. »Vorsichtig«, mahnte sie.
Unter ihrem bohrenden Blick zog er den Brief heraus und schob seine Lesebrille zurecht. Das Blatt war mit Schreibmaschine getippt, die Absenderadresse kannte er nicht: Bernardino-Hospiz. Lieber Harold, dieser Brief wird Sie vielleicht überraschen. Sein Blick sprang nach unten zur Unterschrift.
»Und?«, fragte Maureen wieder.
»Du liebe Güte. Er ist von Queenie Hennessy.«
Maureen spießte ein Stück Butter auf und verstrich es bis in alle Ecken ihres Toasts. »Queenie wer?«
»Sie hat in der Brauerei gearbeitet. Vor Jahren. Erinnerst du dich nicht?«
Maureen zuckte mit den Achseln. »Ich wüsste nicht, wieso. Ich wüsste nicht, warum ich mich an jemanden erinnern sollte, den du vor Jahren mal gekannt hast. Reichst du mir die Erdbeermarmelade, bitte?«
»Sie war in der Buchhaltung. Sehr tüchtig.«
»Das ist die Orangenmarmelade, Harold. Erdbeermarmelade ist rot. Es hilft übrigens, wenn du die Dinge ansiehst, bevor du sie in die Hand nimmst.«
Harold reichte ihr das Gewünschte und wandte sich wieder seinem Brief zu. Perfekt in der Form natürlich, ganz das Gegenteil des Gekrakels auf dem Umschlag. Lächelnd erinnerte er sich, dass Queenie immer so gewesen war: Alles wurde gewissenhaft und tipptopp erledigt. »Sie erinnert sich an dich. Lässt dich grüßen.«
Maureen spitzte die Lippen. »Im Radio hab ich gehört, dass die Franzosen ganz wild auf unser Brot sind. Ihr eigenes lässt sich nicht richtig in Scheiben schneiden. Die kommen rüber und kaufen alles auf. Es hieß, das Brot könnte bis zum Sommer knapp werden.« Sie hielt inne. »Harold? Ist was?«
Er sagte nichts. Er richtete sich auf, ganz blass im Gesicht, öffnete halb den Mund. Als er die Stimme wiederfand, klang sie leise und wie aus weiter Ferne. »Sie hat - sie hat Krebs. Queenie schreibt, um sich zu verabschieden.« Er suchte nach weiteren Worten, fand aber keine. Da zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. »Ich ... ähem. Oje.« Seine Augen drohten überzufließen.
Augenblicke verstrichen, vielleicht Minuten. Maureen schluckte schwer, laut hörbar in der Stille. »Das tut mir leid«, sagte sie.
Er nickte. Er hätte aufblicken sollen, konnte aber nicht.
»Es ist ein schöner Vormittag«, setzte sie wieder an. »Du könntest doch die Terrassenstühle rausholen?« Aber Harold blieb reglos, wortlos sitzen, bis sie die Teller abräumte. Kurz darauf heulte in der Diele der Staubsauger wieder auf.
Harold fühlte sich, als bekäme er keine Luft. Als würde, wenn er auch nur einen Finger, einen Muskel rührte, ein Sturm von Gefühlen losbrechen, die er unbedingt unter Verschluss halten wollte. Warum hatte er zwanzig Jahre verstreichen lassen, ohne nach Queenie Hennessy zu forschen? Vor ihm stieg das Bild der kleinen, dunkelhaarigen Frau auf, mit der er vor langer Zeit zusammengearbeitet hatte; unvorstellbar, dass sie nun - wie alt? - sechzig sein sollte. Und in Berwick an Krebs starb. Warum ausgerechnet Berwick, dachte er; so weit nach Norden war er nie gereist. Er blickte wieder in den Garten hinaus und sah einen Plastikstreifen, der sich in der Lorbeerhecke verfangen hatte, hartnäckig herumflatterte und sich doch nicht löste. Er steckte Queenies Brief in die Tasche, klopfte zur Sicherheit zweimal darauf und stand auf.
Oben schloss Maureen leise die Tür von Davids Zimmer, stand kurz da und atmete Davids Gegenwart ein. Sie zog die blauen Vorhänge auf, die sie jeden Abend schloss, und vergewisserte sich, dass kein Staub am Gardinensaum hing, wo er ans Fensterbrett stieß. Sie polierte den Silberrahmen des Fotos, das ihn als Student in Cambridge zeigte, und das kleine schwarzweiße Babyfoto daneben. Sie hielt den Raum sauber, denn sie wartete darauf, dass David zurückkehrte - wann er kommen würde, wusste sie nicht. Eigentlich war sie ständig am Warten. Männer hatten keine Ahnung, was es bedeutet, Mutter zu sein. Schmerzlich ein Kind zu lieben, auch wenn es sich längst entfernt hat. Sie dachte an Harold unten mit seinem rosaroten Brief und wünschte, sie könnte mit ihrem Sohn darüber reden. Maureen verließ das Zimmer genauso leise, wie sie es betreten hatte, und ging die Betten abziehen.
Harold Fry nahm mehrere Blatt Briefpapier und einen von Maureens Tintenrollern aus der Schublade. Was sagt man zu einer an Krebs sterbenden Frau? Sie sollte wissen, wie leid es ihm tat, aber mein Beileid konnte er schlecht schreiben, das stand auf den Karten, die man fertig kaufen konnte, sozusagen für hinterher, und klang auch formelhaft, als nähme er keinen großen Anteil. Er machte einen Versuch: Liebe Miss Hennessy, ich hoffe aufrichtig, Ihr Zustand wird sich bessern, aber als er den Stift hinlegte und den Satz noch einmal überdachte, kam er ihm ebenso steif wie unglaubwürdig vor. Er knüllte das Blatt zusammen und versuchte es noch einmal. Er hatte sich noch nie gut ausdrücken können. Was er empfand, war so übermächtig, dass er es schwer in Worte fassen konnte, und selbst wenn es ihm gelänge, schickte es sich nicht, so an jemanden zu schreiben, mit dem er zwanzig Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatte. Wäre die Lage andersherum, wüsste Queenie genau, was zu tun wäre.
»Harold?« Maureens Stimme überraschte ihn. Er dachte, sie sei oben und poliere etwas oder spreche mit David. Sie hatte ihre gelben Gummihandschuhe an.
»Ich schreibe Queenie einen kurzen Brief.«
»Einen Brief?« Sie wiederholte oft, was er sagte.
»Ja. Möchtest du unterschreiben?«
»Ich denke, nein. Es wäre kaum passend, einen Brief an jemanden zu unterschreiben, den ich nicht kenne.«
Er konnte jetzt nicht länger um formvollendeten Ausdruck ringen, sondern musste einfach niederschreiben, was von selbst kam: Liebe Queenie, danke für Ihren Brief. Es tut mir sehr leid. Alles Gute - Harold (Fry).
Das war zwar schwach, aber immerhin. Er steckte den Brief in einen Umschlag, klebte ihn rasch zu und schrieb die Hospizadresse darauf. »Ich geh mal schnell zum Briefkasten.«
Es war kurz nach elf. Er nahm seine regendichte Jacke von dem Haken, den Maureen dafür vorgesehen hatte. An der Tür wehte ihm ein Schwall Wärme und Salzgeruch in die Nase, aber bevor er den Fuß über die Schwelle setzen konnte, stand seine Frau schon neben ihm.
»Bist du länger weg?«
»Ich geh nur die Straße runter.«
Sie sah mit ihren moosgrünen Augen zu ihm hoch, hob ihm ihr zierliches Kinn entgegen. Er wünschte, ihm würde etwas einfallen, was er zu ihr sagen könnte, aber ihm fiel nichts ein, was der Rede wert gewesen wäre. Er sehnte sich danach, wie in alten Zeiten den Arm um sie zu legen, den Kopf auf ihre Schulter sinken und dort liegen zu lassen. »Tschüss dann, Maureen.« Er schloss zwischen sich und ihr die Tür, behutsam und leise.
Die Fossebridge Road zog sich an einem Hang oberhalb von Kingsbridge entlang, und so genossen die Anwohner, was Immobilienmakler gern eine unverbaubare Panoramalage nennen, mit einer weiten Aussicht über die Stadt und die Landschaft. Allerdings neigten sich die Vorgärten gewagt steil zum Gehweg hinunter, die Pflanzen klammerten sich an Bambusstäbe, als fürchteten sie um ihr Leben. Harold ging den abschüssigen, betonierten Gartenweg etwas schneller hinunter, als ihm lieb war; dabei stachen ihm fünf neue Löwenzahn- pflanzen ins Auge. Vielleicht würde er heute Nachmittag den Unkrautvernichter herausholen. Dann hätte er etwas zu tun.
Harold blieb nicht unentdeckt: Der Nachbar nebenan winkte ihm und steuerte auf den gemeinsamen Zaun zu. Rex war nicht sehr groß, hatte kleine Füße, einen kleinen Kopf und dazwischen einen sehr rundlichen Körper, so dass Harold manchmal befürchtete, falls er stürzte, gäbe es kein Halten mehr: Wie ein Fass würde er den Hügel hinunterkullern. Rex hatte vor sechs Monaten seine Frau verloren, etwa zur gleichen Zeit, als Harold in Pension ging. Seit Elisabeths Tod redete er gern darüber, wie schwer das Leben war. Er redete gern sehr ausführlich darüber. »Zuhören ist das Mindeste, was man tun kann«, sagte Maureen. Harold war nicht sicher, ob das eine allgemeine Bemerkung war oder speziell auf ihn gemünzt.
»Na? Machst du dich zu einem Spaziergang auf?«, fragte Rex.
Harold versuchte es mit einem scherzhaft-munteren Ton, hoffentlich Andeutung genug, dass er sich jetzt nicht aufhalten lassen wollte. »Hast du Post zum Einwerfen, alter Junge?«
»Niemand schreibt mir. Seit Elisabeth nicht mehr ist, krieg ich nur noch Werbung.«
Rex starrte in unbestimmte Fernen, und Harold erkannte sofort die Richtung, die das Gespräch nehmen wollte. Er warf einen Blick nach oben: Wattewölkchen segelten an einem Seidenpapierhimmel. »Richtig schöner Tag.«
»Richtig schön«, bestätigte Rex. Er seufzte in die entstehende Pause hinein. »Elizabeth mochte die Sonne so gern.« Wieder Pause.
»Guter Tag zum Mähen, Rex.«
»Sehr guter Tag dafür, Harold. Kompostierst du deinen Grasschnitt? Oder nimmst du ihn zum Mulchen?«
»Ich finde, das Mulchen mit Grasschnitt macht eine ziemliche Sauerei, ständig klebt was an den Füßen. Maureen mag es nicht, wenn ich das Zeug ins Haus schleppe.« Harold blickte flüchtig zu seinen Segelschuhen hinunter und fragte sich, warum so viele Leute Segelschuhe tragen, wenn sie mit Segeln nichts im Sinn haben. »Ich muss jetzt los, damit ich die Mittagsleerung noch erwische.« Er wedelte mit seinem Brief und ging weiter, zum Gehweg hinunter.
Zum ersten Mal in seinem Leben war Harold enttäuscht, dass der Briefkasten so schnell erreicht war. Am liebsten hätte er die Straße überquert und sich daran vorbeimogelt, aber der Kasten stand nun einmal da, am Ende der Fossebridge Road, und wartete auf ihn. Harold hob den Brief an Queenie zum Schlitz und stockte. Er blickte auf die kurze Strecke zurück, die er gelaufen war.
Die freistehenden Häuser waren mit Stuck verziert und in unterschiedlichen Gelb-, Lachs- und Blautönen gestrichen. Manche hatten noch ihre spitzen Dächer aus den Fünfzigerjahren und wie Strahlen im Halbkreis angeordnete Zierbalken; bei anderen war das Dachgeschoss ausgebaut und mit Schieferplatten verkleidet. Ein Haus war ganz im Stil eines Schweizer Chalets umgebaut worden. Harold und Maureen waren vor fünfundvierzig Jahren hergezogen, gleich nachdem sie geheiratet hatten. Die Finanzierung hatte Harolds ganze Ersparnisse aufgezehrt; es gab kein Geld mehr für Vorhänge oder Möbel. Sie hielten Distanz zu den Nachbarn, und mit der Zeit zogen die alten Nachbarn weg und neue kamen, nur Harold und Maureen blieben. Sie hatten einmal Gemüsebeete gehabt und einen Zierteich. Maureen hatte jeden Sommer Chutneys gekocht, und David hatte Goldfische gehalten. Hinter dem Haus hatte ein Gartenschuppen gestanden, in dem es nach Dünger roch; an hohen Haken hingen Werkzeuge, aufgerollte Schnur und Seile. Aber das war alles längst verschwunden. Sogar die Schule ihres Sohnes, die einmal einen Steinwurf von seinem Fenster entfernt gestanden hatte, war abgerissen und durch fünfzig erschwingliche Häuschen in hellen Primärfarben ersetzt worden, mit einer Straßenbeleuchtung im Stil alter Gaslaternen.
Harold dachte an die paar Worte, die er Queenie geschrieben hatte, und schämte sich für ihre Dürftigkeit. Er stellte sich vor, wie er nach Hause zurückkehrte, wie Maureen David anrief, wie das Leben genauso weiterging wie bisher, außer dass Queenie in Berwick im Sterben lag. Das setzte ihm schwer zu. Er ließ den Brief auf dem Rand des dunklen Briefkastenschlunds ruhen. Er schaffte es nicht, ihn hineinzuschubsen.
»Eigentlich ist es ein schöner Tag«, sagte er laut, obwohl niemand da war. Er hatte ja sonst nichts zu tun, da konnte er genauso gut zum nächsten Briefkasten laufen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, bog er um die Ecke.
Spontane Entschlüsse waren Harolds Sache nicht. Das war ihm durchaus bewusst. Seit seiner Pensionierung vergingen die Tage in immer gleicher Einförmigkeit, außer dass sein Bauch dicker und sein Haar dünner wurde. Nachts schlief er schlecht oder manchmal überhaupt nicht. Schneller als gedacht gelangte er zum nächsten Briefkasten, und wieder hielt er inne. Er hatte etwas begonnen, was er selbst nicht durchschaute, war aber nicht bereit, mittendrin aufzuhören. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, sein Blut pochte ahnungsvoll. Wenn er seinen Brief zur Post in der Fore Street brächte, dann käme er garantiert morgen an.
Als er durch die Straßen des Neubaugebiets abwärts schlenderte, schien ihm die Sonne drückend auf den Hinterkopf und die Schultern. Verstohlen sah er in die Fenster; meist waren sie leer, manchmal erwiderte jemand seinen Blick, und Harold fühlte sich genötigt, hastig weiterzugehen. Aber manchmal entdeckte er unverhofft einen Gegenstand, eine Porzellanfigur, eine Vase, einmal sogar eine Tuba. Ausdruck der Persönlichkeit ihrer Besitzer und dazu geeignet, sich gegen die Außenwelt abzugrenzen. Harold stellte sich vor, was ein Passant aus den Fenstern der Fossebridge Road 13 über ihn und Maureen ablesen konnte - nicht sehr viel, der Gardinen wegen. Er schlug die Richtung zum Hafen ein, in seinen Oberschenkeln zuckten schon die Muskeln.
Es war Ebbe, und die Jollen, die alle einen Anstrich brauchten, lagen schief in einer Mondlandschaft aus schwarzem Schlamm. Harald hinkte zu einer freien Bank und faltete den Brief auseinander, den Queenie ihm geschrieben hatte.
Sie erinnerte sich. Nach all den Jahren. Und er hatte ganz normal weitergelebt, als ginge ihn, was sie getan hatte, überhaupt nichts an. Er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten. Er war ihr nicht gefolgt. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Neue Tränen traten ihm in die Augen, und der Himmel und der Gehweg verschwammen in eins. Dann schoben sich die wässrigen Umrisse einer Mutter mit einem Kind davor. Beide hielten Eiswaffeln in den Händen, die sie wie Fackeln vor sich hertrugen. Die Frau hob den Jungen hoch und setzte ihn auf das andere Ende der Bank.
»Schöner Tag«, sagte Harold. Er wollte nicht wie ein alter Mann erscheinen, der vor sich hin weinte. Die Frau blickte weder auf, noch stimmte sie ihm zu. Sie beugte sich über die Faust ihres Kindes und leckte seine Eiskugel glatt, damit sie nicht tropfte. Der Junge sah zu und hielt ganz still, das Gesichtchen so dicht an dem seiner Mutter, dass es fast damit verschmolz.
Harold fragte sich, ob er je mit David am Kai gesessen und Eis gegessen hatte. Hatte er bestimmt, auch wenn die Erinnerung verschüttet blieb. Er musste weiter. Er musste seinen Brief aufgeben.
Vor dem Old Creek Inn lachten Büroangestellte bei ihrem Mittagsbier, aber Harold bemerkte sie kaum. Als er die steile Fore Street hinaufzusteigen begann, dachte er an die Mutter, die so mit ihrem Sohn beschäftigt war, dass sie niemand anderen sah. Ihm fiel auf, dass immer nur Maureen mit David redete, ihm berichtete, was es Neues gab. Maureen hatte alle Briefe und Postkarten an David für Harold mit unterschrieben (Dad). Sogar das Pflegeheim für seinen Vater hatte Maureen gefunden. Harold drückte auf den Knopf der Fußgängerampel. Wenn Maureen seine Stelle einnahm, stellte sich doch die Frage: »Wer bin dann eigentlich ich?«
Er ging an der Post vorbei, ohne haltzumachen.
2
Harold, das Mädchen von der Tankstelle und eine Frage des Glaubens
Harold Fry war nun fast am oberen Ende der Fore Street angelangt. Er war an dem wegen Geschäftsaufgabe geschlossenen Woolworth vorbeigegangen, am bösen Metzger (»Der schlägt seine Frau«, sagte Maureen), am guten Metzger (»Seine Frau hat ihn verlassen«), am Uhrturm, an den Shambles-Arkaden und am Sitz der South Hams Gazette, und erreichte nun den letzten Laden.
Bei jedem Schritt spürte er ein Ziehen in den Wadenmuskeln. Die tiefeingeschnittene Meeresbucht hinter ihm glänzte in der Sonne wie eine Blechplatte; die Segelboote waren nur noch winzige weiße Flecke. Harold blieb beim Reisebüro stehen, und weil er sich ausruhen wollte, ohne dass es jemand bemerkte, tat er, als läse er die Schnäppchen-Angebote. Bali, Neapel, Istanbul, Dubai. Seine Mutter hatte früher so verträumt erzählt, sie würde am liebsten in Länder mit tropischen Bäumen und Frauen mit Blumen im Haar entfliehen, dass er als Junge dieser unbekannten Welt instinktiv misstraute. Das änderte sich auch nicht, als er Maureen heiratete und David geboren wurde. Sie verbrachten jedes Jahr zwei Wochen in derselben Ferienanlage in Eastbourne. Harold holte ein paarmal tief Luft, bis sich sein Atem beruhigte, und ging weiter in Richtung Norden.
Die Läden wichen Wohnhäusern, manche aus dem unverputzten rosagrauen Stein, der hier in Devon vorkam, andere farbig gestrichen, wieder andere mit Schieferplatten verkleidet; dann folgten die Stichstraßen zu Neubausiedlungen. Magnolien begannen zu blühen, üppige weiße Sterne auf Ästen, die so kahl waren, dass sie aussahen wie nackt. Es war schon ein Uhr; Harold hatte die Mittagsleerung verpasst. Er würde sich eine Kleinigkeit zu essen kaufen, die ihm über den Hunger hinweghalf, und dann den nächsten Briefkasten suchen. Harold wartete eine Lücke im Verkehr ab und überquerte die Straße zu einer Tankstelle, an der die Häuser aufhörten und die Felder anfingen.
Ein junges Mädchen gähnte an der Kasse. Über T-Shirt und Hose trug sie eine Weste mit einem Button, auf dem zu lesen war: Was kann ich für Sie tun? Zwischen ihren fettigen Haarsträhnen standen ihre Ohren hervor, ihre aknenarbige Haut war blass, als wäre sie lange nicht an die frische Luft gekommen. Sie wusste nicht, wovon Harold redete, als er nach einem »kleinen Imbiss« fragte. Sie machte den Mund auf und schloss ihn nicht wieder, als klemmte er, dass Harold fürchtete, Stunden später würde sie immer noch so dastehen. »Einen Snack?«, verdeutlichte er. »Eine kleine Stärkung?«
Schließlich flatterten ihre Augenlider. »Ach, Sie meinen einen Burger«, sagte sie, trottete zur Kühlung und zeigte ihm, wie er sich in der Mikrowelle einen BBQ-Riesen-Cheesie mit Pommes warmmachen konnte.
»Du meine Güte!«, sagte Harold, als sie zusahen, wie sich der Burger in seiner Schachtel hinter der Glasscheibe drehte. »Ich hatte keine Ahnung, dass man an der Tankstelle eine richtige Mahlzeit bekommt.«
Das Mädchen nahm den Burger aus der Mikrowelle und stellte Harold eine Schale mit Ketchup- und Grillsauce-Tütchen hin. »Haben Sie auch getankt?«, fragte sie und wischte sich langsam die Hände ab. Sie waren klein wie Kinderhände.
»Nein, nein, ich bin nur so vorbeigekommen. Zu Fuß übrigens. «
»Ach ja?«, sagte sie.
»Ich möchte einen Brief an eine Frau einwerfen, die ich mal gut kannte. Leider hat sie Krebs.« Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass er, bevor er das bewusste Wort aussprach, eine Pause machte und die Stimme dämpfte. Er ertappte sich auch dabei, dass er mit den Fingern eine kleine Nuss formte.
Das Mädchen nickte. »Meine Tante hatte auch Krebs«, sagte sie. »Der ist wirklich überall.« Sie ließ den Blick die Regale hinauf- und hinunterwandern, als verberge sich der Krebs womöglich sogar hinter den Straßenkarten und der Autopolitur. »Aber man muss trotzdem positiv denken.«
Harold hörte auf zu kauen und tupfte den Mund mit einer Papierserviette ab. »Positiv?«
»Man muss glauben. Meine ich jedenfalls. Es geht gar nicht um Medizin und das ganze Zeug. Man muss daran glauben, dass ein Mensch wieder gesund werden kann. Unser Geist ist viel größer, als wir begreifen. Wenn wir fest an etwas glauben, können wir alles schaffen.«
Harold sah die junge Frau ehrfürchtig an. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber auf einmal schien sie von Licht übergossen, als wäre die Sonne gewandert; ihre Haare und ihre Haut hatten etwas Schimmerndes, Transparentes. Vielleicht starrte er sie zu aufdringlich an, denn sie zuckte mit den Schultern und sog an ihrer Unterlippe. »Rede ich Mist?«
»Aber nein! Gar nicht! Das ist sehr interessant. Ich fürchte, ich habe zur Religion nie den rechten Draht gefunden.«
»Ich meine das auch nicht, äh, religiös. Ich meine, wir müssen dem Unbekannten vertrauen, müssen sogar darauf setzen. Daran glauben, dass wir etwas bewegen können.« Sie zwirbelte eine Haarsträhne um den Finger.
Harold war noch nie einer so schlichten Sicherheit begegnet, schon gar nicht bei einem so jungen Menschen. Wie sie es sagte, klang es völlig einleuchtend. »Und sie ist gesund geworden, ja? Ihre Tante? Weil Sie daran geglaubt haben? «
Der Finger war so fest mit der Strähne umwickelt, dass Harold befürchtete, er würde sich nie wieder daraus lösen lassen. »Sie hat gesagt, es lässt sie hoffen, nachdem alles andere weggebrochen ist ...«
»Arbeitet hier jemand?«, rief ein Mann im Nadelstreifenanzug von der Theke. Er klopfte mit den Autoschlüsseln auf der harten Platte herum, machte die Zeit, die er hier verschwendete, als Getrommel hörbar.
Das Mädchen schlängelte sich durch die Regale zur Kasse zurück, wo der Nadelgestreifte demonstrativ auf seine Armbanduhr schaute. Er hielt das Handgelenk hoch und deutete auf das Zifferblatt. »Ich muss in dreißig Minuten in Exeter sein.«
»Benzin?«, fragte das Mädchen und nahm wieder ihren üblichen Platz vor Zigaretten und Lotterielosen ein. Harold versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen, aber sie reagierte nicht. Sie war in die träge, geistlose Person von vorhin zurückgeschlüpft, als hätte das Gespräch über ihre Tante nie stattgefunden.
Harold ließ das Geld für den Burger auf der Theke liegen und ging zur Tür. Glaube? Hatte sie nicht dieses Wort benutzt? Es begegnete ihm nicht oft und berührte ihn seltsam. Auch wenn er nicht sicher war, was sie mit Glauben meinte oder woran er selbst noch glaubte, hallte das Wort verblüffend hartnäckig in ihm nach. Mit fünfundsechzig hatte er sich auf Schwierigkeiten eingerichtet. Die Gelenke wurden steif, ein dumpfer Dauerton summte in seinen Ohren, seine Augen tränten beim leisesten Windzug, ein spitzer Brustschmerz kündigte Unheilvolles an. Aber was stieg da für ein Gefühl in ihm hoch, dass sein Körper brummte vor Energie? Er lief in Richtung A381 los und nahm sich wieder fest vor, beim nächsten Briefkasten stehen zu bleiben.
So verließ er Kingsbridge. Die Straße wurde erst einspurig, dann verschwanden auch die Gehwege. Die Bäume über ihm schlossen ihre Äste zu einem Tunneldach zusammen, in dem sich Blütenwolken und spitze Blattknospen nur so verhedderten. Mehr als einmal musste er sich in einen Weißdornstrauch drücken, um dem Verkehr auszuweichen. Viele Fahrer saßen allein im Auto, vermutlich Büroangestellte, weil ihre Gesichter so starr wirkten, als wäre alle Freude herausgepresst. Es gab einige Frauen, die Kinder herumkutschierten, und auch sie sahen müde aus. Sogar die älteren Paare wie er selbst und Maureen hatten etwas Steifes. Harold spürte den Drang zu winken, verzichtete aber lieber darauf. Er atmete schwer, weil ihn das Gehen anstrengte, und wollte niemanden beunruhigen.
Das Meer lag hinter ihm; vor ihm dehnte sich eine bewegte Hügellandschaft aus, an ihrem Ende die blauen Umrisse des Granitmassivs von Dartmoor. Und dahinter? Die Blackdown Hills, die Mendips, die Malverns, die Pennines, die Yorkshire Dales, die Cheviot Hills und Berwick upon Tweed.
Aber gleich hier, auf der anderen Straßenseite, standen ein Briefkasten und ein Stück weiter eine Telefonzelle. Harolds Weg war zu Ende.
Sein Gang wurde schleppend. Er war an so vielen Briefkästen vorbeigelaufen, dass er gar nicht mehr mitgezählt hatte, außerdem hatten ihn zwei Postautos und ein Motorradkurier überholt. Wieder dachte er an alles, was er hatte davonziehen lassen. Lächelnde Gesichter. Angebote, zusammen ein Bier trinken zu gehen. Menschen auf dem Parkplatz der Brauerei, an denen er immer wieder vorbeigegangen war, ohne den Kopf zu heben. Nachbarn, deren Nachsendeadressen er nie aufgehoben hatte. Schlimmer noch: seinen Sohn, der nicht mit ihm redete, und seine Frau, die er im Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich an seinen Vater im Pflegeheim und an den Koffer seiner Mutter neben der Tür. Und jetzt hatte sich diese Frau gemeldet, die ihm vor zwanzig Jahren ihre Freundschaft bewiesen hatte. War das der Lauf der Dinge? Dass er immer, wenn er etwas tun wollte, genau einen Augenblick zu spät kam? Alle Bruchstücke eines Lebens letztlich loslassen musste, als ergäben sie keinen Sinn? Das Bewusstsein seiner Hilflosigkeit drückte Harold so nieder, dass ihm ganz schwach wurde. Ein Brief genügte nicht. Es musste doch eine Möglichkeit geben, etwas zu bewirken. Er tastete in der Jackentasche nach seinem Handy, um festzustellen, dass er es zu Hause hatte liegen lassen. In seinem tiefen Kummer wankte er auf die Straße hinaus.
Ein Lieferwagen bremste quietschend und streifte ihn fast im Vorbeifahren. »Pass doch auf, du Idiot!«, schrie der Fahrer.
Harold hörte es kaum. Auch den Briefkasten nahm er kaum wahr. Noch bevor sich die Tür der Telefonzelle hinter ihm schloss, hielt er den Brief, den Queenie ihm geschrieben hatte, in der Hand.
Er fand die Absenderadresse und Telefonnummer, aber seine Finger zitterten so sehr, dass er die Tasten kaum drücken konnte. In der reglosen, drückenden Luft wartete er auf den Klingelton. Er spürte, wie ihm zwischen den Schulterblättern der Schweiß herunterrann.
Nach zehnmal Klingeln klickte es endlich, und eine Stimme meldete sich in breitem schottischen Dialekt: »Bernardino- Hospiz. Guten Tag.«
»Ich würde gern mit einer Patientin sprechen, bitte. Ihr Name ist Queenie Hennessy.«
Aus dem Hörer kam Schweigen.
Er fügte hinzu: »Es ist sehr dringend. Ich muss wissen, wie es ihr geht.«
Es hörte sich an, als atmete die Frau mit einem langen Seufzer aus. Eine Gänsehaut lief Harold über den Rücken. Queenie war tot; er kam zu spät. Wieder einmal. Er presste die Fingerknöchel auf den Mund.
Die Stimme sagte: »Ich fürchte, Miss Hennessy schläft gerade. Kann ich etwas ausrichten?«
Kleine Wolken jagten ihre Schatten über das Land. Das Licht über den fernen Hügeln war rauchgrau, nicht, weil es schon dämmerte, sondern weil so riesige Landmassen davorlagen. Er hatte das Bild vor Augen, wie Queenie am einen Ende Englands schlummerte und er selbst am anderen Ende in der Telefonzelle stand, dazwischen zahllose unbekannte Dinge, die er sich nur vorstellen konnte: Straßen, Felder, Flüsse, Wälder, Moor und Heide, Berge und Täler, und Menschen über Menschen. Ihnen allen würde er begegnen und weiterziehen. Es brauchte kein Überlegen, kein Abwägen. Die Entscheidung kam zugleich mit der Idee. Er lachte, wie einfach es war.
»Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg. Sie braucht nur durchzuhalten. Denn ich werde sie retten, wissen Sie. Ich werde laufen, und sie muss weiterleben. Werden Sie ihr das sagen?«
Die Stimme versicherte es ihm. Ob es sonst noch etwas gebe? Kannte er zum Beispiel die Besuchszeiten? Die Parkbeschränkungen?
Er wiederholte: »Ich komme nicht mit dem Auto. Ich will, dass sie lebt.«
»Entschuldigung. Haben Sie etwas von Ihrem Auto gesagt? «
»Ich bin zu Fuß unterwegs, von Südengland aus. Von Devon den ganzen Weg bis nach Berwick upon Tweed.«
Die Stimme seufzte verärgert. »Die Verbindung ist furchtbar. Was machen Sie?«
»Ich komme zu Fuß«, rief er.
»Ach so«, sagte die Stimme langsam, als hätte die Frau zu einem Stift gegriffen und würde seine Nachricht mitnotieren. »Sie kommen zu Fuß. Das werde ich ihr sagen. Soll ich ihr sonst noch etwas ausrichten?«
»Ich breche jetzt auf. Solange ich gehe, muss sie leben. Bitte sagen Sie ihr, dass ich sie dieses Mal nicht im Stich lassen werde.«
Als Harold auflegte und aus der Telefonzelle trat, klopfte sein Herz so schnell, dass er das Gefühl hatte, es wäre für seine Brust zu groß und würde sie sprengen. Mit zitternden Fingern zog er die Umschlagklappe seines eigenen Briefs vorsichtig wieder auf und nahm seine Antwort heraus. Er drückte das Blatt gegen die Glasscheibe und kritzelte ein PS dazu: Warten Sie auf mich. H. Dann warf er den Brief ein und spürte es kaum, dass er ihn nun nicht mehr hatte.
Harold starrte auf das Band der Straße, das vor ihm lag, auf die finstere Mauer des Dartmoor-Massivs und auf die Segelschuhe an seinen Füßen. Er fragte sich, worauf er sich um Himmels willen gerade eingelassen hatte.
Über ihm flog mit knatternden Schwingen eine Möwe und lachte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Rachel Joyce
Rachel Joyce weiß, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. Ihr erster Roman „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry", wurde für den Booker-Preis nominiert, mit dem Specsavers National Book Award für das beste Debüt prämiert, eroberte in über 30 Ländern die Bestellerlisten und wird verfilmt. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rachel Joyce
- 2012, 10. Aufl., 384 Seiten, Maße: 14,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Andreas, Maria
- Übersetzer: Maria Andreas-Hoole
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810510793
- ISBN-13: 9783810510792
Rezension zu „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry “
"Wer Harold begegnet, den lässt er nicht wieder los." (The Times)
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