Ein Ritter zu Weihnachten
Perfekt zum Fest - witzig, abenteuerlich und romantisch!
Es ist kurz vor Weihnachten, als die junge Antiquitätenhändlerin Kelly in einem Cottage in Südengland eine Kundin besucht. Ein geheimnisvolles...
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Produktinformationen zu „Ein Ritter zu Weihnachten “
Perfekt zum Fest - witzig, abenteuerlich und romantisch!
Es ist kurz vor Weihnachten, als die junge Antiquitätenhändlerin Kelly in einem Cottage in Südengland eine Kundin besucht. Ein geheimnisvolles Schmuckkästchen weckt ihre Neugier - und kaum hat sie es geöffnet, findet sie sich im tiefsten Mittelalter wieder. Zuerst glaubt sie zu träumen, doch dann wird ihr klar, dass sie eine Zeitreise gemacht hat. Und sie weiß auch warum: Als sie mit ihrer Mutter über das bevorstehende Fest sprach, hat sie sich halb im Scherz einen Ritter gewünscht. Wenig später steht er vor ihr: Ronald of Bragham, schön, stark und voller Leidenschaft. Doch Kelly ist bereits einem anderen Burgherrn als Ehefrau versprochen, und sie weiß, ohne Hilfe wird sie kaum in ihre Zeit zurückkehren können.
Lese-Probe zu „Ein Ritter zu Weihnachten “
Ein Ritter zu Weihnachten von Carrie MacalistairI
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Als Kelly Standhurst an diesem neblig-grauen Novembermorgen die Augen aufschlug, ahnte sie bereits, dass der Tag alles andere als gewöhnlich verlaufen würde. Die Kopfschmerzen vom Vorabend meldeten sich schlagartig zurück, und die Aussicht, eine lange Autofahrt vor sich zu haben, ermunterten Kelly nicht, aus dem warmen Bett zu kriechen; stattdessen spielte sie mit dem Gedanken, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen.
Doch dann erinnerte sie sich ihrer täglichen Pflichten, seufzte einmal tief und schwang ihre Füße über den Bettrand. Noch schlaftrunken duschte Kelly, zog einen dunklen Hosenanzug an, kämmte ihr dunkles langes Haar und steckte es auf, bevor sie in der Küche ein schnelles Frühstück einnahm. Ein vorsichtiger Blick aus dem Fenster sagte ihr, dass es allmählich hell wurde.
Eigentlich hatte Kelly alles erreicht, was sie sich erträumt hatte: Eine mit Bravour abgeschlossene Ausbildung als Antiquitätenhändlerin sowie einige Semester in Antiquitätenkunde lagen hinter ihr. Nun, im Alter von neunundzwanzig Jahren, arbeitete Kelly für einen bekannten Antiquitätenhändler am Trafalgar Square, der sie fürstlich bezahlte und oft zu Auktionen in der ganzen Welt schickte. Schon als Kind hatte sie sich brennend für alte Kunstwerke interessiert, denn sie fand es aufregend, Gegenstände in der Hand zu halten, die von Menschen aus anderen Jahrhunderten angefertigt worden waren. Ihre Augen waren inzwischen so sehr geschult, dass sie meistens auf den ersten Blick erkannte, ob es sich um eine echte Antiquität oder um Trödel handelte.
Ihr hohes Einkommen erlaubte es Kelly, sich eine schicke Wohnung in Kensington zu leisten, ein teures Auto zu fahren
und über ein gut gepolstertes Bankkonto zu verfügen. Und dennoch war Kelly mit ihrem Leben nicht zufrieden - was ihr genau fehlte, konnte sie nicht näher erklären.
Wenn sie gewollt hätte, würde sie an jedem Finger zehn Verehrer haben, längst verheiratet sein und Kinder haben. Aber sie wollte nicht! Und das lag nicht etwa daran, dass sie sich aus Männern nichts machte ... die männlichen Exemplare, mit denen Kelly bisher näheren Kontakt hatte, waren es nur einfach nicht wert, eine enge Beziehung einzugehen. Zwei von ihnen hatten sogar Reif3aus vor ihr genommen, weil sie ihnen zu selbstbewusst war und zu viel Geld verdiente. Letztlich hatte sie das Single-Leben bewusst gewählt.
Kelly saß auf dem hohen Hocker vor der Frühstückstheke und schenkte sich den restlichen Kaffee aus der Kanne ein. Flüchtig blickte sie dabei erneut zum Fenster und stellte ernüchtert fest, dass es wohl an diesem Tag gar nicht richtig hell werden wollte.
Wenn sie doch nur wüsste, wieso sie häufig so deprimiert war!
»Es liegt nicht an mir«, murmelte sie halblaut in die Stille hinein. »Es liegt daran, dass es keine richtigen Männer mehr gibt.«
Nach dieser Feststellung ging es ihr gleich etwas besser, und als die Schmerztablette, die sie genommen hatte, zu wirken begann, fühlte sie einen Anflug von Freude, als ihr der neue Auftrag wieder einfiel: Auf Anordnung von Mr Trevor Harrow, ihrem Boss, sollte Kelly an diesem Morgen in die Grafschaft Kent fahren. Dort hatte eine alte Dame der Gemeinde ihr Cottage hinterlassen, und Kellys Firma war beauftragt worden, sich in dem Häuschen nach verwertbaren Antiquitäten umzuschauen.
Kelly liebte diese Auf3entermine, und allmählich erwachten ihre Lebensgeister. Alles, was sie an diesem Morgen trübsinnig gemacht hatte, war verflogen. Sie brauchte keinen Mann, der ihr Leben ausfüllte!
Gerade als sie alle Unterlagen für den Auftrag in ihrer Aktentasche verstaut hatte, läutete das Telefon.
»Ausgerechnet jetzt«, murmelte Kelly unwillig und war versucht, es klingeln zu lassen. Mit einem flüchtigen Blick auf das Display erfasste sie, dass es ihre Mutter war. Helen Standhurst schaffte es immer wieder, anzurufen, wenn sich Kelly in akuter Zeitnot befand. Aber da sie wusste, wie hartnäckig ihre Mutter war, nahm sie nach einem kurzen Seufzer ab.
»Hast du etwa noch geschlafen?«, erkundigte sich Helen nach einer knappen Begrüßung. »Ich wollte dich fragen, ob mit Weihnachten alles klappt.«
»Mom, das ist erst in sechs Wochen!«
»Die Zeit vergeht doch so schnell«, verteidigte sich Helen. »Ich möchte bis dahin alle Einkäufe erledigt haben. Was wünschst du dir denn zum Fest?«
Kelly verdrehte die Augen - jedes Jahr um dieselbe Zeit dieselbe Frage, und jedes Mal antwortete Kelly mit: »Ich habe keine Wünsche.« Das bedeutete, dass sie wieder einmal einen Seidenschal oder einen Satz Kristallgläser bekommen würde.
Deshalb sagte sie dieses Mal spontan: »Ich wünsche mir einen Ritter!«
Kelly musste ihren Wunsch zweimal wiederholen, bis ihre Mutter sie richtig verstanden hatte. »Einen Ritter? Sei nicht albern, Kind. Es gibt heutzutage keine Ritter mehr. Cbrigens werden deine Geschwister einen Tag vor dem Fest hier sein. Ich hoffe, du kommst dann auch.«
»Sicher, Mom. Ich werde pünktlich sein.«
»Freust du dich denn gar nicht darauf, deine Familie wiederzusehen?« Helen schien über das mangelnde Interesse ihrer Tochter enttäuscht. Erst als Kelly ihr versicherte, das Fest voller Ungeduld zu erwarten, war Helen zufrieden.
»Cbrigens ist neulich ein neuer Nachbar ins Nebenhaus gezogen. Er ist alleinstehend und sieht sehr gut aus. Ich habe daran gedacht, ihn zum Weihnachtsessen einzuladen. Was meinst du?«
Ging das denn schon wieder los?
Kelly hob die Schultern, dann sagte sie reserviert: »Es ist deine
Entscheidung.« Sie ahnte bereits, dass ihre Mutter sie wieder einmal verkuppeln wollte. »Ich muss jetzt auflegen, Mom.«
Als sich Kelly eine Viertelstunde später auf den Weg machte, dachte sie über das Telefonat nach. Ihre Eltern lebten im Stadtteil Camden, in einem bescheidenen Reihenhaus. Dort waren Kelly und ihre drei Geschwister Shirley, Alex und Bratt schon geboren worden. Sie hatten alle längst Nachwuchs, und als Kelly an ihre ständig lärmenden Nichten und Neffen denken musste, war ihre gute Laune dahin.
Die Geschwister lebten weit auferhalb von London, aber Weihnachten wurde seit jeher in ihrem Elternhaus gefeiert - darauf bestand Helen trotz der vielen Arbeit. Dabei lief es Jahr für Jahr gleich ab: Sie schmückte die künstliche Tanne schon lange vor der Ankunft ihrer Kinder und Enkel; dann mussten alle um den Baum herumstehen und ihn bewundern. Später gab es selbst gebackene Plätzchen, und die Geschwister erzählten sich gegenseitig, was sie das Jahr über getrieben hatten, während die Kinder durch das Haus tobten.
Am Weihnachtstag wurden Geschenke ausgetauscht, die man eigentlich gar nicht brauchte und die nur Platz im Schrank wegnahmen. Einzig die Enkelkinder freuten sich aufrichtig über ihre Geschenke. Abends gab es Karpfen und zum Nachtisch Pflaumenkompott, von Helen im Herbst persönlich eingekocht.
Kelly konnte nicht leugnen, dass sie ihre stille Wohnung jedes Mal nach Weihnachten mit Erleichterung wieder aufsuchte. Für sie hatte das Fest keinen besonderen Reiz mehr, weil alles stereotyp ablief; Jahr für Jahr die traditionelle Prozedur. Die festliche Vorfreude, die Kelly als Kind empfunden hatte, war schon lange dahin, und plötzlich sehnte sie sich nach ihrer Kindheit zurück. Damals hatte es pünktlich zum Fest geschneit - nicht viel, aber die Hausdächer und Strafen waren weif gewesen.
Hinter London setzte leichter Regen ein. Missmutig starrte Kelly auf die nasse Strafe. Bis Weihnachten war es zwar noch
einige Wochen hin, aber es war vorauszusehen, dass sich bis dahin am Wetter kaum etwas ändern würde - wie in den vergangenen Jahren.
Normalerweise mochte Kelly die Grafschaft Kent, die zu Recht den Beinamen »Garten Englands« trug, sehr gern. Die endlos weiten grünen Hügellandschaften, alte Burgen, Schlösser und Kirchen lockten in den Sommermonaten viele Touristen aus aller Welt an. Aber im Spätherbst mit seinen nebelverhangenen grauen Tagen wirkte Kent ebenso trostlos wie alle anderen Teile Englands. Kelly nahm die Autostraße nach Osten, die auf direktem Weg nach Maidstone, der Kreisstadt von Kent, führte. Im dortigen Rathaus würde sie die genaue Anschrift des geerbten Häuschens erfahren.
Vor Kelly lag eine weite Strecke, sodass sie wieder in Gedanken über ihr unausgefülltes Leben verfiel. Dabei fragte sie sich einmal mehr, warum sie so unzufrieden war. Konnte es wirklich daran liegen, dass sie nicht den richtigen Mann fand, oder stimmte etwas nicht mit ihr? Es half ihr auch nicht, sich einreden zu wollen, dass sie sehr gut alleine leben konnte. An die Gründung einer Familie hatte sie nie gedacht - Kinder würden sie nur an der Ausübung ihres Berufes hindern.
Auf halbem Weg entdeckte Kelly links in der Ferne undeutlich eine mächtige, auf einer Anhöhe gelegene Trutzburg im Nebel, die Hunderte von Jahren alt sein musste. Gebaut aus grobem Felsstein mit Wehrtürmen in alle vier Windrichtungen, schien die Burg noch heute ihren Bewohnern als sicheres Heim zu dienen.
Kelly war versucht, einen Abstecher zu dieser Burg zu machen, erinnerte sich jedoch an ihren Auftrag, der schnellstmöglich erledigt werden wollte. Sie war die Strecke schon öfters gefahren und hatte der Festung in der Ferne niemals nähere Beachtung geschenkt. Kelly fand es seltsam, dass sie ausgerechnet diesmal Interesse an den Bauwerken Kents zeigte.
Doch dann war die Burg aus ihrem Sichtfeld verschwunden, und Kelly setzte ihren Weg unbeirrt fort. Die schnurgerade, vor
Nässe glänzende Strafe vor ihr machte sie schläfrig, deshalb schaltete sie kurz entschlossen das Radio an.
Trotz der dahinplätschernden Musik verfiel sie erneut ins Grübeln; diesmal über Weihnachten. Ihr graute vor dem Fest bei ihren Eltern, das nur aus Hektik und Lärm bestand und keine Minute Besinnlichkeit zulief. Und dann auch noch Helens hartnäckiges Bemühen, ihre jüngste Tochter endlich unter die Haube zu bringen - wie peinlich!
Um die Mittagszeit dämmerte es bereits. Als sie kurz darauf Maidstone erreichte, hatte das Rathaus bereits geschlossen, denn für die ungefähr sechzig Kilometer von Kensington hatte Kelly wegen der schlechten Sicht fast zwei Stunden gebraucht!
Damit hatte sie bereits gerechnet und sich im Voraus ein Pensionszimmer in der Stadtmitte gebucht. Es war klein und altmodisch eingerichtet, aber das störte Kelly wenig, denn sie war nach der langen Fahrt erschöpft und wollte nur noch schlafen.
Erfrischt erwachte sie am nächsten Morgen, der genauso feucht und grau zu werden versprach wie die vergangenen Tage. Während sie ausgiebig duschte, fiel ihr blitzartig ein, wieso sie so unzufrieden war: Niemand wartete zu Hause auf sie und freute sich über ihr Heimkommen - noch nicht einmal ein Wellensittich oder Goldhamster!
»Kelly, hör endlich auf, dich zu bemitleiden«, sagte sie nach dem Duschen bestimmt zu ihrem Spiegelbild. »Sei froh, dass du frei bist, darum beneiden dich sehr viele Frauen.« Das Spiegelbild widersprach nicht, und so drehte sich Kelly seufzend um und fönte ihr schweres Haar.
Nach einem viel zu üppigen Frühstück zahlte Kelly ihre Rechnung und machte sich auf den Weg zum historischen Rathaus, das sich in der Innenstadt befand. Kelly hatte die Bauart schon bei früheren Besuchen in Maidstone bewundern dürfen; es war jedoch das erste Mal, dass sie dort zu tun hatte.
Nach Mr Harrows Anweisung sollte sich Kelly bei einer Miss
Grant melden. Wenige Minuten später stand sie einem ältlichen Fräulein in einer winzigen Amtsstube gegenüber.
»Ich habe Sie bereits gestern erwartet«, sagte Miss Grant und reichte Kelly freundlich die Hand. »Bitte setzen Sie sich einen Augenblick, ich suche sofort nach dem Schlüssel.«
Während sie in einer Schublade des Schreibtisches kramte, fragte Kelly interessiert: »Wer war diese grof3zügige alte Dame, die der Stadt ihr Cottage vermacht hat?«
»Ich kannte Mrs Ingles leider nicht persönlich, aber ich hörte, dass sie sich schon zu Lebzeiten sehr spendabel zeigte; sie beteiligte sich zeitlebens finanziell an Renovierungen etlicher historischer Gebäude. Sie hinterlief3 ihren Besitz der Stadt, weil sie keine Erben hatte. So, da ist der Schlüssel.« Miss Grant legte ein Schlüsselbund mit drei altmodischen Schlüsseln, durch einen grof3en Ring gezogen, auf die Tischplatte. »Mrs Ingles galt als etwas schrullig. Sie war nie verheiratet und stellte ihre eigene Kräutermedizin her.«
»Was wird die Stadt mit dem Häuschen machen?« Interessiert betrachtete Kelly den altertümlichen Schlüsselbund. »Und welche Antiquitäten werden im Inneren vermutet?«
»Soviel ich weiß, steht das Cottage unter Denkmalschutz und darf nicht abgerissen werden. Was daraus wird, ist noch nicht bekannt. Keine Ahnung, ob sich etwas Wertvolles darin befindet - deshalb wurde Mr Harrow beauftragt, jemanden zu schicken, der die Einrichtungsgegenstände schätzt.«
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Kelly und ließ die Schlüssel in ihre Jackentasche gleiten. »Wahrscheinlich kann ich Ihnen schon morgen eine Liste der Wertgegenstände schicken.«
»Wunderbar!« Miss Grant schob Kelly einen handgeschriebenen Zettel über den Tisch. »Das Haus liegt etwas auf3erhalb von Maidstone, im Bezirk Sevenoaks, etwa eine Viertelstunde mit dem Auto.«
Kelly lächelte der Frau zu. »Ich werde es schon finden.« Sie erhob sich und sagte: »Sowie ich mit der Beurteilung fertig bin, werde ich mich wieder bei Ihnen melden.«
Miss Grant begleitete sie zur Tür. »Wäre schön, wenn Sie den einen oder anderen kleinen Schatz entdecken würden. Von dem Erlös könnte man endlich einen Teil der dringenden Baumaßnahmen unseres schönen Rathauses finanzieren.«
Als Kelly kurz darauf wieder auf der Straße stand, setzte Regen ein. Zwar galt Kents Klima als besonders mild, aber der Regen war kalt und schlug Kelly unangenehm ins Gesicht, während sie über die Straße zu ihrem Auto rannte.
Fluchend wischte sie sich mit einem Papiertaschentuch über das Gesicht, bevor sie den Motor anließ. Dann faltete sie den Zettel auseinander, um das Fahrziel in ihren Navigator eingeben zu können. Dummerweise konnte dieser eine Straße namens Blunt Road nicht finden, und noch einmal fluchte Kelly undamenhaft.
Gemächlich fuhr sie nach Sevenoaks, einem Bezirk mit vielen uralten Häusern zwischen Bäumen und Wiesen. Im Sommer schien es hier herrlich zu sein, eine richtige Ferienoase. Aber mit den kahlen, vor Nässe glänzenden Bäumen und Hecken wirkte die Gegend nicht sehr einladend.
Nach kurzer Suche hatte Kelly die Blunt Road gefunden, die sich als bescheidenes Gässchen entpuppte, an dessen Ende sich Mrs Ingles' Haus befand - übrigens dem einzigen Haus in der Blunt Road.
Neugierig reckte Kelly den Hals, um einen ersten Blick auf das hinter wilden Hecken verborgene Cottage werfen zu können. Viel mehr als durch das Buschwerk blitzendes Gemäuer war allerdings nicht zu erkennen, und so nahm Kelly den schweren Schlüsselbund und stieg aus dem Auto.
Von der Straße führte ein schmaler, unbefestigter Weg neben einer unbeschnittenen Buchsbaumhecke zum Haus. Man konnte dem Gemäuer sein Alter ansehen; die dunklen Ziegelsteine der Außenfassade waren teilweise zerbröckelt, die Fensterrahmen verzogen und die Haustür war wurmstichig; trotzdem hatte das unscheinbare Häuschen durchaus seinen Reiz mit den altmodischen Schornsteinen an beiden Giebelseiten.
Bevor Kelly den Schlüssel ins Türschloss steckte, fragte sie sich, wer wohl im Laufe der Jahrhunderte hier gewohnt haben mochte, und schaute sich interessiert um. Das Grundstück war nicht sehr grof3 und stieß am hinteren Ende an einen brachliegenden Acker. Der Garten war völlig verwildert - alles in allem sah es so aus, als habe hier schon ewig niemand mehr gelebt. Allerdings wusste Kelly nicht, wann die Hausbesitzerin gestorben war, denn das konnte schon vor Jahren gewesen sein.
Der Schlüssel klemmte, und erst nachdem Kelly es mehrmals probiert hatte, ließ er sich quietschend und mühevoll drehen. Vorsichtig schob Kelly die knarrende Tür auf und lugte ins Innere. Abgestandene Luft schlug Kelly entgegen, was sie jedoch nicht davon abhielt, über die abgenutzte Schwelle zu treten. Es war schummrig, sodass Kelly ihre Taschenlampe zu Hilfe nahm, um sich besser orientieren zu können.
Sie befand in einem kleinen Wohnraum mit altem Kamin, grünem Plüschsofa und diversen Möbeln sowie zwei Schubladenkommoden, einem klobigen Couchtisch und einer Glasvitrine.
Auf den ersten Blick erkannte Kelly, dass die Wohnzimmereinrichtung zwar alt war, aber keinen besonderen Wert mehr hatte. Die Möbel entstammten mehreren Epochen, waren schäbig und zerkratzt.
Erst jetzt entdeckte Kelly die dunklen Vorhänge vor den Fenstern und zog sie zurück, um etwas Helligkeit in den Raum zu bringen; trotz des zusätzlichen Lichtes sahen die Möbel jedoch nicht weniger unansehnlich aus.
Neben dem Kamin führte eine Tür in die angrenzende Küche - auch hier gab es nichts von besonderem Wert, wie Kelly auf den ersten Blick erkannte. Von der Küche führte eine weitere Tür in einen kleinen Flur, dessen steile Treppe fast den ganzen Raum ausfüllte.
Kelly leuchtete mit der Taschenlampe nach oben, dann nahm sie vorsichtig Stufe um Stufe - nur um festzustellen, dass es in den beiden winzigen Schlafkammern nichts zu holen gab.
Ernüchtert begab sich Kelly wieder in den vorderen Raum und nahm sich zunächst die Kommoden vor. Sie öffnete eine Schublade nach der anderen und stöberte im Nachlass von Mrs Ingles. In der obersten Schublade befanden sich ordentlich zusammengelegte Tischdecken aus Baumwolle und Leinen, die schon sehr lange dort liegen mussten, denn sie rochen muffig und sahen vergilbt aus.
Auch in den anderen Schubladen hatte die alte Dame nutzlose Gegenstände aufbewahrt: Stapel von zerknitterten Geschenkpapierbögen, Werbekugelschreiber, längst abgelaufene Wandkalender und dergleichen.
Resigniert wandte sich Kelly der Glasvitrine zu; dabei fiel ihr Blick auf das grüne Plüschsofa, dessen Bezugsstoff an den Nähten der Sitzfläche geplatzt war, sodass die Polsterung hervorquoll. Ob es sich lohnen würde, das alte Möbelstück aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts neu polstern zu lassen?
Nein, entschied Kelly ohne Zögern. Ein neuer Bezug würde mehr kosten, als das ganze Sofa noch wert war. Mit kritischem Blick musterte sie durch die staubigen Glasscheiben das Innere der Vitrine. Doch auch hier schien sich kein kostbarer Gegenstand zu verstecken - nur Plunder, bestehend aus billigen Gläsern, kitschigen wertlosen Porzellanfiguren und einigen Reiseandenken, akkurat auf alle Stellflächen verteilt.
Doch etwas erregte schliefflich Kellys Aufmerksamkeit - ganz hinten im untersten Regal stand neben einem geschmacklosen quietschbunten Papagei aus Keramik eine unscheinbare kleine Schatulle. Sie bestand aus Holz, hatte einen gewölbten Deckel und war über und über mit kleinen hellen Perlmuttmuscheln beklebt.
Neugierig griff Kelly nach dem Kästchen und betrachtete es kritisch von allen Seiten. Es schien schon sehr alt und von Hand gefertigt zu sein. Das kleine, zierliche Schloss war rostig und schief angebracht worden; einen passenden Schlüssel dazu gab es nicht.
Vorsichtig schüttelte Kelly die Schatulle; es klapperte. Also musste sich etwas im Inneren befinden. Und obwohl Kelly kaum glaubte, dass sie hier auf einen verborgenen Schatz stof3en würde, wollte sie doch mehr über den geheimnisvollen Inhalt erfahren.
Innerlich jubilierte sie, als sie feststellte, dass das Kästchen nicht verschlossen war und sich der Deckel mühelos öffnen lief3. Es befand sich nur ein einziger Gegenstand im Inneren, und bevor sie die Brosche herausnahm, betrachtete sie das Schmuckstück eingehend.
Auf den ersten Blick konnte Kelly nicht feststellen, welcher Epoche die Brosche entstammte. Sie war auffallend grof3 mit einer aufwendig geformten goldenen Einfassung und dicht besetzt mit grünen, gelben und blauen geschliffenen Edelsteinen. In der Mitte saf3 ein grof3er rubinroter Stein, und die Schlief3e auf der Rückseite bestand aus einer riesigen verbogenen Nadel.
Kelly war kein Juwelier, aber die Edelsteine konnten durchaus echt sein. Dem Aussehen nach schien die Brosche aus dem frühen Mittelalter zu stammen. Kelly lehnte sich an den Kaminsims, nahm das Schmuckstück an sich und versuchte, Näheres über sein Alter herauszufinden. Hier und da konnte man feine Kratzer im Metall und kaum sichtbare Absprengungen an den Steinen erkennen; dabei war nicht ersichtlich, ob es sich um Tand oder echte Saphire, Smaragde und Rubine handelte. Wenn die Brosche echt war und aus einem längst vergangenen Jahrhundert stammte, wäre sie sehr wertvoll. Aber das konnte nur ein Juwelier herausfinden.
Kelly war so sehr mit dem Schmuckstück beschäftigt, dass sie zunächst nicht merkte, wie es neben ihr warm wurde und die Luft sich veränderte. Erst als ein plötzlicher Windstoß durch den Raum fuhr, hob Kelly erschrocken den Blick.
Sie blinzelte mehrmals, als sie sah, dass sich die Einrichtung verändert hatte. Anstatt des Mobiliars von Mrs Ingles befanden sich plötzlich klobige hölzerne Sitzmöbel an jener Stelle, an der eben noch das hässliche grüne Sofa gestanden hatte.
Wie betäubt ließ Kelly die Brosche sinken und blickte sich weiter um. Der erkaltete Kamin hatte sich in eine aus groben Steinen gebaute primitive Feuerstelle verwandelt, in der muntere Flammen loderten, und vor den nun glaslosen Fenstern befanden sich hölzerne Läden.
Entsetzt wich Kelly zurück, als sie eine alte Frau, bekleidet mit einem grauen Leinenkittel, entdeckte, die auf einem Holzschemel nahe der Tür saf3 und ein Spinnrad vor sich stehen hatte.
Die alte Frau hatte schlohweif3es langes Haar und ein gütiges Lächeln auf den Lippen. Unbeirrt drehte sich ihr Spinnrad, als hätte sie die Fremde noch nicht entdeckt. Doch dann hob sie den Kopf, blickte Kelly direkt in die Augen und sagte mit feiner Stimme: »Willkommen in meinem Haus, Jungfer Ceally.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2012 by Carrie MacAlistair, vertreten durch Medienbüro München
Als Kelly Standhurst an diesem neblig-grauen Novembermorgen die Augen aufschlug, ahnte sie bereits, dass der Tag alles andere als gewöhnlich verlaufen würde. Die Kopfschmerzen vom Vorabend meldeten sich schlagartig zurück, und die Aussicht, eine lange Autofahrt vor sich zu haben, ermunterten Kelly nicht, aus dem warmen Bett zu kriechen; stattdessen spielte sie mit dem Gedanken, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen.
Doch dann erinnerte sie sich ihrer täglichen Pflichten, seufzte einmal tief und schwang ihre Füße über den Bettrand. Noch schlaftrunken duschte Kelly, zog einen dunklen Hosenanzug an, kämmte ihr dunkles langes Haar und steckte es auf, bevor sie in der Küche ein schnelles Frühstück einnahm. Ein vorsichtiger Blick aus dem Fenster sagte ihr, dass es allmählich hell wurde.
Eigentlich hatte Kelly alles erreicht, was sie sich erträumt hatte: Eine mit Bravour abgeschlossene Ausbildung als Antiquitätenhändlerin sowie einige Semester in Antiquitätenkunde lagen hinter ihr. Nun, im Alter von neunundzwanzig Jahren, arbeitete Kelly für einen bekannten Antiquitätenhändler am Trafalgar Square, der sie fürstlich bezahlte und oft zu Auktionen in der ganzen Welt schickte. Schon als Kind hatte sie sich brennend für alte Kunstwerke interessiert, denn sie fand es aufregend, Gegenstände in der Hand zu halten, die von Menschen aus anderen Jahrhunderten angefertigt worden waren. Ihre Augen waren inzwischen so sehr geschult, dass sie meistens auf den ersten Blick erkannte, ob es sich um eine echte Antiquität oder um Trödel handelte.
Ihr hohes Einkommen erlaubte es Kelly, sich eine schicke Wohnung in Kensington zu leisten, ein teures Auto zu fahren
und über ein gut gepolstertes Bankkonto zu verfügen. Und dennoch war Kelly mit ihrem Leben nicht zufrieden - was ihr genau fehlte, konnte sie nicht näher erklären.
Wenn sie gewollt hätte, würde sie an jedem Finger zehn Verehrer haben, längst verheiratet sein und Kinder haben. Aber sie wollte nicht! Und das lag nicht etwa daran, dass sie sich aus Männern nichts machte ... die männlichen Exemplare, mit denen Kelly bisher näheren Kontakt hatte, waren es nur einfach nicht wert, eine enge Beziehung einzugehen. Zwei von ihnen hatten sogar Reif3aus vor ihr genommen, weil sie ihnen zu selbstbewusst war und zu viel Geld verdiente. Letztlich hatte sie das Single-Leben bewusst gewählt.
Kelly saß auf dem hohen Hocker vor der Frühstückstheke und schenkte sich den restlichen Kaffee aus der Kanne ein. Flüchtig blickte sie dabei erneut zum Fenster und stellte ernüchtert fest, dass es wohl an diesem Tag gar nicht richtig hell werden wollte.
Wenn sie doch nur wüsste, wieso sie häufig so deprimiert war!
»Es liegt nicht an mir«, murmelte sie halblaut in die Stille hinein. »Es liegt daran, dass es keine richtigen Männer mehr gibt.«
Nach dieser Feststellung ging es ihr gleich etwas besser, und als die Schmerztablette, die sie genommen hatte, zu wirken begann, fühlte sie einen Anflug von Freude, als ihr der neue Auftrag wieder einfiel: Auf Anordnung von Mr Trevor Harrow, ihrem Boss, sollte Kelly an diesem Morgen in die Grafschaft Kent fahren. Dort hatte eine alte Dame der Gemeinde ihr Cottage hinterlassen, und Kellys Firma war beauftragt worden, sich in dem Häuschen nach verwertbaren Antiquitäten umzuschauen.
Kelly liebte diese Auf3entermine, und allmählich erwachten ihre Lebensgeister. Alles, was sie an diesem Morgen trübsinnig gemacht hatte, war verflogen. Sie brauchte keinen Mann, der ihr Leben ausfüllte!
Gerade als sie alle Unterlagen für den Auftrag in ihrer Aktentasche verstaut hatte, läutete das Telefon.
»Ausgerechnet jetzt«, murmelte Kelly unwillig und war versucht, es klingeln zu lassen. Mit einem flüchtigen Blick auf das Display erfasste sie, dass es ihre Mutter war. Helen Standhurst schaffte es immer wieder, anzurufen, wenn sich Kelly in akuter Zeitnot befand. Aber da sie wusste, wie hartnäckig ihre Mutter war, nahm sie nach einem kurzen Seufzer ab.
»Hast du etwa noch geschlafen?«, erkundigte sich Helen nach einer knappen Begrüßung. »Ich wollte dich fragen, ob mit Weihnachten alles klappt.«
»Mom, das ist erst in sechs Wochen!«
»Die Zeit vergeht doch so schnell«, verteidigte sich Helen. »Ich möchte bis dahin alle Einkäufe erledigt haben. Was wünschst du dir denn zum Fest?«
Kelly verdrehte die Augen - jedes Jahr um dieselbe Zeit dieselbe Frage, und jedes Mal antwortete Kelly mit: »Ich habe keine Wünsche.« Das bedeutete, dass sie wieder einmal einen Seidenschal oder einen Satz Kristallgläser bekommen würde.
Deshalb sagte sie dieses Mal spontan: »Ich wünsche mir einen Ritter!«
Kelly musste ihren Wunsch zweimal wiederholen, bis ihre Mutter sie richtig verstanden hatte. »Einen Ritter? Sei nicht albern, Kind. Es gibt heutzutage keine Ritter mehr. Cbrigens werden deine Geschwister einen Tag vor dem Fest hier sein. Ich hoffe, du kommst dann auch.«
»Sicher, Mom. Ich werde pünktlich sein.«
»Freust du dich denn gar nicht darauf, deine Familie wiederzusehen?« Helen schien über das mangelnde Interesse ihrer Tochter enttäuscht. Erst als Kelly ihr versicherte, das Fest voller Ungeduld zu erwarten, war Helen zufrieden.
»Cbrigens ist neulich ein neuer Nachbar ins Nebenhaus gezogen. Er ist alleinstehend und sieht sehr gut aus. Ich habe daran gedacht, ihn zum Weihnachtsessen einzuladen. Was meinst du?«
Ging das denn schon wieder los?
Kelly hob die Schultern, dann sagte sie reserviert: »Es ist deine
Entscheidung.« Sie ahnte bereits, dass ihre Mutter sie wieder einmal verkuppeln wollte. »Ich muss jetzt auflegen, Mom.«
Als sich Kelly eine Viertelstunde später auf den Weg machte, dachte sie über das Telefonat nach. Ihre Eltern lebten im Stadtteil Camden, in einem bescheidenen Reihenhaus. Dort waren Kelly und ihre drei Geschwister Shirley, Alex und Bratt schon geboren worden. Sie hatten alle längst Nachwuchs, und als Kelly an ihre ständig lärmenden Nichten und Neffen denken musste, war ihre gute Laune dahin.
Die Geschwister lebten weit auferhalb von London, aber Weihnachten wurde seit jeher in ihrem Elternhaus gefeiert - darauf bestand Helen trotz der vielen Arbeit. Dabei lief es Jahr für Jahr gleich ab: Sie schmückte die künstliche Tanne schon lange vor der Ankunft ihrer Kinder und Enkel; dann mussten alle um den Baum herumstehen und ihn bewundern. Später gab es selbst gebackene Plätzchen, und die Geschwister erzählten sich gegenseitig, was sie das Jahr über getrieben hatten, während die Kinder durch das Haus tobten.
Am Weihnachtstag wurden Geschenke ausgetauscht, die man eigentlich gar nicht brauchte und die nur Platz im Schrank wegnahmen. Einzig die Enkelkinder freuten sich aufrichtig über ihre Geschenke. Abends gab es Karpfen und zum Nachtisch Pflaumenkompott, von Helen im Herbst persönlich eingekocht.
Kelly konnte nicht leugnen, dass sie ihre stille Wohnung jedes Mal nach Weihnachten mit Erleichterung wieder aufsuchte. Für sie hatte das Fest keinen besonderen Reiz mehr, weil alles stereotyp ablief; Jahr für Jahr die traditionelle Prozedur. Die festliche Vorfreude, die Kelly als Kind empfunden hatte, war schon lange dahin, und plötzlich sehnte sie sich nach ihrer Kindheit zurück. Damals hatte es pünktlich zum Fest geschneit - nicht viel, aber die Hausdächer und Strafen waren weif gewesen.
Hinter London setzte leichter Regen ein. Missmutig starrte Kelly auf die nasse Strafe. Bis Weihnachten war es zwar noch
einige Wochen hin, aber es war vorauszusehen, dass sich bis dahin am Wetter kaum etwas ändern würde - wie in den vergangenen Jahren.
Normalerweise mochte Kelly die Grafschaft Kent, die zu Recht den Beinamen »Garten Englands« trug, sehr gern. Die endlos weiten grünen Hügellandschaften, alte Burgen, Schlösser und Kirchen lockten in den Sommermonaten viele Touristen aus aller Welt an. Aber im Spätherbst mit seinen nebelverhangenen grauen Tagen wirkte Kent ebenso trostlos wie alle anderen Teile Englands. Kelly nahm die Autostraße nach Osten, die auf direktem Weg nach Maidstone, der Kreisstadt von Kent, führte. Im dortigen Rathaus würde sie die genaue Anschrift des geerbten Häuschens erfahren.
Vor Kelly lag eine weite Strecke, sodass sie wieder in Gedanken über ihr unausgefülltes Leben verfiel. Dabei fragte sie sich einmal mehr, warum sie so unzufrieden war. Konnte es wirklich daran liegen, dass sie nicht den richtigen Mann fand, oder stimmte etwas nicht mit ihr? Es half ihr auch nicht, sich einreden zu wollen, dass sie sehr gut alleine leben konnte. An die Gründung einer Familie hatte sie nie gedacht - Kinder würden sie nur an der Ausübung ihres Berufes hindern.
Auf halbem Weg entdeckte Kelly links in der Ferne undeutlich eine mächtige, auf einer Anhöhe gelegene Trutzburg im Nebel, die Hunderte von Jahren alt sein musste. Gebaut aus grobem Felsstein mit Wehrtürmen in alle vier Windrichtungen, schien die Burg noch heute ihren Bewohnern als sicheres Heim zu dienen.
Kelly war versucht, einen Abstecher zu dieser Burg zu machen, erinnerte sich jedoch an ihren Auftrag, der schnellstmöglich erledigt werden wollte. Sie war die Strecke schon öfters gefahren und hatte der Festung in der Ferne niemals nähere Beachtung geschenkt. Kelly fand es seltsam, dass sie ausgerechnet diesmal Interesse an den Bauwerken Kents zeigte.
Doch dann war die Burg aus ihrem Sichtfeld verschwunden, und Kelly setzte ihren Weg unbeirrt fort. Die schnurgerade, vor
Nässe glänzende Strafe vor ihr machte sie schläfrig, deshalb schaltete sie kurz entschlossen das Radio an.
Trotz der dahinplätschernden Musik verfiel sie erneut ins Grübeln; diesmal über Weihnachten. Ihr graute vor dem Fest bei ihren Eltern, das nur aus Hektik und Lärm bestand und keine Minute Besinnlichkeit zulief. Und dann auch noch Helens hartnäckiges Bemühen, ihre jüngste Tochter endlich unter die Haube zu bringen - wie peinlich!
Um die Mittagszeit dämmerte es bereits. Als sie kurz darauf Maidstone erreichte, hatte das Rathaus bereits geschlossen, denn für die ungefähr sechzig Kilometer von Kensington hatte Kelly wegen der schlechten Sicht fast zwei Stunden gebraucht!
Damit hatte sie bereits gerechnet und sich im Voraus ein Pensionszimmer in der Stadtmitte gebucht. Es war klein und altmodisch eingerichtet, aber das störte Kelly wenig, denn sie war nach der langen Fahrt erschöpft und wollte nur noch schlafen.
Erfrischt erwachte sie am nächsten Morgen, der genauso feucht und grau zu werden versprach wie die vergangenen Tage. Während sie ausgiebig duschte, fiel ihr blitzartig ein, wieso sie so unzufrieden war: Niemand wartete zu Hause auf sie und freute sich über ihr Heimkommen - noch nicht einmal ein Wellensittich oder Goldhamster!
»Kelly, hör endlich auf, dich zu bemitleiden«, sagte sie nach dem Duschen bestimmt zu ihrem Spiegelbild. »Sei froh, dass du frei bist, darum beneiden dich sehr viele Frauen.« Das Spiegelbild widersprach nicht, und so drehte sich Kelly seufzend um und fönte ihr schweres Haar.
Nach einem viel zu üppigen Frühstück zahlte Kelly ihre Rechnung und machte sich auf den Weg zum historischen Rathaus, das sich in der Innenstadt befand. Kelly hatte die Bauart schon bei früheren Besuchen in Maidstone bewundern dürfen; es war jedoch das erste Mal, dass sie dort zu tun hatte.
Nach Mr Harrows Anweisung sollte sich Kelly bei einer Miss
Grant melden. Wenige Minuten später stand sie einem ältlichen Fräulein in einer winzigen Amtsstube gegenüber.
»Ich habe Sie bereits gestern erwartet«, sagte Miss Grant und reichte Kelly freundlich die Hand. »Bitte setzen Sie sich einen Augenblick, ich suche sofort nach dem Schlüssel.«
Während sie in einer Schublade des Schreibtisches kramte, fragte Kelly interessiert: »Wer war diese grof3zügige alte Dame, die der Stadt ihr Cottage vermacht hat?«
»Ich kannte Mrs Ingles leider nicht persönlich, aber ich hörte, dass sie sich schon zu Lebzeiten sehr spendabel zeigte; sie beteiligte sich zeitlebens finanziell an Renovierungen etlicher historischer Gebäude. Sie hinterlief3 ihren Besitz der Stadt, weil sie keine Erben hatte. So, da ist der Schlüssel.« Miss Grant legte ein Schlüsselbund mit drei altmodischen Schlüsseln, durch einen grof3en Ring gezogen, auf die Tischplatte. »Mrs Ingles galt als etwas schrullig. Sie war nie verheiratet und stellte ihre eigene Kräutermedizin her.«
»Was wird die Stadt mit dem Häuschen machen?« Interessiert betrachtete Kelly den altertümlichen Schlüsselbund. »Und welche Antiquitäten werden im Inneren vermutet?«
»Soviel ich weiß, steht das Cottage unter Denkmalschutz und darf nicht abgerissen werden. Was daraus wird, ist noch nicht bekannt. Keine Ahnung, ob sich etwas Wertvolles darin befindet - deshalb wurde Mr Harrow beauftragt, jemanden zu schicken, der die Einrichtungsgegenstände schätzt.«
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Kelly und ließ die Schlüssel in ihre Jackentasche gleiten. »Wahrscheinlich kann ich Ihnen schon morgen eine Liste der Wertgegenstände schicken.«
»Wunderbar!« Miss Grant schob Kelly einen handgeschriebenen Zettel über den Tisch. »Das Haus liegt etwas auf3erhalb von Maidstone, im Bezirk Sevenoaks, etwa eine Viertelstunde mit dem Auto.«
Kelly lächelte der Frau zu. »Ich werde es schon finden.« Sie erhob sich und sagte: »Sowie ich mit der Beurteilung fertig bin, werde ich mich wieder bei Ihnen melden.«
Miss Grant begleitete sie zur Tür. »Wäre schön, wenn Sie den einen oder anderen kleinen Schatz entdecken würden. Von dem Erlös könnte man endlich einen Teil der dringenden Baumaßnahmen unseres schönen Rathauses finanzieren.«
Als Kelly kurz darauf wieder auf der Straße stand, setzte Regen ein. Zwar galt Kents Klima als besonders mild, aber der Regen war kalt und schlug Kelly unangenehm ins Gesicht, während sie über die Straße zu ihrem Auto rannte.
Fluchend wischte sie sich mit einem Papiertaschentuch über das Gesicht, bevor sie den Motor anließ. Dann faltete sie den Zettel auseinander, um das Fahrziel in ihren Navigator eingeben zu können. Dummerweise konnte dieser eine Straße namens Blunt Road nicht finden, und noch einmal fluchte Kelly undamenhaft.
Gemächlich fuhr sie nach Sevenoaks, einem Bezirk mit vielen uralten Häusern zwischen Bäumen und Wiesen. Im Sommer schien es hier herrlich zu sein, eine richtige Ferienoase. Aber mit den kahlen, vor Nässe glänzenden Bäumen und Hecken wirkte die Gegend nicht sehr einladend.
Nach kurzer Suche hatte Kelly die Blunt Road gefunden, die sich als bescheidenes Gässchen entpuppte, an dessen Ende sich Mrs Ingles' Haus befand - übrigens dem einzigen Haus in der Blunt Road.
Neugierig reckte Kelly den Hals, um einen ersten Blick auf das hinter wilden Hecken verborgene Cottage werfen zu können. Viel mehr als durch das Buschwerk blitzendes Gemäuer war allerdings nicht zu erkennen, und so nahm Kelly den schweren Schlüsselbund und stieg aus dem Auto.
Von der Straße führte ein schmaler, unbefestigter Weg neben einer unbeschnittenen Buchsbaumhecke zum Haus. Man konnte dem Gemäuer sein Alter ansehen; die dunklen Ziegelsteine der Außenfassade waren teilweise zerbröckelt, die Fensterrahmen verzogen und die Haustür war wurmstichig; trotzdem hatte das unscheinbare Häuschen durchaus seinen Reiz mit den altmodischen Schornsteinen an beiden Giebelseiten.
Bevor Kelly den Schlüssel ins Türschloss steckte, fragte sie sich, wer wohl im Laufe der Jahrhunderte hier gewohnt haben mochte, und schaute sich interessiert um. Das Grundstück war nicht sehr grof3 und stieß am hinteren Ende an einen brachliegenden Acker. Der Garten war völlig verwildert - alles in allem sah es so aus, als habe hier schon ewig niemand mehr gelebt. Allerdings wusste Kelly nicht, wann die Hausbesitzerin gestorben war, denn das konnte schon vor Jahren gewesen sein.
Der Schlüssel klemmte, und erst nachdem Kelly es mehrmals probiert hatte, ließ er sich quietschend und mühevoll drehen. Vorsichtig schob Kelly die knarrende Tür auf und lugte ins Innere. Abgestandene Luft schlug Kelly entgegen, was sie jedoch nicht davon abhielt, über die abgenutzte Schwelle zu treten. Es war schummrig, sodass Kelly ihre Taschenlampe zu Hilfe nahm, um sich besser orientieren zu können.
Sie befand in einem kleinen Wohnraum mit altem Kamin, grünem Plüschsofa und diversen Möbeln sowie zwei Schubladenkommoden, einem klobigen Couchtisch und einer Glasvitrine.
Auf den ersten Blick erkannte Kelly, dass die Wohnzimmereinrichtung zwar alt war, aber keinen besonderen Wert mehr hatte. Die Möbel entstammten mehreren Epochen, waren schäbig und zerkratzt.
Erst jetzt entdeckte Kelly die dunklen Vorhänge vor den Fenstern und zog sie zurück, um etwas Helligkeit in den Raum zu bringen; trotz des zusätzlichen Lichtes sahen die Möbel jedoch nicht weniger unansehnlich aus.
Neben dem Kamin führte eine Tür in die angrenzende Küche - auch hier gab es nichts von besonderem Wert, wie Kelly auf den ersten Blick erkannte. Von der Küche führte eine weitere Tür in einen kleinen Flur, dessen steile Treppe fast den ganzen Raum ausfüllte.
Kelly leuchtete mit der Taschenlampe nach oben, dann nahm sie vorsichtig Stufe um Stufe - nur um festzustellen, dass es in den beiden winzigen Schlafkammern nichts zu holen gab.
Ernüchtert begab sich Kelly wieder in den vorderen Raum und nahm sich zunächst die Kommoden vor. Sie öffnete eine Schublade nach der anderen und stöberte im Nachlass von Mrs Ingles. In der obersten Schublade befanden sich ordentlich zusammengelegte Tischdecken aus Baumwolle und Leinen, die schon sehr lange dort liegen mussten, denn sie rochen muffig und sahen vergilbt aus.
Auch in den anderen Schubladen hatte die alte Dame nutzlose Gegenstände aufbewahrt: Stapel von zerknitterten Geschenkpapierbögen, Werbekugelschreiber, längst abgelaufene Wandkalender und dergleichen.
Resigniert wandte sich Kelly der Glasvitrine zu; dabei fiel ihr Blick auf das grüne Plüschsofa, dessen Bezugsstoff an den Nähten der Sitzfläche geplatzt war, sodass die Polsterung hervorquoll. Ob es sich lohnen würde, das alte Möbelstück aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts neu polstern zu lassen?
Nein, entschied Kelly ohne Zögern. Ein neuer Bezug würde mehr kosten, als das ganze Sofa noch wert war. Mit kritischem Blick musterte sie durch die staubigen Glasscheiben das Innere der Vitrine. Doch auch hier schien sich kein kostbarer Gegenstand zu verstecken - nur Plunder, bestehend aus billigen Gläsern, kitschigen wertlosen Porzellanfiguren und einigen Reiseandenken, akkurat auf alle Stellflächen verteilt.
Doch etwas erregte schliefflich Kellys Aufmerksamkeit - ganz hinten im untersten Regal stand neben einem geschmacklosen quietschbunten Papagei aus Keramik eine unscheinbare kleine Schatulle. Sie bestand aus Holz, hatte einen gewölbten Deckel und war über und über mit kleinen hellen Perlmuttmuscheln beklebt.
Neugierig griff Kelly nach dem Kästchen und betrachtete es kritisch von allen Seiten. Es schien schon sehr alt und von Hand gefertigt zu sein. Das kleine, zierliche Schloss war rostig und schief angebracht worden; einen passenden Schlüssel dazu gab es nicht.
Vorsichtig schüttelte Kelly die Schatulle; es klapperte. Also musste sich etwas im Inneren befinden. Und obwohl Kelly kaum glaubte, dass sie hier auf einen verborgenen Schatz stof3en würde, wollte sie doch mehr über den geheimnisvollen Inhalt erfahren.
Innerlich jubilierte sie, als sie feststellte, dass das Kästchen nicht verschlossen war und sich der Deckel mühelos öffnen lief3. Es befand sich nur ein einziger Gegenstand im Inneren, und bevor sie die Brosche herausnahm, betrachtete sie das Schmuckstück eingehend.
Auf den ersten Blick konnte Kelly nicht feststellen, welcher Epoche die Brosche entstammte. Sie war auffallend grof3 mit einer aufwendig geformten goldenen Einfassung und dicht besetzt mit grünen, gelben und blauen geschliffenen Edelsteinen. In der Mitte saf3 ein grof3er rubinroter Stein, und die Schlief3e auf der Rückseite bestand aus einer riesigen verbogenen Nadel.
Kelly war kein Juwelier, aber die Edelsteine konnten durchaus echt sein. Dem Aussehen nach schien die Brosche aus dem frühen Mittelalter zu stammen. Kelly lehnte sich an den Kaminsims, nahm das Schmuckstück an sich und versuchte, Näheres über sein Alter herauszufinden. Hier und da konnte man feine Kratzer im Metall und kaum sichtbare Absprengungen an den Steinen erkennen; dabei war nicht ersichtlich, ob es sich um Tand oder echte Saphire, Smaragde und Rubine handelte. Wenn die Brosche echt war und aus einem längst vergangenen Jahrhundert stammte, wäre sie sehr wertvoll. Aber das konnte nur ein Juwelier herausfinden.
Kelly war so sehr mit dem Schmuckstück beschäftigt, dass sie zunächst nicht merkte, wie es neben ihr warm wurde und die Luft sich veränderte. Erst als ein plötzlicher Windstoß durch den Raum fuhr, hob Kelly erschrocken den Blick.
Sie blinzelte mehrmals, als sie sah, dass sich die Einrichtung verändert hatte. Anstatt des Mobiliars von Mrs Ingles befanden sich plötzlich klobige hölzerne Sitzmöbel an jener Stelle, an der eben noch das hässliche grüne Sofa gestanden hatte.
Wie betäubt ließ Kelly die Brosche sinken und blickte sich weiter um. Der erkaltete Kamin hatte sich in eine aus groben Steinen gebaute primitive Feuerstelle verwandelt, in der muntere Flammen loderten, und vor den nun glaslosen Fenstern befanden sich hölzerne Läden.
Entsetzt wich Kelly zurück, als sie eine alte Frau, bekleidet mit einem grauen Leinenkittel, entdeckte, die auf einem Holzschemel nahe der Tür saf3 und ein Spinnrad vor sich stehen hatte.
Die alte Frau hatte schlohweif3es langes Haar und ein gütiges Lächeln auf den Lippen. Unbeirrt drehte sich ihr Spinnrad, als hätte sie die Fremde noch nicht entdeckt. Doch dann hob sie den Kopf, blickte Kelly direkt in die Augen und sagte mit feiner Stimme: »Willkommen in meinem Haus, Jungfer Ceally.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2012 by Carrie MacAlistair, vertreten durch Medienbüro München
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Autoren-Porträt von Carrie MacAlistair
Carrie MacAlistair, Jahrgang 1955, fiel schon in jungen Jahren durch ihre fantasievollen Geschichten auf. Zunächst arbeitete sie jedoch als Arzthelferin und veröffentlichte erste Kurzromane in verschiedenen Wochenzeitschriften sowie diverse Romanserien. Seit 2000 ist Carrie MacAlistair hauptberuflich als Autorin tätig.Bibliographische Angaben
- Autor: Carrie MacAlistair
- 2012, 1, 272 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654560
- ISBN-13: 9783863654566
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