Des Todes liebste Beute
Ein Thriller, der unter die Haut geht
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Des Todes liebste Beute “
Ein Thriller, der unter die Haut geht
Staatsanwältin Kristen Mayhew hat einen Verehrer. Er bezeichnet sich selbst als ihren ergebenen Diener - und schickt ihr regelmäßig Fotos seiner grausam zugerichteten Opfer. Es sind alles Verbrecher, gegen die Kristen vor Gericht keine Verurteilung durchsetzen konnte. Als der selbsternannte Rächer auch den Sohn eines Mafiapaten auf seine Todesliste setzt, ist Kristen in Gefahr. Denn nun hetzt die Mafia ihre Killer auf sie. Detective Abe Reagan schwört, die schöne Staatsanwältin zu schützen.
Lese-Probe zu „Des Todes liebste Beute “
Des Todes liebste Beute von Karen RoseAus dem Amerikanischen von Kerstin Winter
Prolog
Chicago,
Montag, 29. Dezember, 19.00 Uhr
Die Sonne war untergegangen. Aber das tat sie nun einmal gelegentlich. Vielleicht hätte er aufstehen und Licht machen sollen.
Andererseits mochte er die Dunkelheit. Wenn sie Ruhe und Stille ausstrahlte. Wenn sie einen Menschen im Verborgenen ließ. Innerlich und äußerlich. Er war ein solcher Mensch. Ein verborgener Mensch. Innerlich und äußerlich. Ganz für sich allein.
Er saß am Küchentisch und musterte die glänzenden Patronen, die er gemacht hatte. Die er selbst gemacht hatte. Ganz für sich allein.
Mondlicht schien durch einen Spalt zwischen den Vorhängen und beleuchtete den kleinen schimmernden Kugelhaufen. Er nahm eine in die Hand, drehte und wendete sie und betrachtete sie von allen Seiten. Und während er sie betrachtete, stellte er sich vor, was sie anrichten würde.
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. O ja. Was er anrichten würde.
Er kniff die Augen in der Dunkelheit zusammen und hielt die Kugel direkt ins Mondlicht. Begutachtete die Markierung, die seine selbst gemachte Gussform auf der Hülse hinterlassen hatte. Zwei ineinander verschlungene Buchstaben. Die Initialen seines Vaters. Und die seines Großvaters. Das Symbol bedeutete Familie.
Familie. Er legte das Projektil behutsam auf den Tisch und betastete die Kette um seinen Hals, bis er das kleine Medaillon berührte. Das war alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Von Leah.
Das Medaillon hatte ihr gehört, ein Talisman an ihrem Armband, das bei jeder Bewegung leise klirrte. Die eingravierten Buchstaben standen für das, an was sie glaubte.
Er strich über jeden einzelnen. WWJT.
... mehr
Tja. Was würde Jesus tun?
Einen Augenblick hielt er den Atem an, dann stieß er ihn wieder aus. Wahrscheinlich nicht das, was er vorhatte.
Ohne hinzusehen, griff er nach links. Seine Finger schlossen sich um den Bilderrahmen. Er schloss die Augen, unfähig, das Foto hinter dem Glas anzusehen, riss sie jedoch wieder auf, als ein neueres Bild von ihr vor seinem geistigen Auge erschien. Es tat so weh. Er hatte geglaubt, ein Herz könne nur einmal brechen, doch jedes Mal, wenn er in die Augen sah, die für immer auf Film gebannt waren, wusste er, dass er sich geirrt hatte. Ein Herz konnte wieder und wieder und wieder brechen.
Und ein Verstand konnte wieder und wieder Bilder abspulen, die so scheußlich waren, dass der Mensch darüber wahnsinnig wurde.
Er hielt ihr Bild in dem billigen Silberrahmen in der linken Hand und verglich dessen Gewicht mit dem winzigen Medaillon in seiner rechten.
War er wahnsinnig? Und spielte es eine Rolle?
Er erinnerte sich noch lebhaft an den Moment, als der Leichenbeschauer das Tuch, das sie bedeckte, zurückgezogen hatte. Der Leichenbeschauer war der Meinung gewesen, dass man den Anblick niemandem direkt zumuten konnte, daher war die Identifizierung per Video erfolgt. Er erinnerte sich noch lebhaft an den Gesichtsausdruck des Deputys, der die Leiche zuerst sah. Mitleid. Abscheu.
Und er konnte es dem Mann nicht verdenken. Als Mitarbeiter eines Kleinstadtsheriffs entdeckte man nicht jeden Tag die Überreste einer Frau, die ihr Leben selbst beendet hatte. Und es gründlich beendet hatte. Nicht mit Tabletten oder aufgeschnittenen Handgelenken. Kein Aufschrei, kein verschleierter Ruf nach Hilfe. Nein, sie hatte ihr Ziel gekannt.
Sie hatte sich eine Kaliber .38 gegen die Schläfe gehalten und abgedrückt.
Ein humorloses Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie hatte wie ein Mann ihrem Leben ein Ende bereitet. Und so hatte auch er wie ein Mann standgehalten. Aber die Stimme, die aus seiner Kehle gekommen war, war die eines Fremden gewesen. »Ja, das ist sie. Leah.«
Der Leichenbeschauer hatte genickt, um ihm zu bedeuten, dass er es gehört hatte. Dann zog er das Tuch wieder über die Gestalt, und sie war fort.
Ja, ein Herz konnte wieder und wieder und wieder brechen.
Behutsam setzte er den Bilderrahmen wieder auf den Tisch, nahm die Patrone und strich mit dem Daumen der einen Hand über die Markierung, die sein Großvater entworfen hatte, mit dem anderen über Leahs Buchstaben. WWJT. Was würde Jesus tun?
Er wusste es nicht. Aber er wusste, was Er nicht getan hätte. Er hätte nicht zugelassen, dass ein zweimal verurteilter Vergewaltiger unbehelligt weiteren unschuldigen Frauen auflauern durfte. Er hätte nicht zugelassen, dass das Ungeheuer erneut vergewaltigte. Er hätte nicht zugelassen, dass eines der Opfer über diese entsetzliche Tat so hoffnungslos depressiv wurde, dass ihm als einziger Ausweg der Selbstmord blieb. Er hätte ganz sicher nicht zugelassen, dass das Monster der Justiz ein drittes Mal ein Schnippchen schlagen würde.
Er hatte um Weisheit gebetet und die Heilige Schrift zu Rate gezogen. Die Rache ist mein, sprach der Herr. Vor Gott muss jeder für seine Taten büßen.
Er schluckte und spürte Leahs Blick aus dem Bilderrahmen. Gottes Gerechtigkeit. Er würde einfach nur dafür sorgen, dass Er auf Erden ein bisschen weniger Arbeit hatte.
1
Chicago,
Mittwoch, 18. Februar, 14.00 Uhr
Kristen, Sie haben Besuch.« Owen Madden deutete durch die Scheibe hinaus auf die Straße. Draußen stand ein Mann im dicken Wintermantel und neigte fragend den Kopf.
Kristen Mayhew nickte ihm knapp zu, und er betrat das Restaurant, in dem sie Zuflucht vor der protestierenden Menge im Gerichtssaal und den drängenden Fragen der Presse gesucht hatte. Sie starrte in ihre Suppe, als sich ihr Chef, Executive Assistent State's Attorney John Alden, neben ihr an der Theke niederließ. »Kaffee, bitte«, sagte er, und Owen brachte ihm das Gewünschte.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«, fragte sie ruhig.
»Lois hat mir gesagt, dass Sie zum Lunch praktisch immer hierher kommen.«
Und zum Frühstück und zum Abendessen auch, dachte Kristen. Wenn die Mahlzeit nicht aus der Mikrowelle kam, dann von Owen's. Johns Sekretärin kannte ihre Gewohnheiten gut.
»Der Lokalsender hat sein laufendes Programm für das Urteil und die Reaktionen darauf unterbrochen«, sagte John. »Trotzdem, Kristen - Kompliment. Sie haben sich gut gegen die Meute behauptet. Sogar gegen diese Richardson.«
Kristen nagte verärgert an der Innenseite ihrer Wange, als sie daran dachte, wie die platinblonde Journalistin ihr das Mikrofon ins Gesicht geschoben hatte. Sie hätte ihr das Ding am liebsten in den ... »Sie wollte wissen, ob diese Niederlage ›personelle Konsequenzen für die Staats anwaltschaft‹ haben würde.«
»Kristen, Sie wissen, dass davon keine Rede sein kann. Sie sind gut. Sie haben die höchste Verurteilungsrate in unserer Dienststelle.« Er schauderte. »Verdammt, ist mir kalt. Kommen Sie, erzählen Sie, was da drin passiert ist.«
Kristen zog sich die Nadeln aus dem Knoten, der ihre Locken straff nach hinten zog. Die strenge Frisur gehörte zur offiziellen Person der ASA - Assistent State's Attorney - Mayhew, bescherte Kristen aber rasende Kopfschmerzen. In den Haarnadeln steckte genug unterdrückte Energie, um downtown Chicago ein Jahr lang mit Strom zu versorgen. Ihr Haar fiel befreit auf ihre Schultern herab, und sie wusste, dass sie nun große Ähnlichkeit mit Little Orphan Annie hatte. Mit grünen statt leeren Kulleraugen. Und ohne Hund und Daddy Warbucks, der auf sie aufpasste. Kristen war allein.
Müde massierte sie sich die Schläfen. »Es kam zu keiner Einigung. Elf schuldig, einer unschuldig. Geschworener Nummer drei. Mit Bausch und Bogen gekauft vom vermögenden Industriellen Jacob Conti.« Sie sprach den letzten Satzteil in einem verächtlichen Singsang, um zu verdeutlichen, was sie von der Beschreibung der Presse von Angelo Contis Vater hielt. Dass der Mann das System korrumpiert hatte und die trauernde Familie auf diese Art um die Genugtuung der Gerechtigkeit gebracht hatte, stand leider außer Frage.
Johns Augen verdunkelten sich. »Sind Sie sicher?«
Sie dachte daran, wie der Mann auf dem Stuhl Nummer drei ihren Blick gemieden hatte, als die Geschworenen nach vier Tagen Beratung in den Saal zurückgekommen waren. Wie die anderen elf sich verächtlich von ihm abgewandt hatten. »Sicher bin ich sicher. Er ist jung, hat eine ebenso junge Familie und viele offene Rechnungen. Ein lohnendes Ziel für einen Mann wie Jacob Conti. Wir wussten, dass er alles tun würde, um seinen Sohn freizukriegen. Aber kann ich beweisen, dass der Geschworene Nummer drei Geld angenommen hat, um das Schwurgericht aufzumischen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, kann ich nicht.«
John ballte die Fäuste auf der Theke. »Also haben wir im Grunde nichts in der Hand.«
Kristen zuckte die Achseln. Die Erschöpfung begann sich bemerkbar zu machen. Eine schlaflose Nacht zu viel vor dem Höhepunkt eines wichtigen Prozesses. Und sie wusste, dass sie auch heute keine süßen Träume haben würde. Sobald sie die Augen geschlossen hatte, würde sie garantiert den gequälten Aufschrei von Paula Garcias jungem Ehemann hören, der zusammengebrochen war, als die Geschworenen das Urteil verkündet hatten. Jacob Contis Sohn war ein freier Mann. Zumindest so lange, bis sie ihn erneut vor Gericht stellen konnten. »Ich werde jemanden darauf ansetzen, die Finanzen vom Geschworenen Nummer drei zu überprüfen. Früher oder später wird er seine Rechnungen mit dem Geld bezahlen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Und bis dahin?«
»Kümmere ich mich um den nächsten Prozess. Angelo Conti wird nach Hause zurückkehren und weitersaufen. Thomas Garcia wird allein in seiner Wohnung sitzen und die leere Wiege anstarren.«
John seufzte. »Sie haben Ihr Bestes gegeben, Kristen. Manchmal geht nicht mehr. Sicher wäre es besser gewesen, wenn ...«
»Sicher wäre es besser gewesen, wenn er und nicht Paula Garcia das Auto gegen den Baum gesetzt hätte«, sagte Kristen bitter. »Und wenn er nicht so besoffen gewesen wäre, dass er Paula aus dem Autowrack gezerrt und sie mit dem Wagenheber zu Tode geprügelt hätte, damit sie ihren Mund hält.« Sie zitterte jetzt, sowohl aus Müdigkeit als auch aus Trauer über den Tod der jungen Frau und des Ungeborenen, das mit ihr gestorben war. »Sicher wäre es besser gewesen, wenn Jacob Conti seinem Sohn so etwas wie Moral und Verantwortung beigebracht hätte, anstatt ihn mit seinem Geld vor Gefängnisstrafen zu bewahren. «
»Und wenn Jacob Conti ihm Moral und Verantwortung beigebracht hätte, bevor er ihm die Schlüssel zu einem Hunderttausend-Dollar-Sportwagen gab. Gehen Sie nach Hause, Kristen. Sie sehen grausig aus.«
Ihr Lachen war aufgesetzt. »Sie wissen jedenfalls, wie man Komplimente macht.«
Alden lächelte nicht. »Ich meine es ernst. Sie sehen aus, als ob Sie gleich umfallen. Aber ich brauche Sie morgen wieder hier.«
Sie schaute zu ihm auf und verzog das Gesicht. »Schleimer. «
Jetzt musste er doch grinsen. Doch schnell wurde er wieder ernst. »Ich will Conti, Kristen. Er hat unser System korrumpiert und die Geschworenen bestochen. Ich will, dass er dafür bezahlt.«
Kristen rutschte vom Hocker, stellte sich auf die Füße und strich ihr Kostüm glatt. Dann begegnete sie Johns Blick. »Das will ich auch.«
Mittwoch, 18. Februar, 18.45 Uhr
Abe Reagan war sich der vielen neugierigen Blicke bewusst, als er durch das Labyrinth der Tische ging und nach Lieutenant Marc Spinelli suchte. Sein neuer Chef.
Die Tür war nur angelehnt, und als er nur noch drei Schritte davon entfernt war, hörte er Stimmen von innen. »Wieso er?«, fragte eine Frau barsch. »Wieso nicht Wellinski oder Murphy? Verdammt, Marc, ich will einen Partner, dem ich trauen kann, nicht irgendeinen Neuen, von dem niemand etwas weiß.«
Abe wartete auf Spinellis Antwort. Er zweifelte nicht daran, dass diese Frau seine neue Partnerin Mia Mitchell war, und da er von ihrem Verlust gehört hatte, konnte er ihr ihre feindliche Haltung nicht einmal übel nehmen.
»Sie wollen überhaupt keinen neuen Partner«, kam die ruhige Antwort, und Abe vermutete, dass das der Wahrheit entsprach. »Aber Sie werden trotzdem einen kriegen«, fuhr Spinelli fort. »Und da ich, wenn ich mich recht entsinne, immer noch Ihr Vorgesetzter bin, suche ich aus, wer dieser Partner ist.«
»Aber er hat es noch nie mit Mord zu tun gehabt. Ich brauche jemanden mit Erfahrung.«
»Er hat Erfahrung, Mia.« Spinellis Stimme klang besänftigend, ohne herablassend zu sein. Das gefiel Abe. »Die letzten fünf Jahre war er undercover in der Drogenszene.«
Fünf Jahre. Er war, ein Jahr nachdem Debra angeschossen worden war, in die Szene gegangen, weil er gehofft hatte, dass das zusätzliche Risiko den Schmerz, seine Frau an lebenserhaltenden Geräten dahinvegetieren zu sehen, verdrängen würde. Doch das war nicht geschehen. Vor einem Jahr dann war sie gestorben, und er war undercover geblieben, weil er gehofft hatte, dass das Risiko nun den Schmerz, sie endgültig verloren zu haben, verdrängen würde. Und dieses Mal hatte es funktioniert.
Mitchell schwieg, und Abe hob die Hand, um zu klopfen, als Spinellis Stimme erneut ertönte. Diesmal lag ein Hauch eines Vorwurfs darin. »Haben Sie in die Akte, die ich Ihnen gegeben habe, überhaupt mal reingesehen?«
Ein kurzes Zögern. »Ich hatte keine Zeit«, antwortete Mitchell defensiv. »Ich musste zusehen, dass Cindy und die Kinder Essen auf den Tisch kriegen.«
Cindy durfte Mrs. Ray Rawlston sein, die Witwe von Mias ehemaligem Partner, der bei einer Schießerei getötet worden war. Mia selbst hatte, wie Abe wusste, als Andenken an den Hinterhalt eine Narbe am Brustkorb, wo die Kugel nur knapp lebenswichtige Organe verpasst hatte. Es hatte den Anschein, als sei Mia Mitchell eine Polizistin mit einem Schutzengel. Und es hatte auch den Anschein, als wüsste Abe weit mehr über Mitchell als sie über ihn. Da er keine Lust mehr zu lauschen hatte, hob er endlich die Hand und klopfte.
»Herein.« Spinelli saß an seinem Tisch, und Mitchell lehnte an der Wand. Die Arme waren trotzig vor der Brust verschränkt, der Blick verärgert und misstrauisch. Mia Mitchell war knapp über eins sechzig groß und muskulös. Laut ihrer Akte war sie nie verheiratet gewesen und einunddreißig Jahre alt. Ihr Gesicht wirkte weit jünger, doch ihre Augen ... ihre Augen hatten schon zu viel gesehen. Sie hätte durchaus im Büro ihres Chefs sein können, weil sie sich die Uhr abholen wollte, die man bekam, wenn man in den Ruhestand ging. Abe ahnte, wie sie sich fühlte.
Spinelli stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Abe. Schön, Sie wiederzusehen.«
Abe erwiderte Spinellis Gruß und wandte sich wieder seiner neuen Partnerin zu. Ihr Blick begegnete seinem, obwohl sie dazu den Kopf in den Nacken legen musste. Noch immer lehnte sie an der Wand und starrte ihn an, ohne zu blinzeln. »Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Abe. »Sie sind Mitchell.« Sie nickte kühl. »Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war das der Name, der auf meinem Spind stand.«
Tja, jedenfalls wird das keine langweilige Zusammenarbeit, dachte er. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Abe Reagan.«
Sie nahm seine Hand kurz, ließ sie aber sofort wieder los, als sei ihr der Körperkontakt unangenehm. »Darauf wäre ich auch selbst gekommen.« Sie bedachte ihn mit einem feindseligen Blick. »Warum sind Sie weg vom Drogendezernat? «
»Mia!«
Abe schüttelte den Kopf. »Schon okay. Ich kann ihr durchaus die Reader's-Digest-Version meines Lebenslaufs geben. Ich weiß ja, dass sie zu beschäftigt war, um meine Akte zu lesen.« Mitchells Augen verengten sich, aber sie schwieg. »Wir haben eine verdeckte Operation beendet, die fünf Jahre gedauert hat. Wir haben die bösen Buben geschnappt und Heroin im Wert von fünf Millionen einkassiert, aber meine Deckung ist dabei aufgeflogen.« Er zuckte die Achseln. »Also musste ich mir ein anderes Aufgabenfeld suchen.«
Sie hatte ihn unverwandt angestarrt. Auch jetzt wandte sie den Blick nicht ab. »Okay. Wann fangen Sie an?«
»Heute«, antwortete Spinelli. »Haben Sie im Drogendezernat alles erledigt, Abe?«
»Beinahe. Ich muss noch ein paar Dinge mit dem Staatsanwalt klären, und das habe ich vor, sobald wir hier fertig sind.« Sein Grinsen war ein wenig sehnsüchtig. »Ich war so lange undercover, dass es mir bestimmt nicht leicht fällt, wie ein ganz normaler Detective durch den Haupteingang eines öffentlichen Gebäudes zu marschieren.« Er wurde wieder ernst. »Bekomme ich einen Schreibtisch?«
Mitchell senkte den Blick, doch Abe hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen. Sie schluckte. »Klar. Ich muss ihn noch aufräumen, aber -«
»Schon gut«, unterbrach Abe. »Das kann ich machen.«
Mitchell schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein. Ich mache das. Klären Sie Ihre Dinge mit dem Staatsanwalt. Der Tisch ist bereit, wenn Sie zurückkommen.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür.
»Mia ...«, sagte Spinelli.
Sie wirbelte herum und starrte ihren Boss wütend an. »Ich sagte, ich mache es, Marc.« Sie atmete schwer, als sie versuchte, die Fassung zu bewahren.
»Ist es Ihnen gelungen, Mitchell?«, fragte Abe leise.
Sie hob rasch den Blick und sah ihn an. »Ist mir was gelungen? «
»Haben Rays Frau und Kinder etwas zu essen auf dem Tisch?«
Sie stieß schaudernd den Atem aus. »Ja. Haben sie.«
»Gut.« Abe sah, dass er bei seiner neuen Partnerin einen Punkt gemacht hatte. Ihr Nicken war abgehackt, aber sie hatte sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie die Tür nicht hinter sich zuwarf. Dennoch klapperten die Jalousien beträchtlich.
Spinelli holte tief Luft. »Sie ist noch nicht darüber hinweg. Ray hat sie angelernt.« Spinelli zuckte die Achseln, aber Abe spürte, dass auch er noch trauerte. »Außerdem war er ihr Freund.«
»Und Ihrer.«
Spinelli brachte ein Lächeln zustande, bevor er sich wieder in seinem Stuhl zurücksinken ließ. »Und meiner. Mia ist eine gute Polizistin.« Sein Blick wurde scharf, und Abe hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, dass Spinelli ihm direkt in die Seele blickte. »Ich denke, Sie beide sind gut füreinander.«
Abe sah zuerst weg. Er klimperte mit den Autoschlüsseln. »Ich muss jetzt eben rüber zum Staatsanwalt.« Er war schon an der Tür angelangt, als Spinelli ihn zurückhielt.
»Abe, ich habe Ihre Akte gelesen. Sie haben Glück ge habt, dass Sie diese letzte Ermittlung lebend überstanden haben. «
Abe zuckte die Achseln. Das schien sein Schicksal zu sein. Glück zu haben. Immer wieder. Wenn sie nur wüssten ... »Tja, wie mir scheint, haben Mitchell und ich doch ein paar Gemeinsamkeiten.«
Spinellis Kiefer spannten sich an. »Mia hat versucht, ihren Partner zu decken. Sie aber haben den Ruf, ein paar Risiken zu viel einzugehen.« Spinelli musterte ihn mit ernstem Blick. »Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie Ihre Todessehnsucht draußen. Ich möchte nicht noch einmal zu Besuch auf einem Begräbnis sein. Weder von Ihrem noch von Mias.«
Leichter gesagt als getan. Aber da Abe wusste, was von ihm erwartet wurde, nickte er steif. »Ja, Sir.«
2
Mittwoch, 18. Februar, 20.00 Uhr
Kristen drückte wütend auf den Fahrstuhlknopf. Schon wieder verließ sie das Büro so spät. »Jetzt schwing deinen Hintern bloß nach Hause«, murmelte sie. John hatte gesagt, er wolle, dass sie morgen frisch und ausgeschlafen war, aber er hatte mit ihr auch noch einmal »rasch einen Fall durchgehen« müssen. Und so hatte, genau wie jeden Abend, eins zum anderen geführt. Und genau wie jeden Abend verließ sie das Büro, nachdem alle anderen schon fort waren - John eingeschlossen. Sie verdrehte die Augen, als sie sah, dass zwei Glühbirnen in dem Flur, der ihre Büros mit den Aufzügen zum Parkhaus verband, durchgebrannt waren. Sie holte ihr Diktiergerät aus der Tasche.
»Notiz an den Hausmeister«, murmelte sie ins Mikrofon. »Zwei kaputte Glühbirnen am Fahrstuhleingang.« Lois würde diese Notiz mitsamt den anderen zwanzig, die sie in den letzten drei Stunden aufgenommen hatte, hoffentlich tippen und weiterleiten. Lois weigerte sich nie ... sofern es jemandem gelang, ihre Aufmerksamkeit auf die eigenen Anliegen zu richten. Alle Staatsanwälte hatten ein riesiges Kontingent an Fällen zu bearbeiten, und jede Bitte, die von der Special Investigation Unit kam, bedeutete eine Frage auf Leben und Tod. Leider Gottes hatten Kristens Fälle meistens mit dem Tod zu tun. Was den größten Teil ihres Lebens auffraß. Nicht dass sie ein groß artiges Leben hatte. Sie seufzte. Hier stand sie vor dem Fahrstuhl zum Parkhaus, wie üblich allein und wie üblich beinahe zu erschöpft, um sich groß daran zu stören.
Sie ließ den Kopf nach vorn sinken und dehnte die Muskeln, die von den Stunden, die sie über den Akten gebrütet hatte, verspannt und hart geworden waren. Plötzlich jedoch richteten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Etwas an dem muffigen Geruch im Flur hatte sich verändert. Erschöpft ja, aber nicht allein. Jemand anderes war hier. Instinkt, Training und die nur allzu vertrauten Erinnerungen, die augenblicklich in ihr Bewusstsein strömten, ließen sie nach dem Pfefferspray in ihrer Tasche tasten, während ihr Puls zu jagen begann und ihr Verstand verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern, wo der nächste Notausgang war. Dann holte sie tief Luft und wirbelte herum, die Spraydose fest in der erhobenen Hand. Sie würde fortlaufen, ja, aber wenn es sein musste, würde sie sich auch verteidigen.
Sie hatte nur einen Sekundenbruchteil, um den Anblick des Riesen zu verarbeiten, der mit verschränkten Armen hinter ihr stand und die Anzeige über der Aufzugtür beobachtete. Im nächsten Moment packte er ihr Handgelenk, und sein Blick bohrte sich in sie.
Blaue Augen, hell wie eine Gasflamme, aber kalt wie Eis. Er hielt ihren Blick fest. Sie schauderte, konnte aber nicht wegsehen. Irgendetwas an den Augen kam ihr vertraut vor, doch der Mann selbst war ein Fremder. Er schien den ganzen Flur auszufüllen, und seine breiten Schultern schirmten das spärliche Licht ab, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Sie suchte in ihrer Erinnerungen nach einem Hinweis darauf, wo sie ihn zuvor gesehen haben mochte; sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemanden von seiner Größe und Präsenz vergessen hätte.
Selbst im Zwielicht wirkte sein Gesicht hart und kantig, die Züge geprägt von innerer Trostlosigkeit. Sein Kinn war kräftig, der Zug um den Mund kompromisslos. Kristen hatte jeden Tag mit Menschen zu tun, die viel Leid durchgemacht hatten, und sie wusste instinktiv, dass dieser Mann ebenfalls solche Erfahrungen durchlebt hatte.
Es dauerte eine weitere Sekunde, bis sie merkte, dass er genauso heftig atmete wie sie. Mit einem gemurmelten Fluch riss er ihr die Spraydose aus der Hand, und der Bann war gebrochen. Er ließ ihr Handgelenk los, und sie rieb es sich automatisch, während ihr Herzschlag sich zu normalisieren begann. Er war nicht brutal gewesen, nur bestimmt. Dennoch würde sie morgen die Druckstellen sehen können, und das obwohl der dicke Wintermantel dazwischen gewesen war.
»Haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank?«, fragte er. Seine Stimme war ein tiefes Grollen.
Sofort ging ihr Temperament mit ihr durch. »Das sollte ich Sie fragen! Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, dass man sich in dunklen Fluren nicht an Frauen anschleicht? Ich hätte Sie verletzen können!«
Eine dunkle Augenbraue hob sich amüsiert. »Wenn Sie das ernsthaft glauben, dann haben Sie wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wenn ich über Sie hätte herfallen wollen, dann hätten Sie nichts, aber auch rein gar nichts tun können, um mich daran zu hindern.«
Kristen spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, als seine Worte in ihr Bewusstsein drangen und die Diashow ihrer Erinnerungen ganz von vorn einsetzte. Er hatte Recht. Sie hätte nichts tun können. Sie wäre ihm ausgeliefert gewesen.
Seine Augen verengten sich. »Jetzt fallen Sie mir bloß nicht in Ohnmacht, Lady.«
Ihr hitziges Temperament kochte erneut hoch und rettete sie. Sie straffte die Schultern. »Ich falle nie in Ohnmacht.« Das zumindest entsprach der Wahrheit. Sie hielt ihm die Hand entgegen. »Mein Pfefferspray, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Er grunzte. »Es macht mir etwas aus.« Aber er gab es ihr trotzdem zurück. »Ich meine es ernst, Lady. Dieses Spray hätte mich nur wütender gemacht. Insbesondere, da Sie vermutlich nicht richtig getroffen hätten. Und was, wenn ich es gegen Sie verwendet hätte?«
Kristen runzelte die Stirn. Das Wissen, dass er schon wieder Recht hatte, ärgerte sie enorm. »Was soll eine Frau denn Ihrer Meinung nach tun?«, fuhr sie ihn an. »Bloß dastehen und ein braves Opfer sein?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Er zuckte die Achseln. »Gehen Sie doch zu einem Selbstverteidigungskurs.«
»Das habe ich bereits getan.« Der Fahrstuhl kündigte sich mit einem trockenen Pling an, und beide wandten die Köpfe zur Wand, gespannt, welche der Türen sich öffnen würde. Der linke Aufzug ging auf, und der Mann bedeutete ihr mit übertrieben großer Geste einzutreten.
Sie musterte ihn abschätzend. Sie hatte Tausende von Stunden in Gegenwart von Verbrechern verbracht, die jede vorstellbare Schandtat begangen hatten, und sie erkannte jetzt, dass dieser Mann keine Gefahr für sie darstellte. Dennoch war Kristen Mayhew eine vorsichtige Frau. »Ich nehme den nächsten.«
Seine blauen Augen blitzten auf. Sein Kiefer verspannte sich, und ein Muskel zuckte. Sie hatte ihn beleidigt. Nein, wie ihr das Leid tat! »Ich tue Ihnen nichts«, sagte er und schob sich vor die Lichtschranke, als die Türen sich zu schließen begannen. Er lehnte sich gegen den Rahmen, und sie hatte plötzlich den Eindruck, dass er genau so müde war wie sie. »Kommen Sie schon. Ich habe keine Lust, die ganze Nacht hier zu stehen, und allein lassen werde ich Sie auch nicht.«
Voller Unbehagen blickte sie den leeren Korridor hinab. Sie hatte ebenfalls keine Lust, hier länger als nötig zu verweilen. Also trat sie in den Fahrstuhl. Wütend stellte sie fest, dass zehn Jahre und fünfmal so viele Therapiebücher es nicht geschafft hatten, ihr die Angst vor dunklen Fluren zu nehmen. »Aber hören Sie auf, mich Lady zu nennen«, fauchte sie.
Er trat zu ihr in den Aufzug, und die Türen glitten zu. »Was war das Erste, das man Ihnen in Ihrem Selbstverteidigungskurs beigebracht hat, Ma'am?«
Sein herablassender Tonfall brachte sie zum Kochen. »Dass man sich seiner Umgebung immer voll bewusst sein sollte.«
Er zog mit arroganter Miene eine Braue hoch, und Kristen platzte erneut der Kragen. »Das war ich! Ich habe gewusst, dass Sie da waren, oder etwa nicht? Obwohl Sie sich angeschlichen haben.« Das hatte er wirklich. Als er hinter ihr gewesen war, hatte sie ihn gespürt. Und er hatte kein einziges Geräusch gemacht, als er sich genähert hatte.
Er schnaubte. »Ich stand zwei volle Minuten lang hinter Ihnen.«
Kristen verengte die Augen zu Schlitzen. »Das stimmt nicht.«
Er lehnte sich gegen die Aufzugwand und verschränkte die Arme vor der Brust. »›Notiz an den Hausmeister‹«, wiederholte er. »Und mein persönlicher Favorit: ›Jetzt schwing deinen Hintern bloß nach Hause.‹«
Kristens Wangen wurden heiß. »Warum fahren wir denn nicht?«, fauchte sie, verdrehte dann jedoch die Augen. Keiner von beiden hatte auf einen Knopf gedrückt. Sie hämmerte auf den Schalter für die zweite Parkebene, und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
Er nickte zufrieden. »Und jetzt weiß ich auch noch, wo Sie Ihren Wagen geparkt haben.«
Er hatte Recht. Schon wieder. Sie hatte alles außer Acht gelassen, was sie zum Thema Selbstschutz gelernt hatte. Sie rieb sich ihre pochenden Schläfen. »Okay, ich habe mich wie eine dumme Kuh verhalten, und Sie sind mein Retter. Zufrieden, Sir?«
Seine Mundwinkel verzogen sich aufwärts, und der Anblick raubte ihr den Atem. Ein simples Lächeln, und sein Gesicht wirkte plötzlich nicht mehr verzweifelt, sondern ... verheerend. Auf ihren Gemütszustand. Ihr armes, geschundenes Herz setzte einen Schlag aus, während ihr Verstand gleichzeitig über diese Regung staunte. Sie reagierte nicht auf Männer, jedenfalls nicht auf diese Art. Es war nicht so, dass sie Männer nicht mochte oder nicht beachtete oder nicht dann und wann heimlich bewunderte, wenn ihr ein appetitliches Exemplar über den Weg lief. Und er war ganz entschieden ein appetitliches Exemplar. Groß, breitschultrig. Das gute Aussehen eines Filmstars. Natürlich reagierte sie auf ihn. Schließlich war sie auch nur ein Mensch. Wenn auch einer mit leicht angeknackster Seele. Die Erinnerung an ein einzelnes Wort durchdrang ihr Bewusstsein. Nein, von leicht angeknackst konnte keine Rede sein.
»Nein, Ma'am«, sagte er. »Ich hatte wirklich nicht vor, mich anzuschleichen und Sie zu erschrecken. Sie waren nur so versunken in Ihr Selbstgespräch, dass ich Sie nicht unterbrechen wollte.«
Wieder wurde sie rot. »Reden Sie nie mit sich selbst?«
Sein Lächeln verschwand, und der Ausdruck der Trostlosigkeit kehrte in seine Augen zurück. Plötzlich hatte Kristen ein schlechtes Gewissen, dass sie gefragt hatte. »Manchmal schon«, murmelte er.
Der Aufzug machte erneut Pling, und die Türen glitten auf. Sie befanden sich in der finsteren Garage, in der es nach Abgasen und Altöl roch. Dieses Mal war seine »Nach- Ihnen«-Geste weit zurückhaltender, und Kristen wusste nicht, wie sie das Gespräch beenden sollte.
»Hören Sie, es tut mir Leid, dass ich Sie beinahe mit Pfeffer besprüht hätte. Ich gebe es zu - ich hätte wirklich besser aufpassen müssen.«
Er musterte sie einen Moment lang. »Sie sind müde. Man neigt dazu, unaufmerksam zu werden, wenn man müde ist.«
Sie lächelte reumütig. »So deutlich sieht man es mir an?«
Er nickte. »Ja. Und jetzt bringe ich Sie zu Ihrem Wagen. Nur zu meiner eigenen Beruhigung.«
Kristen verengte die Augen. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich dachte schon, Sie würden nie danach fragen. Ganz schön vertrauensselig, mit fremden Männern in leeren Fahrstühlen zu plaudern. Machen Sie das immer so?«
Nein, das tat sie definitiv nicht. Und sie hatte allen Grund dazu, es nicht zu tun. »Normalerweise sprühe ich erst Pfeffer und stelle die Fragen später«, fauchte sie.
Er lächelte wieder, diesmal jedoch ein wenig traurig. »Dann habe ich wohl doppeltes Glück gehabt. Ich bin Abe Reagan. «
Kristen krauste die Stirn. »Ich kenne Sie.« Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich hätte mich an Sie erinnert. «
»Wieso?«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Tja. Was würde Jesus tun?
Einen Augenblick hielt er den Atem an, dann stieß er ihn wieder aus. Wahrscheinlich nicht das, was er vorhatte.
Ohne hinzusehen, griff er nach links. Seine Finger schlossen sich um den Bilderrahmen. Er schloss die Augen, unfähig, das Foto hinter dem Glas anzusehen, riss sie jedoch wieder auf, als ein neueres Bild von ihr vor seinem geistigen Auge erschien. Es tat so weh. Er hatte geglaubt, ein Herz könne nur einmal brechen, doch jedes Mal, wenn er in die Augen sah, die für immer auf Film gebannt waren, wusste er, dass er sich geirrt hatte. Ein Herz konnte wieder und wieder und wieder brechen.
Und ein Verstand konnte wieder und wieder Bilder abspulen, die so scheußlich waren, dass der Mensch darüber wahnsinnig wurde.
Er hielt ihr Bild in dem billigen Silberrahmen in der linken Hand und verglich dessen Gewicht mit dem winzigen Medaillon in seiner rechten.
War er wahnsinnig? Und spielte es eine Rolle?
Er erinnerte sich noch lebhaft an den Moment, als der Leichenbeschauer das Tuch, das sie bedeckte, zurückgezogen hatte. Der Leichenbeschauer war der Meinung gewesen, dass man den Anblick niemandem direkt zumuten konnte, daher war die Identifizierung per Video erfolgt. Er erinnerte sich noch lebhaft an den Gesichtsausdruck des Deputys, der die Leiche zuerst sah. Mitleid. Abscheu.
Und er konnte es dem Mann nicht verdenken. Als Mitarbeiter eines Kleinstadtsheriffs entdeckte man nicht jeden Tag die Überreste einer Frau, die ihr Leben selbst beendet hatte. Und es gründlich beendet hatte. Nicht mit Tabletten oder aufgeschnittenen Handgelenken. Kein Aufschrei, kein verschleierter Ruf nach Hilfe. Nein, sie hatte ihr Ziel gekannt.
Sie hatte sich eine Kaliber .38 gegen die Schläfe gehalten und abgedrückt.
Ein humorloses Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie hatte wie ein Mann ihrem Leben ein Ende bereitet. Und so hatte auch er wie ein Mann standgehalten. Aber die Stimme, die aus seiner Kehle gekommen war, war die eines Fremden gewesen. »Ja, das ist sie. Leah.«
Der Leichenbeschauer hatte genickt, um ihm zu bedeuten, dass er es gehört hatte. Dann zog er das Tuch wieder über die Gestalt, und sie war fort.
Ja, ein Herz konnte wieder und wieder und wieder brechen.
Behutsam setzte er den Bilderrahmen wieder auf den Tisch, nahm die Patrone und strich mit dem Daumen der einen Hand über die Markierung, die sein Großvater entworfen hatte, mit dem anderen über Leahs Buchstaben. WWJT. Was würde Jesus tun?
Er wusste es nicht. Aber er wusste, was Er nicht getan hätte. Er hätte nicht zugelassen, dass ein zweimal verurteilter Vergewaltiger unbehelligt weiteren unschuldigen Frauen auflauern durfte. Er hätte nicht zugelassen, dass das Ungeheuer erneut vergewaltigte. Er hätte nicht zugelassen, dass eines der Opfer über diese entsetzliche Tat so hoffnungslos depressiv wurde, dass ihm als einziger Ausweg der Selbstmord blieb. Er hätte ganz sicher nicht zugelassen, dass das Monster der Justiz ein drittes Mal ein Schnippchen schlagen würde.
Er hatte um Weisheit gebetet und die Heilige Schrift zu Rate gezogen. Die Rache ist mein, sprach der Herr. Vor Gott muss jeder für seine Taten büßen.
Er schluckte und spürte Leahs Blick aus dem Bilderrahmen. Gottes Gerechtigkeit. Er würde einfach nur dafür sorgen, dass Er auf Erden ein bisschen weniger Arbeit hatte.
1
Chicago,
Mittwoch, 18. Februar, 14.00 Uhr
Kristen, Sie haben Besuch.« Owen Madden deutete durch die Scheibe hinaus auf die Straße. Draußen stand ein Mann im dicken Wintermantel und neigte fragend den Kopf.
Kristen Mayhew nickte ihm knapp zu, und er betrat das Restaurant, in dem sie Zuflucht vor der protestierenden Menge im Gerichtssaal und den drängenden Fragen der Presse gesucht hatte. Sie starrte in ihre Suppe, als sich ihr Chef, Executive Assistent State's Attorney John Alden, neben ihr an der Theke niederließ. »Kaffee, bitte«, sagte er, und Owen brachte ihm das Gewünschte.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«, fragte sie ruhig.
»Lois hat mir gesagt, dass Sie zum Lunch praktisch immer hierher kommen.«
Und zum Frühstück und zum Abendessen auch, dachte Kristen. Wenn die Mahlzeit nicht aus der Mikrowelle kam, dann von Owen's. Johns Sekretärin kannte ihre Gewohnheiten gut.
»Der Lokalsender hat sein laufendes Programm für das Urteil und die Reaktionen darauf unterbrochen«, sagte John. »Trotzdem, Kristen - Kompliment. Sie haben sich gut gegen die Meute behauptet. Sogar gegen diese Richardson.«
Kristen nagte verärgert an der Innenseite ihrer Wange, als sie daran dachte, wie die platinblonde Journalistin ihr das Mikrofon ins Gesicht geschoben hatte. Sie hätte ihr das Ding am liebsten in den ... »Sie wollte wissen, ob diese Niederlage ›personelle Konsequenzen für die Staats anwaltschaft‹ haben würde.«
»Kristen, Sie wissen, dass davon keine Rede sein kann. Sie sind gut. Sie haben die höchste Verurteilungsrate in unserer Dienststelle.« Er schauderte. »Verdammt, ist mir kalt. Kommen Sie, erzählen Sie, was da drin passiert ist.«
Kristen zog sich die Nadeln aus dem Knoten, der ihre Locken straff nach hinten zog. Die strenge Frisur gehörte zur offiziellen Person der ASA - Assistent State's Attorney - Mayhew, bescherte Kristen aber rasende Kopfschmerzen. In den Haarnadeln steckte genug unterdrückte Energie, um downtown Chicago ein Jahr lang mit Strom zu versorgen. Ihr Haar fiel befreit auf ihre Schultern herab, und sie wusste, dass sie nun große Ähnlichkeit mit Little Orphan Annie hatte. Mit grünen statt leeren Kulleraugen. Und ohne Hund und Daddy Warbucks, der auf sie aufpasste. Kristen war allein.
Müde massierte sie sich die Schläfen. »Es kam zu keiner Einigung. Elf schuldig, einer unschuldig. Geschworener Nummer drei. Mit Bausch und Bogen gekauft vom vermögenden Industriellen Jacob Conti.« Sie sprach den letzten Satzteil in einem verächtlichen Singsang, um zu verdeutlichen, was sie von der Beschreibung der Presse von Angelo Contis Vater hielt. Dass der Mann das System korrumpiert hatte und die trauernde Familie auf diese Art um die Genugtuung der Gerechtigkeit gebracht hatte, stand leider außer Frage.
Johns Augen verdunkelten sich. »Sind Sie sicher?«
Sie dachte daran, wie der Mann auf dem Stuhl Nummer drei ihren Blick gemieden hatte, als die Geschworenen nach vier Tagen Beratung in den Saal zurückgekommen waren. Wie die anderen elf sich verächtlich von ihm abgewandt hatten. »Sicher bin ich sicher. Er ist jung, hat eine ebenso junge Familie und viele offene Rechnungen. Ein lohnendes Ziel für einen Mann wie Jacob Conti. Wir wussten, dass er alles tun würde, um seinen Sohn freizukriegen. Aber kann ich beweisen, dass der Geschworene Nummer drei Geld angenommen hat, um das Schwurgericht aufzumischen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, kann ich nicht.«
John ballte die Fäuste auf der Theke. »Also haben wir im Grunde nichts in der Hand.«
Kristen zuckte die Achseln. Die Erschöpfung begann sich bemerkbar zu machen. Eine schlaflose Nacht zu viel vor dem Höhepunkt eines wichtigen Prozesses. Und sie wusste, dass sie auch heute keine süßen Träume haben würde. Sobald sie die Augen geschlossen hatte, würde sie garantiert den gequälten Aufschrei von Paula Garcias jungem Ehemann hören, der zusammengebrochen war, als die Geschworenen das Urteil verkündet hatten. Jacob Contis Sohn war ein freier Mann. Zumindest so lange, bis sie ihn erneut vor Gericht stellen konnten. »Ich werde jemanden darauf ansetzen, die Finanzen vom Geschworenen Nummer drei zu überprüfen. Früher oder später wird er seine Rechnungen mit dem Geld bezahlen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Und bis dahin?«
»Kümmere ich mich um den nächsten Prozess. Angelo Conti wird nach Hause zurückkehren und weitersaufen. Thomas Garcia wird allein in seiner Wohnung sitzen und die leere Wiege anstarren.«
John seufzte. »Sie haben Ihr Bestes gegeben, Kristen. Manchmal geht nicht mehr. Sicher wäre es besser gewesen, wenn ...«
»Sicher wäre es besser gewesen, wenn er und nicht Paula Garcia das Auto gegen den Baum gesetzt hätte«, sagte Kristen bitter. »Und wenn er nicht so besoffen gewesen wäre, dass er Paula aus dem Autowrack gezerrt und sie mit dem Wagenheber zu Tode geprügelt hätte, damit sie ihren Mund hält.« Sie zitterte jetzt, sowohl aus Müdigkeit als auch aus Trauer über den Tod der jungen Frau und des Ungeborenen, das mit ihr gestorben war. »Sicher wäre es besser gewesen, wenn Jacob Conti seinem Sohn so etwas wie Moral und Verantwortung beigebracht hätte, anstatt ihn mit seinem Geld vor Gefängnisstrafen zu bewahren. «
»Und wenn Jacob Conti ihm Moral und Verantwortung beigebracht hätte, bevor er ihm die Schlüssel zu einem Hunderttausend-Dollar-Sportwagen gab. Gehen Sie nach Hause, Kristen. Sie sehen grausig aus.«
Ihr Lachen war aufgesetzt. »Sie wissen jedenfalls, wie man Komplimente macht.«
Alden lächelte nicht. »Ich meine es ernst. Sie sehen aus, als ob Sie gleich umfallen. Aber ich brauche Sie morgen wieder hier.«
Sie schaute zu ihm auf und verzog das Gesicht. »Schleimer. «
Jetzt musste er doch grinsen. Doch schnell wurde er wieder ernst. »Ich will Conti, Kristen. Er hat unser System korrumpiert und die Geschworenen bestochen. Ich will, dass er dafür bezahlt.«
Kristen rutschte vom Hocker, stellte sich auf die Füße und strich ihr Kostüm glatt. Dann begegnete sie Johns Blick. »Das will ich auch.«
Mittwoch, 18. Februar, 18.45 Uhr
Abe Reagan war sich der vielen neugierigen Blicke bewusst, als er durch das Labyrinth der Tische ging und nach Lieutenant Marc Spinelli suchte. Sein neuer Chef.
Die Tür war nur angelehnt, und als er nur noch drei Schritte davon entfernt war, hörte er Stimmen von innen. »Wieso er?«, fragte eine Frau barsch. »Wieso nicht Wellinski oder Murphy? Verdammt, Marc, ich will einen Partner, dem ich trauen kann, nicht irgendeinen Neuen, von dem niemand etwas weiß.«
Abe wartete auf Spinellis Antwort. Er zweifelte nicht daran, dass diese Frau seine neue Partnerin Mia Mitchell war, und da er von ihrem Verlust gehört hatte, konnte er ihr ihre feindliche Haltung nicht einmal übel nehmen.
»Sie wollen überhaupt keinen neuen Partner«, kam die ruhige Antwort, und Abe vermutete, dass das der Wahrheit entsprach. »Aber Sie werden trotzdem einen kriegen«, fuhr Spinelli fort. »Und da ich, wenn ich mich recht entsinne, immer noch Ihr Vorgesetzter bin, suche ich aus, wer dieser Partner ist.«
»Aber er hat es noch nie mit Mord zu tun gehabt. Ich brauche jemanden mit Erfahrung.«
»Er hat Erfahrung, Mia.« Spinellis Stimme klang besänftigend, ohne herablassend zu sein. Das gefiel Abe. »Die letzten fünf Jahre war er undercover in der Drogenszene.«
Fünf Jahre. Er war, ein Jahr nachdem Debra angeschossen worden war, in die Szene gegangen, weil er gehofft hatte, dass das zusätzliche Risiko den Schmerz, seine Frau an lebenserhaltenden Geräten dahinvegetieren zu sehen, verdrängen würde. Doch das war nicht geschehen. Vor einem Jahr dann war sie gestorben, und er war undercover geblieben, weil er gehofft hatte, dass das Risiko nun den Schmerz, sie endgültig verloren zu haben, verdrängen würde. Und dieses Mal hatte es funktioniert.
Mitchell schwieg, und Abe hob die Hand, um zu klopfen, als Spinellis Stimme erneut ertönte. Diesmal lag ein Hauch eines Vorwurfs darin. »Haben Sie in die Akte, die ich Ihnen gegeben habe, überhaupt mal reingesehen?«
Ein kurzes Zögern. »Ich hatte keine Zeit«, antwortete Mitchell defensiv. »Ich musste zusehen, dass Cindy und die Kinder Essen auf den Tisch kriegen.«
Cindy durfte Mrs. Ray Rawlston sein, die Witwe von Mias ehemaligem Partner, der bei einer Schießerei getötet worden war. Mia selbst hatte, wie Abe wusste, als Andenken an den Hinterhalt eine Narbe am Brustkorb, wo die Kugel nur knapp lebenswichtige Organe verpasst hatte. Es hatte den Anschein, als sei Mia Mitchell eine Polizistin mit einem Schutzengel. Und es hatte auch den Anschein, als wüsste Abe weit mehr über Mitchell als sie über ihn. Da er keine Lust mehr zu lauschen hatte, hob er endlich die Hand und klopfte.
»Herein.« Spinelli saß an seinem Tisch, und Mitchell lehnte an der Wand. Die Arme waren trotzig vor der Brust verschränkt, der Blick verärgert und misstrauisch. Mia Mitchell war knapp über eins sechzig groß und muskulös. Laut ihrer Akte war sie nie verheiratet gewesen und einunddreißig Jahre alt. Ihr Gesicht wirkte weit jünger, doch ihre Augen ... ihre Augen hatten schon zu viel gesehen. Sie hätte durchaus im Büro ihres Chefs sein können, weil sie sich die Uhr abholen wollte, die man bekam, wenn man in den Ruhestand ging. Abe ahnte, wie sie sich fühlte.
Spinelli stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Abe. Schön, Sie wiederzusehen.«
Abe erwiderte Spinellis Gruß und wandte sich wieder seiner neuen Partnerin zu. Ihr Blick begegnete seinem, obwohl sie dazu den Kopf in den Nacken legen musste. Noch immer lehnte sie an der Wand und starrte ihn an, ohne zu blinzeln. »Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Abe. »Sie sind Mitchell.« Sie nickte kühl. »Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war das der Name, der auf meinem Spind stand.«
Tja, jedenfalls wird das keine langweilige Zusammenarbeit, dachte er. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Abe Reagan.«
Sie nahm seine Hand kurz, ließ sie aber sofort wieder los, als sei ihr der Körperkontakt unangenehm. »Darauf wäre ich auch selbst gekommen.« Sie bedachte ihn mit einem feindseligen Blick. »Warum sind Sie weg vom Drogendezernat? «
»Mia!«
Abe schüttelte den Kopf. »Schon okay. Ich kann ihr durchaus die Reader's-Digest-Version meines Lebenslaufs geben. Ich weiß ja, dass sie zu beschäftigt war, um meine Akte zu lesen.« Mitchells Augen verengten sich, aber sie schwieg. »Wir haben eine verdeckte Operation beendet, die fünf Jahre gedauert hat. Wir haben die bösen Buben geschnappt und Heroin im Wert von fünf Millionen einkassiert, aber meine Deckung ist dabei aufgeflogen.« Er zuckte die Achseln. »Also musste ich mir ein anderes Aufgabenfeld suchen.«
Sie hatte ihn unverwandt angestarrt. Auch jetzt wandte sie den Blick nicht ab. »Okay. Wann fangen Sie an?«
»Heute«, antwortete Spinelli. »Haben Sie im Drogendezernat alles erledigt, Abe?«
»Beinahe. Ich muss noch ein paar Dinge mit dem Staatsanwalt klären, und das habe ich vor, sobald wir hier fertig sind.« Sein Grinsen war ein wenig sehnsüchtig. »Ich war so lange undercover, dass es mir bestimmt nicht leicht fällt, wie ein ganz normaler Detective durch den Haupteingang eines öffentlichen Gebäudes zu marschieren.« Er wurde wieder ernst. »Bekomme ich einen Schreibtisch?«
Mitchell senkte den Blick, doch Abe hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen. Sie schluckte. »Klar. Ich muss ihn noch aufräumen, aber -«
»Schon gut«, unterbrach Abe. »Das kann ich machen.«
Mitchell schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein. Ich mache das. Klären Sie Ihre Dinge mit dem Staatsanwalt. Der Tisch ist bereit, wenn Sie zurückkommen.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür.
»Mia ...«, sagte Spinelli.
Sie wirbelte herum und starrte ihren Boss wütend an. »Ich sagte, ich mache es, Marc.« Sie atmete schwer, als sie versuchte, die Fassung zu bewahren.
»Ist es Ihnen gelungen, Mitchell?«, fragte Abe leise.
Sie hob rasch den Blick und sah ihn an. »Ist mir was gelungen? «
»Haben Rays Frau und Kinder etwas zu essen auf dem Tisch?«
Sie stieß schaudernd den Atem aus. »Ja. Haben sie.«
»Gut.« Abe sah, dass er bei seiner neuen Partnerin einen Punkt gemacht hatte. Ihr Nicken war abgehackt, aber sie hatte sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie die Tür nicht hinter sich zuwarf. Dennoch klapperten die Jalousien beträchtlich.
Spinelli holte tief Luft. »Sie ist noch nicht darüber hinweg. Ray hat sie angelernt.« Spinelli zuckte die Achseln, aber Abe spürte, dass auch er noch trauerte. »Außerdem war er ihr Freund.«
»Und Ihrer.«
Spinelli brachte ein Lächeln zustande, bevor er sich wieder in seinem Stuhl zurücksinken ließ. »Und meiner. Mia ist eine gute Polizistin.« Sein Blick wurde scharf, und Abe hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, dass Spinelli ihm direkt in die Seele blickte. »Ich denke, Sie beide sind gut füreinander.«
Abe sah zuerst weg. Er klimperte mit den Autoschlüsseln. »Ich muss jetzt eben rüber zum Staatsanwalt.« Er war schon an der Tür angelangt, als Spinelli ihn zurückhielt.
»Abe, ich habe Ihre Akte gelesen. Sie haben Glück ge habt, dass Sie diese letzte Ermittlung lebend überstanden haben. «
Abe zuckte die Achseln. Das schien sein Schicksal zu sein. Glück zu haben. Immer wieder. Wenn sie nur wüssten ... »Tja, wie mir scheint, haben Mitchell und ich doch ein paar Gemeinsamkeiten.«
Spinellis Kiefer spannten sich an. »Mia hat versucht, ihren Partner zu decken. Sie aber haben den Ruf, ein paar Risiken zu viel einzugehen.« Spinelli musterte ihn mit ernstem Blick. »Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie Ihre Todessehnsucht draußen. Ich möchte nicht noch einmal zu Besuch auf einem Begräbnis sein. Weder von Ihrem noch von Mias.«
Leichter gesagt als getan. Aber da Abe wusste, was von ihm erwartet wurde, nickte er steif. »Ja, Sir.«
2
Mittwoch, 18. Februar, 20.00 Uhr
Kristen drückte wütend auf den Fahrstuhlknopf. Schon wieder verließ sie das Büro so spät. »Jetzt schwing deinen Hintern bloß nach Hause«, murmelte sie. John hatte gesagt, er wolle, dass sie morgen frisch und ausgeschlafen war, aber er hatte mit ihr auch noch einmal »rasch einen Fall durchgehen« müssen. Und so hatte, genau wie jeden Abend, eins zum anderen geführt. Und genau wie jeden Abend verließ sie das Büro, nachdem alle anderen schon fort waren - John eingeschlossen. Sie verdrehte die Augen, als sie sah, dass zwei Glühbirnen in dem Flur, der ihre Büros mit den Aufzügen zum Parkhaus verband, durchgebrannt waren. Sie holte ihr Diktiergerät aus der Tasche.
»Notiz an den Hausmeister«, murmelte sie ins Mikrofon. »Zwei kaputte Glühbirnen am Fahrstuhleingang.« Lois würde diese Notiz mitsamt den anderen zwanzig, die sie in den letzten drei Stunden aufgenommen hatte, hoffentlich tippen und weiterleiten. Lois weigerte sich nie ... sofern es jemandem gelang, ihre Aufmerksamkeit auf die eigenen Anliegen zu richten. Alle Staatsanwälte hatten ein riesiges Kontingent an Fällen zu bearbeiten, und jede Bitte, die von der Special Investigation Unit kam, bedeutete eine Frage auf Leben und Tod. Leider Gottes hatten Kristens Fälle meistens mit dem Tod zu tun. Was den größten Teil ihres Lebens auffraß. Nicht dass sie ein groß artiges Leben hatte. Sie seufzte. Hier stand sie vor dem Fahrstuhl zum Parkhaus, wie üblich allein und wie üblich beinahe zu erschöpft, um sich groß daran zu stören.
Sie ließ den Kopf nach vorn sinken und dehnte die Muskeln, die von den Stunden, die sie über den Akten gebrütet hatte, verspannt und hart geworden waren. Plötzlich jedoch richteten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Etwas an dem muffigen Geruch im Flur hatte sich verändert. Erschöpft ja, aber nicht allein. Jemand anderes war hier. Instinkt, Training und die nur allzu vertrauten Erinnerungen, die augenblicklich in ihr Bewusstsein strömten, ließen sie nach dem Pfefferspray in ihrer Tasche tasten, während ihr Puls zu jagen begann und ihr Verstand verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern, wo der nächste Notausgang war. Dann holte sie tief Luft und wirbelte herum, die Spraydose fest in der erhobenen Hand. Sie würde fortlaufen, ja, aber wenn es sein musste, würde sie sich auch verteidigen.
Sie hatte nur einen Sekundenbruchteil, um den Anblick des Riesen zu verarbeiten, der mit verschränkten Armen hinter ihr stand und die Anzeige über der Aufzugtür beobachtete. Im nächsten Moment packte er ihr Handgelenk, und sein Blick bohrte sich in sie.
Blaue Augen, hell wie eine Gasflamme, aber kalt wie Eis. Er hielt ihren Blick fest. Sie schauderte, konnte aber nicht wegsehen. Irgendetwas an den Augen kam ihr vertraut vor, doch der Mann selbst war ein Fremder. Er schien den ganzen Flur auszufüllen, und seine breiten Schultern schirmten das spärliche Licht ab, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Sie suchte in ihrer Erinnerungen nach einem Hinweis darauf, wo sie ihn zuvor gesehen haben mochte; sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemanden von seiner Größe und Präsenz vergessen hätte.
Selbst im Zwielicht wirkte sein Gesicht hart und kantig, die Züge geprägt von innerer Trostlosigkeit. Sein Kinn war kräftig, der Zug um den Mund kompromisslos. Kristen hatte jeden Tag mit Menschen zu tun, die viel Leid durchgemacht hatten, und sie wusste instinktiv, dass dieser Mann ebenfalls solche Erfahrungen durchlebt hatte.
Es dauerte eine weitere Sekunde, bis sie merkte, dass er genauso heftig atmete wie sie. Mit einem gemurmelten Fluch riss er ihr die Spraydose aus der Hand, und der Bann war gebrochen. Er ließ ihr Handgelenk los, und sie rieb es sich automatisch, während ihr Herzschlag sich zu normalisieren begann. Er war nicht brutal gewesen, nur bestimmt. Dennoch würde sie morgen die Druckstellen sehen können, und das obwohl der dicke Wintermantel dazwischen gewesen war.
»Haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank?«, fragte er. Seine Stimme war ein tiefes Grollen.
Sofort ging ihr Temperament mit ihr durch. »Das sollte ich Sie fragen! Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, dass man sich in dunklen Fluren nicht an Frauen anschleicht? Ich hätte Sie verletzen können!«
Eine dunkle Augenbraue hob sich amüsiert. »Wenn Sie das ernsthaft glauben, dann haben Sie wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wenn ich über Sie hätte herfallen wollen, dann hätten Sie nichts, aber auch rein gar nichts tun können, um mich daran zu hindern.«
Kristen spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, als seine Worte in ihr Bewusstsein drangen und die Diashow ihrer Erinnerungen ganz von vorn einsetzte. Er hatte Recht. Sie hätte nichts tun können. Sie wäre ihm ausgeliefert gewesen.
Seine Augen verengten sich. »Jetzt fallen Sie mir bloß nicht in Ohnmacht, Lady.«
Ihr hitziges Temperament kochte erneut hoch und rettete sie. Sie straffte die Schultern. »Ich falle nie in Ohnmacht.« Das zumindest entsprach der Wahrheit. Sie hielt ihm die Hand entgegen. »Mein Pfefferspray, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Er grunzte. »Es macht mir etwas aus.« Aber er gab es ihr trotzdem zurück. »Ich meine es ernst, Lady. Dieses Spray hätte mich nur wütender gemacht. Insbesondere, da Sie vermutlich nicht richtig getroffen hätten. Und was, wenn ich es gegen Sie verwendet hätte?«
Kristen runzelte die Stirn. Das Wissen, dass er schon wieder Recht hatte, ärgerte sie enorm. »Was soll eine Frau denn Ihrer Meinung nach tun?«, fuhr sie ihn an. »Bloß dastehen und ein braves Opfer sein?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Er zuckte die Achseln. »Gehen Sie doch zu einem Selbstverteidigungskurs.«
»Das habe ich bereits getan.« Der Fahrstuhl kündigte sich mit einem trockenen Pling an, und beide wandten die Köpfe zur Wand, gespannt, welche der Türen sich öffnen würde. Der linke Aufzug ging auf, und der Mann bedeutete ihr mit übertrieben großer Geste einzutreten.
Sie musterte ihn abschätzend. Sie hatte Tausende von Stunden in Gegenwart von Verbrechern verbracht, die jede vorstellbare Schandtat begangen hatten, und sie erkannte jetzt, dass dieser Mann keine Gefahr für sie darstellte. Dennoch war Kristen Mayhew eine vorsichtige Frau. »Ich nehme den nächsten.«
Seine blauen Augen blitzten auf. Sein Kiefer verspannte sich, und ein Muskel zuckte. Sie hatte ihn beleidigt. Nein, wie ihr das Leid tat! »Ich tue Ihnen nichts«, sagte er und schob sich vor die Lichtschranke, als die Türen sich zu schließen begannen. Er lehnte sich gegen den Rahmen, und sie hatte plötzlich den Eindruck, dass er genau so müde war wie sie. »Kommen Sie schon. Ich habe keine Lust, die ganze Nacht hier zu stehen, und allein lassen werde ich Sie auch nicht.«
Voller Unbehagen blickte sie den leeren Korridor hinab. Sie hatte ebenfalls keine Lust, hier länger als nötig zu verweilen. Also trat sie in den Fahrstuhl. Wütend stellte sie fest, dass zehn Jahre und fünfmal so viele Therapiebücher es nicht geschafft hatten, ihr die Angst vor dunklen Fluren zu nehmen. »Aber hören Sie auf, mich Lady zu nennen«, fauchte sie.
Er trat zu ihr in den Aufzug, und die Türen glitten zu. »Was war das Erste, das man Ihnen in Ihrem Selbstverteidigungskurs beigebracht hat, Ma'am?«
Sein herablassender Tonfall brachte sie zum Kochen. »Dass man sich seiner Umgebung immer voll bewusst sein sollte.«
Er zog mit arroganter Miene eine Braue hoch, und Kristen platzte erneut der Kragen. »Das war ich! Ich habe gewusst, dass Sie da waren, oder etwa nicht? Obwohl Sie sich angeschlichen haben.« Das hatte er wirklich. Als er hinter ihr gewesen war, hatte sie ihn gespürt. Und er hatte kein einziges Geräusch gemacht, als er sich genähert hatte.
Er schnaubte. »Ich stand zwei volle Minuten lang hinter Ihnen.«
Kristen verengte die Augen zu Schlitzen. »Das stimmt nicht.«
Er lehnte sich gegen die Aufzugwand und verschränkte die Arme vor der Brust. »›Notiz an den Hausmeister‹«, wiederholte er. »Und mein persönlicher Favorit: ›Jetzt schwing deinen Hintern bloß nach Hause.‹«
Kristens Wangen wurden heiß. »Warum fahren wir denn nicht?«, fauchte sie, verdrehte dann jedoch die Augen. Keiner von beiden hatte auf einen Knopf gedrückt. Sie hämmerte auf den Schalter für die zweite Parkebene, und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
Er nickte zufrieden. »Und jetzt weiß ich auch noch, wo Sie Ihren Wagen geparkt haben.«
Er hatte Recht. Schon wieder. Sie hatte alles außer Acht gelassen, was sie zum Thema Selbstschutz gelernt hatte. Sie rieb sich ihre pochenden Schläfen. »Okay, ich habe mich wie eine dumme Kuh verhalten, und Sie sind mein Retter. Zufrieden, Sir?«
Seine Mundwinkel verzogen sich aufwärts, und der Anblick raubte ihr den Atem. Ein simples Lächeln, und sein Gesicht wirkte plötzlich nicht mehr verzweifelt, sondern ... verheerend. Auf ihren Gemütszustand. Ihr armes, geschundenes Herz setzte einen Schlag aus, während ihr Verstand gleichzeitig über diese Regung staunte. Sie reagierte nicht auf Männer, jedenfalls nicht auf diese Art. Es war nicht so, dass sie Männer nicht mochte oder nicht beachtete oder nicht dann und wann heimlich bewunderte, wenn ihr ein appetitliches Exemplar über den Weg lief. Und er war ganz entschieden ein appetitliches Exemplar. Groß, breitschultrig. Das gute Aussehen eines Filmstars. Natürlich reagierte sie auf ihn. Schließlich war sie auch nur ein Mensch. Wenn auch einer mit leicht angeknackster Seele. Die Erinnerung an ein einzelnes Wort durchdrang ihr Bewusstsein. Nein, von leicht angeknackst konnte keine Rede sein.
»Nein, Ma'am«, sagte er. »Ich hatte wirklich nicht vor, mich anzuschleichen und Sie zu erschrecken. Sie waren nur so versunken in Ihr Selbstgespräch, dass ich Sie nicht unterbrechen wollte.«
Wieder wurde sie rot. »Reden Sie nie mit sich selbst?«
Sein Lächeln verschwand, und der Ausdruck der Trostlosigkeit kehrte in seine Augen zurück. Plötzlich hatte Kristen ein schlechtes Gewissen, dass sie gefragt hatte. »Manchmal schon«, murmelte er.
Der Aufzug machte erneut Pling, und die Türen glitten auf. Sie befanden sich in der finsteren Garage, in der es nach Abgasen und Altöl roch. Dieses Mal war seine »Nach- Ihnen«-Geste weit zurückhaltender, und Kristen wusste nicht, wie sie das Gespräch beenden sollte.
»Hören Sie, es tut mir Leid, dass ich Sie beinahe mit Pfeffer besprüht hätte. Ich gebe es zu - ich hätte wirklich besser aufpassen müssen.«
Er musterte sie einen Moment lang. »Sie sind müde. Man neigt dazu, unaufmerksam zu werden, wenn man müde ist.«
Sie lächelte reumütig. »So deutlich sieht man es mir an?«
Er nickte. »Ja. Und jetzt bringe ich Sie zu Ihrem Wagen. Nur zu meiner eigenen Beruhigung.«
Kristen verengte die Augen. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich dachte schon, Sie würden nie danach fragen. Ganz schön vertrauensselig, mit fremden Männern in leeren Fahrstühlen zu plaudern. Machen Sie das immer so?«
Nein, das tat sie definitiv nicht. Und sie hatte allen Grund dazu, es nicht zu tun. »Normalerweise sprühe ich erst Pfeffer und stelle die Fragen später«, fauchte sie.
Er lächelte wieder, diesmal jedoch ein wenig traurig. »Dann habe ich wohl doppeltes Glück gehabt. Ich bin Abe Reagan. «
Kristen krauste die Stirn. »Ich kenne Sie.« Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich hätte mich an Sie erinnert. «
»Wieso?«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
... weniger
Autoren-Porträt von Karen Rose
Karen Rose studierte an der Universität von Maryland, Washington D.C.. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte, internationale Topseller, die in viele verschiedene Sprachen übersetzt worden sind. Auch in Deutschland standen Todesschrei und Todesbräute monatelang unter den Top 20 auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Wenn Karen Rose nicht gerade Thriller schreibt oder auf Weltreise ist, lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Florida. Mehr Infos über Karen Rose und ihre Romane unter: www.karenrosebooks.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Karen Rose
- 2013, 1, 608 Seiten, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863652274
- ISBN-13: 9783863652272
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