Nelson sucht das Glück
Wie ein kleiner Hund drei einsame Menschen zu einer glücklichen Familie vereint
Nelson, das pelzige Ergebnis einer Affäre zwischen einem Beagle und einem Pudel, lebt ein zufriedenes Leben bei seiner Besitzerin, der jungen Pianistin Katey....
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Produktinformationen zu „Nelson sucht das Glück “
Wie ein kleiner Hund drei einsame Menschen zu einer glücklichen Familie vereint
Nelson, das pelzige Ergebnis einer Affäre zwischen einem Beagle und einem Pudel, lebt ein zufriedenes Leben bei seiner Besitzerin, der jungen Pianistin Katey. Doch das Glück hat ein jähes Ende, als Kateys Ehemann sie betrügt. Wo einmal ein Ort der Geborgenheit war, herrscht nun Zank und Streit. Als eines Tages die Gartentür versehentlich offen steht, flieht Nelson in die vermeintliche Freiheit - und findet nicht mehr zurück. Damit beginnt für ihn eine Odyssee, die ihn durch alle Höhen und Tiefen eines Hundelebens führt und ihm schließlich ein neues Zuhause beschert. Aber Katey hat er trotzdem nie vergessen.
Klappentext zu „Nelson sucht das Glück “
Wie ein kleiner Hund drei einsame Menschen zu einer glücklichen Familie vereintNelson, das pelzige Ergebnis einer Affäre zwischen einem Beagle und einem Pudel, lebt ein zufriedenes Leben bei seiner Besitzerin, der jungen Pianistin Katey. Doch das Glück hat ein jähes Ende, als Kateys Ehemann sie betrügt. Wo einmal ein Ort der Geborgenheit war, herrscht nun Zank und Streit. Als eines Tages die Gartentür versehentlich offen steht, flieht Nelson in die vermeintliche Freiheit und findet nicht mehr zurück. Damit beginnt für ihn eine Odyssee, die ihn durch alle Höhen und Tiefen eines Hundelebens führt und ihm schließlich ein neues Zuhause beschert. Aber Katey hat er trotzdem nie vergessen ...
Lese-Probe zu „Nelson sucht das Glück “
Nelson sucht das Glück von Alan LazarErster Teil
Die große Liebe
Das Erste, was Nelson roch, war Gras. Herrliches, saftiges, geheimnisvolles Gras. Der Geruch wehte von den Weiden rund um Mrs Andersons Bauernhof herüber, wo Nelson und seine Geschwister als wuselndes Knäuel bei ihrer Mutter lagen. Seine kleine Schnauze kräuselte sich, angeregt durch diesen starken Reiz. Im Bauch seiner Mutter, als sein Geruchssinn noch nicht so ausgeprägt gewesen war, hatte er den Geruch aus der Ferne wahrgenommen, doch als ihn jetzt, draußen in der Welt, der intensive Duft des Grases traf, war er unheimlich und berauschend. Ein Mysterium.
Der Geruch hatte viele Schichten. Später, als er älter wurde, würde Nelson lernen, die Bedeutung dieser vielen Duftschichten zu erkennen und zu unterscheiden. In ihnen steckte das Wissen über den Tag - welche anderen Tiere vorbeigekommen waren und ihre Duftmarke hinterlassen hatten, wie viel Tau es an diesem Morgen gegeben hatte, und was es mit den fernen Wiesen auf sich hatte, von denen dieser Duft des Taus gekommen war. In dem Grasduft lag das Wissen über den Regen, der zwei Tage zuvor gefallen war, und über die Ameisen und anderen Insekten, die im Gras lebten. Doch manchmal entströmte diesem Duft auch noch eine Erinnerung an die Erde, in der das Gras gewachsen war, an vergangene Sommer und längst vergessene Winter, an all die Lebewesen, die in New Hampshire, wo Nelson geboren war, gelebt hatten und gestorben waren. Darin steckte die Geschichte all der Wurzeln und der Gebeine, die seit Jahrhunderten in dieser saftigen Erde lagen.
... mehr
Nelson gehörte zu einem Wurf von sechs Mischlingen. Genauer gesagt, waren die Mischlinge nicht geplant gewesen. Mrs Anderson züchtete schon seit vielen Jahren Beagles und Pudel. Ihre Welpen brachten jeweils tausend Dollar ein und wurden in ganz Amerika verkauft. Nelsons Mutter Lola, ein sanfter, aprikosenfarbener Zwergpudel, hatte bereits mehrfach geworfen. Sein Vater King, ein bei der alljährlichen Landwirtschaftsmesse vielfach preisgekrönter und oftmals fotografierter Beagle, hätte gar nicht zu Lola ins Gehege gedurft, als sie zwei Monate vorher läufig gewesen war. Mehrfach hatte er Nougat, eine Beaglehündin, gedeckt, und Mrs Anderson liebte ihn über alles. Lola hingegen hatte eigentlich mit ihrem üblichen Deckrüden Kennedy, einem dunkelbraunen Pudel von guter Wesensart, gepaart werden sollen. Mrs Anderson konnte nicht ahnen, dass King von Lolas duftendem Hinterteil angelockt worden war, dessen Bouquet schon im vergangenen Frühjahr aus ihrem Zwinger zu ihm herübergeweht war. Als er ein winziges Loch unter dem Holzzaun bemerkte, der Lolas Zwinger umgab, hatte King wie wild mit dem Buddeln begonnen, wenn Mrs Anderson gerade nicht in der Nähe war, und sich schließlich mit Lola gepaart. Mrs Anderson hatte keinen Verdacht geschöpft, bis eines Tages Lola ihre Welpen zur Welt gebracht hat te, eine Handvoll kleiner Hunde, die anders aussahen als alle Hunde, die Mrs Anderson bis dahin gezüchtet hatte. Einen Moment lang war sie wütend gewesen, als ihr klar wurde, was King getan hatte. Und sie bedauerte es auch, als sie begriff, dass es diesmal nichts mit den Tausenden von Dollar werden würde, die sie normalerweise für einen reinrassigen Wurf von Pudeln einstrich. Doch als sie dann Nelsons ältere Schwester in die Hand nahm und den Herzschlag des kleinen Hundes spürte, schmolz sie dahin wie Butter in der Sonne, und sie wusste, dass sie diese Welpen in den ersten beiden Monaten ihres Lebens mit ebenso viel Liebe aufziehen würde, wie sie es bei reinrassigen Hunden tat.
Bei einem Wurf junger Pudel war Mrs Anderson bestenfalls auf zwei oder drei Junge gefasst, doch dieses Mal schenkte Lola sechs Welpen das Leben. Vielleicht hatte ja Kings beharrliches Liebesspiel mit Lola zu dieser Abweichung von der Regel geführt, denn der Duft der läufigen Lola war so betörend gewesen, dass King jedes Mal, wenn er dachte, mit seinen Kräften am Ende zu sein, neue Energien in seinen Lenden verspürte.
Auch Lola selbst war über die sechs Welpen überrascht, die sie trotz ihres schmalen Körperbaus zur Welt gebracht hatte. Es machte sie traurig, als sie Nummer vier reglos daliegen sah, nachdem er aus dem Geburtskanal geschlüpft war. Kaum hatte sie die kleine Hülle der Nachgeburt verspeist, die dem kleinen Rüden im Mutterleib als Schutz gedient hatte, leckte sie ihn wieder und wieder ab und versuchte, ihn ins Leben zurückzuholen. Mrs Anderson, die der Geburt zuschaute, betete darum, dass der Kleine sich regen würde, doch als es nach einer halben Stunde immer noch kein Lebenszeichen gab, hatte sie den kleinen Hund sanft von Lola weggezogen und in ein weißes Handtuch gewickelt. Später in dieser Nacht würde sie seine sterblichen Überreste verbrennen und die Asche auf dem Weideland rings um ihr Farmhaus verstreuen. Sie würde zur Mondsichel emporblicken und für den kleinen Hund beten, der die Welt außerhalb dem Leib seiner Mutter niemals kennenlernen konnte.
Lola spürte, wie eine unfassbare Traurigkeit sie überkam, als ihr kleiner Sohn ihr weggenommen wurde. Doch für Trauer blieb nicht viel Zeit, denn die Krämpfe in ihrem Leib setzten wieder ein, und kurz darauf erblickte ein weiterer Welpe das Licht der Welt. Nelson war hellbraun oder auch aprikosenfarben, mit kleinen weißen Farbtupfern, vor allem auf seinem Gesicht. Ein dunkelbrauner Ring zierte sein eines Auge, ein weißer das andere, was schon bei dem Welpen so aussah, als würde er staunend und voller Interesse in die Welt blicken. Doch zur Zeit seiner Geburt waren seine Augen fest geschlossen, und sie würden es noch die gesamte erste Woche seines Lebens bleiben.
Nelsons Nase zuckte begeistert, als der Geruch nach Gras zum allerersten Mal seine Welt erfüllte. Er spürte, wie seine Mutter ihn leckte, und dann durchdrang auch ihr Duft zum ersten Mal seine Sinne, ein reicher, tröstlicher Geruch. Mrs Anderson kam wieder ins Zimmer und tätschelte den kleinen Kerl ganz sanft am Köpfchen. So erschnupperte er zum ersten Mal ein menschliches Wesen, und auch dieser Geruch war zwar vielschichtig und verwirrend, doch auch warm und angenehm.
In den ersten Minuten seines Lebens stürmen viele Dinge auf einen kleinen Hund ein, und auf einmal packte Nelson ein geradezu überwältigender Hunger. Seine Mutter sah das Beben und Zucken, das durch die kleinen Leiber ihrer Jungen ging. Sie presste und presste, und dann kam auch ihr letzter Welpe, Nelsons kleine Schwester, zur Welt. Ganz behutsam legte Mrs Anderson die kleinen Hunde an Lolas sechs Zitzen, und sie machten es sich für ihre allererste Mahlzeit bequem.
Die erste Woche in Nelsons Leben verging wie in einem Nebel. Während die Tage vorüberzogen, erkundete seine Nase mit immer größerem Können die Gerüche der Umgebung. Dann kam wieder der Hunger. Manchmal schlief Lola gerade, wenn er auf sie zukroch und verzweifelt nach Nahrung suchte. Natürlich konnte er nicht wissen, wie erschöpft sie vom Säugen ihrer fünf am Leben gebliebenen Welpen war. Insgeheim war Mrs Anderson sehr besorgt, denn Lola war ein zartes Hundewesen. Einmal, vor vielen Jahren, hatte ein anderer Pudel in Mrs Andersons Besitz, Lolas Großmutter, vom Säugen eines großen Wurfes einen ernsten Kalziummangel erlitten und war auf dem Weg zur Tiernotfallklinik in der kleinen Stadt Nelson, New Hampshire, die ganz in der Nähe lag, gestorben. Mrs Anderson hatte die verwaisten Welpen, zu denen auch Lolas Mutter, eine wunderschöne perlweiße Pudeldame gehörte, mit der Flasche aufgezogen und ihnen alle vier Stunden zu trinken gegeben.
Oft wachte Nelson davon auf, dass ihm Lola das Bäuchlein leckte. Das liebte er, und er mochte auch den Geruch der warmen Flüssigkeit, die danach aus seinem Körper sickerte. Doch lange hielt der Duft nie an. Dann erschnupperte er Mrs Anderson ganz nah, er spürte ihre Hände an seinem Körper, und der größte Teil des Geruchs seiner Ausscheidung war wieder verschwunden. Bald bemerkte Nelson, dass bei all seinen Geschwistern eine solche Flüssigkeit aus dem Körper kam. Obwohl das ähnlich roch wie bei ihm, konnte seine kleine Nase schon bald ganz feine Unterschiede erkennen, die es ihm erlaubten, seine Geschwister auseinanderzuhalten. Wenn er an den Zitzen seiner Mutter lag, bemerkte er einen sehr ähnlichen, aber viel intensiveren Geruch, den sie verströmte. Manchmal nahm Mrs Anderson Lola für ein oder zwei Stunden mit nach draußen, und Nelson weinte still vor sich hin, bis dieser tröstliche Geruch endlich wieder bei ihm war.
Der Geruch würde immer das größte und alles andere überdeckende Element sein, das Nelsons Wahrnehmung der Welt prägte. Doch nur eine Woche nach seiner Geburt begannen sich seine Augen ganz allmählich zu öffnen, und der tröstliche graue Schemen von Mrs Andersons Gesicht schaute auf ihn herab. Nelson war der Erste aus dem Wurf, der in die Welt hinausblickte, und angesichts seiner besonderen Färbung um die Augen musste Mrs Anderson unwillkürlich lächeln, als sie den Welpen wie staunend zu sich aufblicken sah. Ihre eigenen Augen verloren zunehmend an Sehkraft, und wahrscheinlich würde sie schon bald wieder stärkere Gläser für ihre Brille brauchen, obwohl ihr Augenarzt ihr doch erst vergangenen Sommer neue verschrieben hatte. Viele Welpen waren bereits in dem kleinen Zimmer zur Welt gekommen, wo Mrs Anderson sich um Lolas und Nougats Junge kümmerte, so viele Jahre schon, seit ihr eigener Sohn nach Oregon umgezogen war. Die meisten Welpen waren süß und knuddelig, und sie liebte sie alle abgöttisch. Doch an der Art und Weise, wie Nelson an diesem Morgen zu ihr hochblickte, war etwas ganz Besonderes. Mrs Anderson wusste, dass das Sehvermögen von Hunden im Vergleich zu dem der Menschen eher begrenzt ist. Sie sahen kaum mehr als Schwarz und Weiß, waren jedoch farbenblind, wenn es um Rot oder Grün ging. Sie wusste, dass Hunden auch das dreidimensionale Sehen des Menschen fehlte, obwohl jegliche Bewegung sie in Aufregung versetzte. Doch an jenem Morgen sah Mrs Anderson in Nelsons großen Augen eine ganz besondere Neugier und Offenheit. Viele Jahre später dachte sie immer noch an ihn.
Schon bald hatten auch die übrigen Welpen aus Lolas Wurf die Augen geöffnet, und die Hundemutter wappnete sich für das, von dem sie spürte, dass es kommen würde. Die kleinen Beine der Hundekinder würden kräftiger werden, und sie würden sich rasant entwickeln und dabei immer größeren Hunger auf ihre Milch verspüren. Während der weiche Körper der Welpen bei der Geburt nur mit einem zarten Flaum bedeckt war, würde es nur noch wenige Wochen dauern, bis ihnen ein helles und leicht gelocktes Fell wuchs. Lola erinnerte sich an die lange Schlafphase, die sie bei ihrem letzten Wurf genossen hatte, nachdem alle ihre Welpen von ihr weggegangen waren, doch sie wusste auch noch, wie traurig sie damals gewesen war.
Nach einem Monat war aus Nelson und seinen Geschwistern ein wilder Haufen geworden. Nelson fand seine Familie spannend. Sie alle waren schrecklich verspielt und geradezu besessen davon, übereinanderzupurzeln und die anderen am mittlerweile dicht gewachsenen Fell zu zerren. Doch einige seiner Geschwister waren ruhiger als die anderen; manchmal waren sie vollkommen damit zufrieden, einfach nur mit ihrer Mutter oder anderen Geschwistern herumzuliegen und sich ruhig aneinanderzukuscheln und ihre Körperdüfte zu vermischen. Andere hingegen waren kaum zu bremsen; jeder von ihnen wollte der Beweglichste oder Schnellste sein und die Kontrolle über das rote Wollknäuel behalten, das Mrs Anderson manchmal in die kleine Wurfk iste rollen ließ, die sie mit ihrer Mutter teilten.
Nelsons Neugier sollte sich schon bald als der Charakterzug erweisen, der ihn von allen anderen unterschied. Mrs Anderson bemerkte, wie er ständig nach einer Möglichkeit suchte, aus der Kiste auszubüchsen, und bald fand er diese auch. Als sie eines Tages den Raum betrat, wäre sie fast auf den kleinen Welpen getreten, der hinter der Tür hockte und aufgeregt all die neuen Gerüche erschnupperte, die durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Boden hereindrangen. Sanft schalt sie ihn aus, hob ihn hoch und setzte ihn zu seiner Familie zurück. Und doch dauerte es nur ein paar Augenblicke, bis sich der Welpe mit den großen Augen wieder an der kleinen Öffnung zu schaffen machte, die er im hinteren Teil der Wurfkiste gefunden hatte, und es ihm gelang, hinauszuschlüpfen. Mrs Anderson verstopfte den Ausgang mit einem Paar alter Socken, doch die Neugier des kleinen Nelson wurde mehr und mehr von all den herrlichen Gerüchen geweckt, die ins Zimmer kamen. Von irgendeinem Ort im Haus, in dem es oft klapperte und klirrte, kamen besonders süße und fleischige Düfte, die ihn so hungrig machten, dass selbst die Milch seiner Mutter ihn nicht mehr richtig sättigen konnte.
Mrs Anderson machte es sich zur Gewohnheit, Nelson jeden Abend aus der Kiste zu holen und ihn eine Weile in ihren großen, schwieligen Händen zu halten und zu streicheln, während sie Musik hörte. Nelson liebte das und schlief oft dabei ein, erfüllt von grenzenlosem Genuss. Wenn er dann irgendwann wieder aufwachte, leckte er ihr die Finger auf die gleiche liebevolle Art, wie seine Mutter ihm das Bäuchlein leckte, was Mrs Anderson zu gefallen schien. Dass er der einzige Welpe war, dem sie diese besondere Ehre zuteilwerden ließ, war ihm nicht bewusst. Manchmal hielt Mrs Anderson Nelson ganz nah an ihr Gesicht. Zu dieser Zeit vermochte er bereits allerlei Einzelheiten zu erkennen, und so blickte er ihr aufmerksam in die blauen Augen, die ihn direkt ansahen. Wenn er ihr dann das Gesicht leckte, schmeckte er ab und zu das salzige Aroma von Tränen heraus. Später in seinem Leben würde er begreifen, was es mit der salzigen Flüssigkeit auf sich hatte, die die Menschen manchmal von sich gaben, doch in diesem Moment genoss er einfach nur den pikanten Geschmack.
Eines Morgens, als Nelson fünf Wochen alt war, setzte Mrs Anderson ihn und seine Geschwister in einen kleinen Karton. Lola sah ihr ernst dabei zu, doch sie ließ Mrs Anderson, zu der sie tiefstes Vertrauen hatte, gewähren. Mrs Anderson öffnete das Türchen der Wurfk iste und ging aus dem Zimmer, wobei sie den Karton mit den Welpen trug. Lola blieb ihr auf den Fersen.
In Mrs Andersons Haus war es ein wenig dunkel, doch der Sinfonie von Gerüchen, die auf Nelson einstürmten, als sie durch die Zimmer gingen, tat dies natürlich keinen Abbruch. Da waren die Überreste der Küchendüfte, die er schon zuvor manchmal in der Kiste erschnuppert hatte. Da war der Geruch nach Fleisch und Spiegelei und nach geschmolzener Butter. Da war das runde, glatte Aroma der Pfannkuchen, die Mrs Anderson vor ein paar Tagen gebacken hatte und der noch immer in den Ecken ihres Wohnzimmers hing. Während sie an der Küche vorbeikamen, stieg Nelson auch zum ersten Mal der Geruch von grünen Äpfeln in die Nase, der auf eine ganz andere Art spannend war.
Als sie in Mrs Andersons Garten hinaustraten, lösten all die Gerüche, die Nelson in die Nase stiegen, eine wahre Duftexplosion in seinem Kopf aus. Zuerst war da der Geruch von Gras, von endlosen Mengen Gras, und es aus der Nähe zu riechen war wesentlich intensiver als jene ferne Duftnote, die er von früher kannte. Mrs Anderson setzte jeden Einzelnen der Welpen auf ihren Rasen und ließ sie laufen. Nelsons kleine, feuchte Nase berührte zum ersten Mal Gras, und es traf ihn wie ein elektrischer Schlag, der durch seinen ganzen Körper lief. Die Welpen verteilten sich auf dem Rasen, weil jeder von einer anderen Duftspur und ihren Verzweigungen angezogen wurde. Wenn dann ab und zu ein Welpe dem Zaun zu nahe kam, der den Garten von der Weide trennte, auf der sich die Pferde und Kühe tummelten, hob Mrs Anderson ihn hoch und brachte ihn zu einer Stelle, die näher am Haus lag. Auch Lola wachte aufmerksam über ihre Kinder und bellte laut, wenn sie sich zu weit entfernten. Doch die fünf flauschigen Welpen achteten kaum auf ihre beiden Mütter. Sie gruben ihre Schnauzen in die Erde, so tief sie nur konnten, versunken in einem Zustand, der der Verzückung sehr nahekam.
Als Nelson wieder aufschaute, fiel sein Blick auf die Blumenbeete, die auf beiden Seiten den Garten begrenzten. Vorsichtig tapste er darauf zu, weil er nicht wusste, was das war. Doch als der Duft der Blumen ihm in die Nase stieg, wusste er sogleich, dass keines von diesen seltsamen Dingern ihm etwas tun konnte. Da waren rote Rosen und gelbe Rosen, Amaryllis und Narzissen, Lilien und Usambaraveilchen. Als er sie roch, verlangsamte er seine Schritte wie verzaubert, schloss die Augen und ließ sich einen Moment lang die Sonne auf das Fell scheinen. Viele Jahre später, als Nelson irgendwo in einem heruntergekommenen Viertel in einer Großstadt lebte, in dem es nur Dreck und Beton gab, würde er sich immer noch, wie aus der Ferne, an diesen Garten und an seine erste Begegnung mit Blumen erinnern, und diese Erinnerung schenkte ihm, wenigstens vorübergehend und wie durch Zauber, neue Kraft.
Mrs Anderson verschwand ein paar Minuten, und als sie zurückkehrte, war ein anderer Hund bei ihr, der etwa so groß war wie Lola. Nelson wusste nicht, dass er gleich seinen Vater kennenlernenwürde, King, den Beagle, einen Hund mit entschlossenem Schritt. Nelson spürte die Kraft und den Edelmut des Rüden. King selbst schien an jenem Morgen kein allzu großes Interesse an seiner Nachkommenschaft zu haben, beschnüffelte die Welpen kurz und lief dann davon, um ein Eichhörnchen anzubellen, das sich in die Nähe gewagt hatte. Als King in den Garten kam, hielt sich Lola nahe bei ihren Babys, ließ ihn nicht aus den Augen und knurrte. Keiner von beiden schien sich an ihr leidenschaftliches Liebesspiel von vor ein paar Monaten zu erinnern. Mrs Anderson seufzte, als King seine Jungen nicht weiter beachtete, wusste insgeheim jedoch auch, wie töricht ihre Hoffnung gewesen war, er könne sie lieb gewinnen.
Das war auch der Tag, an dem Mrs Anderson den Kleinen zum ersten Mal etwas anderes zu fressen gab als die Muttermilch. Mrs Anderson hütete Lola immer noch wie ihren Augapfel, und die Erschöpfung vom wochenlangen Säugen ihrer Jungen war deutlich zu sehen. Früher hatte die Züchterin sechs Wochen gewartet, bis sie einem Wurf festes Futter verabreichte, doch diesmal beschloss sie, ihnen bereits jetzt zum ersten Mal etwas Kuhmilch mit Brot zu geben, damit sich Lola ein wenig ausruhen und wieder zu Kräften kommen konnte.
Nelson und seine Geschwister wussten nicht, was sie mit den kleinen Schüsseln voll warmer Milch und altbackenem Brot anfangen sollten, die Mrs Anderson vor sie hinstellte.
Nelson sprang als Erstes mit großem Platschen mitten in eine der Schalen. Es war ein herrliches Gefühl. Mrs Anderson fischte ihn heraus, machte ihn sauber und setzte ihn dann behutsam vor die Schüssel, um ihm zu zeigen, wie man Milch aus dem Napf schlabbern konnte. In den folgenden Tagen würde Mrs Anderson auch Äpfel und Karotten in kleine Stückchen schneiden, und eines Tages zerhackte sie ein gekochtes Ei und gab es zur großen Freude der Welpen in die kleinen Näpfe.
Irgendwann spät in der Nacht wurde Nelson von einem Geräusch geweckt, das er noch nicht kannte. Es war Mrs Andersons Stimme. Doch während diese Stimme bisher immer nur ruhig und freundlich geklungen hatte, hörte sie sich dieses Mal schrill und laut an, obwohl sie aus einem weit entlegenen Teil des Hauses kam, was dem kleinen Hund Angst machte. Er begriff nicht, was die Ursache dieses Verhaltens war, doch als Mrs Anderson eine halbe Stunde später den Raum betrat, roch er etwas Neues an ihr: die Spuren heftiger Wut, die gerade erst verflogen war. Es war das erste Mal in seinem noch kurzen L eben, dass er den Geruch von Wut kennenlernte, und er mochte ihn gar nicht. Er würde ihn nie mögen. An Hunden würde er ihn nie wahrnehmen, und irgendwann begriff er, dass diese Regung etwas war, das den Hund vom Menschen unterschied. Auch Nelson selbst würde sein Leben lang die verschiedensten Gefühle und Emotionen empfinden, doch Wut gehört nie dazu.
Übersetzung: Judith Schwaab
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Nelson gehörte zu einem Wurf von sechs Mischlingen. Genauer gesagt, waren die Mischlinge nicht geplant gewesen. Mrs Anderson züchtete schon seit vielen Jahren Beagles und Pudel. Ihre Welpen brachten jeweils tausend Dollar ein und wurden in ganz Amerika verkauft. Nelsons Mutter Lola, ein sanfter, aprikosenfarbener Zwergpudel, hatte bereits mehrfach geworfen. Sein Vater King, ein bei der alljährlichen Landwirtschaftsmesse vielfach preisgekrönter und oftmals fotografierter Beagle, hätte gar nicht zu Lola ins Gehege gedurft, als sie zwei Monate vorher läufig gewesen war. Mehrfach hatte er Nougat, eine Beaglehündin, gedeckt, und Mrs Anderson liebte ihn über alles. Lola hingegen hatte eigentlich mit ihrem üblichen Deckrüden Kennedy, einem dunkelbraunen Pudel von guter Wesensart, gepaart werden sollen. Mrs Anderson konnte nicht ahnen, dass King von Lolas duftendem Hinterteil angelockt worden war, dessen Bouquet schon im vergangenen Frühjahr aus ihrem Zwinger zu ihm herübergeweht war. Als er ein winziges Loch unter dem Holzzaun bemerkte, der Lolas Zwinger umgab, hatte King wie wild mit dem Buddeln begonnen, wenn Mrs Anderson gerade nicht in der Nähe war, und sich schließlich mit Lola gepaart. Mrs Anderson hatte keinen Verdacht geschöpft, bis eines Tages Lola ihre Welpen zur Welt gebracht hat te, eine Handvoll kleiner Hunde, die anders aussahen als alle Hunde, die Mrs Anderson bis dahin gezüchtet hatte. Einen Moment lang war sie wütend gewesen, als ihr klar wurde, was King getan hatte. Und sie bedauerte es auch, als sie begriff, dass es diesmal nichts mit den Tausenden von Dollar werden würde, die sie normalerweise für einen reinrassigen Wurf von Pudeln einstrich. Doch als sie dann Nelsons ältere Schwester in die Hand nahm und den Herzschlag des kleinen Hundes spürte, schmolz sie dahin wie Butter in der Sonne, und sie wusste, dass sie diese Welpen in den ersten beiden Monaten ihres Lebens mit ebenso viel Liebe aufziehen würde, wie sie es bei reinrassigen Hunden tat.
Bei einem Wurf junger Pudel war Mrs Anderson bestenfalls auf zwei oder drei Junge gefasst, doch dieses Mal schenkte Lola sechs Welpen das Leben. Vielleicht hatte ja Kings beharrliches Liebesspiel mit Lola zu dieser Abweichung von der Regel geführt, denn der Duft der läufigen Lola war so betörend gewesen, dass King jedes Mal, wenn er dachte, mit seinen Kräften am Ende zu sein, neue Energien in seinen Lenden verspürte.
Auch Lola selbst war über die sechs Welpen überrascht, die sie trotz ihres schmalen Körperbaus zur Welt gebracht hatte. Es machte sie traurig, als sie Nummer vier reglos daliegen sah, nachdem er aus dem Geburtskanal geschlüpft war. Kaum hatte sie die kleine Hülle der Nachgeburt verspeist, die dem kleinen Rüden im Mutterleib als Schutz gedient hatte, leckte sie ihn wieder und wieder ab und versuchte, ihn ins Leben zurückzuholen. Mrs Anderson, die der Geburt zuschaute, betete darum, dass der Kleine sich regen würde, doch als es nach einer halben Stunde immer noch kein Lebenszeichen gab, hatte sie den kleinen Hund sanft von Lola weggezogen und in ein weißes Handtuch gewickelt. Später in dieser Nacht würde sie seine sterblichen Überreste verbrennen und die Asche auf dem Weideland rings um ihr Farmhaus verstreuen. Sie würde zur Mondsichel emporblicken und für den kleinen Hund beten, der die Welt außerhalb dem Leib seiner Mutter niemals kennenlernen konnte.
Lola spürte, wie eine unfassbare Traurigkeit sie überkam, als ihr kleiner Sohn ihr weggenommen wurde. Doch für Trauer blieb nicht viel Zeit, denn die Krämpfe in ihrem Leib setzten wieder ein, und kurz darauf erblickte ein weiterer Welpe das Licht der Welt. Nelson war hellbraun oder auch aprikosenfarben, mit kleinen weißen Farbtupfern, vor allem auf seinem Gesicht. Ein dunkelbrauner Ring zierte sein eines Auge, ein weißer das andere, was schon bei dem Welpen so aussah, als würde er staunend und voller Interesse in die Welt blicken. Doch zur Zeit seiner Geburt waren seine Augen fest geschlossen, und sie würden es noch die gesamte erste Woche seines Lebens bleiben.
Nelsons Nase zuckte begeistert, als der Geruch nach Gras zum allerersten Mal seine Welt erfüllte. Er spürte, wie seine Mutter ihn leckte, und dann durchdrang auch ihr Duft zum ersten Mal seine Sinne, ein reicher, tröstlicher Geruch. Mrs Anderson kam wieder ins Zimmer und tätschelte den kleinen Kerl ganz sanft am Köpfchen. So erschnupperte er zum ersten Mal ein menschliches Wesen, und auch dieser Geruch war zwar vielschichtig und verwirrend, doch auch warm und angenehm.
In den ersten Minuten seines Lebens stürmen viele Dinge auf einen kleinen Hund ein, und auf einmal packte Nelson ein geradezu überwältigender Hunger. Seine Mutter sah das Beben und Zucken, das durch die kleinen Leiber ihrer Jungen ging. Sie presste und presste, und dann kam auch ihr letzter Welpe, Nelsons kleine Schwester, zur Welt. Ganz behutsam legte Mrs Anderson die kleinen Hunde an Lolas sechs Zitzen, und sie machten es sich für ihre allererste Mahlzeit bequem.
Die erste Woche in Nelsons Leben verging wie in einem Nebel. Während die Tage vorüberzogen, erkundete seine Nase mit immer größerem Können die Gerüche der Umgebung. Dann kam wieder der Hunger. Manchmal schlief Lola gerade, wenn er auf sie zukroch und verzweifelt nach Nahrung suchte. Natürlich konnte er nicht wissen, wie erschöpft sie vom Säugen ihrer fünf am Leben gebliebenen Welpen war. Insgeheim war Mrs Anderson sehr besorgt, denn Lola war ein zartes Hundewesen. Einmal, vor vielen Jahren, hatte ein anderer Pudel in Mrs Andersons Besitz, Lolas Großmutter, vom Säugen eines großen Wurfes einen ernsten Kalziummangel erlitten und war auf dem Weg zur Tiernotfallklinik in der kleinen Stadt Nelson, New Hampshire, die ganz in der Nähe lag, gestorben. Mrs Anderson hatte die verwaisten Welpen, zu denen auch Lolas Mutter, eine wunderschöne perlweiße Pudeldame gehörte, mit der Flasche aufgezogen und ihnen alle vier Stunden zu trinken gegeben.
Oft wachte Nelson davon auf, dass ihm Lola das Bäuchlein leckte. Das liebte er, und er mochte auch den Geruch der warmen Flüssigkeit, die danach aus seinem Körper sickerte. Doch lange hielt der Duft nie an. Dann erschnupperte er Mrs Anderson ganz nah, er spürte ihre Hände an seinem Körper, und der größte Teil des Geruchs seiner Ausscheidung war wieder verschwunden. Bald bemerkte Nelson, dass bei all seinen Geschwistern eine solche Flüssigkeit aus dem Körper kam. Obwohl das ähnlich roch wie bei ihm, konnte seine kleine Nase schon bald ganz feine Unterschiede erkennen, die es ihm erlaubten, seine Geschwister auseinanderzuhalten. Wenn er an den Zitzen seiner Mutter lag, bemerkte er einen sehr ähnlichen, aber viel intensiveren Geruch, den sie verströmte. Manchmal nahm Mrs Anderson Lola für ein oder zwei Stunden mit nach draußen, und Nelson weinte still vor sich hin, bis dieser tröstliche Geruch endlich wieder bei ihm war.
Der Geruch würde immer das größte und alles andere überdeckende Element sein, das Nelsons Wahrnehmung der Welt prägte. Doch nur eine Woche nach seiner Geburt begannen sich seine Augen ganz allmählich zu öffnen, und der tröstliche graue Schemen von Mrs Andersons Gesicht schaute auf ihn herab. Nelson war der Erste aus dem Wurf, der in die Welt hinausblickte, und angesichts seiner besonderen Färbung um die Augen musste Mrs Anderson unwillkürlich lächeln, als sie den Welpen wie staunend zu sich aufblicken sah. Ihre eigenen Augen verloren zunehmend an Sehkraft, und wahrscheinlich würde sie schon bald wieder stärkere Gläser für ihre Brille brauchen, obwohl ihr Augenarzt ihr doch erst vergangenen Sommer neue verschrieben hatte. Viele Welpen waren bereits in dem kleinen Zimmer zur Welt gekommen, wo Mrs Anderson sich um Lolas und Nougats Junge kümmerte, so viele Jahre schon, seit ihr eigener Sohn nach Oregon umgezogen war. Die meisten Welpen waren süß und knuddelig, und sie liebte sie alle abgöttisch. Doch an der Art und Weise, wie Nelson an diesem Morgen zu ihr hochblickte, war etwas ganz Besonderes. Mrs Anderson wusste, dass das Sehvermögen von Hunden im Vergleich zu dem der Menschen eher begrenzt ist. Sie sahen kaum mehr als Schwarz und Weiß, waren jedoch farbenblind, wenn es um Rot oder Grün ging. Sie wusste, dass Hunden auch das dreidimensionale Sehen des Menschen fehlte, obwohl jegliche Bewegung sie in Aufregung versetzte. Doch an jenem Morgen sah Mrs Anderson in Nelsons großen Augen eine ganz besondere Neugier und Offenheit. Viele Jahre später dachte sie immer noch an ihn.
Schon bald hatten auch die übrigen Welpen aus Lolas Wurf die Augen geöffnet, und die Hundemutter wappnete sich für das, von dem sie spürte, dass es kommen würde. Die kleinen Beine der Hundekinder würden kräftiger werden, und sie würden sich rasant entwickeln und dabei immer größeren Hunger auf ihre Milch verspüren. Während der weiche Körper der Welpen bei der Geburt nur mit einem zarten Flaum bedeckt war, würde es nur noch wenige Wochen dauern, bis ihnen ein helles und leicht gelocktes Fell wuchs. Lola erinnerte sich an die lange Schlafphase, die sie bei ihrem letzten Wurf genossen hatte, nachdem alle ihre Welpen von ihr weggegangen waren, doch sie wusste auch noch, wie traurig sie damals gewesen war.
Nach einem Monat war aus Nelson und seinen Geschwistern ein wilder Haufen geworden. Nelson fand seine Familie spannend. Sie alle waren schrecklich verspielt und geradezu besessen davon, übereinanderzupurzeln und die anderen am mittlerweile dicht gewachsenen Fell zu zerren. Doch einige seiner Geschwister waren ruhiger als die anderen; manchmal waren sie vollkommen damit zufrieden, einfach nur mit ihrer Mutter oder anderen Geschwistern herumzuliegen und sich ruhig aneinanderzukuscheln und ihre Körperdüfte zu vermischen. Andere hingegen waren kaum zu bremsen; jeder von ihnen wollte der Beweglichste oder Schnellste sein und die Kontrolle über das rote Wollknäuel behalten, das Mrs Anderson manchmal in die kleine Wurfk iste rollen ließ, die sie mit ihrer Mutter teilten.
Nelsons Neugier sollte sich schon bald als der Charakterzug erweisen, der ihn von allen anderen unterschied. Mrs Anderson bemerkte, wie er ständig nach einer Möglichkeit suchte, aus der Kiste auszubüchsen, und bald fand er diese auch. Als sie eines Tages den Raum betrat, wäre sie fast auf den kleinen Welpen getreten, der hinter der Tür hockte und aufgeregt all die neuen Gerüche erschnupperte, die durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Boden hereindrangen. Sanft schalt sie ihn aus, hob ihn hoch und setzte ihn zu seiner Familie zurück. Und doch dauerte es nur ein paar Augenblicke, bis sich der Welpe mit den großen Augen wieder an der kleinen Öffnung zu schaffen machte, die er im hinteren Teil der Wurfkiste gefunden hatte, und es ihm gelang, hinauszuschlüpfen. Mrs Anderson verstopfte den Ausgang mit einem Paar alter Socken, doch die Neugier des kleinen Nelson wurde mehr und mehr von all den herrlichen Gerüchen geweckt, die ins Zimmer kamen. Von irgendeinem Ort im Haus, in dem es oft klapperte und klirrte, kamen besonders süße und fleischige Düfte, die ihn so hungrig machten, dass selbst die Milch seiner Mutter ihn nicht mehr richtig sättigen konnte.
Mrs Anderson machte es sich zur Gewohnheit, Nelson jeden Abend aus der Kiste zu holen und ihn eine Weile in ihren großen, schwieligen Händen zu halten und zu streicheln, während sie Musik hörte. Nelson liebte das und schlief oft dabei ein, erfüllt von grenzenlosem Genuss. Wenn er dann irgendwann wieder aufwachte, leckte er ihr die Finger auf die gleiche liebevolle Art, wie seine Mutter ihm das Bäuchlein leckte, was Mrs Anderson zu gefallen schien. Dass er der einzige Welpe war, dem sie diese besondere Ehre zuteilwerden ließ, war ihm nicht bewusst. Manchmal hielt Mrs Anderson Nelson ganz nah an ihr Gesicht. Zu dieser Zeit vermochte er bereits allerlei Einzelheiten zu erkennen, und so blickte er ihr aufmerksam in die blauen Augen, die ihn direkt ansahen. Wenn er ihr dann das Gesicht leckte, schmeckte er ab und zu das salzige Aroma von Tränen heraus. Später in seinem Leben würde er begreifen, was es mit der salzigen Flüssigkeit auf sich hatte, die die Menschen manchmal von sich gaben, doch in diesem Moment genoss er einfach nur den pikanten Geschmack.
Eines Morgens, als Nelson fünf Wochen alt war, setzte Mrs Anderson ihn und seine Geschwister in einen kleinen Karton. Lola sah ihr ernst dabei zu, doch sie ließ Mrs Anderson, zu der sie tiefstes Vertrauen hatte, gewähren. Mrs Anderson öffnete das Türchen der Wurfk iste und ging aus dem Zimmer, wobei sie den Karton mit den Welpen trug. Lola blieb ihr auf den Fersen.
In Mrs Andersons Haus war es ein wenig dunkel, doch der Sinfonie von Gerüchen, die auf Nelson einstürmten, als sie durch die Zimmer gingen, tat dies natürlich keinen Abbruch. Da waren die Überreste der Küchendüfte, die er schon zuvor manchmal in der Kiste erschnuppert hatte. Da war der Geruch nach Fleisch und Spiegelei und nach geschmolzener Butter. Da war das runde, glatte Aroma der Pfannkuchen, die Mrs Anderson vor ein paar Tagen gebacken hatte und der noch immer in den Ecken ihres Wohnzimmers hing. Während sie an der Küche vorbeikamen, stieg Nelson auch zum ersten Mal der Geruch von grünen Äpfeln in die Nase, der auf eine ganz andere Art spannend war.
Als sie in Mrs Andersons Garten hinaustraten, lösten all die Gerüche, die Nelson in die Nase stiegen, eine wahre Duftexplosion in seinem Kopf aus. Zuerst war da der Geruch von Gras, von endlosen Mengen Gras, und es aus der Nähe zu riechen war wesentlich intensiver als jene ferne Duftnote, die er von früher kannte. Mrs Anderson setzte jeden Einzelnen der Welpen auf ihren Rasen und ließ sie laufen. Nelsons kleine, feuchte Nase berührte zum ersten Mal Gras, und es traf ihn wie ein elektrischer Schlag, der durch seinen ganzen Körper lief. Die Welpen verteilten sich auf dem Rasen, weil jeder von einer anderen Duftspur und ihren Verzweigungen angezogen wurde. Wenn dann ab und zu ein Welpe dem Zaun zu nahe kam, der den Garten von der Weide trennte, auf der sich die Pferde und Kühe tummelten, hob Mrs Anderson ihn hoch und brachte ihn zu einer Stelle, die näher am Haus lag. Auch Lola wachte aufmerksam über ihre Kinder und bellte laut, wenn sie sich zu weit entfernten. Doch die fünf flauschigen Welpen achteten kaum auf ihre beiden Mütter. Sie gruben ihre Schnauzen in die Erde, so tief sie nur konnten, versunken in einem Zustand, der der Verzückung sehr nahekam.
Als Nelson wieder aufschaute, fiel sein Blick auf die Blumenbeete, die auf beiden Seiten den Garten begrenzten. Vorsichtig tapste er darauf zu, weil er nicht wusste, was das war. Doch als der Duft der Blumen ihm in die Nase stieg, wusste er sogleich, dass keines von diesen seltsamen Dingern ihm etwas tun konnte. Da waren rote Rosen und gelbe Rosen, Amaryllis und Narzissen, Lilien und Usambaraveilchen. Als er sie roch, verlangsamte er seine Schritte wie verzaubert, schloss die Augen und ließ sich einen Moment lang die Sonne auf das Fell scheinen. Viele Jahre später, als Nelson irgendwo in einem heruntergekommenen Viertel in einer Großstadt lebte, in dem es nur Dreck und Beton gab, würde er sich immer noch, wie aus der Ferne, an diesen Garten und an seine erste Begegnung mit Blumen erinnern, und diese Erinnerung schenkte ihm, wenigstens vorübergehend und wie durch Zauber, neue Kraft.
Mrs Anderson verschwand ein paar Minuten, und als sie zurückkehrte, war ein anderer Hund bei ihr, der etwa so groß war wie Lola. Nelson wusste nicht, dass er gleich seinen Vater kennenlernenwürde, King, den Beagle, einen Hund mit entschlossenem Schritt. Nelson spürte die Kraft und den Edelmut des Rüden. King selbst schien an jenem Morgen kein allzu großes Interesse an seiner Nachkommenschaft zu haben, beschnüffelte die Welpen kurz und lief dann davon, um ein Eichhörnchen anzubellen, das sich in die Nähe gewagt hatte. Als King in den Garten kam, hielt sich Lola nahe bei ihren Babys, ließ ihn nicht aus den Augen und knurrte. Keiner von beiden schien sich an ihr leidenschaftliches Liebesspiel von vor ein paar Monaten zu erinnern. Mrs Anderson seufzte, als King seine Jungen nicht weiter beachtete, wusste insgeheim jedoch auch, wie töricht ihre Hoffnung gewesen war, er könne sie lieb gewinnen.
Das war auch der Tag, an dem Mrs Anderson den Kleinen zum ersten Mal etwas anderes zu fressen gab als die Muttermilch. Mrs Anderson hütete Lola immer noch wie ihren Augapfel, und die Erschöpfung vom wochenlangen Säugen ihrer Jungen war deutlich zu sehen. Früher hatte die Züchterin sechs Wochen gewartet, bis sie einem Wurf festes Futter verabreichte, doch diesmal beschloss sie, ihnen bereits jetzt zum ersten Mal etwas Kuhmilch mit Brot zu geben, damit sich Lola ein wenig ausruhen und wieder zu Kräften kommen konnte.
Nelson und seine Geschwister wussten nicht, was sie mit den kleinen Schüsseln voll warmer Milch und altbackenem Brot anfangen sollten, die Mrs Anderson vor sie hinstellte.
Nelson sprang als Erstes mit großem Platschen mitten in eine der Schalen. Es war ein herrliches Gefühl. Mrs Anderson fischte ihn heraus, machte ihn sauber und setzte ihn dann behutsam vor die Schüssel, um ihm zu zeigen, wie man Milch aus dem Napf schlabbern konnte. In den folgenden Tagen würde Mrs Anderson auch Äpfel und Karotten in kleine Stückchen schneiden, und eines Tages zerhackte sie ein gekochtes Ei und gab es zur großen Freude der Welpen in die kleinen Näpfe.
Irgendwann spät in der Nacht wurde Nelson von einem Geräusch geweckt, das er noch nicht kannte. Es war Mrs Andersons Stimme. Doch während diese Stimme bisher immer nur ruhig und freundlich geklungen hatte, hörte sie sich dieses Mal schrill und laut an, obwohl sie aus einem weit entlegenen Teil des Hauses kam, was dem kleinen Hund Angst machte. Er begriff nicht, was die Ursache dieses Verhaltens war, doch als Mrs Anderson eine halbe Stunde später den Raum betrat, roch er etwas Neues an ihr: die Spuren heftiger Wut, die gerade erst verflogen war. Es war das erste Mal in seinem noch kurzen L eben, dass er den Geruch von Wut kennenlernte, und er mochte ihn gar nicht. Er würde ihn nie mögen. An Hunden würde er ihn nie wahrnehmen, und irgendwann begriff er, dass diese Regung etwas war, das den Hund vom Menschen unterschied. Auch Nelson selbst würde sein Leben lang die verschiedensten Gefühle und Emotionen empfinden, doch Wut gehört nie dazu.
Übersetzung: Judith Schwaab
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Alan Lazar
Judith Schwaab, geb. 1960 in Grünstadt, studierte Italienischen Philologie. Sie ist Lektorin und Übersetzerin von u.a. Debra Dean, Fernanda Eberstadt, Anthony Doerr.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alan Lazar
- 349 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Judith Schwaab
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442204038
- ISBN-13: 9783442204038
- Erscheinungsdatum: 22.10.2012
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