Der magische Zirkel, 1-3-Package
"Die Ankunft", "Der Verrat" und "Die Erlösung"
Die neue Serie der Autorin von "Tagebuch eines Vampirs"!
3 Bände im Set:
...
3 Bände im Set:
- Die Ankunft
- Der Verrat
- Die Erlösung
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der magische Zirkel, 1-3-Package “
Die neue Serie der Autorin von "Tagebuch eines Vampirs"!
3 Bände im Set:
Die Ankunft: Cassie ist todunglücklich, als sie aus dem sonnigen Kalifornien in das düstere New Salem umziehen muss. Doch schon bald findet sie eine neue Freundin - die wunderschöne Diana, die auch noch zur angesagtesten Clique der Schule gehört. Was Cassie nicht ahnt: Sie hat es mit einem uralten Kreis von Hexen zu tun. Und: Cassie ist eine von ihnen!
Der Verrat: Cassie hat im Hexenzirkel eine neue Heimat gefunden. Doch dann fühlt sie sich wie durch ein magisches Band zum attraktiven Adam hingezogen - der ausgerechnet mit Diana zusammen ist. Als die intrigante Faye Cassies Gefühle bemerkt, nutzt sie eiskalt ihre Chance: Sie erpresst Cassie, um Anführerin der Hexen zu werden - und setzt eine tödliche schwarze Macht frei.
Die Erlösung: Black John, der Gründer des Hexenzirkels, ist wieder aufgetaucht - und verfolgt einen perfiden Plan: Er will sich die Hexen untertan machen und ganz New Salem untergehen lassen. Einzig Cassie ist aufgrund eines düsteren Familiengeheimnisses in der Lage, das Unheil abzuwenden. Doch das Böse lauert bereits in den eigenen Reihen.
Magisch, packend, hochromantisch - die atemberaubende Trilogie von der Bestsellerautorin der Vampire Diaries!
3 Bände im Set:
- Die Ankunft
- Der Verrat
- Die Erlösung
Die Ankunft: Cassie ist todunglücklich, als sie aus dem sonnigen Kalifornien in das düstere New Salem umziehen muss. Doch schon bald findet sie eine neue Freundin - die wunderschöne Diana, die auch noch zur angesagtesten Clique der Schule gehört. Was Cassie nicht ahnt: Sie hat es mit einem uralten Kreis von Hexen zu tun. Und: Cassie ist eine von ihnen!
Der Verrat: Cassie hat im Hexenzirkel eine neue Heimat gefunden. Doch dann fühlt sie sich wie durch ein magisches Band zum attraktiven Adam hingezogen - der ausgerechnet mit Diana zusammen ist. Als die intrigante Faye Cassies Gefühle bemerkt, nutzt sie eiskalt ihre Chance: Sie erpresst Cassie, um Anführerin der Hexen zu werden - und setzt eine tödliche schwarze Macht frei.
Die Erlösung: Black John, der Gründer des Hexenzirkels, ist wieder aufgetaucht - und verfolgt einen perfiden Plan: Er will sich die Hexen untertan machen und ganz New Salem untergehen lassen. Einzig Cassie ist aufgrund eines düsteren Familiengeheimnisses in der Lage, das Unheil abzuwenden. Doch das Böse lauert bereits in den eigenen Reihen.
Magisch, packend, hochromantisch - die atemberaubende Trilogie von der Bestsellerautorin der Vampire Diaries!
Lese-Probe zu „Der magische Zirkel, 1-3-Package “
Die Ankunft von Lisa J. SmithAus dem Amerikanischen von Ingrid Gross
Kapitel Eins
... mehr
Eigentlich war es viel zu heiß und schwül für Cape Cod. Cassie hatte im Reiseführer nachgeschlagen. Dem Text nach sollte dieser Ort das reinste Paradies sein. Nur der giftige Efeu, die grünen Stechfliegen und die gefährlichen Strömungen in dem so trügerisch friedlichen Wasser, die der Reiseführer verschämt am Rande erwähnte, sprachen dagegen.
Das Buch warnte jedoch vor Picknicks auf den schmalen, der Küste vorgelagerten Halbinseln, denn bei Flut war man dort völlig vom Festland abgeschnitten, und die Insel konnte bei heftigem Wellengang überfl utet werden. Aber in diesem Moment hätte Cassie alles darum gegeben, auf einer dieser Halbinseln, die weit in den Atlantischen Ozean reichten, gestrandet zu sein - vorausgesetzt, dass sich Portia Bainbridge auf der anderen Seite des Ozeans befand.
Cassie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so elend gefühlt.
»... und mein anderer Bruder, du weißt doch, der, der jedes Tennisturnier seines Internats gewonnen hat und vor zwei Jahren sogar zu den Juniorenmeisterschaften gefahren ist, also, er ...« Portia quasselte ununterbrochen.
Cassie merkte, wie ihr Blick vor Langeweile wieder verschwamm, und versank in düsteres Schweigen. Beide Brüder von Portia besuchten Elite-Unis und waren in allen Gebieten Spitzenklasse. Portia selbst hielt sich auch bereits für hochgebildet und welterfahren, obwohl sie genau wie Cassie in diesem Jahr erst in die 11. Klasse der Highschool kam. Und da Portia am liebsten über sich selbst redete, hatte sie sich zu Cassies Leidwesen den letzten Monat über fast ausschließlich ihrem Lieblingsthema gewidmet. »... und bei den landesweiten Rhetorik-Wettbewerben bin ich Fünfte geworden! Mein Freund hat gesagt: ›Bei deinem Talent musst du später einmal Staatsanwältin werden, oder besser, du gehst in die Politik‹ ...«
Noch eine Woche, tröstete Cassie sich. Nur noch eine Woche, und ich kann nach Hause. Schon der Gedanke daran erfüllte sie mit solcher Sehnsucht, dass Tränen in ihre Augen traten. Nach Hause, wo ihre Freunde waren. Wo sie sich nicht wie eine Außenseiterin vorkam, die ungebildet, langweilig und dumm war, nur weil sie eine Venusmuschel nicht von anderen Muscheln unterscheiden konnte. Wo sie dann endlich wieder lachen konnte: über ihre ach so wunderbaren Ferien an der Ostküste.
»... da sagte mein Vater: ›Kind, warum kaufe ich es dir nicht einfach?‹ Aber ich wehrte ab: ›Nein, ich will mir das Geld dazu selbst verdienen.‹ Oder sollte ich vielleicht doch ...?«
Cassie starrte aufs Meer hinaus.
Cape Cod war wunderschön, daran lag es nicht. Die kleinen Häuser mit Zedernholzdächern, eingerahmt von weißen Holzzäunen, über die ein Meer von Rosen rankte, die gefl ochtenen Schaukelstühle auf den Veranden und die Geranien, die von den Dachsparren herunterhingen, sahen wirklich so bezaubernd wie auf den Ansichtskarten aus. Beim Anblick der Dorfwiesen und der altmodischen Schulhäuser kam Cassie sich wie in eine andere Zeit versetzt vor.
Aber jeden Tag aufs Neue musste sie sich mit Portia abgeben. Obwohl Cassie sich Abend für Abend vernichtend spöttische Erwiderungen auf Portias Gequatsche einfallen ließ, schaffte sie es nie, auch nur eine davon anzubringen. Doch viel schlimmer als alles, was Portia ihr jemals antun konnte, war das Gefühl, nicht dazuzugehören. Hier eine Fremde zu sein, die an der falschen Küste gestrandet war. Die kleine Wohnung daheim in Kalifornien erschien Cassie mehr und mehr wie der Himmel auf Erden.
Noch eine Woche, dachte sie. Du musst es nur noch eine Woche aushalten. Außerdem war Mom in letzter Zeit so blass und still ... Ein Anfl ug von Sorge durchzuckte Cassie, aber sie verdrängte das Gefühl schnell wieder. Mom geht es gut, redete sie sich ein. Sie fühlt sich hier wahrscheinlich genauso unwohl wie ich, obwohl sie in diesem Bundesstaat geboren wurde. Sicher zählt sie genauso wie ich die Tage, bis wir endlich wieder nach Hause können. Natürlich, das musste es sein. Deshalb sah Mom auch so unglücklich aus, wenn Cassie von ihrem Heimweh erzählte. Sie fühlte sich einfach schuldig, dass sie Cassie hierhergeschleppt und ihr diesen Ort in den glühendsten Farben als das reinste Ferienparadies geschildert hatte. Alles würde gut werden, wenn sie wieder nach Hause kamen. Für sie beide.
»Cassie! Hörst du mir überhaupt zu? Oder träumst du wieder mit offenen Augen?«
»Oh nein, nein, ich höre zu«, beteuerte Cassie schnell.
»Worüber habe ich denn gerade gesprochen?«
Cassie kam ins Schwitzen. Jungs?, dachte sie verzweifelt. Schule? Portias Erfolge ...? Sie war es zwar gewohnt, manchmal eine Träumerin genannt zu werden, aber das war ihr noch nie so oft wie hier passiert.
»Ich sagte gerade, dass man solche Typen nicht an den Strand lassen sollte«, erklärte Portia von oben herab. »Besonders nicht mit Hunden. Ich meine, ich weiß, dass das hier kein Privatstrand ist, aber wenigstens ist der Sand sauber. Nun schau dir das an!«
Cassie folgte Portias Blick. Ein junger Mann kam den Strand entlang. Das war alles. Unsicher blickte sie wieder zu Portia.
»Er arbeitet auf einem Fischerkahn.« Portia rümpfte die Nase, als könnte sie den Fischgeruch bis hierher riechen. »Ich hab ihn heute Morgen am Pier beobachtet, wie er Fische ausgeladen hat. Ich bezweifle, dass er danach seine Sachen gewechselt hat. So was von schmierig und widerlich. « Cassie konnte nichts Ungepflegtes an dem Fremden entdecken. Er hatte dunkelrotes Haar und war groß. Selbst aus der Entfernung erkannte sie, dass er lächelte. Ein Hund trottete an seiner Seite.
»Wir sprechen niemals mit den Typen von den Fischerbooten. Sie sind Luft für uns.« Portia wedelte mit der Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. Cassie konnte mit ansehen, dass es stimmte. Es befanden sich vielleicht ein Dutzend Mädchen in Zweier- und Dreiergrüppchen am Strand. Einige waren mit Jungen zusammen, die meisten jedoch nicht. Als der junge Mann vorbeiging, ignorierten sie ihn völlig, drehten den Kopf weg und blickten in die andere Richtung. Und das war kein Flirtversuch wie Wegschauen - wieder Hinschauen - Kichern. Blanke Ablehnung lag in ihrem Verhalten. Als er näher herankam, sah Cassie, dass sein Lächeln immer bitterer wurde.
Die beiden Mädchen, die Cassie und Portia am nächsten waren, wandten sich jetzt mit verächtlichen Mienen ab. Cassie beobachtete, wie der Fremde leicht mit den Schultern zuckte, als hätte er nichts anderes erwartet. Sie konnte immer noch nicht erkennen, was an ihm so abstoßend sein sollte. Er trug abgeschnittene, zerfranste Jeans und ein T-Shirt, das bessere Tage gesehen hatte, aber so waren viele andere Jungen auch gekleidet. Der Hund lief brav neben ihm, wedelte leicht mit dem Schwanz und war freudig und aufmerksam. Er belästigte niemanden. Cassie hob den Blick, neugierig auf die Augen des Fremden.
»Schau weg«, zischte Portia. Der junge Mann ging gerade an ihnen vorbei. Cassie senkte schnell die Augen. Sie gehorchte automatisch, obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte. Ihn so zu schneiden erschien ihr böse, unnötig und gemein. Sie schämte sich ein wenig, doch sie schaffte es nicht, sich Portia zu widersetzen.
Cassie starrte auf ihre Finger, die durch den Sand fuhren. Sie konnte im grellen Sonnenlicht jedes Körnchen erkennen. Von Weitem sah der Sand weiß aus, aber aus der Nähe schimmerte er in vielen Farben, war durchsetzt mit graugrüner Glimmererde, pastellfarbenen Muschelteilchen und roten Quarzsplittern, die wie winzige Rubine funkelten. Es ist nicht fair, entschuldigte sie sich in Gedanken bei dem jungen Mann, der sie natürlich nicht hören konnte. Es tut mir leid. Das hier ist billig und ungerecht. Ich wünschte, ich könnte etwas daran ändern, aber ich kann es nicht.
Eine nasse Nase stieß an ihre Hand.
Es geschah so unerwartet, dass sie erschrocken Luft holte. Ein Kichern blieb ihr im Hals stecken. Der Hund stieß sie wieder mit der Nase an. Nicht fragend, sondern fordernd. Cassie streichelte ihn, kraulte die kurzen, seidig-struppigen Haare auf seiner Schnauze. Es musste ein Deutscher Schäferhund sein, zumindest ein Mischling. Ein schöner, großer Hund mit intelligenten braunen Augen. Es sah aus, als lachte er. Cassie fühlte, wie die starre Maske zerbröckelte, hinter der sie sich verborgen hatte. Sie lachte zurück.
Dann, bevor sie es verhindern konnte, schaute sie schnell zum Besitzer des Hundes auf. Sie sah ihm direkt in die Augen.
Später würde Cassie immer wieder an diesen Moment denken, an den Moment, in dem sie zu ihm hoch- und er zu ihr hinuntergeblickt hatte. Seine Augen waren blaugrau und geheimnisvoll verhangen wie das Meer an manchen Tagen.
Sein Gesicht war ungewöhnlich; nicht im üblichen Sinne hübsch, dafür jedoch interessant und faszinierend mit hohen Wangenknochen und einem energischen Mund. Stolz und Unabhängigkeit, Humor und Sensibilität, all das vereinte sich in seinen Zügen. Während er sie ansah, erhellte sich seine düstere Miene, und etwas leuchtete in diesen blaugrauen Augen auf wie ein Sonnenstrahl, der auf den Wellen glitzerte.
Normalerweise war Cassie Jungen gegenüber schüchtern, besonders, wenn sie sie nicht kannte. Aber dieser hier war nur ein armer Arbeiter von den Fischerbooten. Er tat ihr leid, und sie wollte nett zu ihm sein. Außerdem konnte sie einfach nicht anders. Und deshalb erwiderte sie seinen Blick ebenso strahlend. Von seinem Lächeln angesteckt, begann sie fröhlich zu lachen und versuchte erst gar nicht mehr, es zu unterdrücken. In diesem Augenblick war es so, als teilten sie ein Geheimnis, in das niemand hier am Strand eingeweiht war. Der Hund wedelte wie wild mit dem Schwanz, als ob auch er es kennen würde.
»Cassie!«, fauchte Portia wutentbrannt
Cassie merkte, wie sie rot wurde, und riss ihren Blick vom Gesicht des Fremden los. Portia schien einem Schlaganfall nahe zu sein.
»Raj!«, rief der junge Mann. Er lachte nicht mehr und entfernte sich ein paar Schritte. »Bei Fuß!«
Mit sichtlichem Widerwillen gehorchte der Hund, wedelte dabei aber immer noch mit dem Schwanz. Es ist nicht fair, dachte Cassie erneut. Überrascht zuckte sie zusammen, als sie die Stimme des Jungen hörte.
»Das ganze Leben ist nicht fair«, sagte er.
Sie fuhr herum. Erschrocken fl og ihr Blick zu seinem Gesicht hoch. Seine Augen waren so dunkel wie das Meer bei einem Sturm. Sie konnte es klar erkennen und fürchtete sich einen Moment, als habe sie etwas Verbotenes gesehen, etwas, das über ihren Verstand hinausging. Das mächtig war. Mächtig und fremd.
Und dann ging er weg. Der Hund tollte hinter ihm her. Der junge Mann sah sich nicht mehr um.
Wie benommen starrte Cassie ihm nach. Sie hatte nicht laut gesprochen. Sie war sicher, dass sie nicht laut gesprochen hatte. Doch wie hatte er sie dann hören können?
Ihre Gedanken wurden unterbrochen durch ein tiefes Luftholen neben ihr. Cassie wusste genau, was Portia sagen würde. Der Hund hatte vermutlich Räude und Flöhe und Würmer und Skrofeln - alles zusammen. Cassies Handtuch wimmelte in dieser Minute sicher nur so von Parasiten.
Aber Portia schwieg. Auch sie schaute den immer kleiner werdenden Gestalten des Fremden und seines Hundes nach, die zu den Dünen gingen und dann im Seegras in einen kleinen Pfad einbogen. Obwohl sie sichtlich angewidert war, spiegelte sich noch etwas anderes auf ihrem Gesicht - eine Art düsteres Grübeln und aufkeimender Argwohn. Beides war Cassie völlig fremd an ihr.
»Was ist los, Portia?«
Portia kniff die Augen zusammen. »Ich glaube«, stieß sie langsam zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor, »ich habe ihn schon mal gesehen.«
»Klar, an der Anlegestelle der Fischerboote. Hast du mir eben selbst erzählt.«
Portia schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nicht das! Halt den Mund und lass mich nachdenken.«
Verblüfft gehorchte Cassie ihr. Portia starrte weiter vor sich hin. Nach ein paar Minuten begann sie zu nicken, als wollte sie sich selbst etwas bestätigen. Ihr Gesicht war rotgefl eckt, und das war nicht etwa ein Sonnenbrand.
Abrupt stand sie auf und murmelte immer noch nickend ein Wort. Sie atmete jetzt hektisch.
»Portia?«
»Ich muss etwas erledigen.« Sie winkte Cassie mit einer Hand zu, ohne sie anzusehen. »Du bleibst hier.«
»Was ist denn los?«
»Nichts!« Portia warf ihr einen scharfen Blick zu. »Gar nichts ist los. Vergiss das Ganze. Wir sehen uns später.« Sie lief davon und rannte die Dünen hoch zu dem Ferienhaus, das ihre Familie besaß.
Zehn Minuten früher wäre Cassie vor Freude in die Luft gesprungen, wenn Portia sie, egal aus welchem Grund, allein gelassen hätte. Doch jetzt konnte sie es nicht genießen. Ihre Gedanken waren aufgewühlt wie die blaugrauen Wellen des Meeres vor einem Orkan. Sie war aufgekratzt und traurig zugleich, und in diese Gefühle mischte sich noch etwas anderes: Angst.
Am merkwürdigsten war das, was Portia gemurmelt hatte, bevor sie aufgestanden war. Es war sehr leise gewesen, und Cassie glaubte nicht, dass sie es richtig verstanden hatte. Sie musste sich einfach verhört haben. Man konnte einen jungen Mann doch nicht einfach Hexer nennen. Ausgeschlossen!
Reg dich ab, mahnte sie sich. Mach dir keine Sorgen, sei glücklich. Endlich allein!
Aber sie konnte sich nicht entspannen. Sie stand auf und griff nach ihrem Handtuch. Nachdem sie es sich um die Hüften geknotet hatte, folgte sie dem Weg, den der junge Mann gegangen war.
Kapitel Zwei
Als Cassie zu der Stelle kam, an der der junge Mann abgebogen war, kletterte sie zwischen kümmerlichen Häufchen von trockenem Gras die Düne hoch. Oben sah sie sich um. Nur Pinien und Eichen. Kein Fremder, kein Hund. Stille.
Und ihr war so heiß.
Cassie wandte sich wieder dem Meer zu und ignorierte die leise Enttäuschung und die merkwürdige Leere, die sie plötzlich empfand. Sie würde schwimmen gehen und sich ein wenig abkühlen. Portias Probleme gingen sie nichts an. Und was den rothaarigen Fremden betraf - nun, sie würde ihn wahrscheinlich sowieso nie mehr wiedersehen, und er ging sie ebenfalls nichts an.
Ein kleiner Schauder überlief sie. Einer von der Sorte, bei denen man sich fragte, ob nicht eine Krankheit im Anmarsch sein könnte. Das muss die Hitze sein, entschied Cassie. Mir ist schon so heiß, dass mich fröstelt. Ich muss unbedingt schnell ins Wasser.
Die Wellen waren kalt, denn der Strand war hier durch keine Bucht vor dem offenen Meer geschützt. Sie watete bis auf Kniehöhe hinein und ging weiter den Strand entlang.
Als sie einen Bootssteg erreichte, verließ sie das Wasser und lief darauf zu. Nur drei Boote waren dort festgemacht: zwei Ruderboote und ein Motorboot. Alles war völlig verlassen.
Es war genau das, was Cassie jetzt brauchte.
Sie nahm das dicke, zerfranste Absperrtau, das Unbefugte wie sie eigentlich fernhalten sollte, von seinem Haken, betrat den Steg und wanderte ihn entlang. Das verwitterte Holz knarrte unter ihren Schritten. Zu beiden Seiten erstreckte sich der Ozean. Als sie zum Strand zurückschaute, sah sie, dass sie die anderen Sonnenanbeter weit hinter sich gelassen hatte. Eine leise Brise blies ihr ins Gesicht, streichelte ihr Haar und kitzelte ihre nackten Beine. Plötzlich fühlte sie sich - sie konnte es nicht richtig erklären - wie ein Ballon, der vom Wind erfasst wird und in die Lüfte steigt. So leicht und so frei.
Cassie wollte die Arme ausbreiten, um den Wind und den Ozean darin einzuschließen, doch sie traute sich nicht ganz. So frei fühlte sie sich nun doch noch nicht. Aber sie lächelte, als sie das Ende des Stegs erreicht hatte. Der Himmel und der Ozean hatten die gleiche dunkelblaue Färbung, nur, dass der Himmel am Horizont etwas heller wurde. Seeschwalben und Möwen kreisten über ihrem Kopf.
Ich sollte ein Gedicht schreiben, dachte sie. Zu Hause unter ihrem Bett hatte sie ein ganzes Heft voller Gedichte versteckt. Sie zeigte sie kaum jemandem, las aber jeden Abend darin. Doch im Moment fehlten ihr die Worte. Trotzdem war es schön, hier draußen zu sein, das Salz des Meeres zu riechen, die warmen Planken unter sich zu fühlen und das sanfte Plätschern des Wassers gegen die Holzpfähle zu hören.
Es war ein hypnotisches Geräusch, rhythmisch wie ein gigantischer Herzschlag, fast so, als würde man das Atmen der Erde selbst hören, und dabei seltsam vertraut. Sie saß still da, lauschte, schaute in die Ferne und bemerkte, wie ihr eigener Atem immer langsamer wurde. Zum ersten Mal, seit sie nach Neuengland gekommen war, fühlte sie sich, als gehörte sie dazu. Sie war ein Teil dieser unendlichen Weite von Himmel, Erde und Meer. Ein winziger Teil des Universums - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Und plötzlich dämmerte es ihr, dass dieser Teil vielleicht gar nicht so klein war. Sie war zunächst in den Rhythmus der Erde eingetaucht, doch jetzt schien es fast, als kontrollierte sie diesen Rhythmus. Als ob die Elemente eins mit ihr wären und ihrem Befehl gehorchten. Sie konnte den Puls der Erde in sich spüren: stark, tief und widerhallend. Hypnotisch und drängend wie die Trommeln von Voodoo- Priestern, deren Klang niemand widerstehen konnte. Mit jedem Schlag wuchsen Spannung und Vorahnung in ihr, als ob sie auf etwas ... warten würde.
Aber auf was?
Sie starrte auf das Meer hinaus und fühlte, wie die Worte zu ihr kamen. Es war nur ein kleiner Vers, in der Art eines Kinderabzählreims.
Sonne, Mond und Meeresstern - haltet Kummer von mir fern.
Merkwürdig war, dass es ihr nicht so vorkam, als hätte sie dies gerade erfunden. Es war eher wie etwas, das sie vor langer Zeit einmal gelesen oder gehört hatte. Ein kurzer Erinnerungsfetzen stieg vor ihrem geistigen Auge auf: Sie lag in den Armen von jemandem und schaute aufs Meer hinaus, wurde hochgehoben und hörte die Worte:
Sonne, Mond und Meeresstern - haltet Kummer von mir fern. Erde, Glut und Feuerschein ...
Nein.
Cassie überlief eine Gänsehaut. Sie konnte wie nie zuvor die Weite des Himmels über sich spüren, die felsige Erdkruste und den unendlichen Ozean, Welle auf Welle bis hin zum Horizont und weiter. Und es schien, als ob alles wartete, sie beobachtete und ihr lauschen würde.
Bring es nicht zu Ende, dachte sie. Sag nichts mehr. Plötzlich hatte sie die völlig unerklärliche Gewissheit, dass sie sich in Sicherheit befand, solange sie die letzten Worte des Gedichts nicht aufsagte. Alles würde so bleiben wie bisher. Sie würde nach Hause fahren und ihr ruhiges, normales Leben friedlich weiterführen. Wenn sie die letzten Worte nicht aussprach, würde alles in Ordnung sein.
Aber das Gedicht ließ sie nicht los, betörte sie wie sanfte Musik, die aus weiter Ferne kam, und die letzten Worte reihten sich geradezu wie von Geisterhand an den Vers. Cassie war machtlos.
Sonne, Mond und Meeresstern - haltet Kummer von mir fern. Erde, Glut und Feuerschein, lasst ... den Liebsten bei mir sein.
Ja.
Oh, was habe ich bloß getan?
Es war, als würde ein straff gespanntes Band zerreißen. Cassie merkte, dass sie aufgesprungen war und heftig atmend auf den Ozean hinausschaute. Etwas war geschehen. Sie konnte spüren, wie sich die Elemente von ihr zurückzogen. Die Verbindung war unterbrochen.
Sie fühlte sich nicht länger leicht und frei, sondern war verwirrt, mit sich selbst im Widerspruch und wie elektrisch aufgeladen. Plötzlich sah der Ozean noch unendlicher aus und geradezu feindlich. Sie drehte sich abrupt um und ging zurück zum Strand.
Idiotin, schalt sie sich, während sie sich dem weißen Sand näherte, und ihre Angst verschwand. Wovor fürchtete sie sich eigentlich? Dass der Himmel und das Meer ihr tatsächlich zugehört hatten? Dass ihre Worte wirklich etwas bewirken könnten?
Sie konnte jetzt fast über ihre Befürchtungen lachen, und das Ganze war ihr peinlich. Die Fantasie war mit ihr durchgegangen. Cassie war immer noch in Sicherheit, und alles ging wieder seinen normalen Gang. Worte sind nur Schall und Rauch, dachte sie.
Aber dann sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung, und sie würde sich ihr Leben lang daran erinnern, dass sie tief in ihrem Inneren in diesem Moment kein bisschen überrascht davon war.
Am Strand passierte etwas.
Es war der rothaarige junge Mann. Er raste an den Pinien vorbei die Düne herunter. Plötzlich und völlig unerklärlich war Cassie ganz ruhig. Sie eilte die letzten Meter den Steg entlang dem Fremden entgegen.
Der Hund hielt problemlos das Tempo seines Herrchens. Er schaute zu ihm hoch, als wollte er sagen: Tolles Spiel, und was kommt als Nächstes? Aber am Gesichtsausdruck des Jungen und der Art, wie er rannte, erkannte Cassie, dass es kein Spiel war.
Er schaute sich hektisch auf dem jetzt verlassenen Strand um. Ungefähr hundert Meter weiter links machte die Landzunge eine scharfe Kurve, und man konnte nicht erkennen, was sich dahinter verbarg. Sein Blick traf Cassie. Einen Moment lang sahen sie sich stumm an. Dann wandte er sich abrupt ab und lief auf die Landzunge zu.
Cassies Herz klopfte wie wild. »Warte!«, rief sie eindringlich.
Er drehte sich um und musterte sie schnell mit seinen blaugrauen Augen.
»Wer ist hinter dir her?«, fragte sie, obwohl sie es sich denken konnte.
Er antwortete scharf und knapp. »Zwei Typen, die aussehen wie Schwergewichtsboxer.«
Cassie nickte. Ihr Herz klopfte schneller. Aber ihre Stimme war weiterhin ruhig. »Jordan und Logan Bainbridge. «
»Das passt.«
»Hast du schon von ihnen gehört?«
»Nein. Aber diese schrägen Namen passen zu ihnen.«
Cassie hätte beinahe gelacht. Sein Aussehen gefiel ihr. Er war vom Wind zerzaust, wachsam und trotz des schnellen Laufens kaum außer Atem. Und sie mochte das herausfordernde Funkeln seiner Augen und seine Schlagfertigkeit, obwohl er in Gefahr war.
»Raj und ich würden schon mit den beiden fertigwerden, doch sie haben ein paar Freunde mitgebracht«, erklärte er und wandte sich wieder ab. Einen Schritt rückwärts gehend, fügte er hinzu: »Du machst besser auch, dass du von hier wegkommst. Du willst diesen Schlägertypen sicher nicht begegnen - und es wäre nett, wenn du so tun könntest, als hättest du mich nie gesehen.«
»Nun warte doch mal!«, rief Cassie.
Sie hatte überhaupt nichts zu tun mit der ganzen Aktion, die da ablief ... Und trotzdem sprach sie einfach weiter, ohne zu zögern. Es lag an seiner ganzen Ausstrahlung, sie musste ihm einfach helfen. »Der Weg dort ist eine Sackgasse. Hinter der Landzunge kommen nur Klippen. Da sitzt du fest.«
»Aber der andere Weg ist zu offen. Sie würden mich sofort sehen. Sie waren nämlich nur knapp hinter mir.«
Cassies Gedanken überschlugen sich. Plötzlich hatte sie eine Lösung. »Versteck dich in dem Boot.«
»Was?«
»Mensch, in dem Boot! Dem Motorboot, dort am Steg.« Sie deutete darauf. »Du kannst in die Kabine klettern. Da entdecken sie dich nicht.«
Sein Blick folgte ihr, doch er schüttelte den Kopf. »Und wenn doch? Dann säße ich richtig in der Falle. Außerdem schwimmt Raj nicht gern.«
»Sie werden dich nicht finden«, versicherte Cassie. »Sie werden sich dem Boot nicht einmal nähern. Ich werde ihnen sagen, dass du zu den Klippen gelaufen bist.«
Sein Lächeln schwand. Er sah sie an. »Du verstehst wohl nicht. Das sind ziemlich harte Typen mit noch härteren Umgangsformen.«
»Ist mir egal«, sagte Cassie ungeduldig. Sie packte ihn am Arm und zog und stieß ihn halb auf den Steg. Schnell, schnell, drängte etwas in ihrem Kopf. Ihre Schüchternheit war verschwunden. Jetzt zählte nur noch, ihn möglichst rasch zu verstecken. »Was sollen die mir schon antun? Mich verprügeln? Ich bin nur eine unschuldige Passantin.«
»Aber ...«
»Bitte! Keine Widerrede. Rein ins Boot!«
Er starrte sie noch eine Sekunde an, dann drehte er sich um und gab Raj ein Zeichen. »Komm, alter Junge!« Er rannte den Steg entlang, kletterte geschickt in das Boot und duckte sich in die Kabine. Der Hund folgte ihm mit einem mächtigen Sprung und bellte fröhlich.
Ruhig, Raj, dachte Cassie verzweifelt. Die beiden waren jetzt im Boot verborgen, doch wenn jemand nahe heranging, würde er sie unweigerlich entdecken. Sie hängte das zerfranste Absperrtau wieder an seinen Haken und rannte vom Steg weg.
Cassie sah sich hektisch um und ging schließlich ans Wasser. Sie planschte ein bisschen, bückte sich und grub eine Handvoll nassen Sand und Muscheln aus. Sie ließ sich den Sand von den Wellen aus ihren lose zusammengehaltenen Händen waschen und behielt zwei oder drei kleine Muscheln zurück. Dann wiederholte sie das Ganze.
Laute Schreie drangen von den Dünen her.
Ich sammle Muscheln. Ich sammle nur Muscheln, dachte sie. Ich brauche jetzt nicht einmal aufzusehen. Das alles interessiert mich kein bisschen.
»He!«
Cassie hob den Kopf.
Eine Gang von vier Typen stand vor ihr, und die beiden vorderen waren Portias Brüder. Jordan war der Tenniscrack und Logan hatte als Scharfschütze Preise gewonnen. Oder umgekehrt?
»He, hast du jemanden aus den Dünen runterrennen sehen?«, fragte Jordan. Sie sahen sich nach allen Seiten um, aufgeregt wie Hunde, die eine Fährte verfolgten, und plötzlich fiel Cassie eine weitere Gedichtzeile ein: Vier Hunde, eine geschmeidig schlanke Meute, lauern lächelnd auf ihre Beute.
Allerdings waren die Jungen hier keineswegs schlank, und von Geschmeidigkeit konnte erst recht nicht die Rede sein. Sie waren muskelbepackt, verschwitzt - und außer Atem, wie Cassie mit leisem Spott feststellte.
»Das ist Portias Freundin Cathy«, erklärte Logan. »He, Cathy, hast du jemanden vor zwei Minuten die Dünen runterrennen sehen?«, wiederholte er Jordans Frage.
Cassie ging langsam, die Hände voller Muscheln, auf ihn zu. Ihr Herz klopfte so hart gegen ihre Rippen, dass sie sicher war, die Meute würde es sehen. Sie brachte kein Wort heraus.
»Kannst du nicht reden? Was machst du überhaupt hier?«
Stumm streckte Cassie die Hände aus und öffnete sie.
Die Jungen sahen sich an und grinsten abfällig. Cassie ging auf, was sie in den Augen dieser hochnäsigen Trottel war: ein zierliches Mädchen mit unauffälligem braunem Haar und stinknormalen blauen Augen. Nur ein kleines Highschool-Gänschen aus Kalifornien, dessen Vorstellung von Spaß darin bestand, schäbige Muscheln zu suchen.
»Hast du jemanden hier vorbeikommen sehen?«, wiederholte Jordan ungeduldig und zugleich so langsam, als hätte er es mit einer Taubstummen zu tun.
Mit trockenem Mund nickte Cassie und schaute in die Richtung, die zur Landzunge führte. Jordan trug eine offene Windjacke über seinem T-Shirt, was angesichts des heißen Wetters ziemlich merkwürdig war. Noch merkwürdiger war die Ausbeulung darunter, und als er sich umdrehte, sah Cassie Metall aufblitzen.
Eine Pistole?
Jordan muss der Scharfschütze sein. Unwillkürlich kam ihr dieser völlig belanglose Gedanke.
Jetzt, da sie etwas gesehen hatte, vor dem man sich wirklich fürchten musste, fand sie ihre Stimme wieder und sagte heiser. »Ein junger Mann und ein Hund sind vor ein paar Minuten in diese Richtung gelaufen.«
»Wir haben ihn! Er wird auf den Klippen festsitzen!«, jubelte Logan. Er und zwei seiner Freunde, die Cassie nicht kannte, rannten los. Aber Jordan wandte sich wieder ihr zu.
»Bist du sicher?«
Erschrocken sah sie zu ihm hoch. Warum fragte er das? Mit gespieltem Erstaunen riss sie die Augen weit auf und versuchte, so kindlich und dumm wie möglich auszusehen. »Ja ...«
»Das ist nämlich sehr wichtig.« Und plötzlich hatte er ihr Handgelenk gepackt. Cassie blickte überrascht auf die Muscheln, die zu Boden fielen, zu überrumpelt von seinem Angriff, um etwas zu erwidern. »Es ist sehr wichtig«, zischte Jordan. Sie fühlte, wie sein Körper sich anspannte, und roch seinen sauren Schweiß. Übelkeit überkam sie. Sie musste sich zusammenreißen, ihn weiterhin völlig verständnislos anzustarren. Für einen Moment hatte sie Angst, dass er sie an sich ziehen würde, doch er verdrehte nur ihr Handgelenk.
Cassie versuchte vergebens, einen Aufschrei zu unterdrücken. Aber der Schmerz und das, was sie in seinen Augen sah, waren stärker. In seinem Blick lag etwas Fanatisches, Grausames und loderte wie ein Feuer. Sie keuchte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Angst gehabt.
»Ja, ich bin sicher«, stieß sie atemlos hervor und starrte immer noch in diese vor Bosheit brennenden Augen. Sie erlaubte sich nicht, den Kopf abzuwenden. »Er ist dort hinunter und um die Landzunge herum.«
»Komm schon, Jordan. Lass sie!«, rief Logan. »Die ist doch noch ein Kind. Gehen wir!«
Jordan zögerte. Er weiß, dass ich lüge, dachte Cassie und war auf seltsame Weise fasziniert. Er weiß es, aber er hat Angst, seinem Wissen zu trauen, da er keine Ahnung hat, woher es stammt.
Glaube mir. Sie sah ihm geradewegs in die Augen und setzte ihren ganzen Willen ein, um ihn zu überzeugen. Glaube mir und geh. Glaube mir. Glaube mir.
Er ließ ihr Handgelenk los. »Tut mir leid«, murmelte er barsch. Dann drehte er sich um und folgte den anderen.
»Wer's glaubt ...«, flüsterte Cassie und blieb reglos stehen.
Ein Schauder überlief sie, während sie beobachtete, wie die Gang über den nassen Sand lief. Jordans Jacke flatterte lose im Wind. Plötzlich breitete sich eine vage Schwäche von ihrem Magen hinunter zu ihren Beinen aus. Und ihre Knie wurden weich wie Butter.
Mit einem Mal drang das Geräusch des Ozeans wieder an ihr Ohr. Ein tröstender Klang, der sie zu umhüllen schien. Als die vier Gestalten rennend um die Kurve gebogen und aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, wandte sie sich dem Steg zu, um dem rothaarigen jungen Mann zu sagen, dass er aus seinem Versteck kommen konnte.
Was er bereits getan hatte.
Mit langsamen, unsicheren Schritten ging sie auf den Steg. Er stand einfach da, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verursachte ein merkwürdiges Gefühl in ihr.
»Du machst besser, dass du wegkommst - oder du versteckst dich wieder«, sagte sie zögernd. »Es könnte sein, dass sie sofort zurückkommen ...«
»Das glaube ich nicht.«
»Na ja ...« Cassie verstummte. Sie sah ihn an und fühlte fast so etwas wie Furcht. »Dein Hund ist sehr brav«, fuhr sie schließlich stockend fort. »Ich meine, er hat nicht gebellt oder so.«
»So dumm ist er nicht.«
»Oh.« Cassie schaute den Strand hinunter und überlegte verzweifelt, was sie noch weiter sagen konnte. Seine Stimme war sanft, aber der schneidende Ausdruck lag noch immer in seinen Augen, und sein Mund war grimmig zusammengepresst. »Ich glaube, die sind wirklich weg«, murmelte sie schließlich.
»Dein Verdienst.« Er wandte sich ganz zu ihr um, und ihre Blicke trafen sich. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, dass du dich so für mich eingesetzt hast«, fügte er hinzu. »Du kennst mich doch nicht einmal.«
Cassie fühlte sich noch merkwürdiger. Wie er sie so anschaute, wurde ihr fast schwindlig, doch sie konnte ihren Blick nicht von seinem lösen. Jetzt lag kein Funkeln mehr in seinen Augen; sie glichen blaugrauem, scharfem Stahl. Bezwingend, hypnotisch - so zog sein Blick sie näher heran, nahm sie gefangen.
Aber ich kenne dich, dachte sie. In diesem Moment stieg ein seltsames Bild in ihr auf. Es schien, als löste sie sich aus ihrem Körper, schwebte hoch und blickte auf sie beide dort unten am Strand herab. Die Sonne leuchtete in seinem Haar, sie erkannte ihr eigenes Gesicht, das zu ihm aufsah. Und sie waren durch ein silbernes Band verbunden, das vor Kraft summte und sang.
Ein Band aus purer Energie. Und sie beide waren dadurch miteinander verbunden. Es erschien so wirklich, dass sie beinahe die Hand ausstrecken und es berühren konnte. Das Band reichte von ihrem Herzen zu seinem und versuchte, sie näher aneinander heranzuziehen.
Ein Gedanke kam ihr, als ob eine leise Stimme tief aus ihrem Inneren sprechen würde. Das silberne Band kann niemals zerschnitten werden. Eure Leben sind miteinander verbunden. Ihr könnt einander ebenso wenig entkommen, wie ihr eurem Schicksal entkommen könnt.
Plötzlich, ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war, war die Vision wieder verschwunden. Cassie blinzelte, schüttelte den Kopf und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Er schaute sie immer noch an und wartete auf eine Antwort.
»Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte.« Cassie merkte, wie lahm und unzulänglich ihre Worte klangen. »War halb so schlimm. Hat mir alles nichts ausgemacht.«
Sein Blick fi el auf ihr gerötetes, gequetschtes Handgelenk und verdüsterte sich. »Mir schon«, sagte er. »Ich hätte früher rauskommen sollen.«
Cassie schüttelte wieder den Kopf. Sie wäre gestorben, wenn man ihn gefangen und ihm etwas angetan hätte. »Ich wollte dir einfach helfen«, wiederholte sie leise und verwirrt. Dann fragte sie: »Warum sind die überhaupt hinter dir her?«
Er schaute weg und holte tief Luft.
Cassie hatte das Gefühl, sich auf verbotenes Terrain gewagt zu haben. »Ist schon okay. Ich hätte nicht ...«, begann sie.
»Nein.« Er sah sie wieder an und lächelte bitter. »Wenn jemand ein Recht hat, zu fragen, dann du. Aber es ist ein bisschen schwierig, es zu erklären. Ich bin hier sozusagen in Feindesland. Zu Hause würden sie nicht wagen, mich zu verfolgen, ja nicht einmal, mich schief anzusehen. Aber hier bin ich Freiwild.«
Sie verstand immer noch nicht. »Sie mögen keine Leute, die ... anders sind«, fuhr er fort. Seine Stimme war wieder ruhig. »Und ich bin anders. Ganz, ganz anders.«
Ja, dachte sie. Egal, was er auch war, er unterschied sich sehr von Typen wie Jordan und Logan. Sie hatte überhaupt noch nie jemanden wie ihn kennengelernt.
»Es tut mir leid. Das ist eine ziemlich lahme Erklärung, ich weiß«, entschuldigte er sich. »Besonders nach dem, was du für mich getan hast. Du hast mir geholfen, das werde ich nie vergessen.«
Er blickte an sich selbst hinunter und lachte kurz. »Sieht ganz so aus, als könnte ich nicht viel für dich tun, nicht wahr? Jedenfalls nicht hier. Obwohl ...« Er hielt inne.
»Warte mal eine Minute.«
Er griff in seine Hosentasche. Seine Finger tasteten nach etwas. Plötzlich überwältigte ein Schwindelgefühl Cassie. Blut schoss ihr ins Gesicht. Suchte er etwa nach Geld? Glaubte er tatsächlich, er könnte sie für ihre Hilfe bezahlen? Sie fühlte sich gedemütigt und kämpfte mit den Tränen.
Aber was er aus der Tasche zog, war ein Stein. Ein Stückchen Quarz, wie man es vielleicht auf dem Meeresboden finden konnte. Zumindest sah der Stein auf den ersten Blick so aus. Eine Seite war rau und grau. Winzige schwarze Spiralen waren wie kleine Muscheln darin eingebettet. Doch dann drehte er ihn um. Auf der anderen Seite war das Grau durchsetzt von hellen blauen Kristalladern, die in der Sonne funkelten wie kleine Edelsteine. Der Stein war wunderschön.
Er drückte ihn ihr in die Hand und schloss ihre Finger darüber. Als Cassie ihn berührte, fühlte sie so etwas wie einen elektrischen Schlag. Ihre Hand und ihr Arm prickelten. Der Stein war auf eine Art lebendig, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr Herz klopfte wie wild.
»Das ist Chalcedon. Ein Glücksbringer«, sagte der junge Mann schnell mit leiser Stimme. »Wenn du jemals in Schwierigkeiten oder in Gefahr gerätst, wenn du dich allein fühlst und keiner dir helfen kann, hältst du ihn fest ...«, seine Finger pressten sich auf ihre, »... ganz fest und denkst an mich.«
Cassie starrte ihn wie gebannt an und konnte kaum atmen. Sie fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, roch den Duft seines Körpers und spürte seine Wärme. Anders, dachte sie wieder. Er ist anders als jeder Junge, den ich bisher kennengelernt habe. Ein bittersüßes, heißes und wildes Gefühl stieg in ihr auf. Sie zitterte und konnte einen Herzschlag in ihren Fingerspitzen spüren, aber nicht sagen, ob es seiner oder ihrer war. Er war so nah und schaute auf sie herunter ...
»Und was passiert dann?«, flüsterte sie mit trockenem Mund.
»Dann ... dann wendet sich dein Glück vielleicht.« Abrupt trat er einen Schritt zurück, als sei ihm gerade etwas eingefallen. Sein Tonfall änderte sich. Der Moment war vorüber. »Es ist jedenfalls einen Versuch wert, findest du nicht?«, fragte er scherzend.
Unfähig, zu sprechen, nickte sie. Er scherzte jetzt. Aber vorher war es ihm ernst gewesen.
»Ich muss weg. Ich hätte gar nicht so lange bleiben dürfen «, sagte er. Cassie schluckte. »Sei vorsichtig. Ich glaube, Jordan hat eine Pistole ...«
»Das würde mich nicht überraschen.« Er schlug ihre Warnung in den Wind und hinderte sie so daran, noch etwas zu sagen. »Mach dir keine Sorgen. Ich verlasse Cape Cod. Jedenfalls für eine Weile. Ich werde wiederkommen. Vielleicht sehen wir uns dann.« Er wandte sich zum Gehen. Dann hielt er für einen letzten Moment inne und nahm wieder ihre Hand. Cassie war überrascht. Er drehte ihre Hand um, betrachtete die jetzt blaugrünen Male auf ihrem Handgelenk und streichelte sie leicht mit den Fingerspitzen. Als er Cassie wieder ansah, war sein Blick hart. »Glaub mir«, flüsterte er. »Dafür wird er eines Tages bezahlen. Das schwöre ich.«
Er hob ihr Handgelenk an seine Lippen und küsste es.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Eigentlich war es viel zu heiß und schwül für Cape Cod. Cassie hatte im Reiseführer nachgeschlagen. Dem Text nach sollte dieser Ort das reinste Paradies sein. Nur der giftige Efeu, die grünen Stechfliegen und die gefährlichen Strömungen in dem so trügerisch friedlichen Wasser, die der Reiseführer verschämt am Rande erwähnte, sprachen dagegen.
Das Buch warnte jedoch vor Picknicks auf den schmalen, der Küste vorgelagerten Halbinseln, denn bei Flut war man dort völlig vom Festland abgeschnitten, und die Insel konnte bei heftigem Wellengang überfl utet werden. Aber in diesem Moment hätte Cassie alles darum gegeben, auf einer dieser Halbinseln, die weit in den Atlantischen Ozean reichten, gestrandet zu sein - vorausgesetzt, dass sich Portia Bainbridge auf der anderen Seite des Ozeans befand.
Cassie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so elend gefühlt.
»... und mein anderer Bruder, du weißt doch, der, der jedes Tennisturnier seines Internats gewonnen hat und vor zwei Jahren sogar zu den Juniorenmeisterschaften gefahren ist, also, er ...« Portia quasselte ununterbrochen.
Cassie merkte, wie ihr Blick vor Langeweile wieder verschwamm, und versank in düsteres Schweigen. Beide Brüder von Portia besuchten Elite-Unis und waren in allen Gebieten Spitzenklasse. Portia selbst hielt sich auch bereits für hochgebildet und welterfahren, obwohl sie genau wie Cassie in diesem Jahr erst in die 11. Klasse der Highschool kam. Und da Portia am liebsten über sich selbst redete, hatte sie sich zu Cassies Leidwesen den letzten Monat über fast ausschließlich ihrem Lieblingsthema gewidmet. »... und bei den landesweiten Rhetorik-Wettbewerben bin ich Fünfte geworden! Mein Freund hat gesagt: ›Bei deinem Talent musst du später einmal Staatsanwältin werden, oder besser, du gehst in die Politik‹ ...«
Noch eine Woche, tröstete Cassie sich. Nur noch eine Woche, und ich kann nach Hause. Schon der Gedanke daran erfüllte sie mit solcher Sehnsucht, dass Tränen in ihre Augen traten. Nach Hause, wo ihre Freunde waren. Wo sie sich nicht wie eine Außenseiterin vorkam, die ungebildet, langweilig und dumm war, nur weil sie eine Venusmuschel nicht von anderen Muscheln unterscheiden konnte. Wo sie dann endlich wieder lachen konnte: über ihre ach so wunderbaren Ferien an der Ostküste.
»... da sagte mein Vater: ›Kind, warum kaufe ich es dir nicht einfach?‹ Aber ich wehrte ab: ›Nein, ich will mir das Geld dazu selbst verdienen.‹ Oder sollte ich vielleicht doch ...?«
Cassie starrte aufs Meer hinaus.
Cape Cod war wunderschön, daran lag es nicht. Die kleinen Häuser mit Zedernholzdächern, eingerahmt von weißen Holzzäunen, über die ein Meer von Rosen rankte, die gefl ochtenen Schaukelstühle auf den Veranden und die Geranien, die von den Dachsparren herunterhingen, sahen wirklich so bezaubernd wie auf den Ansichtskarten aus. Beim Anblick der Dorfwiesen und der altmodischen Schulhäuser kam Cassie sich wie in eine andere Zeit versetzt vor.
Aber jeden Tag aufs Neue musste sie sich mit Portia abgeben. Obwohl Cassie sich Abend für Abend vernichtend spöttische Erwiderungen auf Portias Gequatsche einfallen ließ, schaffte sie es nie, auch nur eine davon anzubringen. Doch viel schlimmer als alles, was Portia ihr jemals antun konnte, war das Gefühl, nicht dazuzugehören. Hier eine Fremde zu sein, die an der falschen Küste gestrandet war. Die kleine Wohnung daheim in Kalifornien erschien Cassie mehr und mehr wie der Himmel auf Erden.
Noch eine Woche, dachte sie. Du musst es nur noch eine Woche aushalten. Außerdem war Mom in letzter Zeit so blass und still ... Ein Anfl ug von Sorge durchzuckte Cassie, aber sie verdrängte das Gefühl schnell wieder. Mom geht es gut, redete sie sich ein. Sie fühlt sich hier wahrscheinlich genauso unwohl wie ich, obwohl sie in diesem Bundesstaat geboren wurde. Sicher zählt sie genauso wie ich die Tage, bis wir endlich wieder nach Hause können. Natürlich, das musste es sein. Deshalb sah Mom auch so unglücklich aus, wenn Cassie von ihrem Heimweh erzählte. Sie fühlte sich einfach schuldig, dass sie Cassie hierhergeschleppt und ihr diesen Ort in den glühendsten Farben als das reinste Ferienparadies geschildert hatte. Alles würde gut werden, wenn sie wieder nach Hause kamen. Für sie beide.
»Cassie! Hörst du mir überhaupt zu? Oder träumst du wieder mit offenen Augen?«
»Oh nein, nein, ich höre zu«, beteuerte Cassie schnell.
»Worüber habe ich denn gerade gesprochen?«
Cassie kam ins Schwitzen. Jungs?, dachte sie verzweifelt. Schule? Portias Erfolge ...? Sie war es zwar gewohnt, manchmal eine Träumerin genannt zu werden, aber das war ihr noch nie so oft wie hier passiert.
»Ich sagte gerade, dass man solche Typen nicht an den Strand lassen sollte«, erklärte Portia von oben herab. »Besonders nicht mit Hunden. Ich meine, ich weiß, dass das hier kein Privatstrand ist, aber wenigstens ist der Sand sauber. Nun schau dir das an!«
Cassie folgte Portias Blick. Ein junger Mann kam den Strand entlang. Das war alles. Unsicher blickte sie wieder zu Portia.
»Er arbeitet auf einem Fischerkahn.« Portia rümpfte die Nase, als könnte sie den Fischgeruch bis hierher riechen. »Ich hab ihn heute Morgen am Pier beobachtet, wie er Fische ausgeladen hat. Ich bezweifle, dass er danach seine Sachen gewechselt hat. So was von schmierig und widerlich. « Cassie konnte nichts Ungepflegtes an dem Fremden entdecken. Er hatte dunkelrotes Haar und war groß. Selbst aus der Entfernung erkannte sie, dass er lächelte. Ein Hund trottete an seiner Seite.
»Wir sprechen niemals mit den Typen von den Fischerbooten. Sie sind Luft für uns.« Portia wedelte mit der Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. Cassie konnte mit ansehen, dass es stimmte. Es befanden sich vielleicht ein Dutzend Mädchen in Zweier- und Dreiergrüppchen am Strand. Einige waren mit Jungen zusammen, die meisten jedoch nicht. Als der junge Mann vorbeiging, ignorierten sie ihn völlig, drehten den Kopf weg und blickten in die andere Richtung. Und das war kein Flirtversuch wie Wegschauen - wieder Hinschauen - Kichern. Blanke Ablehnung lag in ihrem Verhalten. Als er näher herankam, sah Cassie, dass sein Lächeln immer bitterer wurde.
Die beiden Mädchen, die Cassie und Portia am nächsten waren, wandten sich jetzt mit verächtlichen Mienen ab. Cassie beobachtete, wie der Fremde leicht mit den Schultern zuckte, als hätte er nichts anderes erwartet. Sie konnte immer noch nicht erkennen, was an ihm so abstoßend sein sollte. Er trug abgeschnittene, zerfranste Jeans und ein T-Shirt, das bessere Tage gesehen hatte, aber so waren viele andere Jungen auch gekleidet. Der Hund lief brav neben ihm, wedelte leicht mit dem Schwanz und war freudig und aufmerksam. Er belästigte niemanden. Cassie hob den Blick, neugierig auf die Augen des Fremden.
»Schau weg«, zischte Portia. Der junge Mann ging gerade an ihnen vorbei. Cassie senkte schnell die Augen. Sie gehorchte automatisch, obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte. Ihn so zu schneiden erschien ihr böse, unnötig und gemein. Sie schämte sich ein wenig, doch sie schaffte es nicht, sich Portia zu widersetzen.
Cassie starrte auf ihre Finger, die durch den Sand fuhren. Sie konnte im grellen Sonnenlicht jedes Körnchen erkennen. Von Weitem sah der Sand weiß aus, aber aus der Nähe schimmerte er in vielen Farben, war durchsetzt mit graugrüner Glimmererde, pastellfarbenen Muschelteilchen und roten Quarzsplittern, die wie winzige Rubine funkelten. Es ist nicht fair, entschuldigte sie sich in Gedanken bei dem jungen Mann, der sie natürlich nicht hören konnte. Es tut mir leid. Das hier ist billig und ungerecht. Ich wünschte, ich könnte etwas daran ändern, aber ich kann es nicht.
Eine nasse Nase stieß an ihre Hand.
Es geschah so unerwartet, dass sie erschrocken Luft holte. Ein Kichern blieb ihr im Hals stecken. Der Hund stieß sie wieder mit der Nase an. Nicht fragend, sondern fordernd. Cassie streichelte ihn, kraulte die kurzen, seidig-struppigen Haare auf seiner Schnauze. Es musste ein Deutscher Schäferhund sein, zumindest ein Mischling. Ein schöner, großer Hund mit intelligenten braunen Augen. Es sah aus, als lachte er. Cassie fühlte, wie die starre Maske zerbröckelte, hinter der sie sich verborgen hatte. Sie lachte zurück.
Dann, bevor sie es verhindern konnte, schaute sie schnell zum Besitzer des Hundes auf. Sie sah ihm direkt in die Augen.
Später würde Cassie immer wieder an diesen Moment denken, an den Moment, in dem sie zu ihm hoch- und er zu ihr hinuntergeblickt hatte. Seine Augen waren blaugrau und geheimnisvoll verhangen wie das Meer an manchen Tagen.
Sein Gesicht war ungewöhnlich; nicht im üblichen Sinne hübsch, dafür jedoch interessant und faszinierend mit hohen Wangenknochen und einem energischen Mund. Stolz und Unabhängigkeit, Humor und Sensibilität, all das vereinte sich in seinen Zügen. Während er sie ansah, erhellte sich seine düstere Miene, und etwas leuchtete in diesen blaugrauen Augen auf wie ein Sonnenstrahl, der auf den Wellen glitzerte.
Normalerweise war Cassie Jungen gegenüber schüchtern, besonders, wenn sie sie nicht kannte. Aber dieser hier war nur ein armer Arbeiter von den Fischerbooten. Er tat ihr leid, und sie wollte nett zu ihm sein. Außerdem konnte sie einfach nicht anders. Und deshalb erwiderte sie seinen Blick ebenso strahlend. Von seinem Lächeln angesteckt, begann sie fröhlich zu lachen und versuchte erst gar nicht mehr, es zu unterdrücken. In diesem Augenblick war es so, als teilten sie ein Geheimnis, in das niemand hier am Strand eingeweiht war. Der Hund wedelte wie wild mit dem Schwanz, als ob auch er es kennen würde.
»Cassie!«, fauchte Portia wutentbrannt
Cassie merkte, wie sie rot wurde, und riss ihren Blick vom Gesicht des Fremden los. Portia schien einem Schlaganfall nahe zu sein.
»Raj!«, rief der junge Mann. Er lachte nicht mehr und entfernte sich ein paar Schritte. »Bei Fuß!«
Mit sichtlichem Widerwillen gehorchte der Hund, wedelte dabei aber immer noch mit dem Schwanz. Es ist nicht fair, dachte Cassie erneut. Überrascht zuckte sie zusammen, als sie die Stimme des Jungen hörte.
»Das ganze Leben ist nicht fair«, sagte er.
Sie fuhr herum. Erschrocken fl og ihr Blick zu seinem Gesicht hoch. Seine Augen waren so dunkel wie das Meer bei einem Sturm. Sie konnte es klar erkennen und fürchtete sich einen Moment, als habe sie etwas Verbotenes gesehen, etwas, das über ihren Verstand hinausging. Das mächtig war. Mächtig und fremd.
Und dann ging er weg. Der Hund tollte hinter ihm her. Der junge Mann sah sich nicht mehr um.
Wie benommen starrte Cassie ihm nach. Sie hatte nicht laut gesprochen. Sie war sicher, dass sie nicht laut gesprochen hatte. Doch wie hatte er sie dann hören können?
Ihre Gedanken wurden unterbrochen durch ein tiefes Luftholen neben ihr. Cassie wusste genau, was Portia sagen würde. Der Hund hatte vermutlich Räude und Flöhe und Würmer und Skrofeln - alles zusammen. Cassies Handtuch wimmelte in dieser Minute sicher nur so von Parasiten.
Aber Portia schwieg. Auch sie schaute den immer kleiner werdenden Gestalten des Fremden und seines Hundes nach, die zu den Dünen gingen und dann im Seegras in einen kleinen Pfad einbogen. Obwohl sie sichtlich angewidert war, spiegelte sich noch etwas anderes auf ihrem Gesicht - eine Art düsteres Grübeln und aufkeimender Argwohn. Beides war Cassie völlig fremd an ihr.
»Was ist los, Portia?«
Portia kniff die Augen zusammen. »Ich glaube«, stieß sie langsam zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor, »ich habe ihn schon mal gesehen.«
»Klar, an der Anlegestelle der Fischerboote. Hast du mir eben selbst erzählt.«
Portia schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nicht das! Halt den Mund und lass mich nachdenken.«
Verblüfft gehorchte Cassie ihr. Portia starrte weiter vor sich hin. Nach ein paar Minuten begann sie zu nicken, als wollte sie sich selbst etwas bestätigen. Ihr Gesicht war rotgefl eckt, und das war nicht etwa ein Sonnenbrand.
Abrupt stand sie auf und murmelte immer noch nickend ein Wort. Sie atmete jetzt hektisch.
»Portia?«
»Ich muss etwas erledigen.« Sie winkte Cassie mit einer Hand zu, ohne sie anzusehen. »Du bleibst hier.«
»Was ist denn los?«
»Nichts!« Portia warf ihr einen scharfen Blick zu. »Gar nichts ist los. Vergiss das Ganze. Wir sehen uns später.« Sie lief davon und rannte die Dünen hoch zu dem Ferienhaus, das ihre Familie besaß.
Zehn Minuten früher wäre Cassie vor Freude in die Luft gesprungen, wenn Portia sie, egal aus welchem Grund, allein gelassen hätte. Doch jetzt konnte sie es nicht genießen. Ihre Gedanken waren aufgewühlt wie die blaugrauen Wellen des Meeres vor einem Orkan. Sie war aufgekratzt und traurig zugleich, und in diese Gefühle mischte sich noch etwas anderes: Angst.
Am merkwürdigsten war das, was Portia gemurmelt hatte, bevor sie aufgestanden war. Es war sehr leise gewesen, und Cassie glaubte nicht, dass sie es richtig verstanden hatte. Sie musste sich einfach verhört haben. Man konnte einen jungen Mann doch nicht einfach Hexer nennen. Ausgeschlossen!
Reg dich ab, mahnte sie sich. Mach dir keine Sorgen, sei glücklich. Endlich allein!
Aber sie konnte sich nicht entspannen. Sie stand auf und griff nach ihrem Handtuch. Nachdem sie es sich um die Hüften geknotet hatte, folgte sie dem Weg, den der junge Mann gegangen war.
Kapitel Zwei
Als Cassie zu der Stelle kam, an der der junge Mann abgebogen war, kletterte sie zwischen kümmerlichen Häufchen von trockenem Gras die Düne hoch. Oben sah sie sich um. Nur Pinien und Eichen. Kein Fremder, kein Hund. Stille.
Und ihr war so heiß.
Cassie wandte sich wieder dem Meer zu und ignorierte die leise Enttäuschung und die merkwürdige Leere, die sie plötzlich empfand. Sie würde schwimmen gehen und sich ein wenig abkühlen. Portias Probleme gingen sie nichts an. Und was den rothaarigen Fremden betraf - nun, sie würde ihn wahrscheinlich sowieso nie mehr wiedersehen, und er ging sie ebenfalls nichts an.
Ein kleiner Schauder überlief sie. Einer von der Sorte, bei denen man sich fragte, ob nicht eine Krankheit im Anmarsch sein könnte. Das muss die Hitze sein, entschied Cassie. Mir ist schon so heiß, dass mich fröstelt. Ich muss unbedingt schnell ins Wasser.
Die Wellen waren kalt, denn der Strand war hier durch keine Bucht vor dem offenen Meer geschützt. Sie watete bis auf Kniehöhe hinein und ging weiter den Strand entlang.
Als sie einen Bootssteg erreichte, verließ sie das Wasser und lief darauf zu. Nur drei Boote waren dort festgemacht: zwei Ruderboote und ein Motorboot. Alles war völlig verlassen.
Es war genau das, was Cassie jetzt brauchte.
Sie nahm das dicke, zerfranste Absperrtau, das Unbefugte wie sie eigentlich fernhalten sollte, von seinem Haken, betrat den Steg und wanderte ihn entlang. Das verwitterte Holz knarrte unter ihren Schritten. Zu beiden Seiten erstreckte sich der Ozean. Als sie zum Strand zurückschaute, sah sie, dass sie die anderen Sonnenanbeter weit hinter sich gelassen hatte. Eine leise Brise blies ihr ins Gesicht, streichelte ihr Haar und kitzelte ihre nackten Beine. Plötzlich fühlte sie sich - sie konnte es nicht richtig erklären - wie ein Ballon, der vom Wind erfasst wird und in die Lüfte steigt. So leicht und so frei.
Cassie wollte die Arme ausbreiten, um den Wind und den Ozean darin einzuschließen, doch sie traute sich nicht ganz. So frei fühlte sie sich nun doch noch nicht. Aber sie lächelte, als sie das Ende des Stegs erreicht hatte. Der Himmel und der Ozean hatten die gleiche dunkelblaue Färbung, nur, dass der Himmel am Horizont etwas heller wurde. Seeschwalben und Möwen kreisten über ihrem Kopf.
Ich sollte ein Gedicht schreiben, dachte sie. Zu Hause unter ihrem Bett hatte sie ein ganzes Heft voller Gedichte versteckt. Sie zeigte sie kaum jemandem, las aber jeden Abend darin. Doch im Moment fehlten ihr die Worte. Trotzdem war es schön, hier draußen zu sein, das Salz des Meeres zu riechen, die warmen Planken unter sich zu fühlen und das sanfte Plätschern des Wassers gegen die Holzpfähle zu hören.
Es war ein hypnotisches Geräusch, rhythmisch wie ein gigantischer Herzschlag, fast so, als würde man das Atmen der Erde selbst hören, und dabei seltsam vertraut. Sie saß still da, lauschte, schaute in die Ferne und bemerkte, wie ihr eigener Atem immer langsamer wurde. Zum ersten Mal, seit sie nach Neuengland gekommen war, fühlte sie sich, als gehörte sie dazu. Sie war ein Teil dieser unendlichen Weite von Himmel, Erde und Meer. Ein winziger Teil des Universums - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Und plötzlich dämmerte es ihr, dass dieser Teil vielleicht gar nicht so klein war. Sie war zunächst in den Rhythmus der Erde eingetaucht, doch jetzt schien es fast, als kontrollierte sie diesen Rhythmus. Als ob die Elemente eins mit ihr wären und ihrem Befehl gehorchten. Sie konnte den Puls der Erde in sich spüren: stark, tief und widerhallend. Hypnotisch und drängend wie die Trommeln von Voodoo- Priestern, deren Klang niemand widerstehen konnte. Mit jedem Schlag wuchsen Spannung und Vorahnung in ihr, als ob sie auf etwas ... warten würde.
Aber auf was?
Sie starrte auf das Meer hinaus und fühlte, wie die Worte zu ihr kamen. Es war nur ein kleiner Vers, in der Art eines Kinderabzählreims.
Sonne, Mond und Meeresstern - haltet Kummer von mir fern.
Merkwürdig war, dass es ihr nicht so vorkam, als hätte sie dies gerade erfunden. Es war eher wie etwas, das sie vor langer Zeit einmal gelesen oder gehört hatte. Ein kurzer Erinnerungsfetzen stieg vor ihrem geistigen Auge auf: Sie lag in den Armen von jemandem und schaute aufs Meer hinaus, wurde hochgehoben und hörte die Worte:
Sonne, Mond und Meeresstern - haltet Kummer von mir fern. Erde, Glut und Feuerschein ...
Nein.
Cassie überlief eine Gänsehaut. Sie konnte wie nie zuvor die Weite des Himmels über sich spüren, die felsige Erdkruste und den unendlichen Ozean, Welle auf Welle bis hin zum Horizont und weiter. Und es schien, als ob alles wartete, sie beobachtete und ihr lauschen würde.
Bring es nicht zu Ende, dachte sie. Sag nichts mehr. Plötzlich hatte sie die völlig unerklärliche Gewissheit, dass sie sich in Sicherheit befand, solange sie die letzten Worte des Gedichts nicht aufsagte. Alles würde so bleiben wie bisher. Sie würde nach Hause fahren und ihr ruhiges, normales Leben friedlich weiterführen. Wenn sie die letzten Worte nicht aussprach, würde alles in Ordnung sein.
Aber das Gedicht ließ sie nicht los, betörte sie wie sanfte Musik, die aus weiter Ferne kam, und die letzten Worte reihten sich geradezu wie von Geisterhand an den Vers. Cassie war machtlos.
Sonne, Mond und Meeresstern - haltet Kummer von mir fern. Erde, Glut und Feuerschein, lasst ... den Liebsten bei mir sein.
Ja.
Oh, was habe ich bloß getan?
Es war, als würde ein straff gespanntes Band zerreißen. Cassie merkte, dass sie aufgesprungen war und heftig atmend auf den Ozean hinausschaute. Etwas war geschehen. Sie konnte spüren, wie sich die Elemente von ihr zurückzogen. Die Verbindung war unterbrochen.
Sie fühlte sich nicht länger leicht und frei, sondern war verwirrt, mit sich selbst im Widerspruch und wie elektrisch aufgeladen. Plötzlich sah der Ozean noch unendlicher aus und geradezu feindlich. Sie drehte sich abrupt um und ging zurück zum Strand.
Idiotin, schalt sie sich, während sie sich dem weißen Sand näherte, und ihre Angst verschwand. Wovor fürchtete sie sich eigentlich? Dass der Himmel und das Meer ihr tatsächlich zugehört hatten? Dass ihre Worte wirklich etwas bewirken könnten?
Sie konnte jetzt fast über ihre Befürchtungen lachen, und das Ganze war ihr peinlich. Die Fantasie war mit ihr durchgegangen. Cassie war immer noch in Sicherheit, und alles ging wieder seinen normalen Gang. Worte sind nur Schall und Rauch, dachte sie.
Aber dann sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung, und sie würde sich ihr Leben lang daran erinnern, dass sie tief in ihrem Inneren in diesem Moment kein bisschen überrascht davon war.
Am Strand passierte etwas.
Es war der rothaarige junge Mann. Er raste an den Pinien vorbei die Düne herunter. Plötzlich und völlig unerklärlich war Cassie ganz ruhig. Sie eilte die letzten Meter den Steg entlang dem Fremden entgegen.
Der Hund hielt problemlos das Tempo seines Herrchens. Er schaute zu ihm hoch, als wollte er sagen: Tolles Spiel, und was kommt als Nächstes? Aber am Gesichtsausdruck des Jungen und der Art, wie er rannte, erkannte Cassie, dass es kein Spiel war.
Er schaute sich hektisch auf dem jetzt verlassenen Strand um. Ungefähr hundert Meter weiter links machte die Landzunge eine scharfe Kurve, und man konnte nicht erkennen, was sich dahinter verbarg. Sein Blick traf Cassie. Einen Moment lang sahen sie sich stumm an. Dann wandte er sich abrupt ab und lief auf die Landzunge zu.
Cassies Herz klopfte wie wild. »Warte!«, rief sie eindringlich.
Er drehte sich um und musterte sie schnell mit seinen blaugrauen Augen.
»Wer ist hinter dir her?«, fragte sie, obwohl sie es sich denken konnte.
Er antwortete scharf und knapp. »Zwei Typen, die aussehen wie Schwergewichtsboxer.«
Cassie nickte. Ihr Herz klopfte schneller. Aber ihre Stimme war weiterhin ruhig. »Jordan und Logan Bainbridge. «
»Das passt.«
»Hast du schon von ihnen gehört?«
»Nein. Aber diese schrägen Namen passen zu ihnen.«
Cassie hätte beinahe gelacht. Sein Aussehen gefiel ihr. Er war vom Wind zerzaust, wachsam und trotz des schnellen Laufens kaum außer Atem. Und sie mochte das herausfordernde Funkeln seiner Augen und seine Schlagfertigkeit, obwohl er in Gefahr war.
»Raj und ich würden schon mit den beiden fertigwerden, doch sie haben ein paar Freunde mitgebracht«, erklärte er und wandte sich wieder ab. Einen Schritt rückwärts gehend, fügte er hinzu: »Du machst besser auch, dass du von hier wegkommst. Du willst diesen Schlägertypen sicher nicht begegnen - und es wäre nett, wenn du so tun könntest, als hättest du mich nie gesehen.«
»Nun warte doch mal!«, rief Cassie.
Sie hatte überhaupt nichts zu tun mit der ganzen Aktion, die da ablief ... Und trotzdem sprach sie einfach weiter, ohne zu zögern. Es lag an seiner ganzen Ausstrahlung, sie musste ihm einfach helfen. »Der Weg dort ist eine Sackgasse. Hinter der Landzunge kommen nur Klippen. Da sitzt du fest.«
»Aber der andere Weg ist zu offen. Sie würden mich sofort sehen. Sie waren nämlich nur knapp hinter mir.«
Cassies Gedanken überschlugen sich. Plötzlich hatte sie eine Lösung. »Versteck dich in dem Boot.«
»Was?«
»Mensch, in dem Boot! Dem Motorboot, dort am Steg.« Sie deutete darauf. »Du kannst in die Kabine klettern. Da entdecken sie dich nicht.«
Sein Blick folgte ihr, doch er schüttelte den Kopf. »Und wenn doch? Dann säße ich richtig in der Falle. Außerdem schwimmt Raj nicht gern.«
»Sie werden dich nicht finden«, versicherte Cassie. »Sie werden sich dem Boot nicht einmal nähern. Ich werde ihnen sagen, dass du zu den Klippen gelaufen bist.«
Sein Lächeln schwand. Er sah sie an. »Du verstehst wohl nicht. Das sind ziemlich harte Typen mit noch härteren Umgangsformen.«
»Ist mir egal«, sagte Cassie ungeduldig. Sie packte ihn am Arm und zog und stieß ihn halb auf den Steg. Schnell, schnell, drängte etwas in ihrem Kopf. Ihre Schüchternheit war verschwunden. Jetzt zählte nur noch, ihn möglichst rasch zu verstecken. »Was sollen die mir schon antun? Mich verprügeln? Ich bin nur eine unschuldige Passantin.«
»Aber ...«
»Bitte! Keine Widerrede. Rein ins Boot!«
Er starrte sie noch eine Sekunde an, dann drehte er sich um und gab Raj ein Zeichen. »Komm, alter Junge!« Er rannte den Steg entlang, kletterte geschickt in das Boot und duckte sich in die Kabine. Der Hund folgte ihm mit einem mächtigen Sprung und bellte fröhlich.
Ruhig, Raj, dachte Cassie verzweifelt. Die beiden waren jetzt im Boot verborgen, doch wenn jemand nahe heranging, würde er sie unweigerlich entdecken. Sie hängte das zerfranste Absperrtau wieder an seinen Haken und rannte vom Steg weg.
Cassie sah sich hektisch um und ging schließlich ans Wasser. Sie planschte ein bisschen, bückte sich und grub eine Handvoll nassen Sand und Muscheln aus. Sie ließ sich den Sand von den Wellen aus ihren lose zusammengehaltenen Händen waschen und behielt zwei oder drei kleine Muscheln zurück. Dann wiederholte sie das Ganze.
Laute Schreie drangen von den Dünen her.
Ich sammle Muscheln. Ich sammle nur Muscheln, dachte sie. Ich brauche jetzt nicht einmal aufzusehen. Das alles interessiert mich kein bisschen.
»He!«
Cassie hob den Kopf.
Eine Gang von vier Typen stand vor ihr, und die beiden vorderen waren Portias Brüder. Jordan war der Tenniscrack und Logan hatte als Scharfschütze Preise gewonnen. Oder umgekehrt?
»He, hast du jemanden aus den Dünen runterrennen sehen?«, fragte Jordan. Sie sahen sich nach allen Seiten um, aufgeregt wie Hunde, die eine Fährte verfolgten, und plötzlich fiel Cassie eine weitere Gedichtzeile ein: Vier Hunde, eine geschmeidig schlanke Meute, lauern lächelnd auf ihre Beute.
Allerdings waren die Jungen hier keineswegs schlank, und von Geschmeidigkeit konnte erst recht nicht die Rede sein. Sie waren muskelbepackt, verschwitzt - und außer Atem, wie Cassie mit leisem Spott feststellte.
»Das ist Portias Freundin Cathy«, erklärte Logan. »He, Cathy, hast du jemanden vor zwei Minuten die Dünen runterrennen sehen?«, wiederholte er Jordans Frage.
Cassie ging langsam, die Hände voller Muscheln, auf ihn zu. Ihr Herz klopfte so hart gegen ihre Rippen, dass sie sicher war, die Meute würde es sehen. Sie brachte kein Wort heraus.
»Kannst du nicht reden? Was machst du überhaupt hier?«
Stumm streckte Cassie die Hände aus und öffnete sie.
Die Jungen sahen sich an und grinsten abfällig. Cassie ging auf, was sie in den Augen dieser hochnäsigen Trottel war: ein zierliches Mädchen mit unauffälligem braunem Haar und stinknormalen blauen Augen. Nur ein kleines Highschool-Gänschen aus Kalifornien, dessen Vorstellung von Spaß darin bestand, schäbige Muscheln zu suchen.
»Hast du jemanden hier vorbeikommen sehen?«, wiederholte Jordan ungeduldig und zugleich so langsam, als hätte er es mit einer Taubstummen zu tun.
Mit trockenem Mund nickte Cassie und schaute in die Richtung, die zur Landzunge führte. Jordan trug eine offene Windjacke über seinem T-Shirt, was angesichts des heißen Wetters ziemlich merkwürdig war. Noch merkwürdiger war die Ausbeulung darunter, und als er sich umdrehte, sah Cassie Metall aufblitzen.
Eine Pistole?
Jordan muss der Scharfschütze sein. Unwillkürlich kam ihr dieser völlig belanglose Gedanke.
Jetzt, da sie etwas gesehen hatte, vor dem man sich wirklich fürchten musste, fand sie ihre Stimme wieder und sagte heiser. »Ein junger Mann und ein Hund sind vor ein paar Minuten in diese Richtung gelaufen.«
»Wir haben ihn! Er wird auf den Klippen festsitzen!«, jubelte Logan. Er und zwei seiner Freunde, die Cassie nicht kannte, rannten los. Aber Jordan wandte sich wieder ihr zu.
»Bist du sicher?«
Erschrocken sah sie zu ihm hoch. Warum fragte er das? Mit gespieltem Erstaunen riss sie die Augen weit auf und versuchte, so kindlich und dumm wie möglich auszusehen. »Ja ...«
»Das ist nämlich sehr wichtig.« Und plötzlich hatte er ihr Handgelenk gepackt. Cassie blickte überrascht auf die Muscheln, die zu Boden fielen, zu überrumpelt von seinem Angriff, um etwas zu erwidern. »Es ist sehr wichtig«, zischte Jordan. Sie fühlte, wie sein Körper sich anspannte, und roch seinen sauren Schweiß. Übelkeit überkam sie. Sie musste sich zusammenreißen, ihn weiterhin völlig verständnislos anzustarren. Für einen Moment hatte sie Angst, dass er sie an sich ziehen würde, doch er verdrehte nur ihr Handgelenk.
Cassie versuchte vergebens, einen Aufschrei zu unterdrücken. Aber der Schmerz und das, was sie in seinen Augen sah, waren stärker. In seinem Blick lag etwas Fanatisches, Grausames und loderte wie ein Feuer. Sie keuchte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Angst gehabt.
»Ja, ich bin sicher«, stieß sie atemlos hervor und starrte immer noch in diese vor Bosheit brennenden Augen. Sie erlaubte sich nicht, den Kopf abzuwenden. »Er ist dort hinunter und um die Landzunge herum.«
»Komm schon, Jordan. Lass sie!«, rief Logan. »Die ist doch noch ein Kind. Gehen wir!«
Jordan zögerte. Er weiß, dass ich lüge, dachte Cassie und war auf seltsame Weise fasziniert. Er weiß es, aber er hat Angst, seinem Wissen zu trauen, da er keine Ahnung hat, woher es stammt.
Glaube mir. Sie sah ihm geradewegs in die Augen und setzte ihren ganzen Willen ein, um ihn zu überzeugen. Glaube mir und geh. Glaube mir. Glaube mir.
Er ließ ihr Handgelenk los. »Tut mir leid«, murmelte er barsch. Dann drehte er sich um und folgte den anderen.
»Wer's glaubt ...«, flüsterte Cassie und blieb reglos stehen.
Ein Schauder überlief sie, während sie beobachtete, wie die Gang über den nassen Sand lief. Jordans Jacke flatterte lose im Wind. Plötzlich breitete sich eine vage Schwäche von ihrem Magen hinunter zu ihren Beinen aus. Und ihre Knie wurden weich wie Butter.
Mit einem Mal drang das Geräusch des Ozeans wieder an ihr Ohr. Ein tröstender Klang, der sie zu umhüllen schien. Als die vier Gestalten rennend um die Kurve gebogen und aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, wandte sie sich dem Steg zu, um dem rothaarigen jungen Mann zu sagen, dass er aus seinem Versteck kommen konnte.
Was er bereits getan hatte.
Mit langsamen, unsicheren Schritten ging sie auf den Steg. Er stand einfach da, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verursachte ein merkwürdiges Gefühl in ihr.
»Du machst besser, dass du wegkommst - oder du versteckst dich wieder«, sagte sie zögernd. »Es könnte sein, dass sie sofort zurückkommen ...«
»Das glaube ich nicht.«
»Na ja ...« Cassie verstummte. Sie sah ihn an und fühlte fast so etwas wie Furcht. »Dein Hund ist sehr brav«, fuhr sie schließlich stockend fort. »Ich meine, er hat nicht gebellt oder so.«
»So dumm ist er nicht.«
»Oh.« Cassie schaute den Strand hinunter und überlegte verzweifelt, was sie noch weiter sagen konnte. Seine Stimme war sanft, aber der schneidende Ausdruck lag noch immer in seinen Augen, und sein Mund war grimmig zusammengepresst. »Ich glaube, die sind wirklich weg«, murmelte sie schließlich.
»Dein Verdienst.« Er wandte sich ganz zu ihr um, und ihre Blicke trafen sich. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, dass du dich so für mich eingesetzt hast«, fügte er hinzu. »Du kennst mich doch nicht einmal.«
Cassie fühlte sich noch merkwürdiger. Wie er sie so anschaute, wurde ihr fast schwindlig, doch sie konnte ihren Blick nicht von seinem lösen. Jetzt lag kein Funkeln mehr in seinen Augen; sie glichen blaugrauem, scharfem Stahl. Bezwingend, hypnotisch - so zog sein Blick sie näher heran, nahm sie gefangen.
Aber ich kenne dich, dachte sie. In diesem Moment stieg ein seltsames Bild in ihr auf. Es schien, als löste sie sich aus ihrem Körper, schwebte hoch und blickte auf sie beide dort unten am Strand herab. Die Sonne leuchtete in seinem Haar, sie erkannte ihr eigenes Gesicht, das zu ihm aufsah. Und sie waren durch ein silbernes Band verbunden, das vor Kraft summte und sang.
Ein Band aus purer Energie. Und sie beide waren dadurch miteinander verbunden. Es erschien so wirklich, dass sie beinahe die Hand ausstrecken und es berühren konnte. Das Band reichte von ihrem Herzen zu seinem und versuchte, sie näher aneinander heranzuziehen.
Ein Gedanke kam ihr, als ob eine leise Stimme tief aus ihrem Inneren sprechen würde. Das silberne Band kann niemals zerschnitten werden. Eure Leben sind miteinander verbunden. Ihr könnt einander ebenso wenig entkommen, wie ihr eurem Schicksal entkommen könnt.
Plötzlich, ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war, war die Vision wieder verschwunden. Cassie blinzelte, schüttelte den Kopf und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Er schaute sie immer noch an und wartete auf eine Antwort.
»Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte.« Cassie merkte, wie lahm und unzulänglich ihre Worte klangen. »War halb so schlimm. Hat mir alles nichts ausgemacht.«
Sein Blick fi el auf ihr gerötetes, gequetschtes Handgelenk und verdüsterte sich. »Mir schon«, sagte er. »Ich hätte früher rauskommen sollen.«
Cassie schüttelte wieder den Kopf. Sie wäre gestorben, wenn man ihn gefangen und ihm etwas angetan hätte. »Ich wollte dir einfach helfen«, wiederholte sie leise und verwirrt. Dann fragte sie: »Warum sind die überhaupt hinter dir her?«
Er schaute weg und holte tief Luft.
Cassie hatte das Gefühl, sich auf verbotenes Terrain gewagt zu haben. »Ist schon okay. Ich hätte nicht ...«, begann sie.
»Nein.« Er sah sie wieder an und lächelte bitter. »Wenn jemand ein Recht hat, zu fragen, dann du. Aber es ist ein bisschen schwierig, es zu erklären. Ich bin hier sozusagen in Feindesland. Zu Hause würden sie nicht wagen, mich zu verfolgen, ja nicht einmal, mich schief anzusehen. Aber hier bin ich Freiwild.«
Sie verstand immer noch nicht. »Sie mögen keine Leute, die ... anders sind«, fuhr er fort. Seine Stimme war wieder ruhig. »Und ich bin anders. Ganz, ganz anders.«
Ja, dachte sie. Egal, was er auch war, er unterschied sich sehr von Typen wie Jordan und Logan. Sie hatte überhaupt noch nie jemanden wie ihn kennengelernt.
»Es tut mir leid. Das ist eine ziemlich lahme Erklärung, ich weiß«, entschuldigte er sich. »Besonders nach dem, was du für mich getan hast. Du hast mir geholfen, das werde ich nie vergessen.«
Er blickte an sich selbst hinunter und lachte kurz. »Sieht ganz so aus, als könnte ich nicht viel für dich tun, nicht wahr? Jedenfalls nicht hier. Obwohl ...« Er hielt inne.
»Warte mal eine Minute.«
Er griff in seine Hosentasche. Seine Finger tasteten nach etwas. Plötzlich überwältigte ein Schwindelgefühl Cassie. Blut schoss ihr ins Gesicht. Suchte er etwa nach Geld? Glaubte er tatsächlich, er könnte sie für ihre Hilfe bezahlen? Sie fühlte sich gedemütigt und kämpfte mit den Tränen.
Aber was er aus der Tasche zog, war ein Stein. Ein Stückchen Quarz, wie man es vielleicht auf dem Meeresboden finden konnte. Zumindest sah der Stein auf den ersten Blick so aus. Eine Seite war rau und grau. Winzige schwarze Spiralen waren wie kleine Muscheln darin eingebettet. Doch dann drehte er ihn um. Auf der anderen Seite war das Grau durchsetzt von hellen blauen Kristalladern, die in der Sonne funkelten wie kleine Edelsteine. Der Stein war wunderschön.
Er drückte ihn ihr in die Hand und schloss ihre Finger darüber. Als Cassie ihn berührte, fühlte sie so etwas wie einen elektrischen Schlag. Ihre Hand und ihr Arm prickelten. Der Stein war auf eine Art lebendig, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr Herz klopfte wie wild.
»Das ist Chalcedon. Ein Glücksbringer«, sagte der junge Mann schnell mit leiser Stimme. »Wenn du jemals in Schwierigkeiten oder in Gefahr gerätst, wenn du dich allein fühlst und keiner dir helfen kann, hältst du ihn fest ...«, seine Finger pressten sich auf ihre, »... ganz fest und denkst an mich.«
Cassie starrte ihn wie gebannt an und konnte kaum atmen. Sie fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, roch den Duft seines Körpers und spürte seine Wärme. Anders, dachte sie wieder. Er ist anders als jeder Junge, den ich bisher kennengelernt habe. Ein bittersüßes, heißes und wildes Gefühl stieg in ihr auf. Sie zitterte und konnte einen Herzschlag in ihren Fingerspitzen spüren, aber nicht sagen, ob es seiner oder ihrer war. Er war so nah und schaute auf sie herunter ...
»Und was passiert dann?«, flüsterte sie mit trockenem Mund.
»Dann ... dann wendet sich dein Glück vielleicht.« Abrupt trat er einen Schritt zurück, als sei ihm gerade etwas eingefallen. Sein Tonfall änderte sich. Der Moment war vorüber. »Es ist jedenfalls einen Versuch wert, findest du nicht?«, fragte er scherzend.
Unfähig, zu sprechen, nickte sie. Er scherzte jetzt. Aber vorher war es ihm ernst gewesen.
»Ich muss weg. Ich hätte gar nicht so lange bleiben dürfen «, sagte er. Cassie schluckte. »Sei vorsichtig. Ich glaube, Jordan hat eine Pistole ...«
»Das würde mich nicht überraschen.« Er schlug ihre Warnung in den Wind und hinderte sie so daran, noch etwas zu sagen. »Mach dir keine Sorgen. Ich verlasse Cape Cod. Jedenfalls für eine Weile. Ich werde wiederkommen. Vielleicht sehen wir uns dann.« Er wandte sich zum Gehen. Dann hielt er für einen letzten Moment inne und nahm wieder ihre Hand. Cassie war überrascht. Er drehte ihre Hand um, betrachtete die jetzt blaugrünen Male auf ihrem Handgelenk und streichelte sie leicht mit den Fingerspitzen. Als er Cassie wieder ansah, war sein Blick hart. »Glaub mir«, flüsterte er. »Dafür wird er eines Tages bezahlen. Das schwöre ich.«
Er hob ihr Handgelenk an seine Lippen und küsste es.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Lisa J. Smith
Lisa J. Smith hat schon früh mit dem Schreiben begonnen. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie bereits während ihres Studiums. Sie lebt mit einem Hund, einer Katze und ungefähr 10.000 Büchern im Norden Kaliforniens.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa J. Smith
- 784 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651367
- ISBN-13: 9783863651367
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