Weihnachtsträume werden wahr
3 Bände in einem!
Drei Romane in einem Band: Romantik und ein Sturm der Gefühle passend zur Weihnachtszeit!
Nie mehr allein: Nach zehn langen Jahren kehrt Jason zurück in die Heimat, zurück zu Leonie. Nie hat er...
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Produktinformationen zu „Weihnachtsträume werden wahr “
Drei Romane in einem Band: Romantik und ein Sturm der Gefühle passend zur Weihnachtszeit!
Nie mehr allein: Nach zehn langen Jahren kehrt Jason zurück in die Heimat, zurück zu Leonie. Nie hat er verwunden, dass seine große Liebe einst einen anderen geheiratet hat. Am Weihnachtsabend lüftet sich ein Geheimnis.
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Lese-Probe zu „Weihnachtsträume werden wahr “
Weihnachtsträume werden wahr von Nora Roberts Aus dem Amerikanischen von Eva von der Gönna
1. Kapitel
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In zehn Jahren kann sich viel verändern. Jason Langley war darauf vorbereitet. Während des Fluges von London nach Boston und der anschließenden langen Fahrt nach Quiet Valley, New Hampshire, hatte er Zeit gehabt, sich darauf einzustellen. Selbst eine Kleinstadt in Neuengland mit 32000 Einwohnern - das war bei seinem Weggang etwa die Einwohnerzahl gewesen - musste sich im Laufe eines Jahrzehnts weiterentwickelt haben. Menschen würden gestorben und andere zur Welt gekommen sein. Geschäfte und Wohnhäuser würden den Besitzer gewechselt haben. Einige gab es vielleicht überhaupt nicht mehr. Nicht zum ersten Mal seit seinem Entschluss, seine Heimatstadt zu besuchen, kam sich Jason ziemlich töricht vor. Wahrscheinlich würde man ihn überhaupt nicht erkennen. Bei seinem Fortgang war er ein schmales, trotziges Bürschchen von zweiundzwanzig Jahren in abgetragenen Jeans gewesen. Und nun kehrte er als Mann zurück, der gelernt hatte, Trotz durch Arroganz zu ersetzen - und er hatte damit Erfolg. Inzwischen trug er Anzüge, die in der Saville Row in London oder der Seventh Avenue in New York angefertigt worden waren. Sie brachten seine sportliche Figur unauffällig zur Geltung. In zehn Jahren war aus dem verzweifelten Jungen, der entschlossen gewesen war, der Welt seinen Stempel aufzudrücken, ein äußerlich gelassener Mann geworden, der sich auf seine Leistungen etwas zugute halten konnte. Nicht verändert hatte sich sein nach innen gerichtetes Wesen. Er suchte immer noch nach Wurzeln, nach einem Ort, wo er hingehörte. Deshalb fuhr er jetzt zurück nach Quiet Valley. Die Straße wand und schlängelte sich noch genauso durch Wälder und über Hügel wie damals, als er mit dem Greyhound -Bus in umgekehrter Richtung gefahren war. Die dichte Schneedecke am Boden wölbte sich nur an den Stellen, wo sich Felsbrocken darunter verbargen. Einzelne Kristalle an Zweigen glitzerten im Sonnenlicht. Hatte er die Winter Neuenglands vermisst?
Einmal hatte er den Dezember in den Anden verbracht, wo ihm der Schnee bis zu den Hüften reichte. Ein andermal war er nach Afrika gezogen. Die Jahre liefen ineinander, aber seltsamerweise konnte sich Jason genau daran erinnern, wo er zu Weihnachten jeweils gewesen war, obwohl er das Fest nicht feierte. Die Straße verengte sich, machte einen weiten Bogen und gab den Blick auf die verschneite Bergkette frei. Ja, das hatte ihm gefehlt.
Aus einem Impuls heraus hielt Jason an und stieg aus. Sein Atem wurde wie Rauch vom Wind davongeweht. Die Kälte ließ seine Haut prickeln, aber er knöpfte seine Jacke nicht zu. Auch die Handschuhe ließ er in der Tasche stecken. Er hatte das Bedürfnis, die eisige Luft an sich heranzulassen. Wie schon als Kind hatte er das Gefühl, Tausende kleiner spitzer Nadeln einzuatmen. Jason stieg ein Stück den Berg hoch, bis er auf Quiet Valley hinuntersehen konnte. Hier war er geboren und aufgewachsen. Hier hatte er Freude und Leid kennengelernt - und hier hatte er auch zum ersten Mal geliebt. Selbst aus dieser Entfernung konnte er ihr Haus sehen. Nein, das Haus ihrer Eltern, verbesserte Jason sich selbst. Erstaunt stellte er fest, dass der Zorn immer noch nicht verzogen war. Sie würde jetzt woanders wohnen mit ihrem Mann und ihren Kindern.
Unwillkürlich hatte er die Hände zu Fäusten geballt, nun zwang er sich dazu, seine Muskeln zu entspannen. Seine Gefühle nicht preiszugeben, sich zu beherrschen, das war eine Fähigkeit, die er im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zu vervollkommnen gelernt hatte. Die Arbeit war dabei sein Lehrmeister, wenn er über Hungersnot, Krieg und menschliches Leiden berichten musste. Er hatte festgestellt, dass ihm das alles im Privatleben half. Seine Gefühle für Leonie waren die Sehnsüchte eines Jungen gewesen. Jetzt war er ein Mann, und sie war ebenso wie Quiet Valley ein Teil seiner Kindheit. Er war über fünftausend Meilen gereist, um sich genau das zu beweisen. Jason Langley drehte der Stadt den Rücken und kehrte zum Auto zurück.
Aus der Entfernung hatte Quiet Valley ausgesehen wie ein Bild von Grandma Moses. Als Jason näher kam, wirkte es weniger idyllisch, und er war insgeheim erleichtert. Hier und da blätterte die Farbe von einer Fassade ab. Zäune waren unter der Last des Schnees umgeknickt. An Stellen, wo früher Felder gewesen waren, standen jetzt Häuser. Veränderungen. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er nichts anderes erwartet hatte.
Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Kinder und Hunde rannten durch den Schnee um die Wette. Jason schaute auf die Uhr. Halb vier. Die Schule war aus, und er war jetzt seit fünfzehn Stunden unterwegs. Es wäre jetzt das Klügste, festzustellen, ob es das Gasthaus noch gab, und wenn ja, sich dort ein Zimmer zu nehmen. Ein Lächeln spielte um seinen Mund, als er sich fragte, ob der alte Mr Beantree noch hinter der Theke stehen würde. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ihm dieser nachgerufen hatte, dass aus ihm nie etwas Rechtes werden würde. Inzwischen konnte er das Gegenteil mit einem Pulitzerpreis und der Medaille des internationalen Journalistenverbandes beweisen.
Die Häuser standen jetzt enger zusammen, und Jason erkannte sie wieder. Dort wohnten die Bedfords und daneben Tim Hawkins. Das einstöckige Holzhaus der Witwe Marchant war immer noch himmelblau gestrichen, und Jason freute sich, dass wenigstens hier alles beim Alten geblieben war. Wie früher flatterten rote Bänder an der Fichte im Vorgarten. Die Witwe Marchant war gut zu ihm gewesen. Jason hatte nicht vergessen, wie sie ihm Kakao gekocht und stundenlang zugehört hatte, wenn er ihr von den Reisen in ferne Länder erzählte, die er machen wollte. Als er fortging, war sie bereits über siebzig gewesen, aber kerngesund. Vielleicht war sie auch jetzt noch dort hinter den Fenstern und hörte ihre geliebten Rachmaninow-Platten.
Die Gehsteige waren vom Schnee gereinigt. Neuengländer waren praktisch veranlagt und - nach Jasons Überzeugung - ebenso widerstandsfähig wie der Boden, auf dem sie sich angesiedelt hatten. Die Stadt hatte sich nicht so verändert, wie er es erwartet hatte. Das Eisenwarengeschäft der Railings befand sich immer noch an der Ecke zur Churchstreet, und auch die Post war nach wie vor in einem Ziegel- bau von der Größe einer Garage untergebracht. Wie seit jeher in der Adventszeit hingen rote Girlanden zwischen den Laternenpfosten entlang der Straße. Vor dem Grundstück der Lintners bauten Kinder einen Schneemann.
Wessen Kinder es wohl sind? fragte sich Jason. Ihre Gesichter waren hinter Schals und dicken Pudelmützen verborgen. Jedes von ihnen konnte Leonies Kind sein. Wieder stieg ohnmächtige Wut in ihm auf, und er wandte sich ab.
Das Schild am Eingang des Valley-Inn war neu, aber ansonsten war auch hier alles so wie früher. Auch hier hatte man den Schnee vor dem Eingang weggeschaufelt. Aus beiden Schornsteinen quoll Rauch. Jason fuhr daran vorbei. Zuerst musste er etwas anderes erledigen, etwas, von dem er gewusst hatte, dass es unvermeidlich war. Er hätte an der nächsten Ecke abbiegen können, um zu dem Haus zu kommen, wo er aufgewachsen war, aber er tat es nicht.
Am Ende der Hauptstraße würde ein gepflegtes weißes Haus stehen, größer als die meisten anderen, mit zwei Erkerfenstern und einer Veranda. Dieses Haus hatte Tom Monroe für sich und seine Braut gekauft. Ein Reporter von Jasons Kaliber wusste, wie man sich solche Informationen beschafft. Vielleicht hatte Leonie die Spitzenvorhänge aufgehängt, von denen sie als junges Mädchen schon geträumt hatte. Bestimmt hatte Tom ihr auch das Teeservice aus zartem Porzellan gekauft, das im Schaufenster des Haushaltswarengeschäfts ausgestellt gewesen war. Er würde ihr alles das gegeben haben, was sie sich wünschte. Ein Leben mit Jason dagegen hätte unzählige Motelzimmer an ständig wechselnden Orten bedeutet. Leonie hatte ihre Wahl getroffen.
Wieder stellte er fest, dass er sich auch nach zehn Jahren nicht damit abgefunden hatte. Er zwang sich zur Ruhe, als er am Straßenrand anhielt. Leonie und er waren einmal Freunde gewesen und - für ganz kurze Zeit - Liebende. Seitdem hatte er andere Frauen gehabt, und sie war verheiratet. Trotzdem konnte er sich noch genau daran erinnern, wie sie mit achtzehn gewesen war - lieb, sanft und neugierig auf das Leben. Sie hatte mit ihm gehen wollen, aber er hatte es nicht zugelassen. Sie hatte versprochen zu warten, doch ihr Versprechen nicht gehalten. Jason atmete tief ein und stieg aus.
Das Haus war sehr hübsch. Am Fenster zur Straße stand ein geschmückter Christbaum. Jetzt bei Tageslicht sah er überwiegend grün aus. Nachts jedoch würde er glitzern wie ein Zauberding. Dessen konnte er sicher sein, Leonie glaubte an Zauberei, und ihr würde es gelingen, auch diesen Baum zu verzaubern.
Jason stand auf dem Fußweg und hatte Angst. Er war daran gewöhnt, von Kriegsschauplätzen zu berichten und Interviews mit Terroristen zu machen. Doch dabei hatte er nie solche Furcht verspürt wie jetzt. Ich brauche ja nicht hineinzugehen, sagte er sich. Wenn ich will, kann ich umkehren und die Stadt verlassen. Es war nicht erforderlich, dass er sie wiedersah. Sie gehörte nicht mehr zu seinem Leben. Dann bemerkte er die Spitzenvorhänge, und wieder stieg der alte Groll in ihm auf. Groll, der stärker war als seine Angst.
Als er auf das Haus zuging, kam plötzlich ein Mädchen um die Ecke gerannt, auf der Flucht vor einem genau gezielten Schneeball. Sie warf sich zu Boden und kam damit aus der Schusslinie. Im nächsten Augenblick war sie aber bereits wieder auf den Beinen und ging zum Gegenangriff über.
„Volltreffer, Jimmy Harding!" Mit einem Triumphschrei wirbelte sie herum und stieß mit Jason zusammen. „Entschuldigung." Von Kopf bis Fuß schneebedeckt, schaute sie auf und grinste ihn fröhlich an. Jason hatte das Gefühl, dass die Zeit rückwärts gegangen war.
Sie war das Ebenbild ihrer Mutter. Das dunkelbraune Haar war aus der Mütze gerutscht und fiel ihr in wirren Locken auf die Schultern. Das kleine, zierliche Gesicht wurde von großen blauen Augen beherrscht, die lustig funkelten. Doch was ihm ans Herz ging, war das Lächeln, dieses unwiderstehliche Lächeln, das auch Leonie gehabt hatte. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Das kleine Mädchen klopfte sich den Schnee ab und betrachtete ihn interessiert.
„Sie habe ich noch nie gesehen."
Er schob die Hände in die Hosentaschen. Aber ich dich, dachte er. „Nein. Wohnst du hier?"
„Ja, aber der Eingang zum Laden ist auf der anderen Seite." Ein Schneeball landete mit einem Plumps vor ihren Füßen. Sie verdrehte die Augen. „Das ist Jimmy", erklärte sie im Tonfall einer Frau, die von einem lästigen Verehrer verfolgt wird. „Er kann überhaupt nicht richtig zielen. Wie gesagt, zum Laden müssen Sie andersrum." Sie bückte sich und formte das nächste Geschoss. „Gehen Sie ruhig hinein; die Tür ist offen."
Mit einem Schneeball in jeder Hand rannte sie davon. Jason stellte fest, dass er beinahe Mitleid mit Jimmy Harding empfand.
Leonies Tochter. Er hatte ganz vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen, und um ein Haar rief er sie zurück. Dann aber verzichtete er darauf. Es ist nicht wichtig, redete er sich ein. Er würde nur für einige Tage in der Stadt sein, ehe er zu seiner nächsten Reportage aufbrach. Quiet Valley war nur eine Station auf der Durchreise.
Langsam ging Jason ums Haus herum. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was für eine Art Laden Tom betrieb, hielt er es für besser, ihn zuerst aufzusuchen. Er freute sich beinahe darauf.
Die kleine Werkstatt, die er erwartet hatte, entpuppte sich als Miniaturausgabe eines viktorianischen Hauses. Auf dem Schlitten vor der Tür saßen zwei lebensgroße Puppen in Zylinder, Rüschenhaube, Capes und Stiefeln. „Puppenhaus" stand auf dem handgemalten Schild über dem Eingang. Als Jason die Klinke herunterdrückte, erklangen Glöckchen von drinnen.
„Ich komme gleich!"
Als er ihre Stimme hörte, hatte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber er würde damit fertig werden. Er würde das Wiedersehen durchstehen, weil er es musste.
Jason nahm die Sonnenbrille ab, schob sie in die Tasche und schaute sich um. Der Raum war wie ein gemütliches Wohnzimmer eingerichtet, aber die Möbel waren alle auf die Maße von Kindern zugeschnitten. Puppen in allen Größen und Formen saßen auf Sesseln, Stühlen, Regalen und Schränken. Vor einem kleinen Kamin hatte sich eine Puppengroßmutter mit Spitzenhaube und Schürze im Schaukelstuhl niedergelassen. Die Puppe war so lebensecht, dass Jason unwillkürlich darauf wartete, dass sie zu schaukeln anfing.
„Es tut mir leid, dass Sie warten mussten." Mit einer Porzellanpuppe in der einen und einem Brautschleier in der anderen Hand kam Leonie zur Tür herein. „Ich war gerade damit beschäftigt ..."
Sie brach ab, und der Schleier glitt ihr aus der Hand. Wie schwerelos schwebte er langsam zu Boden. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und im Gegensatz dazu wirkten die dunkelblauen Augen beinahe schwarz. Wie zur Verteidigung drückte sie die Puppe an die Brust. „Jason."
2. Kapitel
Wie Leonie da im schwachen Winterlicht in der Tür stand, erschien sie Jason noch viel schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Seine Hoffnung, dass es nicht so sein würde, erfüllte sich nicht. Er hatte geglaubt, dass seine Traumvorstellung von ihr sich als übertrieben herausstellen würde, wie es bei Träumen oft der Fall ist, doch sie stand vor ihm in Fleisch und Blut und so schön, dass ihm der Atem stockte. Vielleicht lag es daran, dass sein Lächeln etwas zynisch wirkte. „Hallo, Leonie."
Sie war unfähig, sich zu rühren. Wie schon vor vielen Jahren hatte sie das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Damals hatte er es nicht gewusst, und heute durfte er erst recht nichts da von erfahren.
Lange verdrängte und geheim gehaltene Gefühle kämpften gegen ihre Willenskraft an und wurden unterdrückt.
„Wie geht es dir?" brachte sie heraus. Noch immer hielt sie die Puppe fest umklammert.
„Gut." Er ging auf sie zu. Die Nervosität in ihren Augen bereitete ihm eine wahre Genugtuung. Dabei quälte es ihn, dass sie noch genauso gut roch wie früher. Sanft, jung, unschuldig. „Du siehst wunderbar aus", sagte er beiläufig und gab seiner Stimme einen eher gelangweilten Ton.
„Du bist der letzte Mensch, den ich hier erwartet hätte", platzte sie heraus.
Denn, fügte sie im Stillen hinzu, ich habe lernen müssen, mir das Warten abzugewöhnen. Entschlossen, ihren inneren Aufruhr nicht zu verraten, lockerte Leonie Monroe ihren Griff um die Puppe. „Wie lange wirst du in Quiet Valley bleiben?"
„Nur ein paar Tage. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis nach Abwechslung."
Sie lachte und hoffte, dass es nicht hysterisch klang. „Das war bei dir schon immer so. Wir haben deine Reportagen gelesen. Es ist dir also gelungen, all die Länder zu besuchen, von denen du geträumt hast."
„Und noch einige dazu."
Sie wandte sich ab und schloss kurz die Augen. „Es hat Schlagzeilen gemacht, als du den Pulitzerpreis gewannst. Mr Beantree stolzierte durch die Stadt, als wäre er persönlich für deinen Erfolg verantwortlich. ‚Ein guter Junge, dieser Jason Langley‘, sagte er immer wieder. ‚Ich habe von Anfang an gewusst, dass aus dem mal was wird.‘"
„Ich habe deine Tochter gesehen."
Das war ihre größte Angst, die größte Hoffnung, der Traum, den sie schon vor Jahren begraben hatte. Sie bückte sich, um den Schleier aufzuheben. „Clara?"
„Draußen vor dem Haus. Sie war mit Schneebällen hinter Jimmy, einem Jungen, her."
„Ja, das klingt nach Clara." Auch jetzt leuchtete ihr Gesicht, wenn sie lächelte. Hätte er einen Wunsch frei gehabt, dann den, die Hand auszustrecken und sie anzufassen. Sie nur einmal zu berühren und sich daran zu erinnern, wie es gewesen war.
„Wie ich sehe, hast du deine Spitzenvorhänge bekommen."
Dabei, dachte sie bitter, wäre ich mit Fenstern ohne Gardinen und kahlen Wänden zufrieden gewesen, wenn ich nur bei dir hätte sein können. „Ja", wiederholte sie. „Ich habe meine Spitzenvorhänge. Und du deine Abenteuer."
„Du hast auch das hier." Er wies auf die Puppen. „Wann hast du denn damit angefangen?"
Ich kann diese entsetzlich beiläufige Unterhaltung ertragen, sagte sie sich. „Ich habe den Laden vor fast acht Jahren eröffnet."
Er nahm eine Stoffpuppe aus der Wiege. „Du verkaufst also Puppen. Ein Hobby?"
Leonie hob stolz den Kopf. „Nein, mein Geschäft. Ich verkaufe sie, repariere sie, und manchmal fertige ich sie auch an."
„Geschäft?" Jason hatte die Puppe wieder weggelegt. In seinem Lächeln lag keine Spur von Humor. „Ich hätte nicht gedacht, dass Tom damit einverstanden ist. Mir kam er immer vor wie ein Mann, der nicht will, dass seine Frau arbeitet."
„So?" Mechanisch begann sie, den Brautschleier am Kopf der Porzellanpuppe zu befestigen. „Du warst immer stolz darauf, dass dir nichts entgeht, aber du bist lange weg gewesen." Sie sah ihn über die Schulter an, und diesmal lagen nicht Nervosität oder Stolz in ihrem Blick, sondern nur Kälte. „Sehr lange. Tom und ich haben uns schon vor acht Jahren scheiden lassen. Zuletzt hörte ich, dass er jetzt in Los Angeles wohnt. Du siehst, er hielt auch nichts von Kleinstädten. Oder den Mädchen, die in Kleinstädten leben."
Jason konnte mit den Gefühlen, die auf ihn einstürmten, nichts anfangen, und etwas verlegen schob er sie deshalb beiseite.
Bitterkeit war einfacher. „Offensichtlich hast du keine kluge Wahl getroffen, Leonie."
Sie lachte und zerknüllte den Schleier. „So sieht es aus."
„Du hast nicht gewartet." Die Worte waren heraus, ehe er sie zurückhalten konnte.
Er hasste sich deshalb und sie auch.
„Du warst fort." Sie drehte sich langsam wieder um und verschränkte die Hände.
„Ich habe dir gesagt, dass ich wiederkommen würde. Habe ich nicht versprochen, dich so bald wie möglich nachzuholen?"
„Du hast niemals angerufen oder geschrieben. Drei lange Monate habe ich ..."
„Drei Monate?" Wütend packte er sie an den Armen. „Nach allem, worüber wir gesprochen und für unser gemeinsames Leben geplant hatten, konntest du mir nicht mehr als drei Monate geben?"
Sie hätte ihm noch viel mehr Zeit eingeräumt, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Bemüht, ruhig zu bleiben, hielt sie seinem Blick stand. Auch dieser Blick war immer noch der gleiche - eindringlich und ungeduldig. „Ich wusste nicht, wo du warst. Nicht einmal eine Adresse hast du mir hinterlassen." Sie trat zurück, weil das Verlangen, ihm nahe zu sein, noch genauso heftig war wie früher. „Ich war achtzehn, und du warst nicht aufzufinden."
„Und Tom war da."
Sie reckte das Kinn vor. „Richtig, Tom war da. Jason, das alles ist jetzt zehn Jahre her, und du hast nicht einmal versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Warum also jetzt?"
„Das habe ich mich auch gefragt", antwortete er und ging ohne ein weiteres Wort.
Ihre Träume waren schon immer unrealistisch gewesen. Als Kind hatte sich Leonie eine von weißen Pferden gezogene Kutsche und Tanzschuhe aus Glas ausgemalt. Die Wirklichkeit war etwas, mit dem man sich Tag für Tag auseinandersetzen musste in einer Familie, wo das Geld, aber nicht der Stolz knapp war. Doch Träume waren keineswegs nur auf die Nacht beschränkt.
Sie hatte sich in Jason verliebt, als sie acht und er zehn gewesen war. Er war mutig auf drei Jungen losgegangen, die sie in den Schnee geworfen hatten. Leonie erinnerte sich mit Genugtuung daran, dass mehrere nötig gewesen waren, um sie überhaupt zu überwältigen. Doch dann war Jason ihr zu Hilfe gekommen und hatte ihre Angreifer vertrieben. Das haftete ihr unauslöschlich im Gedächtnis. Er war für seine Größe viel zu schmal gewesen, und sein Mantel zu groß und oft geflickt. Mit zusammengezogenen Brauen hatte er unmutig auf sie heruntergeblickt. Schnee klebte ihm an den blonden Haarsträhnen, und seine Haut war vor Kälte gerötet. Sie hatte ihm in die Augen gesehen und sich in ihn verliebt. Er hatte irgendetwas gemurmelt, ihr aufgeholfen und sie ausgeschimpft, weil sie die drei Jungs provoziert hatte.
Und dann war er davongestapft, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben.
Während der Kindheit und später als Teenager schaute Leonie keinen anderen Jungen an. Natürlich tat sie hin und wieder so, als würde sie sich für jemanden interessieren, weil sie hoffte, dass Jason Langley dann Notiz von ihr nehmen würde.
Das tat er erst, als sie sechzehn war. In der Turnhalle fand ein Ball statt, und ihre Mutter hatte ihr zum ersten Mal ein langes Kleid genäht. Auch anderen fiel sie auf, und sie flirtete hemmungslos.
Ihr Ziel jedoch blieb das gleiche - Jason. Missmutig sah er zu, wie sie für jeden Tanz den Partner wechselte. Das hatte sie sorgfältig geplant, ebenso wie den bedeutsamen Blick, den sie ihm zuwarf, als sie in der Pause hinausging, um frische Luft zu schöpfen. Wie erhofft, folgte er ihr. Sie stellte sich gleichgültig. Er benahm sich besitzergreifend. Und dann brachte er sie nach Hause. Es war Vollmond.
Viele gemeinsame Spaziergänge folgten - im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Sie waren verliebt, wie es nur ganz junge Menschen sein können, bedenkenlos und unschuldig. Sie erzählte ihm, dass sie sich ein Haus und Kinder wünschte. Er sprach von seiner Sehnsucht zu reisen, alles zu sehen und es aufzuschreiben. Leonie wusste, dass er sich in der Kleinstadt wie in der Falle fühlte, zurückgehalten von einem Vater, der ihm keine Liebe und wenig Hoffnung gab. Jason wusste, dass sie von wohnlichen Zimmern und Blumen in Kristallvasen träumte. Gegensätze, die sich anzogen, und ihre Träume vermischten sich.
Dann, als in einer Sommernacht der Duft frischen Heus in der Luft hing, überschritten sie die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, und ihre Liebe war nicht mehr unschuldig.
„Mom, du träumst ja schon wieder!"
„Wie?"
Die Arme bis zu den Ellbogen im Seifenwasser, drehte Leonie sich um. Ihre Tochter stand in der Küchentür. Sie trug einen warmen Bademantel, der bis auf den Boden reichte. Mit ihrem frisch gebürsteten Haar und den roten Wangen sah sie wie ein Engel aus.
Leonie wusste es allerdings besser. „Hast du deine Schularbeiten fertig?"
„Ja. So kurz vor den Ferien finde ich es doof, dass uns die Lehrerin noch etwas aufgibt."
„Das sagtest du bereits gestern. Und vorgestern."
„Mom, du bist schlecht gelaunt." Clara beäugte die Keksdose. „Du solltest mal einen schönen langen Spaziergang machen."
Leonie hatte erraten, worauf ihre Tochter hinauswollte. „Nur einen", mahnte sie. „Und vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen." Sie schaute zu, wie Clara sich sorgfältig das größte Plätzchen heraussuchte. „Hast du heute Nachmittag einen Mann gesehen? Einen großen Mann mit blonden Haaren?"
„Hm." Clara hatte den Mund voll und es dauerte eine Weile, ehe sie antwortete. „Er wollte zum Haus. Ich habe ihn in den Laden geschickt."
„Hat er irgendetwas zu dir gesagt?"
„Eigentlich nicht. Zuerst hat er mich ein bisschen komisch angeschaut, so als hätte er mich schon mal gesehen. Kennst du ihn?"
Leonies Herz pochte schmerzhaft.
Sie trocknete sich sorgfältig die Hände ab. „Ja. Er hat vor langer Zeit einmal hier gewohnt."
„Jimmy war sehr beeindruckt von seinem Auto." Clara fragte sich, ob sich ihre Mutter noch einen Keks abluchsen ließe.
„Ich glaube, ich werde wirklich noch ein Stück spazieren gehen, Clara, aber ich möchte, dass du dich schon hinlegst."
Clara kannte den Ton und verzichtete klugerweise auf ein zweites Plätzchen. „Kann ich die Geschenke unter dem Baum noch mal zählen?"
„Das hast du doch schon zehn Mal getan."
„Aber vielleicht liegt inzwischen noch was da."
Leonie hob ihre Tochter hoch. „Darauf bestehen nicht die geringsten Aussichten." Dann lachte sie und trug sie ins Wohnzimmer. „Aber eine zusätzliche Zählung wird nicht schaden."
Die Luft roch nach Schnee, als sie ins Freie trat. Die Tür abzuschließen war in einer Stadt, wo jeder jeden kannte, nicht nötig. Sie schlug den Mantelkragen hoch und drehte sich noch einmal um zu dem Fenster im ersten Stock, wo ihre Tochter im Bett lag.
Clara war der Grund dafür, dass das Haus nicht kalt und ihr Leben nicht leer war. Dabei hätte beides sehr leicht sein können.
Leonie hatte die elektrischen Christbaumkerzen brennen lassen, und der Lichtschein malte Kringel in den Schnee. Nur noch vier Tage bis Weihnachten, dachte sie. Von dort, wo sie stand, sah die Stadt wie eine Postkarte aus. Lichterketten säumten die Straßen, und der große Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz war deutlich zu erkennen. Manche Straßenlaternen waren mit buntem Papier verkleidet. Sie konnte den Rauch von Holzfeuern riechen. Hier und da duftete es stark nach Harz, wenn Tannen- und Kiefernzapfen verbrannt wurden.
Manche Leute hätten das Dasein in einer Kleinstadt wie Quiet Valley als beengt und eintönig empfunden. Leonie Monroe hatte jedoch hier ein Heim für sich und ihre Tochter geschaffen. Sie hatte sich ihr Leben nach eigenen Vorstellungen eingerichtet und fühlte sich wohl dabei.
„Ich bedaure nichts", sagte sie laut und schaute noch einmal zum Kinderzimmer hinauf. Sie vermutete, dass Clara wie immer gehorsam die Nachttischlampe ausgelöscht hatte und jetzt mit der Taschenlampe unter der Bettdecke las. Hatte sie es nicht in ihrem Alter genauso gemacht? „Nein", wiederholte sie. „Ich bedaure nichts."
Während sie die Straße entlangging, frischte der Wind auf. Vor Weihnachten würde es noch mehr Schnee geben, das fühlte sie. Darauf würde sie sich jetzt konzentrieren, anstatt zurückzuschauen.
„Du gehst also immer noch gern spazieren."
3. Kapitel
Hatte Leonie gewusst, dass Jason sie finden würde? Vielleicht war es tatsächlich so. „Manche Dinge ändern sich nicht", sagte sie einfach. Jason ging neben ihr her.
„Das habe ich heute Nachmittag herausgefunden." Er dachte an die Stadt, die noch genauso war wie früher. Und an seine Gefühle für die Frau an seiner Seite. „Wo ist denn deine Tochter?"
„Sie schläft schon."
Er war jetzt gelassener als am Nachmittag und entschlossen, es auch zu bleiben. „Ich habe dich gar nicht gefragt, ob du noch andere Kinder hast."
„Nein." In ihrer Stimme lag ein Unterton, den er schlecht
deuten konnte. „Clara ist das einzige." „Wie bist du denn auf den Namen gekommen?" Sie lächelte. Es war typisch für Jason, Fragen zu stellen, die niemand anderem in den Sinn kommen würden. „Erinnerst du dich an das Märchen vom Nussknacker? Ich wollte, dass meine Tochter auch die Fähigkeit zu träumen hat." Genauso wie sie selbst. Leonie schob die Hände tiefer in die Taschen und versuchte sich einzureden, dass sie und Jason zwei alte Freunde waren, die miteinander durch die stillen Straßen spazieren gingen. „Wohnst du im Gasthaus?"
„Ja." Jason rieb sich belustigt das Kinn. „Der alte Beantree brachte höchstpersönlich mein Gepäck nach oben in mein Zimmer."
„Einheimischer wird zur Berühmtheit." Leonie wandte den Kopf und betrachtete ihn. Seltsam, dachte sie. Als sie ihn das erste Mal angeschaut hatte, hatte sie den Jungen gesehen. Jetzt sah sie den Mann. Sein Haar war etwas nachgedunkelt, aber immer noch blond. Es war nicht mehr ungepflegt, aber so geschnitten, dass es ihm immer noch in die Stirn fiel. Das Gesicht war nach wie vor schmal mit den ausgeprägten Backenknochen, die sie schon damals so fasziniert hatten. Um den Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. „Du hast doch erreicht, was du wolltest?"
„So ungefähr." Als ihre Blicke sich trafen, spürte sie wieder das alte schmerzliche Verlangen in sich aufsteigen.
„Und was ist mit dir, Leonie?"
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nie so viel gewollt wie du, Jason."
„Bist du glücklich?"
„Wer das nicht ist, muss die Schuld bei sich selbst suchen."
„Das ist zu einfach."
„Ich habe nicht das gesehen, was du gesehen hast. Ich habe nicht die Aufgaben lösen müssen, die du lösen musstest. Ich bin mit einfachen Dingen zufrieden, Jason. Das war doch das Problem, nicht wahr?"
„Nein." Er drehte sie zu sich herum und legte ihr die Hand auf die Wange. Er trug keine Handschuhe, und sie spürte, wie ihre Haut sich bei der Berührung erwärmte. „Du hast dich überhaupt nicht verändert." Sie blieb ganz still stehen, als er die Finger durch ihr Haar gleiten ließ und schließlich ihre Schultern umfasste. „Ich habe oft daran gedacht, wie du im Mondlicht aussiehst. Die Erinnerung hat mich nicht getrogen."
„Ich habe mich verändert, Jason." Doch sie klang atemlos. „Und du auch."
„Manche Dinge bleiben dieselben", sagte er heiser und kapitulierte vor dem übermächtigen Verlangen, sie zu küssen.
Als ihre Lippen sich berührten, wusste er, dass er nach Hause gekommen war. Alles, woran er sich erinnerte und was er verloren zu haben glaubte, war wieder sein. Sie war so zart und duftete nach Frühling, obwohl ringsherum Schnee lag. Willig überließ sie ihm ihren Mund, wie immer, wenn sie sich geküsst hatten.
Er konnte sich nicht erklären, weshalb jede andere Frau, die er seitdem in den Armen gehalten hatte, nur ein Schatten war, verglichen mit seiner Erinnerung an Leonie. Jetzt aber war sie es, die sich an ihn drängte und ihm alles das gab, was er für unerreichbar gehalten hatte.
Nur dieses eine Mal, sagte sie sich. Obwohl sie versucht hatte, den Teil ihres Lebens, zu dem Jason gehörte, aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, ahnte sie, dass das nicht möglich war. Sie hatte sich eingeredet, dass es sich nur um eine Jungmädchenschwärmerei handelte, aber sie wusste selbst, dass es eine Lüge war. Es hatte keine anderen Männer gegeben, sondern nur die Erinnerungen an den einen und an Wünsche. Wünsche und schon fast vergessene Träume.
Jetzt aber war es kein Traum, sondern Jason, so lebendig und drängend, wie er seit jeher gewesen war. Alles an ihm war ihr so vertraut - der Geschmack seiner Lippen, das Gefühl seines Haares, als sie mit den Fingern darüber fuhr, und der männliche Geruch, der ihm bereits als Junge eigen gewesen war. Er flüsterte ihren Namen und zog sie enger an sich, als habe er Angst, sie wieder zu verlieren.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals, ebenso bereitwillig, leidenschaftlich und verliebt wie beim letzten Mal, als er sie geküsst hatte. Beide bemerkten nicht, dass ein scharfer Wind den Schnee um sie herum aufwirbelte.
Aber jetzt war nicht gestern, rief sie sich ins Gedächtnis, als sie sich endlich voneinander lösten, sondern heute. Und diesem Heute musste man sich stellen. Sie war kein junges Mädchen mehr, das in seiner blinden Verliebtheit alles um sich herum vergaß, sondern eine Frau, die die Verantwortung für ein Kind trug. Jason dagegen war ein Zigeuner. Er hatte nie gewünscht, etwas anderes zu sein.
„Es ist vorbei mit uns, Jason." Doch sie ließ seine Hand nicht los. „Es ist schon lange vorbei."
„Nein." Er hielt sie fest, als sie sich abwenden wollte. „Das stimmt nicht. Ich habe mir das selbst vorgemacht und bin zurückgekommen, um es mir zu beweisen. Stattdessen habe ich einsehen müssen, dass du immer noch der wichtigste Teil meines Lebens bist. Es wird nie vorbei sein, Leonie."
„Du hast mich verlassen." Sie hatte nicht weinen wollen, aber nun rannen ihr Tränen über die Wangen. „Und du hast mir das Herz gebrochen. Es hat Jahre gedauert, bis es wieder heilte. Noch einmal werde ich dieses Risiko nicht eingehen."
„Du wusstest, dass ich fort musste. Wenn du gewartet hättest ..."
„Das ist jetzt nicht mehr wichtig." Sie schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zurück. Niemals würde sie ihm erklären können, warum es ihr unmöglich gewesen war zu warten. „Es ist nicht wichtig, weil du in wenigen Tagen wieder weggehen wirst. Ich werde es nicht zulassen, dass du wie ein Wirbelwind in mein Leben eindringst, nur um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden und mich in einem Aufruhr der Gefühle zurückzulassen. Wir haben beide unsere Wahl getroffen, Jason."
„Verdammt, du hast mir gefehlt!"
Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren sie trocken. „Ich musste aufhören, dich zu vermissen. Bitte lass mich in Frieden, Jason. Wenn ich glauben könnte, dass wir Freunde werden ..."
„Das waren wir doch immer."
„Immer ist schon vorüber." Trotzdem streckte sie beide Hände aus und ergriff seine. „Ach, Jason, du warst mein bester Freund, aber ich kann mich nicht darüber freuen, dass du wieder da bist, weil ich schreckliche Angst vor dir habe."
„Leonie." Er schloss die Finger um ihre Hand. „Wir brauchen Zeit. Vor allem aber müssen wir miteinander reden."
Sie schaute ihn unverwandt an. „Du weißt, wo du mich findest, Jason. Das hast du immer schon gewusst."
„Ich bringe dich nach Hause."
„Nein." Sie war jetzt ein wenig ruhiger und lächelte ihn an. „Heute nicht."
Von seinem Fenster aus überblickte Jason die ganze Hauptstraße. Wenn er wollte, konnte er zuschauen, wie die Kunden in Porterfields Kaufhaus strömten und einige Müßiggänger sich auf dem Marktplatz zu einem gemütlichen Schwatz trafen. Doch immer wieder wurde seine Aufmerksamkeit von dem weißen Haus am Ende der Straße angezogen.
Er war schon zeitig aufgestanden und hatte auch am Fenster gestanden, als Leonie mit Clara aus dem Haus trat. Die Zeit für den Schulgang war da. Er hatte gesehen, wie Leonie in die Hocke ging, um den Kragen am Mantel ihrer Tochter glatt zu zupfen. Und er hatte beobachtet, wie sie lange dastand und dem Mädchen nachschaute. Mit äußerster Willenskraft hatte er versucht, sie dazu zu bringen, sich zu ihm umzudrehen. Doch sie war ohne einen Blick in seine Richtung in ihrem Laden verschwunden.
Inzwischen waren Stunden vergangen, und er stand immer noch am Fenster. Nach der Anzahl der Leute zu schließen, die das „Puppenhaus" betraten, lief Leonies Geschäft gut. Sie war beschäftigt, während er seine Reiseschreibmaschine noch nicht einmal ausgepackt hatte.
Er hatte vorgehabt, für eine Weile an seinem Roman zu arbeiten. Ein Roman, den er nur für sich selbst schreiben wollte. Auch das war ein Versprechen, das wegen seiner Arbeitsüberlastung noch nicht eingelöst war. Er hatte erwartet, dass er hier in seiner verschlafenen Heimatstadt - fernab von dem hektischen Leben als Auslandskorrespondent - Muße dazu finden würde. Das Wiedersehen mit Leonie und die Erkenntnis, dass er sie noch ebenso sehr liebte wie mit zwanzig, hatten jedoch jeden Gedanken an das Buch weit in den Hintergrund gedrängt.
Jason wandte sich vom Fenster ab und ging zum Tisch. Alles, was er brauchte, war da. Seine Notizen füllten zahllose Umschläge, er müsste sich nur hinsetzen und anfangen. Dass er genügend Selbstdisziplin besaß, um notfalls die ganze Nacht durchzuarbeiten, hatte er in der Vergangenheit schon des Öfteren bewiesen. Doch in seinem Leben gab es mehr als ein Buch, das angefangen und noch nicht beendet war. Erst jetzt war ihm das so richtig klar geworden.
Bis er sich rasiert und angezogen hatte, war es schon früh am Nachmittag. Zuerst erwog er, über die Straße in Mindys Café zu gehen und festzustellen, ob sie immer noch so köstliche Kartoffelsuppe machte, aber ihm war nicht nach unverfänglichem Geplauder zumute. In voller Absicht wandte er sich nach rechts, weg von Leonies Haus. Er würde sich nicht dadurch zum Narren machen, dass er ihr nachlief.
Unterwegs begegnete er mehreren Leuten, die er kannte. Man begrüßte ihn mit Schulterklopfen, Händeschütteln und unverhohlener Neugier. Er schlenderte am Fluss entlang und kehrte dann zur Hauptstraße zurück, um sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen.
In einem Laden entdeckte er Weihnachtssterne. Er ging hinein und kaufte den schönsten, den er finden konnte. Die Verkäuferin war mit ihm in der Schule gewesen, und es dauerte fast zehn Minuten, bis er wieder draußen war. Auf Fragen war er gefasst gewesen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er zum Stadtgespräch werden könnte. Ein belustigtes Lächeln spielte um seine Lippen, als er weiterging. Vor dem Haus der Witwe Marchant angekommen, machte er sich gar nicht erst die Mühe, an der Vordertür anzuklopfen, sondern ging aus alter Gewohnheit gleich zum Hintereingang.
Als die alte Dame öffnete und versuchte, durch die üppigen roten Blumen sein Gesicht zu erkennen, grinste er wie ein Schuljunge.
„Das wurde aber auch Zeit", begrüßte sie ihn. „Komm rein und wisch dir die Füße gut ab."
„Jawohl, Ma'am." Gehorsam säuberte Jason seine Stiefel, ehe er die Pflanze auf den Küchentisch stellte.
Die Witwe Marchant war höchstens einen Meter fünfzig groß. Ihr Rücken war vom Alter gebeugt, und unzählige Runzeln zogen sich durch ihr Gesicht. Die große Schürze, die sie umgebunden hatte, war mit Mehl bestäubt.
Jason konnte riechen, dass das erste Blech Plätzchen bereits im Ofen war. Aus dem Nebenraum drang klassische Musik.
Die alte Dame deutete auf die Blumen. „Du hattest immer schon eine Schwäche für großartige Gesten." Während sie ihn einer eingehenden Musterung unterzog, nahm er automatisch die Schultern zurück. „Wie ich sehe, hast du ein paar Pfunde zugelegt, aber ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen könntest du trotzdem noch vertragen. Nun komm schon, gib mir einen Kuss."
Er beugte sich hinunter, um ihre Wange mit den Lippen zu berühren, doch dann schloss er sie kurz entschlossen in die Arme. Sie fühlte sich schmal und zerbrechlich an, und sie roch noch immer nach Seife, Puder und Zucker.
„Sie scheinen nicht überrascht, mich zu sehen", stellte er fest.
„Ich hörte, dass du da bist", erwiderte sie. Sie hatte sich abgewandt, damit er nicht sehen konnte, dass ihr die Augen feucht geworden waren. „Um genau zu sein, wusste ich es schon, ehe die Tinte auf deinem Anmeldeformular im Gasthaus trocken war. Nimm dir einen Stuhl und zieh den Mantel aus. Ich muss die Plätzchen aus dem Rohr nehmen."
Er blieb still sitzen und genoss das Gefühl, sich zu Hause zu fühlen.
Hierher hatte er als Kind kommen können in der Gewissheit, dass Mrs Marchant ihn niemals fortschicken würde. Während er interessiert zusah, schmolz sie Blockschokolade in einem alten Emailtopf.
„Wie lange bleibst du denn?"
„Ich weiß noch nicht. In zwei Wochen muss ich in Hongkong sein."
„Hongkong." Die alte Dame presste die Lippen zusammen. „Du hast also alle deine Traumziele angelaufen, Jason. Waren sie so aufregend, wie du gehofft hast?"
„Einige ja." Genüsslich streckte er die Beine aus. Er hatte ganz vergessen, wie schön es war, sich völlig zu entspannen. „Andere nicht."
„Und jetzt bist du nach Hause gekommen." Sie stellte das Blech auf den Tisch. „Warum?"
Bei jedem anderen wäre er der Frage ausgewichen. Manchmal belog er sogar sich selbst.
Mrs Marchant jedoch würde nicht ruhen, bis sie die Wahrheit erfuhr. „Leonie."
„Es war immer schon Leonie." Er war ein unglücklicher Junge gewesen, und nun war er ein unglücklicher Mann. „Du weißt sicher, dass sie Tom geheiratet hat."
Vor Mrs Marchant brauchte Jason seine Bitterkeit nicht zu verstecken. „Ein halbes Jahr nachdem ich fortgegangen bin, habe ich angerufen. Ich hatte eine Stelle bei ‚Today's News‘ in Chicago bekommen. Es war nichts Großartiges, aber zumindest ein Anfang. Leonies Mutter nahm das Telefon ab. Sie teilte mir sehr freundlich mit, dass Leonie verheiratet war und ein Baby erwartete. Ich legte den Hörer auf und betrank mich, so gut es ging. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Chicago." Er nahm sich einen Keks und zuckte mit den Schultern. „Das Leben geht weiter."
„Das stimmt, ob es uns nun mitzieht oder uns einfach überrollt. Und jetzt hast du erfahren, dass sie inzwischen wieder geschieden ist."
„Wir hatten uns gegenseitig etwas versprochen. Und sie hat einen anderen geheiratet."
Sie gab ein abfälliges Geräusch von sich. „Dem Aussehen nach bist du ein Mann, kein sturer Junge mehr. Leonie Kirkpatrick ..."
„Leonie Monroe", stellte er richtig.
„Wie du meinst."
Mrs Marchant goss Kakao in große Henkeltassen und setzte sich ihm dann gegenüber. „Leonie ist eine starke, mutige Frau, deren Schönheit nicht nur äußerlich ist. Sie zieht ihr kleines Mädchen allein auf und macht es sehr gut. Außerdem hat sie ein Geschäft aufgebaut und verdient Geld damit. Allein. Und ich weiß, wie schwer es sein kann, wenn man allein ist."
„Wenn sie gewartet hätte ..."
„Das hat sie nun einmal nicht."
„Und warum hat sie sich dann eigentlich wieder von Tom scheiden lassen?"
Die alte Frau lehnte sich zurück. „Er hat sie verlassen, als Clara ein halbes Jahr alt war."
Er fasste seine Tasse fester. „Was soll das heißen - er hat sie verlassen?"
„Das solltest du doch wissen. Du hast es ja genauso gemacht. Er hat seine Sachen gepackt und ist gegangen. Ihr blieben das Haus - und die Rechnungen. Tom räumte das Bankkonto ab und zog an die Westküste."
„Aber er hat eine Tochter."
„Die hat er seitdem nicht mehr gesehen. Leonie hat es trotzdem geschafft. Schließlich war sie für das Kind verantwortlich. Sie hat einen Kredit aufgenommen und den Laden eröffnet. Wir sind stolz auf sie."
Er starrte aus dem Fenster auf einen kahlen Baum. „Zuerst bin ich gegangen, und sie hat Tom geheiratet. Dann hat Tom sie sitzen lassen. Es scheint, dass Leonie das Talent hat, sich die falschen Männer auszusuchen."
„Glaubst du das?"
Genehmigte Sonderausgabe 2012 für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
In zehn Jahren kann sich viel verändern. Jason Langley war darauf vorbereitet. Während des Fluges von London nach Boston und der anschließenden langen Fahrt nach Quiet Valley, New Hampshire, hatte er Zeit gehabt, sich darauf einzustellen. Selbst eine Kleinstadt in Neuengland mit 32000 Einwohnern - das war bei seinem Weggang etwa die Einwohnerzahl gewesen - musste sich im Laufe eines Jahrzehnts weiterentwickelt haben. Menschen würden gestorben und andere zur Welt gekommen sein. Geschäfte und Wohnhäuser würden den Besitzer gewechselt haben. Einige gab es vielleicht überhaupt nicht mehr. Nicht zum ersten Mal seit seinem Entschluss, seine Heimatstadt zu besuchen, kam sich Jason ziemlich töricht vor. Wahrscheinlich würde man ihn überhaupt nicht erkennen. Bei seinem Fortgang war er ein schmales, trotziges Bürschchen von zweiundzwanzig Jahren in abgetragenen Jeans gewesen. Und nun kehrte er als Mann zurück, der gelernt hatte, Trotz durch Arroganz zu ersetzen - und er hatte damit Erfolg. Inzwischen trug er Anzüge, die in der Saville Row in London oder der Seventh Avenue in New York angefertigt worden waren. Sie brachten seine sportliche Figur unauffällig zur Geltung. In zehn Jahren war aus dem verzweifelten Jungen, der entschlossen gewesen war, der Welt seinen Stempel aufzudrücken, ein äußerlich gelassener Mann geworden, der sich auf seine Leistungen etwas zugute halten konnte. Nicht verändert hatte sich sein nach innen gerichtetes Wesen. Er suchte immer noch nach Wurzeln, nach einem Ort, wo er hingehörte. Deshalb fuhr er jetzt zurück nach Quiet Valley. Die Straße wand und schlängelte sich noch genauso durch Wälder und über Hügel wie damals, als er mit dem Greyhound -Bus in umgekehrter Richtung gefahren war. Die dichte Schneedecke am Boden wölbte sich nur an den Stellen, wo sich Felsbrocken darunter verbargen. Einzelne Kristalle an Zweigen glitzerten im Sonnenlicht. Hatte er die Winter Neuenglands vermisst?
Einmal hatte er den Dezember in den Anden verbracht, wo ihm der Schnee bis zu den Hüften reichte. Ein andermal war er nach Afrika gezogen. Die Jahre liefen ineinander, aber seltsamerweise konnte sich Jason genau daran erinnern, wo er zu Weihnachten jeweils gewesen war, obwohl er das Fest nicht feierte. Die Straße verengte sich, machte einen weiten Bogen und gab den Blick auf die verschneite Bergkette frei. Ja, das hatte ihm gefehlt.
Aus einem Impuls heraus hielt Jason an und stieg aus. Sein Atem wurde wie Rauch vom Wind davongeweht. Die Kälte ließ seine Haut prickeln, aber er knöpfte seine Jacke nicht zu. Auch die Handschuhe ließ er in der Tasche stecken. Er hatte das Bedürfnis, die eisige Luft an sich heranzulassen. Wie schon als Kind hatte er das Gefühl, Tausende kleiner spitzer Nadeln einzuatmen. Jason stieg ein Stück den Berg hoch, bis er auf Quiet Valley hinuntersehen konnte. Hier war er geboren und aufgewachsen. Hier hatte er Freude und Leid kennengelernt - und hier hatte er auch zum ersten Mal geliebt. Selbst aus dieser Entfernung konnte er ihr Haus sehen. Nein, das Haus ihrer Eltern, verbesserte Jason sich selbst. Erstaunt stellte er fest, dass der Zorn immer noch nicht verzogen war. Sie würde jetzt woanders wohnen mit ihrem Mann und ihren Kindern.
Unwillkürlich hatte er die Hände zu Fäusten geballt, nun zwang er sich dazu, seine Muskeln zu entspannen. Seine Gefühle nicht preiszugeben, sich zu beherrschen, das war eine Fähigkeit, die er im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zu vervollkommnen gelernt hatte. Die Arbeit war dabei sein Lehrmeister, wenn er über Hungersnot, Krieg und menschliches Leiden berichten musste. Er hatte festgestellt, dass ihm das alles im Privatleben half. Seine Gefühle für Leonie waren die Sehnsüchte eines Jungen gewesen. Jetzt war er ein Mann, und sie war ebenso wie Quiet Valley ein Teil seiner Kindheit. Er war über fünftausend Meilen gereist, um sich genau das zu beweisen. Jason Langley drehte der Stadt den Rücken und kehrte zum Auto zurück.
Aus der Entfernung hatte Quiet Valley ausgesehen wie ein Bild von Grandma Moses. Als Jason näher kam, wirkte es weniger idyllisch, und er war insgeheim erleichtert. Hier und da blätterte die Farbe von einer Fassade ab. Zäune waren unter der Last des Schnees umgeknickt. An Stellen, wo früher Felder gewesen waren, standen jetzt Häuser. Veränderungen. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er nichts anderes erwartet hatte.
Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Kinder und Hunde rannten durch den Schnee um die Wette. Jason schaute auf die Uhr. Halb vier. Die Schule war aus, und er war jetzt seit fünfzehn Stunden unterwegs. Es wäre jetzt das Klügste, festzustellen, ob es das Gasthaus noch gab, und wenn ja, sich dort ein Zimmer zu nehmen. Ein Lächeln spielte um seinen Mund, als er sich fragte, ob der alte Mr Beantree noch hinter der Theke stehen würde. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ihm dieser nachgerufen hatte, dass aus ihm nie etwas Rechtes werden würde. Inzwischen konnte er das Gegenteil mit einem Pulitzerpreis und der Medaille des internationalen Journalistenverbandes beweisen.
Die Häuser standen jetzt enger zusammen, und Jason erkannte sie wieder. Dort wohnten die Bedfords und daneben Tim Hawkins. Das einstöckige Holzhaus der Witwe Marchant war immer noch himmelblau gestrichen, und Jason freute sich, dass wenigstens hier alles beim Alten geblieben war. Wie früher flatterten rote Bänder an der Fichte im Vorgarten. Die Witwe Marchant war gut zu ihm gewesen. Jason hatte nicht vergessen, wie sie ihm Kakao gekocht und stundenlang zugehört hatte, wenn er ihr von den Reisen in ferne Länder erzählte, die er machen wollte. Als er fortging, war sie bereits über siebzig gewesen, aber kerngesund. Vielleicht war sie auch jetzt noch dort hinter den Fenstern und hörte ihre geliebten Rachmaninow-Platten.
Die Gehsteige waren vom Schnee gereinigt. Neuengländer waren praktisch veranlagt und - nach Jasons Überzeugung - ebenso widerstandsfähig wie der Boden, auf dem sie sich angesiedelt hatten. Die Stadt hatte sich nicht so verändert, wie er es erwartet hatte. Das Eisenwarengeschäft der Railings befand sich immer noch an der Ecke zur Churchstreet, und auch die Post war nach wie vor in einem Ziegel- bau von der Größe einer Garage untergebracht. Wie seit jeher in der Adventszeit hingen rote Girlanden zwischen den Laternenpfosten entlang der Straße. Vor dem Grundstück der Lintners bauten Kinder einen Schneemann.
Wessen Kinder es wohl sind? fragte sich Jason. Ihre Gesichter waren hinter Schals und dicken Pudelmützen verborgen. Jedes von ihnen konnte Leonies Kind sein. Wieder stieg ohnmächtige Wut in ihm auf, und er wandte sich ab.
Das Schild am Eingang des Valley-Inn war neu, aber ansonsten war auch hier alles so wie früher. Auch hier hatte man den Schnee vor dem Eingang weggeschaufelt. Aus beiden Schornsteinen quoll Rauch. Jason fuhr daran vorbei. Zuerst musste er etwas anderes erledigen, etwas, von dem er gewusst hatte, dass es unvermeidlich war. Er hätte an der nächsten Ecke abbiegen können, um zu dem Haus zu kommen, wo er aufgewachsen war, aber er tat es nicht.
Am Ende der Hauptstraße würde ein gepflegtes weißes Haus stehen, größer als die meisten anderen, mit zwei Erkerfenstern und einer Veranda. Dieses Haus hatte Tom Monroe für sich und seine Braut gekauft. Ein Reporter von Jasons Kaliber wusste, wie man sich solche Informationen beschafft. Vielleicht hatte Leonie die Spitzenvorhänge aufgehängt, von denen sie als junges Mädchen schon geträumt hatte. Bestimmt hatte Tom ihr auch das Teeservice aus zartem Porzellan gekauft, das im Schaufenster des Haushaltswarengeschäfts ausgestellt gewesen war. Er würde ihr alles das gegeben haben, was sie sich wünschte. Ein Leben mit Jason dagegen hätte unzählige Motelzimmer an ständig wechselnden Orten bedeutet. Leonie hatte ihre Wahl getroffen.
Wieder stellte er fest, dass er sich auch nach zehn Jahren nicht damit abgefunden hatte. Er zwang sich zur Ruhe, als er am Straßenrand anhielt. Leonie und er waren einmal Freunde gewesen und - für ganz kurze Zeit - Liebende. Seitdem hatte er andere Frauen gehabt, und sie war verheiratet. Trotzdem konnte er sich noch genau daran erinnern, wie sie mit achtzehn gewesen war - lieb, sanft und neugierig auf das Leben. Sie hatte mit ihm gehen wollen, aber er hatte es nicht zugelassen. Sie hatte versprochen zu warten, doch ihr Versprechen nicht gehalten. Jason atmete tief ein und stieg aus.
Das Haus war sehr hübsch. Am Fenster zur Straße stand ein geschmückter Christbaum. Jetzt bei Tageslicht sah er überwiegend grün aus. Nachts jedoch würde er glitzern wie ein Zauberding. Dessen konnte er sicher sein, Leonie glaubte an Zauberei, und ihr würde es gelingen, auch diesen Baum zu verzaubern.
Jason stand auf dem Fußweg und hatte Angst. Er war daran gewöhnt, von Kriegsschauplätzen zu berichten und Interviews mit Terroristen zu machen. Doch dabei hatte er nie solche Furcht verspürt wie jetzt. Ich brauche ja nicht hineinzugehen, sagte er sich. Wenn ich will, kann ich umkehren und die Stadt verlassen. Es war nicht erforderlich, dass er sie wiedersah. Sie gehörte nicht mehr zu seinem Leben. Dann bemerkte er die Spitzenvorhänge, und wieder stieg der alte Groll in ihm auf. Groll, der stärker war als seine Angst.
Als er auf das Haus zuging, kam plötzlich ein Mädchen um die Ecke gerannt, auf der Flucht vor einem genau gezielten Schneeball. Sie warf sich zu Boden und kam damit aus der Schusslinie. Im nächsten Augenblick war sie aber bereits wieder auf den Beinen und ging zum Gegenangriff über.
„Volltreffer, Jimmy Harding!" Mit einem Triumphschrei wirbelte sie herum und stieß mit Jason zusammen. „Entschuldigung." Von Kopf bis Fuß schneebedeckt, schaute sie auf und grinste ihn fröhlich an. Jason hatte das Gefühl, dass die Zeit rückwärts gegangen war.
Sie war das Ebenbild ihrer Mutter. Das dunkelbraune Haar war aus der Mütze gerutscht und fiel ihr in wirren Locken auf die Schultern. Das kleine, zierliche Gesicht wurde von großen blauen Augen beherrscht, die lustig funkelten. Doch was ihm ans Herz ging, war das Lächeln, dieses unwiderstehliche Lächeln, das auch Leonie gehabt hatte. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Das kleine Mädchen klopfte sich den Schnee ab und betrachtete ihn interessiert.
„Sie habe ich noch nie gesehen."
Er schob die Hände in die Hosentaschen. Aber ich dich, dachte er. „Nein. Wohnst du hier?"
„Ja, aber der Eingang zum Laden ist auf der anderen Seite." Ein Schneeball landete mit einem Plumps vor ihren Füßen. Sie verdrehte die Augen. „Das ist Jimmy", erklärte sie im Tonfall einer Frau, die von einem lästigen Verehrer verfolgt wird. „Er kann überhaupt nicht richtig zielen. Wie gesagt, zum Laden müssen Sie andersrum." Sie bückte sich und formte das nächste Geschoss. „Gehen Sie ruhig hinein; die Tür ist offen."
Mit einem Schneeball in jeder Hand rannte sie davon. Jason stellte fest, dass er beinahe Mitleid mit Jimmy Harding empfand.
Leonies Tochter. Er hatte ganz vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen, und um ein Haar rief er sie zurück. Dann aber verzichtete er darauf. Es ist nicht wichtig, redete er sich ein. Er würde nur für einige Tage in der Stadt sein, ehe er zu seiner nächsten Reportage aufbrach. Quiet Valley war nur eine Station auf der Durchreise.
Langsam ging Jason ums Haus herum. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was für eine Art Laden Tom betrieb, hielt er es für besser, ihn zuerst aufzusuchen. Er freute sich beinahe darauf.
Die kleine Werkstatt, die er erwartet hatte, entpuppte sich als Miniaturausgabe eines viktorianischen Hauses. Auf dem Schlitten vor der Tür saßen zwei lebensgroße Puppen in Zylinder, Rüschenhaube, Capes und Stiefeln. „Puppenhaus" stand auf dem handgemalten Schild über dem Eingang. Als Jason die Klinke herunterdrückte, erklangen Glöckchen von drinnen.
„Ich komme gleich!"
Als er ihre Stimme hörte, hatte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber er würde damit fertig werden. Er würde das Wiedersehen durchstehen, weil er es musste.
Jason nahm die Sonnenbrille ab, schob sie in die Tasche und schaute sich um. Der Raum war wie ein gemütliches Wohnzimmer eingerichtet, aber die Möbel waren alle auf die Maße von Kindern zugeschnitten. Puppen in allen Größen und Formen saßen auf Sesseln, Stühlen, Regalen und Schränken. Vor einem kleinen Kamin hatte sich eine Puppengroßmutter mit Spitzenhaube und Schürze im Schaukelstuhl niedergelassen. Die Puppe war so lebensecht, dass Jason unwillkürlich darauf wartete, dass sie zu schaukeln anfing.
„Es tut mir leid, dass Sie warten mussten." Mit einer Porzellanpuppe in der einen und einem Brautschleier in der anderen Hand kam Leonie zur Tür herein. „Ich war gerade damit beschäftigt ..."
Sie brach ab, und der Schleier glitt ihr aus der Hand. Wie schwerelos schwebte er langsam zu Boden. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und im Gegensatz dazu wirkten die dunkelblauen Augen beinahe schwarz. Wie zur Verteidigung drückte sie die Puppe an die Brust. „Jason."
2. Kapitel
Wie Leonie da im schwachen Winterlicht in der Tür stand, erschien sie Jason noch viel schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Seine Hoffnung, dass es nicht so sein würde, erfüllte sich nicht. Er hatte geglaubt, dass seine Traumvorstellung von ihr sich als übertrieben herausstellen würde, wie es bei Träumen oft der Fall ist, doch sie stand vor ihm in Fleisch und Blut und so schön, dass ihm der Atem stockte. Vielleicht lag es daran, dass sein Lächeln etwas zynisch wirkte. „Hallo, Leonie."
Sie war unfähig, sich zu rühren. Wie schon vor vielen Jahren hatte sie das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Damals hatte er es nicht gewusst, und heute durfte er erst recht nichts da von erfahren.
Lange verdrängte und geheim gehaltene Gefühle kämpften gegen ihre Willenskraft an und wurden unterdrückt.
„Wie geht es dir?" brachte sie heraus. Noch immer hielt sie die Puppe fest umklammert.
„Gut." Er ging auf sie zu. Die Nervosität in ihren Augen bereitete ihm eine wahre Genugtuung. Dabei quälte es ihn, dass sie noch genauso gut roch wie früher. Sanft, jung, unschuldig. „Du siehst wunderbar aus", sagte er beiläufig und gab seiner Stimme einen eher gelangweilten Ton.
„Du bist der letzte Mensch, den ich hier erwartet hätte", platzte sie heraus.
Denn, fügte sie im Stillen hinzu, ich habe lernen müssen, mir das Warten abzugewöhnen. Entschlossen, ihren inneren Aufruhr nicht zu verraten, lockerte Leonie Monroe ihren Griff um die Puppe. „Wie lange wirst du in Quiet Valley bleiben?"
„Nur ein paar Tage. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis nach Abwechslung."
Sie lachte und hoffte, dass es nicht hysterisch klang. „Das war bei dir schon immer so. Wir haben deine Reportagen gelesen. Es ist dir also gelungen, all die Länder zu besuchen, von denen du geträumt hast."
„Und noch einige dazu."
Sie wandte sich ab und schloss kurz die Augen. „Es hat Schlagzeilen gemacht, als du den Pulitzerpreis gewannst. Mr Beantree stolzierte durch die Stadt, als wäre er persönlich für deinen Erfolg verantwortlich. ‚Ein guter Junge, dieser Jason Langley‘, sagte er immer wieder. ‚Ich habe von Anfang an gewusst, dass aus dem mal was wird.‘"
„Ich habe deine Tochter gesehen."
Das war ihre größte Angst, die größte Hoffnung, der Traum, den sie schon vor Jahren begraben hatte. Sie bückte sich, um den Schleier aufzuheben. „Clara?"
„Draußen vor dem Haus. Sie war mit Schneebällen hinter Jimmy, einem Jungen, her."
„Ja, das klingt nach Clara." Auch jetzt leuchtete ihr Gesicht, wenn sie lächelte. Hätte er einen Wunsch frei gehabt, dann den, die Hand auszustrecken und sie anzufassen. Sie nur einmal zu berühren und sich daran zu erinnern, wie es gewesen war.
„Wie ich sehe, hast du deine Spitzenvorhänge bekommen."
Dabei, dachte sie bitter, wäre ich mit Fenstern ohne Gardinen und kahlen Wänden zufrieden gewesen, wenn ich nur bei dir hätte sein können. „Ja", wiederholte sie. „Ich habe meine Spitzenvorhänge. Und du deine Abenteuer."
„Du hast auch das hier." Er wies auf die Puppen. „Wann hast du denn damit angefangen?"
Ich kann diese entsetzlich beiläufige Unterhaltung ertragen, sagte sie sich. „Ich habe den Laden vor fast acht Jahren eröffnet."
Er nahm eine Stoffpuppe aus der Wiege. „Du verkaufst also Puppen. Ein Hobby?"
Leonie hob stolz den Kopf. „Nein, mein Geschäft. Ich verkaufe sie, repariere sie, und manchmal fertige ich sie auch an."
„Geschäft?" Jason hatte die Puppe wieder weggelegt. In seinem Lächeln lag keine Spur von Humor. „Ich hätte nicht gedacht, dass Tom damit einverstanden ist. Mir kam er immer vor wie ein Mann, der nicht will, dass seine Frau arbeitet."
„So?" Mechanisch begann sie, den Brautschleier am Kopf der Porzellanpuppe zu befestigen. „Du warst immer stolz darauf, dass dir nichts entgeht, aber du bist lange weg gewesen." Sie sah ihn über die Schulter an, und diesmal lagen nicht Nervosität oder Stolz in ihrem Blick, sondern nur Kälte. „Sehr lange. Tom und ich haben uns schon vor acht Jahren scheiden lassen. Zuletzt hörte ich, dass er jetzt in Los Angeles wohnt. Du siehst, er hielt auch nichts von Kleinstädten. Oder den Mädchen, die in Kleinstädten leben."
Jason konnte mit den Gefühlen, die auf ihn einstürmten, nichts anfangen, und etwas verlegen schob er sie deshalb beiseite.
Bitterkeit war einfacher. „Offensichtlich hast du keine kluge Wahl getroffen, Leonie."
Sie lachte und zerknüllte den Schleier. „So sieht es aus."
„Du hast nicht gewartet." Die Worte waren heraus, ehe er sie zurückhalten konnte.
Er hasste sich deshalb und sie auch.
„Du warst fort." Sie drehte sich langsam wieder um und verschränkte die Hände.
„Ich habe dir gesagt, dass ich wiederkommen würde. Habe ich nicht versprochen, dich so bald wie möglich nachzuholen?"
„Du hast niemals angerufen oder geschrieben. Drei lange Monate habe ich ..."
„Drei Monate?" Wütend packte er sie an den Armen. „Nach allem, worüber wir gesprochen und für unser gemeinsames Leben geplant hatten, konntest du mir nicht mehr als drei Monate geben?"
Sie hätte ihm noch viel mehr Zeit eingeräumt, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Bemüht, ruhig zu bleiben, hielt sie seinem Blick stand. Auch dieser Blick war immer noch der gleiche - eindringlich und ungeduldig. „Ich wusste nicht, wo du warst. Nicht einmal eine Adresse hast du mir hinterlassen." Sie trat zurück, weil das Verlangen, ihm nahe zu sein, noch genauso heftig war wie früher. „Ich war achtzehn, und du warst nicht aufzufinden."
„Und Tom war da."
Sie reckte das Kinn vor. „Richtig, Tom war da. Jason, das alles ist jetzt zehn Jahre her, und du hast nicht einmal versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Warum also jetzt?"
„Das habe ich mich auch gefragt", antwortete er und ging ohne ein weiteres Wort.
Ihre Träume waren schon immer unrealistisch gewesen. Als Kind hatte sich Leonie eine von weißen Pferden gezogene Kutsche und Tanzschuhe aus Glas ausgemalt. Die Wirklichkeit war etwas, mit dem man sich Tag für Tag auseinandersetzen musste in einer Familie, wo das Geld, aber nicht der Stolz knapp war. Doch Träume waren keineswegs nur auf die Nacht beschränkt.
Sie hatte sich in Jason verliebt, als sie acht und er zehn gewesen war. Er war mutig auf drei Jungen losgegangen, die sie in den Schnee geworfen hatten. Leonie erinnerte sich mit Genugtuung daran, dass mehrere nötig gewesen waren, um sie überhaupt zu überwältigen. Doch dann war Jason ihr zu Hilfe gekommen und hatte ihre Angreifer vertrieben. Das haftete ihr unauslöschlich im Gedächtnis. Er war für seine Größe viel zu schmal gewesen, und sein Mantel zu groß und oft geflickt. Mit zusammengezogenen Brauen hatte er unmutig auf sie heruntergeblickt. Schnee klebte ihm an den blonden Haarsträhnen, und seine Haut war vor Kälte gerötet. Sie hatte ihm in die Augen gesehen und sich in ihn verliebt. Er hatte irgendetwas gemurmelt, ihr aufgeholfen und sie ausgeschimpft, weil sie die drei Jungs provoziert hatte.
Und dann war er davongestapft, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben.
Während der Kindheit und später als Teenager schaute Leonie keinen anderen Jungen an. Natürlich tat sie hin und wieder so, als würde sie sich für jemanden interessieren, weil sie hoffte, dass Jason Langley dann Notiz von ihr nehmen würde.
Das tat er erst, als sie sechzehn war. In der Turnhalle fand ein Ball statt, und ihre Mutter hatte ihr zum ersten Mal ein langes Kleid genäht. Auch anderen fiel sie auf, und sie flirtete hemmungslos.
Ihr Ziel jedoch blieb das gleiche - Jason. Missmutig sah er zu, wie sie für jeden Tanz den Partner wechselte. Das hatte sie sorgfältig geplant, ebenso wie den bedeutsamen Blick, den sie ihm zuwarf, als sie in der Pause hinausging, um frische Luft zu schöpfen. Wie erhofft, folgte er ihr. Sie stellte sich gleichgültig. Er benahm sich besitzergreifend. Und dann brachte er sie nach Hause. Es war Vollmond.
Viele gemeinsame Spaziergänge folgten - im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Sie waren verliebt, wie es nur ganz junge Menschen sein können, bedenkenlos und unschuldig. Sie erzählte ihm, dass sie sich ein Haus und Kinder wünschte. Er sprach von seiner Sehnsucht zu reisen, alles zu sehen und es aufzuschreiben. Leonie wusste, dass er sich in der Kleinstadt wie in der Falle fühlte, zurückgehalten von einem Vater, der ihm keine Liebe und wenig Hoffnung gab. Jason wusste, dass sie von wohnlichen Zimmern und Blumen in Kristallvasen träumte. Gegensätze, die sich anzogen, und ihre Träume vermischten sich.
Dann, als in einer Sommernacht der Duft frischen Heus in der Luft hing, überschritten sie die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, und ihre Liebe war nicht mehr unschuldig.
„Mom, du träumst ja schon wieder!"
„Wie?"
Die Arme bis zu den Ellbogen im Seifenwasser, drehte Leonie sich um. Ihre Tochter stand in der Küchentür. Sie trug einen warmen Bademantel, der bis auf den Boden reichte. Mit ihrem frisch gebürsteten Haar und den roten Wangen sah sie wie ein Engel aus.
Leonie wusste es allerdings besser. „Hast du deine Schularbeiten fertig?"
„Ja. So kurz vor den Ferien finde ich es doof, dass uns die Lehrerin noch etwas aufgibt."
„Das sagtest du bereits gestern. Und vorgestern."
„Mom, du bist schlecht gelaunt." Clara beäugte die Keksdose. „Du solltest mal einen schönen langen Spaziergang machen."
Leonie hatte erraten, worauf ihre Tochter hinauswollte. „Nur einen", mahnte sie. „Und vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen." Sie schaute zu, wie Clara sich sorgfältig das größte Plätzchen heraussuchte. „Hast du heute Nachmittag einen Mann gesehen? Einen großen Mann mit blonden Haaren?"
„Hm." Clara hatte den Mund voll und es dauerte eine Weile, ehe sie antwortete. „Er wollte zum Haus. Ich habe ihn in den Laden geschickt."
„Hat er irgendetwas zu dir gesagt?"
„Eigentlich nicht. Zuerst hat er mich ein bisschen komisch angeschaut, so als hätte er mich schon mal gesehen. Kennst du ihn?"
Leonies Herz pochte schmerzhaft.
Sie trocknete sich sorgfältig die Hände ab. „Ja. Er hat vor langer Zeit einmal hier gewohnt."
„Jimmy war sehr beeindruckt von seinem Auto." Clara fragte sich, ob sich ihre Mutter noch einen Keks abluchsen ließe.
„Ich glaube, ich werde wirklich noch ein Stück spazieren gehen, Clara, aber ich möchte, dass du dich schon hinlegst."
Clara kannte den Ton und verzichtete klugerweise auf ein zweites Plätzchen. „Kann ich die Geschenke unter dem Baum noch mal zählen?"
„Das hast du doch schon zehn Mal getan."
„Aber vielleicht liegt inzwischen noch was da."
Leonie hob ihre Tochter hoch. „Darauf bestehen nicht die geringsten Aussichten." Dann lachte sie und trug sie ins Wohnzimmer. „Aber eine zusätzliche Zählung wird nicht schaden."
Die Luft roch nach Schnee, als sie ins Freie trat. Die Tür abzuschließen war in einer Stadt, wo jeder jeden kannte, nicht nötig. Sie schlug den Mantelkragen hoch und drehte sich noch einmal um zu dem Fenster im ersten Stock, wo ihre Tochter im Bett lag.
Clara war der Grund dafür, dass das Haus nicht kalt und ihr Leben nicht leer war. Dabei hätte beides sehr leicht sein können.
Leonie hatte die elektrischen Christbaumkerzen brennen lassen, und der Lichtschein malte Kringel in den Schnee. Nur noch vier Tage bis Weihnachten, dachte sie. Von dort, wo sie stand, sah die Stadt wie eine Postkarte aus. Lichterketten säumten die Straßen, und der große Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz war deutlich zu erkennen. Manche Straßenlaternen waren mit buntem Papier verkleidet. Sie konnte den Rauch von Holzfeuern riechen. Hier und da duftete es stark nach Harz, wenn Tannen- und Kiefernzapfen verbrannt wurden.
Manche Leute hätten das Dasein in einer Kleinstadt wie Quiet Valley als beengt und eintönig empfunden. Leonie Monroe hatte jedoch hier ein Heim für sich und ihre Tochter geschaffen. Sie hatte sich ihr Leben nach eigenen Vorstellungen eingerichtet und fühlte sich wohl dabei.
„Ich bedaure nichts", sagte sie laut und schaute noch einmal zum Kinderzimmer hinauf. Sie vermutete, dass Clara wie immer gehorsam die Nachttischlampe ausgelöscht hatte und jetzt mit der Taschenlampe unter der Bettdecke las. Hatte sie es nicht in ihrem Alter genauso gemacht? „Nein", wiederholte sie. „Ich bedaure nichts."
Während sie die Straße entlangging, frischte der Wind auf. Vor Weihnachten würde es noch mehr Schnee geben, das fühlte sie. Darauf würde sie sich jetzt konzentrieren, anstatt zurückzuschauen.
„Du gehst also immer noch gern spazieren."
3. Kapitel
Hatte Leonie gewusst, dass Jason sie finden würde? Vielleicht war es tatsächlich so. „Manche Dinge ändern sich nicht", sagte sie einfach. Jason ging neben ihr her.
„Das habe ich heute Nachmittag herausgefunden." Er dachte an die Stadt, die noch genauso war wie früher. Und an seine Gefühle für die Frau an seiner Seite. „Wo ist denn deine Tochter?"
„Sie schläft schon."
Er war jetzt gelassener als am Nachmittag und entschlossen, es auch zu bleiben. „Ich habe dich gar nicht gefragt, ob du noch andere Kinder hast."
„Nein." In ihrer Stimme lag ein Unterton, den er schlecht
deuten konnte. „Clara ist das einzige." „Wie bist du denn auf den Namen gekommen?" Sie lächelte. Es war typisch für Jason, Fragen zu stellen, die niemand anderem in den Sinn kommen würden. „Erinnerst du dich an das Märchen vom Nussknacker? Ich wollte, dass meine Tochter auch die Fähigkeit zu träumen hat." Genauso wie sie selbst. Leonie schob die Hände tiefer in die Taschen und versuchte sich einzureden, dass sie und Jason zwei alte Freunde waren, die miteinander durch die stillen Straßen spazieren gingen. „Wohnst du im Gasthaus?"
„Ja." Jason rieb sich belustigt das Kinn. „Der alte Beantree brachte höchstpersönlich mein Gepäck nach oben in mein Zimmer."
„Einheimischer wird zur Berühmtheit." Leonie wandte den Kopf und betrachtete ihn. Seltsam, dachte sie. Als sie ihn das erste Mal angeschaut hatte, hatte sie den Jungen gesehen. Jetzt sah sie den Mann. Sein Haar war etwas nachgedunkelt, aber immer noch blond. Es war nicht mehr ungepflegt, aber so geschnitten, dass es ihm immer noch in die Stirn fiel. Das Gesicht war nach wie vor schmal mit den ausgeprägten Backenknochen, die sie schon damals so fasziniert hatten. Um den Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. „Du hast doch erreicht, was du wolltest?"
„So ungefähr." Als ihre Blicke sich trafen, spürte sie wieder das alte schmerzliche Verlangen in sich aufsteigen.
„Und was ist mit dir, Leonie?"
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nie so viel gewollt wie du, Jason."
„Bist du glücklich?"
„Wer das nicht ist, muss die Schuld bei sich selbst suchen."
„Das ist zu einfach."
„Ich habe nicht das gesehen, was du gesehen hast. Ich habe nicht die Aufgaben lösen müssen, die du lösen musstest. Ich bin mit einfachen Dingen zufrieden, Jason. Das war doch das Problem, nicht wahr?"
„Nein." Er drehte sie zu sich herum und legte ihr die Hand auf die Wange. Er trug keine Handschuhe, und sie spürte, wie ihre Haut sich bei der Berührung erwärmte. „Du hast dich überhaupt nicht verändert." Sie blieb ganz still stehen, als er die Finger durch ihr Haar gleiten ließ und schließlich ihre Schultern umfasste. „Ich habe oft daran gedacht, wie du im Mondlicht aussiehst. Die Erinnerung hat mich nicht getrogen."
„Ich habe mich verändert, Jason." Doch sie klang atemlos. „Und du auch."
„Manche Dinge bleiben dieselben", sagte er heiser und kapitulierte vor dem übermächtigen Verlangen, sie zu küssen.
Als ihre Lippen sich berührten, wusste er, dass er nach Hause gekommen war. Alles, woran er sich erinnerte und was er verloren zu haben glaubte, war wieder sein. Sie war so zart und duftete nach Frühling, obwohl ringsherum Schnee lag. Willig überließ sie ihm ihren Mund, wie immer, wenn sie sich geküsst hatten.
Er konnte sich nicht erklären, weshalb jede andere Frau, die er seitdem in den Armen gehalten hatte, nur ein Schatten war, verglichen mit seiner Erinnerung an Leonie. Jetzt aber war sie es, die sich an ihn drängte und ihm alles das gab, was er für unerreichbar gehalten hatte.
Nur dieses eine Mal, sagte sie sich. Obwohl sie versucht hatte, den Teil ihres Lebens, zu dem Jason gehörte, aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, ahnte sie, dass das nicht möglich war. Sie hatte sich eingeredet, dass es sich nur um eine Jungmädchenschwärmerei handelte, aber sie wusste selbst, dass es eine Lüge war. Es hatte keine anderen Männer gegeben, sondern nur die Erinnerungen an den einen und an Wünsche. Wünsche und schon fast vergessene Träume.
Jetzt aber war es kein Traum, sondern Jason, so lebendig und drängend, wie er seit jeher gewesen war. Alles an ihm war ihr so vertraut - der Geschmack seiner Lippen, das Gefühl seines Haares, als sie mit den Fingern darüber fuhr, und der männliche Geruch, der ihm bereits als Junge eigen gewesen war. Er flüsterte ihren Namen und zog sie enger an sich, als habe er Angst, sie wieder zu verlieren.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals, ebenso bereitwillig, leidenschaftlich und verliebt wie beim letzten Mal, als er sie geküsst hatte. Beide bemerkten nicht, dass ein scharfer Wind den Schnee um sie herum aufwirbelte.
Aber jetzt war nicht gestern, rief sie sich ins Gedächtnis, als sie sich endlich voneinander lösten, sondern heute. Und diesem Heute musste man sich stellen. Sie war kein junges Mädchen mehr, das in seiner blinden Verliebtheit alles um sich herum vergaß, sondern eine Frau, die die Verantwortung für ein Kind trug. Jason dagegen war ein Zigeuner. Er hatte nie gewünscht, etwas anderes zu sein.
„Es ist vorbei mit uns, Jason." Doch sie ließ seine Hand nicht los. „Es ist schon lange vorbei."
„Nein." Er hielt sie fest, als sie sich abwenden wollte. „Das stimmt nicht. Ich habe mir das selbst vorgemacht und bin zurückgekommen, um es mir zu beweisen. Stattdessen habe ich einsehen müssen, dass du immer noch der wichtigste Teil meines Lebens bist. Es wird nie vorbei sein, Leonie."
„Du hast mich verlassen." Sie hatte nicht weinen wollen, aber nun rannen ihr Tränen über die Wangen. „Und du hast mir das Herz gebrochen. Es hat Jahre gedauert, bis es wieder heilte. Noch einmal werde ich dieses Risiko nicht eingehen."
„Du wusstest, dass ich fort musste. Wenn du gewartet hättest ..."
„Das ist jetzt nicht mehr wichtig." Sie schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zurück. Niemals würde sie ihm erklären können, warum es ihr unmöglich gewesen war zu warten. „Es ist nicht wichtig, weil du in wenigen Tagen wieder weggehen wirst. Ich werde es nicht zulassen, dass du wie ein Wirbelwind in mein Leben eindringst, nur um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden und mich in einem Aufruhr der Gefühle zurückzulassen. Wir haben beide unsere Wahl getroffen, Jason."
„Verdammt, du hast mir gefehlt!"
Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren sie trocken. „Ich musste aufhören, dich zu vermissen. Bitte lass mich in Frieden, Jason. Wenn ich glauben könnte, dass wir Freunde werden ..."
„Das waren wir doch immer."
„Immer ist schon vorüber." Trotzdem streckte sie beide Hände aus und ergriff seine. „Ach, Jason, du warst mein bester Freund, aber ich kann mich nicht darüber freuen, dass du wieder da bist, weil ich schreckliche Angst vor dir habe."
„Leonie." Er schloss die Finger um ihre Hand. „Wir brauchen Zeit. Vor allem aber müssen wir miteinander reden."
Sie schaute ihn unverwandt an. „Du weißt, wo du mich findest, Jason. Das hast du immer schon gewusst."
„Ich bringe dich nach Hause."
„Nein." Sie war jetzt ein wenig ruhiger und lächelte ihn an. „Heute nicht."
Von seinem Fenster aus überblickte Jason die ganze Hauptstraße. Wenn er wollte, konnte er zuschauen, wie die Kunden in Porterfields Kaufhaus strömten und einige Müßiggänger sich auf dem Marktplatz zu einem gemütlichen Schwatz trafen. Doch immer wieder wurde seine Aufmerksamkeit von dem weißen Haus am Ende der Straße angezogen.
Er war schon zeitig aufgestanden und hatte auch am Fenster gestanden, als Leonie mit Clara aus dem Haus trat. Die Zeit für den Schulgang war da. Er hatte gesehen, wie Leonie in die Hocke ging, um den Kragen am Mantel ihrer Tochter glatt zu zupfen. Und er hatte beobachtet, wie sie lange dastand und dem Mädchen nachschaute. Mit äußerster Willenskraft hatte er versucht, sie dazu zu bringen, sich zu ihm umzudrehen. Doch sie war ohne einen Blick in seine Richtung in ihrem Laden verschwunden.
Inzwischen waren Stunden vergangen, und er stand immer noch am Fenster. Nach der Anzahl der Leute zu schließen, die das „Puppenhaus" betraten, lief Leonies Geschäft gut. Sie war beschäftigt, während er seine Reiseschreibmaschine noch nicht einmal ausgepackt hatte.
Er hatte vorgehabt, für eine Weile an seinem Roman zu arbeiten. Ein Roman, den er nur für sich selbst schreiben wollte. Auch das war ein Versprechen, das wegen seiner Arbeitsüberlastung noch nicht eingelöst war. Er hatte erwartet, dass er hier in seiner verschlafenen Heimatstadt - fernab von dem hektischen Leben als Auslandskorrespondent - Muße dazu finden würde. Das Wiedersehen mit Leonie und die Erkenntnis, dass er sie noch ebenso sehr liebte wie mit zwanzig, hatten jedoch jeden Gedanken an das Buch weit in den Hintergrund gedrängt.
Jason wandte sich vom Fenster ab und ging zum Tisch. Alles, was er brauchte, war da. Seine Notizen füllten zahllose Umschläge, er müsste sich nur hinsetzen und anfangen. Dass er genügend Selbstdisziplin besaß, um notfalls die ganze Nacht durchzuarbeiten, hatte er in der Vergangenheit schon des Öfteren bewiesen. Doch in seinem Leben gab es mehr als ein Buch, das angefangen und noch nicht beendet war. Erst jetzt war ihm das so richtig klar geworden.
Bis er sich rasiert und angezogen hatte, war es schon früh am Nachmittag. Zuerst erwog er, über die Straße in Mindys Café zu gehen und festzustellen, ob sie immer noch so köstliche Kartoffelsuppe machte, aber ihm war nicht nach unverfänglichem Geplauder zumute. In voller Absicht wandte er sich nach rechts, weg von Leonies Haus. Er würde sich nicht dadurch zum Narren machen, dass er ihr nachlief.
Unterwegs begegnete er mehreren Leuten, die er kannte. Man begrüßte ihn mit Schulterklopfen, Händeschütteln und unverhohlener Neugier. Er schlenderte am Fluss entlang und kehrte dann zur Hauptstraße zurück, um sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen.
In einem Laden entdeckte er Weihnachtssterne. Er ging hinein und kaufte den schönsten, den er finden konnte. Die Verkäuferin war mit ihm in der Schule gewesen, und es dauerte fast zehn Minuten, bis er wieder draußen war. Auf Fragen war er gefasst gewesen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er zum Stadtgespräch werden könnte. Ein belustigtes Lächeln spielte um seine Lippen, als er weiterging. Vor dem Haus der Witwe Marchant angekommen, machte er sich gar nicht erst die Mühe, an der Vordertür anzuklopfen, sondern ging aus alter Gewohnheit gleich zum Hintereingang.
Als die alte Dame öffnete und versuchte, durch die üppigen roten Blumen sein Gesicht zu erkennen, grinste er wie ein Schuljunge.
„Das wurde aber auch Zeit", begrüßte sie ihn. „Komm rein und wisch dir die Füße gut ab."
„Jawohl, Ma'am." Gehorsam säuberte Jason seine Stiefel, ehe er die Pflanze auf den Küchentisch stellte.
Die Witwe Marchant war höchstens einen Meter fünfzig groß. Ihr Rücken war vom Alter gebeugt, und unzählige Runzeln zogen sich durch ihr Gesicht. Die große Schürze, die sie umgebunden hatte, war mit Mehl bestäubt.
Jason konnte riechen, dass das erste Blech Plätzchen bereits im Ofen war. Aus dem Nebenraum drang klassische Musik.
Die alte Dame deutete auf die Blumen. „Du hattest immer schon eine Schwäche für großartige Gesten." Während sie ihn einer eingehenden Musterung unterzog, nahm er automatisch die Schultern zurück. „Wie ich sehe, hast du ein paar Pfunde zugelegt, aber ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen könntest du trotzdem noch vertragen. Nun komm schon, gib mir einen Kuss."
Er beugte sich hinunter, um ihre Wange mit den Lippen zu berühren, doch dann schloss er sie kurz entschlossen in die Arme. Sie fühlte sich schmal und zerbrechlich an, und sie roch noch immer nach Seife, Puder und Zucker.
„Sie scheinen nicht überrascht, mich zu sehen", stellte er fest.
„Ich hörte, dass du da bist", erwiderte sie. Sie hatte sich abgewandt, damit er nicht sehen konnte, dass ihr die Augen feucht geworden waren. „Um genau zu sein, wusste ich es schon, ehe die Tinte auf deinem Anmeldeformular im Gasthaus trocken war. Nimm dir einen Stuhl und zieh den Mantel aus. Ich muss die Plätzchen aus dem Rohr nehmen."
Er blieb still sitzen und genoss das Gefühl, sich zu Hause zu fühlen.
Hierher hatte er als Kind kommen können in der Gewissheit, dass Mrs Marchant ihn niemals fortschicken würde. Während er interessiert zusah, schmolz sie Blockschokolade in einem alten Emailtopf.
„Wie lange bleibst du denn?"
„Ich weiß noch nicht. In zwei Wochen muss ich in Hongkong sein."
„Hongkong." Die alte Dame presste die Lippen zusammen. „Du hast also alle deine Traumziele angelaufen, Jason. Waren sie so aufregend, wie du gehofft hast?"
„Einige ja." Genüsslich streckte er die Beine aus. Er hatte ganz vergessen, wie schön es war, sich völlig zu entspannen. „Andere nicht."
„Und jetzt bist du nach Hause gekommen." Sie stellte das Blech auf den Tisch. „Warum?"
Bei jedem anderen wäre er der Frage ausgewichen. Manchmal belog er sogar sich selbst.
Mrs Marchant jedoch würde nicht ruhen, bis sie die Wahrheit erfuhr. „Leonie."
„Es war immer schon Leonie." Er war ein unglücklicher Junge gewesen, und nun war er ein unglücklicher Mann. „Du weißt sicher, dass sie Tom geheiratet hat."
Vor Mrs Marchant brauchte Jason seine Bitterkeit nicht zu verstecken. „Ein halbes Jahr nachdem ich fortgegangen bin, habe ich angerufen. Ich hatte eine Stelle bei ‚Today's News‘ in Chicago bekommen. Es war nichts Großartiges, aber zumindest ein Anfang. Leonies Mutter nahm das Telefon ab. Sie teilte mir sehr freundlich mit, dass Leonie verheiratet war und ein Baby erwartete. Ich legte den Hörer auf und betrank mich, so gut es ging. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Chicago." Er nahm sich einen Keks und zuckte mit den Schultern. „Das Leben geht weiter."
„Das stimmt, ob es uns nun mitzieht oder uns einfach überrollt. Und jetzt hast du erfahren, dass sie inzwischen wieder geschieden ist."
„Wir hatten uns gegenseitig etwas versprochen. Und sie hat einen anderen geheiratet."
Sie gab ein abfälliges Geräusch von sich. „Dem Aussehen nach bist du ein Mann, kein sturer Junge mehr. Leonie Kirkpatrick ..."
„Leonie Monroe", stellte er richtig.
„Wie du meinst."
Mrs Marchant goss Kakao in große Henkeltassen und setzte sich ihm dann gegenüber. „Leonie ist eine starke, mutige Frau, deren Schönheit nicht nur äußerlich ist. Sie zieht ihr kleines Mädchen allein auf und macht es sehr gut. Außerdem hat sie ein Geschäft aufgebaut und verdient Geld damit. Allein. Und ich weiß, wie schwer es sein kann, wenn man allein ist."
„Wenn sie gewartet hätte ..."
„Das hat sie nun einmal nicht."
„Und warum hat sie sich dann eigentlich wieder von Tom scheiden lassen?"
Die alte Frau lehnte sich zurück. „Er hat sie verlassen, als Clara ein halbes Jahr alt war."
Er fasste seine Tasse fester. „Was soll das heißen - er hat sie verlassen?"
„Das solltest du doch wissen. Du hast es ja genauso gemacht. Er hat seine Sachen gepackt und ist gegangen. Ihr blieben das Haus - und die Rechnungen. Tom räumte das Bankkonto ab und zog an die Westküste."
„Aber er hat eine Tochter."
„Die hat er seitdem nicht mehr gesehen. Leonie hat es trotzdem geschafft. Schließlich war sie für das Kind verantwortlich. Sie hat einen Kredit aufgenommen und den Laden eröffnet. Wir sind stolz auf sie."
Er starrte aus dem Fenster auf einen kahlen Baum. „Zuerst bin ich gegangen, und sie hat Tom geheiratet. Dann hat Tom sie sitzen lassen. Es scheint, dass Leonie das Talent hat, sich die falschen Männer auszusuchen."
„Glaubst du das?"
Genehmigte Sonderausgabe 2012 für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 528 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3862785904
- ISBN-13: 9783862785902
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