Der Winterpalast
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die Waise Varvara kommt als Dienstmädchen in den Winterpalast. Keine Intrige, kein Getuschel entgeht ihr. Als die junge Sophie von Anhalt-Zerbst die spätere Katharina die Große an den Hof kommt, wird Varvara ihre engste Vertraute.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Winterpalast “
Die Waise Varvara kommt als Dienstmädchen in den Winterpalast. Keine Intrige, kein Getuschel entgeht ihr. Als die junge Sophie von Anhalt-Zerbst die spätere Katharina die Große an den Hof kommt, wird Varvara ihre engste Vertraute.
Klappentext zu „Der Winterpalast “
Geheime Gänge, verdeckte Türen, dunkle Nischen: Als die Waise Varvara als Dienstmädchen in den Winterpalast kommt, lernt sie schnell, sich ihre Verschwiegenheit und ihren aufmerksamen Blick zunutze zu machen. Keine Intrige, die ihr entginge, kein Getuschel, das ihren Ohren verborgen bliebe. Schnell wird sie zu einer der wichtigsten "Spioninnen" im Palast. Als die junge Sophie von Anhalt-Zerbst - die spätere Katharina die Große - an den Hof kommt und auf dem Weg zur Macht eine Verbündete braucht, wird Varvara ihre engste Vertraute. Schließlich erklimmt Katharina den Zarenthron - aus der unerfahrenen Fremden wird eine der mächtigsten Frauen ihrer Zeit.Eva Stachniaks opulenter Roman über die ungewöhnliche Freundschaft zweier Frauen führt den Leser in eine Welt, in der Leidenschaft und Vertraulichkeit auf Heimtücke und Verrat treffen - in die abgründig-geheimnisvolle Welt des russischen Zarenhofs, gehüllt in schweren Brokat und knisternde Seide.
Lese-Probe zu „Der Winterpalast “
Der Winterpalast von Eva StachniakRoman Aus dem Englischen von Peter Knecht
SANKT PETERSBURG,17. OKTOBER 1756
Drei Personen, die immer um sie sind und nichts voneinander wissen, berichten mir, was vorgeht, und werden mich unfehlbar davon in Kenntnis setzen, wenn der entscheidende Moment da ist.
Aus einem Brief der Großfürstin und späteren Kaiserin Katharina der Großen an Sir Hanbury-Williams, den britischen Gesandten am Hof von Kaiserin Elisabeth.
Spione bleiben normalerweise unsichtbar, außer sie werden enttarnt, oder sie treten freiwillig ans Licht der Öffentlichkeit. Die Ersteren waren so töricht, verräterische Spuren zu hinterlassen, die Letzteren haben ihre eigenen Gründe, sich zu offenbaren.
Vielleicht drängt es sie, ihre Geheimnisse zu beichten, weil sie die öde Bedeutungslosigkeit eines Lebens, von dem niemand etwas weiß als sie allein, nicht ertragen.
Oder vielleicht, weil sie warnen möchten.
Ich war das, was man eine »Zunge« nannte, eine wohlinformierte Quelle, die Geheimnisse preisgab, eine Informantin, der keine noch so leise geflüsterte Wahrheit entging. Ich wusste von ausgehöhlten Büchern, von doppelten Böden in Koffern, von Geheimgängen und Tapetentüren, ich verstand mich darauf, raffiniert versteckte Fächer in Schreibtischen zu finden, versiegelte Briefe zu öffnen und wieder so zu verschließen, dass sie vollkommen unversehrt aussahen. Wenn ich in ein fremdes Zimmer einbrach, bemerkte ich das Haar, das am Schloss klebte, und brachte es nachher wieder genau so an, wie ich es vorgefunden hatte. Kein Geheimnis der dunkelsten Nacht war vor mir sicher.
... mehr
Ich bemerkte es, wenn Ohren und Wangen erröteten, wenn jemand bei einem Ball am Orchester vorbeischlenderte und ganz unauffällig ein Zettelchen in den Schalltrichter der Tuba fallen ließ, wenn Hände zu nervös in Taschen fassten, wenn zu häufig ein Juwelier oder eine Schneiderin in ein Haus kam. Ich wusste von den ledernen Unterröcken, die prächtige Roben vor tröpfelndem Urin schützten, von Dienstmädchen, die blutige Lumpen im Garten vergruben, von Erstickungsanfällen und Todesängsten.
Ich konnte Angst nicht riechen, aber ich erkannte ihre Symptome: Herzrasen, geweitete Augen, zitternde Hände, aschfahle Haut. Ich bemerkte es, wenn das Gespräch ins Stocken geriet, wenn Schweigen eintrat. Ich hatte die Angst immer stärker werden sehen in Räumen, wo jedes leise Wort Argwohn erregte, wo jede Veränderung des Gesichtsausdrucks oder das Ausbleiben solcher Veränderungen beobachtet und vermerkt wurde.
Ich hatte gesehen, was Angst im Herzen eines Menschen anrichten kann.
EINS
1743-1744
Ich hätte sie warnen können, als sie in Russland ankam, diese kleine Prinzessin aus Zerbst, einem deutschen Städtchen, das gerade mal so groß ist wie der Sommergarten von Sankt Petersburg, dieses schmächtige Mädchen, das zur Kaiserin Katharina werden sollte.
Dieser Hof wird eine neue Welt für Sie sein, hätte ich ihr sagen können, schlüpfriger Boden. Lassen Sie sich nicht täuschen von freundlichen Blicken und schmeichelnden Reden, von all den großartigen Verheißungen. Es ist ein Ort, an dem Hoffnungen verkümmern und sterben, wo Träume zu Asche werden.
Sie hatte Sie auf Anhieb für sich eingenommen, unsere Kaiserin. Ihr ungekünsteltes Wesen, ihr freundlicher Händedruck, die Tränen, die sie abwischte, als sie Sie sah. Die Lebhaftigkeit ihrer Worte und Gesten, ihre erfrischende Art, sich über die Zwänge der Etikette hinwegzusetzen. »Wie freundlich und geradeheraus die Kaiserin Elisabeth Petrowna ist«, sagten Sie. Auch andere fanden das, viele andere. Aber Offenheit kann auch eine Maske sein, wie Ihre Vorgängerin viel zu spät erkannte.
Drei Jahre zuvor war unsere bezaubernde Kaiserin noch eine unverheiratete Prinzessin am Hof Iwans VI. und seiner Mutter gewesen, die als Regentin die Reichsgeschäfte führte, denn der Kaiser lag noch in Windeln gewickelt. Ein Verlobter Elisabeths war an den Pocken gestorben, andere Pläne waren durch politische Intrigen vereitelt worden, und es sah ganz so aus, als wären die Chancen der jüngsten Tochter Peters des Großen, auf den Thron zu gelangen, für alle Zeiten dahin. Die Einunddreißigjährige galt als oberflächliches, flatterhaftes Geschöpf, dessen Gedanken ganz den Tanzschritten und Garderoben der jeweils aktuellen Ballsaison gewidmet waren, nur wenige setzten auf die Macht des väterlichen Bluts in ihren Adern und behielten sie im Blick.
Die Franzosen nennen sie auch »Elisabeth die Sanftmütige«, denn an dem Tag, bevor sie Iwan VI. den Thron raubte, schwor sie auf die Ikone des heiligen Nikolaus, des Wundertäters, dass unter ihrer Herrschaft kein Todesurteil vollstreckt werde. Und ihrem Wort getreu trat sie an dem Tag des Staatsstreichs den Soldaten der Garde, die drauf und dran waren, dem kleinen Zaren die Kehle durchzuschneiden, in den Weg. Sie nahm den greinenden Säugling aus seiner Wiege und küsste seine rosigen Wangen, bevor sie ihn seiner Mutter übergab und die beiden ins Gefängnis bringen ließ.
Sie hatte es gern, wenn immer wieder daran erinnert wurde, dass seit ihrer Machtergreifung keinem ihrer Untertanen der Kopf abgeschlagen worden war, aber von abgeschnittenen Zungen und Ohren, von den zerfleischten Rücken derer, die mit der Knute gepeitscht wurden, durfte niemand reden. Auch nicht von den Delinquenten, die an ein Brett genagelt und ins eisige Wasser von Flüssen geworfen wurden. O ja, auch die Sanftmut ist eine trügerische Maske.
Ich hätte der hübschen Kleinen aus Zerbst sagen können, dass das Leben am russischen Hof ein Spiel ist, und zwar eines, bei dem alle Tricks erlaubt sind. Jeder beobachtet jeden. Es gibt keinen einzigen Raum in diesem Palast, wo Sie wirklich allein sein können. Hinter den Wänden verlaufen Geheimgänge, ein labyrinthisches System von Korridoren, durch die man, wenn man sich auskennt, ungesehen in jedes Zimmer gelangt. Wandvertäfelungen klappen auf, Regale lassen sich zur Seite schieben, versteckte Röhren leiten den Schall: Sie müssen immer damit rechnen, dass jemand Sie belauscht, jedes Wort, das Sie sprechen, kann vielleicht früher oder später gegen Sie verwendet werden. Jeder Mensch, dem Sie vertrauen, kann Sie verraten.
Man wird Ihre Schränke durchsuchen. Auch unter doppelten Böden und in ausgehöhlten Büchern sind Ihre Geheimnisse nicht sicher. Man wird Ihre Briefe kopieren, bevor man sie auf den Weg bringt. Wenn Ihre Kammerjungfer Ihnen meldet, dass ein Stück Ihrer Unterwäsche abhanden gekommen ist, so befindet es sich vielleicht in einer sorgsam verkorkten Flasche, die irgendwo in einem Magazin aufbewahrt wird für den Fall, dass man eines Tages vielleicht eine Geruchsprobe von Ihnen braucht, damit ein Spürhund Ihre Witterung aufnehmen kann.
Nehmen Sie sich in Acht! Lernen Sie die Kunst der Täuschung! Wenn man Sie ins Verhör nimmt - und mag es auch nur wie ein belangloser oder scherzhafter Wortwechsel wirken -, haben Sie nur wenige Sekunden Zeit, Ihre Gedanken zu verbergen, Ihr wahres Ich zu unterdrücken, damit Sie sich nicht verraten. Den Augen und Ohren eines Inquisitors entgeht nichts.
Hören Sie auf mich.
Ich weiß, wovon ich spreche.
Die Person, gegen die Sie keinen Argwohn hegen, ist am gefährlichsten.
Sobald sie auf den russischen Thron gelangt war, machte Kaiserin Elisabeth deutlich,dass sie entschlossen war, allein, ohne einen Ehemann an ihrer Seite, zu herrschen. Da sie keine Kinder haben würde, musste das Problem der Thronfolge auf andere Weise gelöst werden, und sie entschied sich dafür, den verwaisten Sohn ihrer Schwester, Karl Peter Ulrich, Herzog von Holstein, nach Sankt Petersburg kommen zu lassen. Als der Junge vor ihr stand, schlaksig und mager, die Augen blutunterlaufen vor Erschöpfung nach der langen Reise, drückte sie ihn an ihren wogenden Busen. »Das Blut der Romanows«, verkündete sie, »der Enkel Peters des Großen.« Sie sorgte dafür, dass er zum orthodoxen Glauben übertrat, gab ihm den Namen Peter Fjodorowitsch und machte ihn zum Kronprinzen. Er war vierzehn Jahre alt. Sie fragte ihn nicht, ob er bei ihr leben und später einmal Herrscher über das russische Reich werden wollte. Und dann, nachdem er eben fünfzehn geworden war, fragte sie ihn auch nicht, ob er eine Braut haben wollte.
Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst. Zuerst kam ihr Porträt nach Russland - ich erinnere mich noch gut an den großen Moment, als es enthüllt wurde. Solche Porträts sind nicht dafür da, eine Person möglichst wahrheitsgetreu abzubilden, vielmehr sollen sie ihre Reize ins rechte Licht setzen.
»Was?«, hörte ich den Reichskanzler Bestuschew sagen, als die Kaiserin Sophie zum ersten Mal erwähnte. »Wieso ausgerechnet sie?« Er verwies darauf, dass man durch eine wohlüberlegte Heiratspolitik russische Interessen sichern müsse. Und man müsse auch an das Machtgleichgewicht in Europa denken - Preußen werde zu stark. »Majestät sollten eine sächsische Prinzessin in Erwägung ziehen.«
Die Kaiserin unterdrückte ein Gähnen. »Ich habe noch nichts entschieden«, sagte sie. Ihr Neffe Peter saß zu ihren Füßen, seine langen weißen Finger drehten seinen mit einem Türkis besetzten Ring, als zöge er eine Schraubenmutter fest.
In den folgenden Wochen hörte ich harsche Urteile über Sophies Vater: Der Fürst sei ein Schwachkopf, ein preußischer General, der unter dem Pantoffel seiner anmaßenden Ehefrau stehe, für die der armselige Hof von Braunschweig der Inbegriff von Pracht und Herrlichkeit sei. Die Familie Anhalt-Zerbst habe gute Verbindungen, sei aber arm und versuche nun schamlos, die Aufmerksamkeit der Kaiserin auf sich zu lenken, indem sie daran erinnerte, dass Elisabeth selbst einmal beinahe einen aus diesem Haus geheiratet hätte. Diese brüchige Beziehung zu Russland sei aber auch das Einzige, worauf sich ihre ehrgeizigen Hoffnungen stützen könnten.
Als ein Lakai den roten Samtvorhang aufzog, sahen wir das Porträt einer schlanken, anmutigen Vierzehnjährigen, die vor dem offenen Kamin eines Salons stand. Das Mieder ihres Kleids war blassgrün, sie hatte die schlanken Hände in Höhe des Magens aufeinandergelegt. Entgegen allen Gerüchten, die zu uns gedrungen waren, war Prinzessin Sophie ganz offensichtlich nicht verkrüppelt, keine Kinderkrankheit hatte ihre Wirbelsäule verformt. Eine Aura von Leichtigkeit umgab sie, als setzte sie gerade zu einem heiteren Tanz an. Ihr Kinn stand deutlich hervor, sie hatte schmale, aber schön geformte Lippen. Sie war nicht eigentlich hübsch, aber frisch und munter, ein Kätzchen, das zusieht, wie ein Wollknäuel über den Boden rollt. Der Maler hatte dafür gesorgt, dass man die feine Blässe ihres Teints wahrnahm und die sanften Augen, deren Blau in so auffallendem Kontrast zu dem rabenschwarzen Haar stand. Und wir sahen in dem Gesicht den sehnlichen Wunsch gespiegelt, den Betrachtern zu gefallen.
Zögerndes Gemurmel erfüllte den Saal, undeutliche Kommentare, deren Richtung nicht klar festzulegen war: genuscheltes Lob, von dem man wieder abrücken konnte, Tadel, der sich zu einem verschleierten Kompliment umbiegen ließ - die Höflinge waren auf der Hut. Die Kunst der Täuschung, dachte ich, der Schmetterling, der die Augenflecken auf seinen Flügeln aufblitzen lässt, um sein Leben zu retten, Heuschrecken, die im Lauf des Sommers ihre Färbung verändern und sich ihrer Umgebung anpassen.
Die großen Herren und Damen des Hofs blickten immer noch auf das Bild, aber ich hatte etwas sehr viel Wichtigeres im Blick: das Gesicht der russischen Kaiserin, die das junge Mädchen musterte, das, wenn sie es wünschte, die Braut ihres Neffen werden würde. Das Gesicht, das ich zu lesen gelernt hatte.
Ein leises Seufzen war zu hören, die Unterlippe von Elisabeth Petrowna zuckte ganz leicht. Sie war ganz in sich versunken, ähnlich wie im Gebet. Über ihre rosig gepuderte Wange rollte langsam eine Träne.
Ich wandte mich wieder dem Porträt zu, und da erkannte ich, was die Kaiserin gesehen hatte. In den Zügen des Mädchens lag etwas Männliches, nur eine Andeutung, aber klar genug, ein ferner Reflex eines anderen, älteren Gesichts. Des Gesichts des längst verstorbenen Verlobten. Eine Erinnerung, die sie bewahrt hatte und die sie immer noch zu Tränen rührte.
»Herr, sei seiner Seele gnädig . . .«
Als ich hörte, wie die Kaiserin von Russland dieses Gebet flüsterte, wusste ich, dass die Anhalt-Zerbsts einen ersten Sieg errungen hatten.
Der Chor der Stimmen wurde lauter, aber sie waren immer noch unentschieden. Kein Höfling wollte das Risiko eingehen, das Missfallen Elisabeths zu erregen. Alle hatten wie ich schon gesehen, wie sie im Zorn den nächstbesten Gegenstand gepackt und durch den Raum geschleudert hatte, eine Puderdose, die in einer weißen Staubwolke explodierte, eine Silberplastik von Amor und Psyche, die eine hässliche Schramme im Parkett hinterlassen hatte. Alle hatten ihren Mund stumm beben sehen, als wäre ihr die Zunge abgeschnitten worden.
»Sie hat ein grünes Kleid an«, sagte der Großfürst Peter. Wenn er deutsch sprach, hatten die Laute etwas hübsch Melodisches, nur sein Russisch klang unbeholfen und harsch.
Alle Augen wandten sich ihm zu.
Der Großfürst selbst war in grünen Samt mit Goldstickereien gekleidet. Sein Gesicht war damals noch nicht von Pockennarben entstellt, es war schmal und blass, aber nicht unansehnlich. Am Tag zuvor hatte ich ihn dabei beobachtet, wie er seine Hand angestarrt hatte, als enthielte sie irgendein tiefes Geheimnis, das er angestrengt zu enträtseln versuchte.
»Was meinst du, Peter?«, fragte die Kaiserin. Sie strich den Ärmel ihres Kleids glatt, ihre Finger spielten mit den Perlen auf dem prächtig burgunderroten Brokatstoff. »Sieht sie wirklich so aus wie auf dem Bild?«
»Ja, sie ist gut getroffen«, sagte der Großfürst. »Genauso habe ich meine Cousine Sophie in Erinnerung.«
»Deine Großcousine, Peter.«
»Ja, meine Großcousine. Sie ist nicht bucklig.«
»Wer hat behauptet, sie sei bucklig?«
»Ich weiß nicht mehr.«
»Wer hat gesagt, dass sie bucklig ist?«
»Ich weiß nicht genau, mein Mohr hat es irgendwo aufgeschnappt. Aber es stimmt nicht. Sophie ist kerngesund. Wenn wir in Eutin im Garten um die Wette gelaufen sind, hat sie immer gewonnen. «
»Das ist vielleicht kein so gutes Zeichen, Euer Hoheit, wenn eine Frau so viel Energie an den Tag legt«, bemerkte Bestuschew.
Ich sah ihn an, seine grau gepuderte Perücke, die buschigen Augenbrauen, die weichen Linien seines glatten Gesichts. Sein Samtjackett war neu, elegant geschnitten, es stand ihm gut. Es hatte die Farbe von getrocknetem Blut. An der Brust trug er ein Medaillon mit dem Bildnis der Kaiserin. Ich hatte ihn mehr als einmal im Morgengrauen aus Elisabeths Schlafzimmer kommen sehen, die Kleidung zerknittert und nicht zugeknöpft, unstete Glut in den schwarzen Augen.
Ein aalglatter Politiker? Ein alter Fuchs?
Hatte er nicht bemerkt, was ich gesehen hatte? Hoffte er immer noch, die Kaiserin habe sich noch nicht für Sophie entschieden?
»Wieso, mein Lieber?« Elisabeth runzelte die Stirn.
»Kräftige Beine? Ein ausgeprägtes Kinn? Solche Frauen sind oft herrschsüchtig, so jedenfalls hat meine eigene Erfahrung mich gelehrt, Euer Hoheit.« Der Kanzler machte eine anmutige Verbeugung. Ein gedämpftes Kichern war im Hintergrund zu hören. Bestuschews Frau, die für ihre häufigen Wutanfälle bekannt war, hatte ein ausgeprägtes Kinn.
Wie ein Schauspieler, der bereits über die nächste Pointe nachdenkt, fügte er hinzu: »Eine Erfahrung, über die ich Eurer Hoheit gern bei besser passender Gelegenheit Näheres berichten will.«
Die Kaiserin wandte sich ab.
»Ich habe beschlossen, Prinzessin Sophie hierher einzuladen«, verkündete sie. »Zusammen mit ihrer Mutter. Nichts Offizielles.
Das Haus Anhalt-Zerbst hat genügend Beweise meiner Gunst erhalten, um mir seinen Dank abzustatten.«
Ich sah, wie sich die Spannung bei den Umstehenden löste. Höflinge gaben eifrig ihrer Zustimmung Ausdruck und beeilten sich zu begründen, warum sie die Wahl der Kaiserin ganz ausgezeichnet fanden.
Sie war sehr heiter gestimmt an diesem Tag. Die Stickereien an den Säumen ihres Kleids blitzten bei jeder Bewegung, und ich weiß noch, dass ich mich fragte, wer es wohl bekommen würde, denn Elisabeth trug nie ein Kleid zweimal.
Das Porträt der kleinen deutschen Prinzessin mit dem erwartungsvollen Lächeln wurde zur Seite gestellt. Die Kaiserin streckte sich auf einer Chaiselongue aus, die Lakaien hereingebracht hatten, und bat den Grafen Rasumowski zu singen. In ihren Zügen war kein Zeichen von Ungeduld zu bemerken, während er die Saiten seiner Bandura stimmte. Sie wies den Großfürsten nicht zurecht, als er den Daumen in den Mund steckte und sein Zahnfleisch betastete. Eine Woche vorher war ihm wieder einer seiner verfaulten Zähne ausgefallen.
Wenn der Kanzler Bestuschew mit der kaiserlichen Entscheidung unzufrieden war, so ließ er sich davon nichts anmerken. Ich sah, wie er sich zu Elisabeth hinunterbeugte und ihr leise etwas ins Ohr sagte. Sie schlug ihn neckisch mit dem zusammengefalteten Fächer. Er nahm ihre Hand und küsste sie. Lange schwebten seine Lippen über ihren Fingerspitzen.
Ich schaute nicht weg.
Ich war damals sechzehn, ein flinkes junges Geschöpf mit rosigen Wangen, das bereits alle Illusionen verloren hatte, eines von zahllosen namenlosen Mädchen im russischen Reich, hübsch genug, dass man ihm den Hintern tätschelte oder ihm Obszönitäten zuflüsterte, wenn es vorbeiging. Ich wusste, dass der großartig klingende Ausdruck »ein Mündel der Krone« nur eine Bettlerin bezeichnete, die jederzeit fortgejagt werden konnte.
Copyright © der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2012
Ich bemerkte es, wenn Ohren und Wangen erröteten, wenn jemand bei einem Ball am Orchester vorbeischlenderte und ganz unauffällig ein Zettelchen in den Schalltrichter der Tuba fallen ließ, wenn Hände zu nervös in Taschen fassten, wenn zu häufig ein Juwelier oder eine Schneiderin in ein Haus kam. Ich wusste von den ledernen Unterröcken, die prächtige Roben vor tröpfelndem Urin schützten, von Dienstmädchen, die blutige Lumpen im Garten vergruben, von Erstickungsanfällen und Todesängsten.
Ich konnte Angst nicht riechen, aber ich erkannte ihre Symptome: Herzrasen, geweitete Augen, zitternde Hände, aschfahle Haut. Ich bemerkte es, wenn das Gespräch ins Stocken geriet, wenn Schweigen eintrat. Ich hatte die Angst immer stärker werden sehen in Räumen, wo jedes leise Wort Argwohn erregte, wo jede Veränderung des Gesichtsausdrucks oder das Ausbleiben solcher Veränderungen beobachtet und vermerkt wurde.
Ich hatte gesehen, was Angst im Herzen eines Menschen anrichten kann.
EINS
1743-1744
Ich hätte sie warnen können, als sie in Russland ankam, diese kleine Prinzessin aus Zerbst, einem deutschen Städtchen, das gerade mal so groß ist wie der Sommergarten von Sankt Petersburg, dieses schmächtige Mädchen, das zur Kaiserin Katharina werden sollte.
Dieser Hof wird eine neue Welt für Sie sein, hätte ich ihr sagen können, schlüpfriger Boden. Lassen Sie sich nicht täuschen von freundlichen Blicken und schmeichelnden Reden, von all den großartigen Verheißungen. Es ist ein Ort, an dem Hoffnungen verkümmern und sterben, wo Träume zu Asche werden.
Sie hatte Sie auf Anhieb für sich eingenommen, unsere Kaiserin. Ihr ungekünsteltes Wesen, ihr freundlicher Händedruck, die Tränen, die sie abwischte, als sie Sie sah. Die Lebhaftigkeit ihrer Worte und Gesten, ihre erfrischende Art, sich über die Zwänge der Etikette hinwegzusetzen. »Wie freundlich und geradeheraus die Kaiserin Elisabeth Petrowna ist«, sagten Sie. Auch andere fanden das, viele andere. Aber Offenheit kann auch eine Maske sein, wie Ihre Vorgängerin viel zu spät erkannte.
Drei Jahre zuvor war unsere bezaubernde Kaiserin noch eine unverheiratete Prinzessin am Hof Iwans VI. und seiner Mutter gewesen, die als Regentin die Reichsgeschäfte führte, denn der Kaiser lag noch in Windeln gewickelt. Ein Verlobter Elisabeths war an den Pocken gestorben, andere Pläne waren durch politische Intrigen vereitelt worden, und es sah ganz so aus, als wären die Chancen der jüngsten Tochter Peters des Großen, auf den Thron zu gelangen, für alle Zeiten dahin. Die Einunddreißigjährige galt als oberflächliches, flatterhaftes Geschöpf, dessen Gedanken ganz den Tanzschritten und Garderoben der jeweils aktuellen Ballsaison gewidmet waren, nur wenige setzten auf die Macht des väterlichen Bluts in ihren Adern und behielten sie im Blick.
Die Franzosen nennen sie auch »Elisabeth die Sanftmütige«, denn an dem Tag, bevor sie Iwan VI. den Thron raubte, schwor sie auf die Ikone des heiligen Nikolaus, des Wundertäters, dass unter ihrer Herrschaft kein Todesurteil vollstreckt werde. Und ihrem Wort getreu trat sie an dem Tag des Staatsstreichs den Soldaten der Garde, die drauf und dran waren, dem kleinen Zaren die Kehle durchzuschneiden, in den Weg. Sie nahm den greinenden Säugling aus seiner Wiege und küsste seine rosigen Wangen, bevor sie ihn seiner Mutter übergab und die beiden ins Gefängnis bringen ließ.
Sie hatte es gern, wenn immer wieder daran erinnert wurde, dass seit ihrer Machtergreifung keinem ihrer Untertanen der Kopf abgeschlagen worden war, aber von abgeschnittenen Zungen und Ohren, von den zerfleischten Rücken derer, die mit der Knute gepeitscht wurden, durfte niemand reden. Auch nicht von den Delinquenten, die an ein Brett genagelt und ins eisige Wasser von Flüssen geworfen wurden. O ja, auch die Sanftmut ist eine trügerische Maske.
Ich hätte der hübschen Kleinen aus Zerbst sagen können, dass das Leben am russischen Hof ein Spiel ist, und zwar eines, bei dem alle Tricks erlaubt sind. Jeder beobachtet jeden. Es gibt keinen einzigen Raum in diesem Palast, wo Sie wirklich allein sein können. Hinter den Wänden verlaufen Geheimgänge, ein labyrinthisches System von Korridoren, durch die man, wenn man sich auskennt, ungesehen in jedes Zimmer gelangt. Wandvertäfelungen klappen auf, Regale lassen sich zur Seite schieben, versteckte Röhren leiten den Schall: Sie müssen immer damit rechnen, dass jemand Sie belauscht, jedes Wort, das Sie sprechen, kann vielleicht früher oder später gegen Sie verwendet werden. Jeder Mensch, dem Sie vertrauen, kann Sie verraten.
Man wird Ihre Schränke durchsuchen. Auch unter doppelten Böden und in ausgehöhlten Büchern sind Ihre Geheimnisse nicht sicher. Man wird Ihre Briefe kopieren, bevor man sie auf den Weg bringt. Wenn Ihre Kammerjungfer Ihnen meldet, dass ein Stück Ihrer Unterwäsche abhanden gekommen ist, so befindet es sich vielleicht in einer sorgsam verkorkten Flasche, die irgendwo in einem Magazin aufbewahrt wird für den Fall, dass man eines Tages vielleicht eine Geruchsprobe von Ihnen braucht, damit ein Spürhund Ihre Witterung aufnehmen kann.
Nehmen Sie sich in Acht! Lernen Sie die Kunst der Täuschung! Wenn man Sie ins Verhör nimmt - und mag es auch nur wie ein belangloser oder scherzhafter Wortwechsel wirken -, haben Sie nur wenige Sekunden Zeit, Ihre Gedanken zu verbergen, Ihr wahres Ich zu unterdrücken, damit Sie sich nicht verraten. Den Augen und Ohren eines Inquisitors entgeht nichts.
Hören Sie auf mich.
Ich weiß, wovon ich spreche.
Die Person, gegen die Sie keinen Argwohn hegen, ist am gefährlichsten.
Sobald sie auf den russischen Thron gelangt war, machte Kaiserin Elisabeth deutlich,dass sie entschlossen war, allein, ohne einen Ehemann an ihrer Seite, zu herrschen. Da sie keine Kinder haben würde, musste das Problem der Thronfolge auf andere Weise gelöst werden, und sie entschied sich dafür, den verwaisten Sohn ihrer Schwester, Karl Peter Ulrich, Herzog von Holstein, nach Sankt Petersburg kommen zu lassen. Als der Junge vor ihr stand, schlaksig und mager, die Augen blutunterlaufen vor Erschöpfung nach der langen Reise, drückte sie ihn an ihren wogenden Busen. »Das Blut der Romanows«, verkündete sie, »der Enkel Peters des Großen.« Sie sorgte dafür, dass er zum orthodoxen Glauben übertrat, gab ihm den Namen Peter Fjodorowitsch und machte ihn zum Kronprinzen. Er war vierzehn Jahre alt. Sie fragte ihn nicht, ob er bei ihr leben und später einmal Herrscher über das russische Reich werden wollte. Und dann, nachdem er eben fünfzehn geworden war, fragte sie ihn auch nicht, ob er eine Braut haben wollte.
Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst. Zuerst kam ihr Porträt nach Russland - ich erinnere mich noch gut an den großen Moment, als es enthüllt wurde. Solche Porträts sind nicht dafür da, eine Person möglichst wahrheitsgetreu abzubilden, vielmehr sollen sie ihre Reize ins rechte Licht setzen.
»Was?«, hörte ich den Reichskanzler Bestuschew sagen, als die Kaiserin Sophie zum ersten Mal erwähnte. »Wieso ausgerechnet sie?« Er verwies darauf, dass man durch eine wohlüberlegte Heiratspolitik russische Interessen sichern müsse. Und man müsse auch an das Machtgleichgewicht in Europa denken - Preußen werde zu stark. »Majestät sollten eine sächsische Prinzessin in Erwägung ziehen.«
Die Kaiserin unterdrückte ein Gähnen. »Ich habe noch nichts entschieden«, sagte sie. Ihr Neffe Peter saß zu ihren Füßen, seine langen weißen Finger drehten seinen mit einem Türkis besetzten Ring, als zöge er eine Schraubenmutter fest.
In den folgenden Wochen hörte ich harsche Urteile über Sophies Vater: Der Fürst sei ein Schwachkopf, ein preußischer General, der unter dem Pantoffel seiner anmaßenden Ehefrau stehe, für die der armselige Hof von Braunschweig der Inbegriff von Pracht und Herrlichkeit sei. Die Familie Anhalt-Zerbst habe gute Verbindungen, sei aber arm und versuche nun schamlos, die Aufmerksamkeit der Kaiserin auf sich zu lenken, indem sie daran erinnerte, dass Elisabeth selbst einmal beinahe einen aus diesem Haus geheiratet hätte. Diese brüchige Beziehung zu Russland sei aber auch das Einzige, worauf sich ihre ehrgeizigen Hoffnungen stützen könnten.
Als ein Lakai den roten Samtvorhang aufzog, sahen wir das Porträt einer schlanken, anmutigen Vierzehnjährigen, die vor dem offenen Kamin eines Salons stand. Das Mieder ihres Kleids war blassgrün, sie hatte die schlanken Hände in Höhe des Magens aufeinandergelegt. Entgegen allen Gerüchten, die zu uns gedrungen waren, war Prinzessin Sophie ganz offensichtlich nicht verkrüppelt, keine Kinderkrankheit hatte ihre Wirbelsäule verformt. Eine Aura von Leichtigkeit umgab sie, als setzte sie gerade zu einem heiteren Tanz an. Ihr Kinn stand deutlich hervor, sie hatte schmale, aber schön geformte Lippen. Sie war nicht eigentlich hübsch, aber frisch und munter, ein Kätzchen, das zusieht, wie ein Wollknäuel über den Boden rollt. Der Maler hatte dafür gesorgt, dass man die feine Blässe ihres Teints wahrnahm und die sanften Augen, deren Blau in so auffallendem Kontrast zu dem rabenschwarzen Haar stand. Und wir sahen in dem Gesicht den sehnlichen Wunsch gespiegelt, den Betrachtern zu gefallen.
Zögerndes Gemurmel erfüllte den Saal, undeutliche Kommentare, deren Richtung nicht klar festzulegen war: genuscheltes Lob, von dem man wieder abrücken konnte, Tadel, der sich zu einem verschleierten Kompliment umbiegen ließ - die Höflinge waren auf der Hut. Die Kunst der Täuschung, dachte ich, der Schmetterling, der die Augenflecken auf seinen Flügeln aufblitzen lässt, um sein Leben zu retten, Heuschrecken, die im Lauf des Sommers ihre Färbung verändern und sich ihrer Umgebung anpassen.
Die großen Herren und Damen des Hofs blickten immer noch auf das Bild, aber ich hatte etwas sehr viel Wichtigeres im Blick: das Gesicht der russischen Kaiserin, die das junge Mädchen musterte, das, wenn sie es wünschte, die Braut ihres Neffen werden würde. Das Gesicht, das ich zu lesen gelernt hatte.
Ein leises Seufzen war zu hören, die Unterlippe von Elisabeth Petrowna zuckte ganz leicht. Sie war ganz in sich versunken, ähnlich wie im Gebet. Über ihre rosig gepuderte Wange rollte langsam eine Träne.
Ich wandte mich wieder dem Porträt zu, und da erkannte ich, was die Kaiserin gesehen hatte. In den Zügen des Mädchens lag etwas Männliches, nur eine Andeutung, aber klar genug, ein ferner Reflex eines anderen, älteren Gesichts. Des Gesichts des längst verstorbenen Verlobten. Eine Erinnerung, die sie bewahrt hatte und die sie immer noch zu Tränen rührte.
»Herr, sei seiner Seele gnädig . . .«
Als ich hörte, wie die Kaiserin von Russland dieses Gebet flüsterte, wusste ich, dass die Anhalt-Zerbsts einen ersten Sieg errungen hatten.
Der Chor der Stimmen wurde lauter, aber sie waren immer noch unentschieden. Kein Höfling wollte das Risiko eingehen, das Missfallen Elisabeths zu erregen. Alle hatten wie ich schon gesehen, wie sie im Zorn den nächstbesten Gegenstand gepackt und durch den Raum geschleudert hatte, eine Puderdose, die in einer weißen Staubwolke explodierte, eine Silberplastik von Amor und Psyche, die eine hässliche Schramme im Parkett hinterlassen hatte. Alle hatten ihren Mund stumm beben sehen, als wäre ihr die Zunge abgeschnitten worden.
»Sie hat ein grünes Kleid an«, sagte der Großfürst Peter. Wenn er deutsch sprach, hatten die Laute etwas hübsch Melodisches, nur sein Russisch klang unbeholfen und harsch.
Alle Augen wandten sich ihm zu.
Der Großfürst selbst war in grünen Samt mit Goldstickereien gekleidet. Sein Gesicht war damals noch nicht von Pockennarben entstellt, es war schmal und blass, aber nicht unansehnlich. Am Tag zuvor hatte ich ihn dabei beobachtet, wie er seine Hand angestarrt hatte, als enthielte sie irgendein tiefes Geheimnis, das er angestrengt zu enträtseln versuchte.
»Was meinst du, Peter?«, fragte die Kaiserin. Sie strich den Ärmel ihres Kleids glatt, ihre Finger spielten mit den Perlen auf dem prächtig burgunderroten Brokatstoff. »Sieht sie wirklich so aus wie auf dem Bild?«
»Ja, sie ist gut getroffen«, sagte der Großfürst. »Genauso habe ich meine Cousine Sophie in Erinnerung.«
»Deine Großcousine, Peter.«
»Ja, meine Großcousine. Sie ist nicht bucklig.«
»Wer hat behauptet, sie sei bucklig?«
»Ich weiß nicht mehr.«
»Wer hat gesagt, dass sie bucklig ist?«
»Ich weiß nicht genau, mein Mohr hat es irgendwo aufgeschnappt. Aber es stimmt nicht. Sophie ist kerngesund. Wenn wir in Eutin im Garten um die Wette gelaufen sind, hat sie immer gewonnen. «
»Das ist vielleicht kein so gutes Zeichen, Euer Hoheit, wenn eine Frau so viel Energie an den Tag legt«, bemerkte Bestuschew.
Ich sah ihn an, seine grau gepuderte Perücke, die buschigen Augenbrauen, die weichen Linien seines glatten Gesichts. Sein Samtjackett war neu, elegant geschnitten, es stand ihm gut. Es hatte die Farbe von getrocknetem Blut. An der Brust trug er ein Medaillon mit dem Bildnis der Kaiserin. Ich hatte ihn mehr als einmal im Morgengrauen aus Elisabeths Schlafzimmer kommen sehen, die Kleidung zerknittert und nicht zugeknöpft, unstete Glut in den schwarzen Augen.
Ein aalglatter Politiker? Ein alter Fuchs?
Hatte er nicht bemerkt, was ich gesehen hatte? Hoffte er immer noch, die Kaiserin habe sich noch nicht für Sophie entschieden?
»Wieso, mein Lieber?« Elisabeth runzelte die Stirn.
»Kräftige Beine? Ein ausgeprägtes Kinn? Solche Frauen sind oft herrschsüchtig, so jedenfalls hat meine eigene Erfahrung mich gelehrt, Euer Hoheit.« Der Kanzler machte eine anmutige Verbeugung. Ein gedämpftes Kichern war im Hintergrund zu hören. Bestuschews Frau, die für ihre häufigen Wutanfälle bekannt war, hatte ein ausgeprägtes Kinn.
Wie ein Schauspieler, der bereits über die nächste Pointe nachdenkt, fügte er hinzu: »Eine Erfahrung, über die ich Eurer Hoheit gern bei besser passender Gelegenheit Näheres berichten will.«
Die Kaiserin wandte sich ab.
»Ich habe beschlossen, Prinzessin Sophie hierher einzuladen«, verkündete sie. »Zusammen mit ihrer Mutter. Nichts Offizielles.
Das Haus Anhalt-Zerbst hat genügend Beweise meiner Gunst erhalten, um mir seinen Dank abzustatten.«
Ich sah, wie sich die Spannung bei den Umstehenden löste. Höflinge gaben eifrig ihrer Zustimmung Ausdruck und beeilten sich zu begründen, warum sie die Wahl der Kaiserin ganz ausgezeichnet fanden.
Sie war sehr heiter gestimmt an diesem Tag. Die Stickereien an den Säumen ihres Kleids blitzten bei jeder Bewegung, und ich weiß noch, dass ich mich fragte, wer es wohl bekommen würde, denn Elisabeth trug nie ein Kleid zweimal.
Das Porträt der kleinen deutschen Prinzessin mit dem erwartungsvollen Lächeln wurde zur Seite gestellt. Die Kaiserin streckte sich auf einer Chaiselongue aus, die Lakaien hereingebracht hatten, und bat den Grafen Rasumowski zu singen. In ihren Zügen war kein Zeichen von Ungeduld zu bemerken, während er die Saiten seiner Bandura stimmte. Sie wies den Großfürsten nicht zurecht, als er den Daumen in den Mund steckte und sein Zahnfleisch betastete. Eine Woche vorher war ihm wieder einer seiner verfaulten Zähne ausgefallen.
Wenn der Kanzler Bestuschew mit der kaiserlichen Entscheidung unzufrieden war, so ließ er sich davon nichts anmerken. Ich sah, wie er sich zu Elisabeth hinunterbeugte und ihr leise etwas ins Ohr sagte. Sie schlug ihn neckisch mit dem zusammengefalteten Fächer. Er nahm ihre Hand und küsste sie. Lange schwebten seine Lippen über ihren Fingerspitzen.
Ich schaute nicht weg.
Ich war damals sechzehn, ein flinkes junges Geschöpf mit rosigen Wangen, das bereits alle Illusionen verloren hatte, eines von zahllosen namenlosen Mädchen im russischen Reich, hübsch genug, dass man ihm den Hintern tätschelte oder ihm Obszönitäten zuflüsterte, wenn es vorbeiging. Ich wusste, dass der großartig klingende Ausdruck »ein Mündel der Krone« nur eine Bettlerin bezeichnete, die jederzeit fortgejagt werden konnte.
Copyright © der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2012
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Autoren-Porträt von Eva Stachniak
Eva Stachniak, geboren im polnischen Wroc aw, lebt in Toronto. Sie hat für Radio Canada International gearbeitet und als Dozentin für Englisch und Geisteswissenschaften am Sheridan College gelehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eva Stachniak
- 2016, 7. Aufl., 530 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Knecht, Peter
- Übersetzer: Peter Knecht
- Verlag: INSEL VERLAG
- ISBN-10: 3458358951
- ISBN-13: 9783458358954
- Erscheinungsdatum: 21.10.2012
Rezension zu „Der Winterpalast “
"Eva Stachniak beschreibt atmosphärisch dicht, spannend und authentisch den Aufstieg einer unbedeutenden deutschen Prinzessin zu einer der mächtigsten Frauen ihrer Zeit, der einzigen Herrscherin, die in der Geschichtsschreibung den Beinamen 'die Große' erhielt."Rotraud Tomaske, leser-welt.de Februar 2013
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