Eine Handvoll Leben
Meine Kindheit im Gulag
Winter 1944: Von russischen Soldaten wird die kleine Monika in einen Kindergulag verschleppt. Karges Essen, ein Schlafplatz zwischen Ratten und völlige Verwahrlosung als das Mädchen nach Jahren befreit wird, ist ein normales Leben...
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Produktinformationen zu „Eine Handvoll Leben “
Winter 1944: Von russischen Soldaten wird die kleine Monika in einen Kindergulag verschleppt. Karges Essen, ein Schlafplatz zwischen Ratten und völlige Verwahrlosung als das Mädchen nach Jahren befreit wird, ist ein normales Leben nicht möglich. Nur langsam wird aus Monika wieder ein Mensch.
Klappentext zu „Eine Handvoll Leben “
Im Winter 1944 wird die kleine Monika von russischen Soldaten verschleppt. Zusammen mit anderen Kindern wird sie in einem abgelegenen Gulag völlig sich selbst überlassen. Durch ständigen Hunger, beißende Kälte und fehlende Fürsorge verwahrlost sie immer mehr. Als das Mädchen nach Jahren befreit wird, bleibt ihr ein normales Leben versagt. In einer Pflegefamilie versucht man der traumatisierten Monika mit Strenge und Gewalt beizukommen, doch sie sehnt sich nach Geborgenheit und hofft noch immer auf ein Wiedersehen mit ihrer Mutter.
Lese-Probe zu „Eine Handvoll Leben “
Eine Handvoll Leben von Monika DahlhoffDie Erinnerungen kommen wie die Wellen des Meeres
Am Strand entlang spazieren wir Hand in Hand durch den warmen Sand bis zu unserem Lieblingsrestaurant mit Blick zum Jachthafen Puerto Banús. Die frühe Abendsonne taucht die Küste in ein hellgelbes Licht; wir freuen uns schon darauf, gleich in dem Lokal einzukehren und bei einem Glas Vino tinto den Sonnenuntergang zu beobachten, während wir uns eine Paella schmecken lassen.
... mehr
Klaus und ich verbringen den dritten Winter in Marbella an der Costa del Sol. Es ist Anfang Dezember und zu Hause regnet es aus einem grau verhangenen Himmel, wie mir Aylin, meine Tochter aus zweiter Ehe, heute am Telefon erzählte. Während ich beim Gehen die Muscheln im Sand betrachte - zum Sammeln habe ich in den nächsten Wochen noch genügend Zeit -, sehe ich Aylin vor mir, ihr braunes Haar, das hübsche schmale Gesicht, die dunklen Augen. Darüber die Brauen, zornig zusammengezogen. »Du bist so egozentrisch. Nie hast du Zeit für mich, wenn es mal wichtig ist!« Aylin ahnt nicht, wie hart ihre Worte mich getroffen haben. Meine Töchter sind mein Ein und Alles. Ich wollte immer für sie da sein, ihnen den Weg ebnen, sie mit einem guten Polster an Mutterliebe und Kraft ausstatten, damit sie als starke junge Frauen ihren Weg finden. Katharina, die Ältere, hat inzwischen ihre eigene kleine Familie. Sie und ihr Mann teilen sich das Geldverdienen und die Versorgung der Kinder: eine moderne Ehe. Ich habe zwar auch immer gearbeitet, aber ich spürte die Verantwortung doch oft allein auf meinen Schultern. Erst mit Klaus habe ich einen Partner gefunden, der mir Sicherheit und Geborgenheit schenkt. Immerhin seit mehr als zwanzig Jahren. Er und Aylin sind in der Vergangenheit oft aneinandergeraten, zuletzt bei unserem Zusammentreffen im November, als Aylin uns in Hamm besuchte. Klaus hat sich immer eine Tochter gewünscht und hätte Aylin gern in seiner Firma gesehen. Doch sie fühlte sich mit der Büroarbeit nicht wohl und ist auch heute mit Anfang dreißig noch beruflich auf der Suche. Ich selbst mache mir Vorwürfe, dass ich ihr nicht zum Abitur verhelfen, sie in schulischen Dingen nicht besser unterstützen konnte. Heute weiß ich nicht, was ich noch tun soll. Zum einen mag sie schon lange keine Ratschläge mehr von mir annehmen, zum anderen wirft sie mir plötzlich vor, nicht für sie da zu sein. Unser kurzes Telefonat eben, in dem sie mir mitteilte, dass sie ihren Job gekündigt habe, endete abrupt, weil ich Aylin bat, lieber am nächsten Tag in Ruhe zu telefonieren; wir hatten einen Tisch reserviert. Ohne ein Tschüs legte sie auf.
»Na, immer noch in Gedanken bei Aylin?« Klaus drückt meine Hand in seiner.
»Irgendwann müssen die Kinder doch mal groß werden ...«, sage ich und versuche unbekümmert zu lachen. Ich will diesmal keine endlose Diskussion mit Klaus, möchte uns unseren Ankunftsabend nicht verderben. Wir haben uns so auf den ersten Spaziergang an der Küste entlang und auf das Abendessen unter Palmen gefreut. »Lass uns über die nächsten Tage reden, was wollen wir unternehmen?«, frage ich. »Morgen erst mal im Meer baden?«
Klaus und ich lieben beide das Schwimmen, bummeln gern durch die spanischen Altstädte und genießen die Sonne und die Natur.
Nach einer Weile tauchen vor uns die beigefarbenen Sonnenschirme des Ana del mar zwischen den Palmenkronen auf.
»Buenas tardes, señora y señor Dahlhoff, qué tal?« Pablo strahlt übers ganze Gesicht vor Freude, uns zu sehen. Er ruft seine Frau Ana, die uns ebenfalls sogleich begrüßt, führt uns zu einem eingedeckten Tisch und lässt uns vom Kellner frischen Orangensaft für mich und einen Sherry für Klaus servieren. Pablo hat also nicht vergessen, dass ich nur selten Alkohol trinke, und wenn, dann nur wenig.
Wir fühlen uns wie immer willkommen und prosten uns zu. Aylins Vorwurf, der mir jetzt wieder durch den Kopf geistert, schiebe ich mit aller Macht zur Seite, Grübeleien helfen nicht. Diesen ersten Abend in Spanien werde ich unbeschwert genießen und mich nicht schlecht fühlen. Klaus hat unsere Paella schon vorbestellt, sodass wir aus der Karte nur noch eine kleine Vorspeise wählen, etwas Iberico-Schinken, Käse und Oliven aus der Region sowie Brot, außerdem Wein zur Paella. Leise beginnt im Hintergrund eine Gitarre zu spielen.
»Die Paella mit Fleisch«, sagt der Kellner und legt erst mir, dann Klaus davon auf. Wie lange hatte ich diesen verlockenden bitter-würzigen Safranduft nicht mehr in der Nase? Während wir das Essen und den herrlichen Ausblick aufs Meer genießen, füllt sich das Lokal; bald ist kein einziger Tisch mehr frei. Die Gäste, vor allem die Spanier, unterhalten sich laut. Klaus und ich sind auch sonst kein Paar, das sich im Restaurant schweigend gegenübersitzt, aber das Lachen um uns he rum und das Klingen der Gläser hebt unsere Stimmung. Es ist schon dunkel, die weißen Jachten und gekalkten Häuser von Puerto Banús, vor einer Weile noch von blauem Meer und graubraunem Berghang eingerahmt, strahlen nun hell erleuchtet im nächtlichen Schwarz.
»Bin gleich wieder da«, sage ich nach dem Essen, um mich kurz frisch zu machen und die Lippen nachzuziehen. Beschwingt erhebe ich mich aus dem Korbstuhl, greife nach meiner hellroten Lederhandtasche, die den gleichen Farbton wie mein Kleid hat, und wende mich zum hinteren Teil des Restaurants, als einer der Kellner wie aus dem Nichts vor mir steht. Im letzten Moment halten wir beide inne, sodass Schlimmeres ausbleibt. Schlimmeres für den Kellner, für andere Gäste. Nicht einmal ein Schreckensruf stört das fröhliche Lärmen.
Für mich jedoch könnte es nicht grausamer sein. Mein Blick haftet auf der schwankenden Silberplatte in der Hand des Kellners. Die weißen Augen eines großen Fisches starren mich an. Ich kann mich nicht bewegen, das Blut weicht mir rauschend aus dem Kopf. Mir wird kalt, winterkalt. Um mich he rum ist augenblicklich Schnee, meterhoch. Ich stapfe mit Lumpen um die Füße, so schnell ich kann, hinter den anderen Kindern her. Mit meinen dünnen Beinchen klettere ich auf den Misthaufen an der Baracke vor uns. Hier gibt es jede Menge Abfälle. Gierig nagen wir Fleischreste von Knochen, stecken Kartoffelschalen und Brotenden ein. Dann der Blick durch das hell erleuchtete Fenster. Soldaten lachen, singen und tanzen zur russischen Musik. Keiner von ihnen entdeckt uns, sie sind viel zu sehr mit den Mädchen beschäftigt, die sie sich geholt haben. Ich recke den Kopf und sehe in einer Ecke einen nackten Mädchenkörper auf einem Tisch, das Gesicht hebt sich und angstgeweitete Augen blicken mich an, der Mund ist zum Schrei geöffnet. Im nächsten Moment stopft ein Soldat ihn mit einem Fischkopf, der Fischkörper mit dem Schwanz fegt hin und her, so sehr windet sich das Mädchen. Der Soldat steht ohne Hose vor dem Kind, hält es fest und stößt in es hinein.
»Monika, alles ist gut, setz dich.« Klaus hat mir seine Jacke umgelegt und hält mich im Arm, der Kellner mit der Fischplatte ist nicht mehr zu sehen. »Du zitterst ja am ganzen Leib, komm, trink erst mal einen Schnaps. Der wärmt.«
Doch der Alkohol kann weder die Kälte in mir noch die Übelkeit und das Unbehagen lindern. Ich erhole mich mühsam, möchte nur fort von hier, fort von den anderen Menschen. Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich die Kontrolle verliere, und befürchte, man sieht mir an, welche Bilder sich meiner bemächtigen. Mit leerem Blick schaue ich über das dunkle Meer vor uns und lausche angestrengt auf das Rauschen, um all die Stimmen, das Lachen und die Musik endgültig zu vertreiben. Ich sehne mich danach, allein zu sein, und zugleich habe ich Angst davor. Die Erinnerungen werden wie das Wasser des Meeres in Wellen angespült, mal nähern sie sich langsam, dann türmen sie sich ohne Vorwarnung auf; sie reißen kraftvoll und unbarmherzig allen Grund mit sich, ziehen sich zurück in die Tiefe und sammeln sich noch mächtiger, um mit der nächsten Wallung erneut emporzusteigen, immer wieder so, als würden sie mir das allererste Mal ins Bewusstsein dringen.
Klaus begleicht die Rechnung. »Lass uns noch ein wenig durch die Altstadt bummeln, dann kommst du auf andere Gedanken.«
1940 bis 1944
Frühe Kindheit in Ostpreußen
Ich bin ein Kriegskind, im Krieg in Königsberg geboren und die ersten vier Jahre dort aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in der Kneiphöfischen Langgasse, der prächtigen Hauptstraße im Stadtteil Kneiphof, wie eine Insel von zwei Flussarmen umgeben. Vor allem angesehene Kaufleute hatten nahe am Pregelufer mit seinen Schiffsanlegestellen und Speichern ihre Wohnungen und Geschäfte. Am gegenüberliegenden östlichen Ende des Kneiphofs überragte der Dom die Dächer. Erinnerungen an die Stadt habe ich kaum. Überhaupt weiß ich über meine ersten vier Lebensjahre nicht viel und besitze auch nur eine Handvoll inzwischen verblasster Schwarz-Weiß-Fotografien. Aber einige Bilder, Erlebnisse und Gefühle haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und sie scheinen mir echt zu sein.
Als ich zur Welt kam, war mein Vater vierundzwanzig Jahre alt und Soldat bei der Luftwaffe; er wird nicht oft bei uns gewesen sein, ich werde ihn nicht oft gesehen haben. Trotzdem habe ich eine starke Erinnerung an ihn. Wenn ich in den Nachthimmel blicke, sehe ich noch heute meinen Vater vor mir, der liebevoll zu mir herunterschaut und dem ich alles sagen kann. Er ist mein Herzensmensch, meine Kraftquelle. Meine Mutter hatte mich mit nur achtzehn Jahren zur Welt gebracht; fast selbst noch ein Kind, sorgte sie für mich, während ihr Mann immer wieder in den Krieg zog. Wenn ich an sie als junge Frau denke, sehe ich eigentlich nur die alten Fotografien von ihr vor meinem inneren Auge. Sie war eine wunderschöne Frau, aber sie wird in meiner Vorstellung nie so lebendig wie der Vater. Ihn sehe ich nach Hause kommen, auf Heimaturlaub. Ein schlanker junger Mann in blaugrauer Uniform. »Monika, Engelchen!«, rief er jedes Mal und hob mich zur Begrüßung hoch in die Luft. Ich war vielleicht zwei Jahre alt, als er fragte: »Würdest du dich freuen, ein Brüderchen zu bekommen? Dann hast du immer jemanden zum Spielen.« - »Ja, Papa!«, höre ich mich noch heute begeistert antworten. »Hast du mir eins mitgebracht?« Mein Vater und meine Mutter lachten, und Papa nahm mich auf den Arm. »Du weißt doch, dass Mama und ich uns sehr lieb haben, und wenn wir uns fest in den Arm nehmen, wirst du einen Bruder bekommen.« - »Oh, Papa, dann halt die Mama ganz, ganz fest!« Wieder lachten die beiden und Papa zwinkerte mir zu. »Da muss ich heute Abend mit deiner Mama noch mal allein drüber sprechen ...« Er gab mir einen Kuss und ließ mich von seinem Arm hinunter. »Bitte, bitte, Mama, sag Ja!«, rief ich und hüpfte durch die Wohnstube. Dann rannte ich in mein Zimmer und rief: »Ein Brüderchen, ein Brüderchen!«
Sobald Vater zu Hause war, kam auch Oma Clausen, Vaters Mutter Gerda, oft zu Besuch, oder wir fuhren zu ihr nach Lyck, wo sie ein Juweliergeschäft betrieb. Mein Vater Gerd, ein gelernter Goldschmied, und seine Familie haben mir wohl die Leidenschaft für Schmuck und alles, was glänzt, vererbt. Ob ich auch einen Opa Clausen hatte oder ob er schon verstorben war, da ran kann ich mich nicht erinnern.
Meine Großeltern mütterlicherseits nannte ich immer nur Oma und Opa, bei ihnen war ich besonders gern zu Besuch, denn sie besaßen nahe Königsberg ein Gut mit vielen Tieren. Doch der Weg dorthin war für meine Mutter und mich zu beschwerlich, sodass die Großeltern meist uns besuchen kamen.
Wenn ich mal wieder traurig war, weil Papa zurück an die Front musste, versuchte mich meine Mutter zu trösten. Worte halfen selten. Also spendierte sie uns ein Stück Torte in unserem Lieblingscafé ein paar Häuser weiter, oder wir besuchten den Tiergarten.
Eines Tages lag meine Mutter auf dem Sofa; sie hatte schon in den Wochen zuvor häufig über Übelkeit geklagt. Ich war wohl unruhig, denn Mama rief mich zu sich. »Komm, Monika, ich zeige dir was, du musst dir keine Sorgen machen «, sagte sie. Sie schob ihre Bluse hoch, legte ihre Hand auf den gewölbten Bauch und zog mich zu sich he ran. »Gib mir mal dein Händchen.« Zögernd streckte ich meinen Arm aus, und vorsichtig legte sie meine Hand auf ihren Bauch. Er war warm. Mama bedeutete mir, leise zu sein. Ich traute mich kaum zu atmen. Plötzlich spürte ich, wie etwas von innen gegen ihren Bauch trat. Erschrocken wich ich zurück. »Hab keine Angst, das ist dein Brüderchen. Er ist bei mir im Bauch und wächst, bis er groß genug ist, um auf die Welt zu kommen.«
Ich muss das alles sehr aufregend gefunden haben, wenngleich ich wohl nichts verstanden habe. Von nun an verging jedenfalls kein Tag, an dem ich den Babybauch nicht befühlte.
Noch ein Mal kam mein Vater auf Heimaturlaub nach Hause. Diesmal sagte er beim Abschied zu mir: »Pass gut auf Mama auf. Zur Geburt deines Bruders bin ich zurück.«
Sie war im achten Monat schwanger und ihr Bauch kugelrund, als ein Soldat vor unserer Wohnungstür stand. Zuerst sah ich am Kleid meiner Mutter vorbei nur die Uniform und dachte, es wäre Papa. Doch dann hörte ich die fremde Stimme. Der Soldat hatte seine Mütze abgenommen und reichte Mama ein Päckchen. »Ich muss leider eine traurige Nachricht überbringen. Das Flugzeug ihres Mannes wurde abgeschossen. Es tut mir wirklich sehr leid ...« Dann ging alles schnell. Mama fiel in Ohnmacht, sie wäre hingefallen, wenn der Fremde sie nicht aufgefangen hätte. Ich stand reglos da. Was war hier los? Ob das Baby kam? Aber es war doch noch viel zu früh, hatte Mama gesagt. Ich hatte ständig nachgefragt, wann es endlich so weit sei.
Der Soldat trug meine Mutter in die Wohnstube und legte sie aufs Sofa. »Ich hole einen Arzt!«, rief er und war auch schon aus der Tür. Ich streichelte Mama durch den weichen Stoff ihres Kleiderärmels, aber sie bewegte sich nicht. »Wach doch auf, Mama«, flüsterte ich. »Papa kommt bestimmt auch bald.«
Meine Mutter kam tatsächlich wieder zu sich, noch bevor ein Arzt in Uniform und der fremde Soldat ins Zimmer stürmten. »Gucken Sie mal den Bauch, da ist mein Brüderchen drinnen, deshalb ist Mama sicher umgefallen«, plapperte ich drauflos, als der Arzt sich über das Sofa beugte. Sanft schob er mich zur Seite, untersuchte meine Mutter und sprach leise mit ihr. Ich hörte ihr Wimmern, dann schickte sie die Männer fort.
Während sie das Päckchen auspackte, in dem die wenigen Habseligkeiten meines Vaters lagen, brach sie immer wieder in Tränen aus. Ich legte meine dünnen Arme um ihren Hals. »Mama, hör doch auf zu weinen«, flehte ich.
Erst eine ganze Weile später setzte sie sich auf und holte ein Taschentuch hervor, um sich die Tränen zu trocknen. Ihre Augen waren geschwollen, und die blonden Haare klebten feucht an den glühenden Wangen. Sie presste sich das Taschentuch gegen die Augen und weinte nur noch heftiger. Hatte Papa nicht gesagt, ich sollte auf Mama aufpassen? Ich nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und wischte über ihr Gesicht. Doch auch das half nicht. Sie sank auf das Sofa zurück, und ich legte mich zu ihr, ganz nah an den Babybauch. Irgendwann müssen wir beide über ihrem Weinen eingeschlafen sein.
Ich wachte auf, weil in Mamas Bauch etwas heftig rumpelte. Meine Mutter sah mich ohne ein Lächeln an. »Ich hole uns etwas zu trinken«, sagte sie, kam mit zwei Gläsern Wasser aus der Küche zurück und setzte sich zu mir. »Du musst jetzt ganz tapfer sein, Monika.« Noch nie hatten ihre Augen so traurig ausgesehen. »Papa kommt nicht mehr zu uns zurück. Er ist tot. Sein Flugzeug ist vom Himmel gefallen.«
Jetzt weinten wir beide. »Aber wo ist er denn, wenn er tot ist?«, fragte ich.
»Beim lieben Gott im Himmel.«
»Für immer?«
»Ja, Monika. Irgendwann werden wir ihn dort wiedersehen. «
»Und mein Brüderchen, wird er es dann auch sehen?«
»Ja, irgendwann ...«
Ich weiß nicht, wie viele Tage meine Mutter noch weinte, es kam mir unendlich lange vor. Als eines Morgens die Wehen einsetzten, war es für die Geburt eigentlich noch zu früh. Doch es gab keinen Aufschub mehr, Mama musste ins Krankenhaus.
Ich freute mich, dass Oma und Opa kamen, um auf mich aufzupassen. Und am nächsten Tag fuhren sie mit mir ins Krankenhaus; mein Bruder war geboren.
»Der ist aber klein!«, rief ich enttäuscht. »Mit dem kann ich ja gar nicht spielen.«
»Du glaubst nicht, wie schnell der groß wird«, sagte meine Oma zum Trost. Doch dann begann sie zu schluchzen, und auch meiner Mutter liefen wieder die Tränen über das Gesicht. Selbst in den Augen von Opa stand das Wasser.
»Ach, heult doch nicht, ich werde später mit ihm spielen«, sagte ich schnell. »Jetzt passe ich erst mal auf ihn auf, damit ihm nichts passiert.« Und dann fiel mir ein, dass er noch gar keinen Namen hatte, und ich fragte meine Mutter danach.
»Deinem Vater gefiel Peter als Jungenname besonders gut, sollen wir ihn Peter nennen?«
Ich nickte. »Na, Peterchen ...«
Erst als Mama mit meinem Bruder schon eine Weile zu Hause war, erfuhr ich, dass er niemals würde laufen können. Er hatte eine Rückenlähmung. Für meine Mutter bedeutete das noch mehr Arbeit, als sie ohnehin mit einem Säugling gehabt hätte. Das Stillen, das Wickeln, das Baden, die Bewegungsübungen, die sie mit Peter machen musste, die Wäsche, der Haushalt ... da blieb nicht mehr viel Zeit für mich. Ich spielte häufig allein mit meinen Puppen, am liebsten Vater, Mutter, Kind.
Manchmal war ich froh, wenn das Sirenengeheul losging und wir in den Keller mussten, denn da konnte ich ganz nah bei Mama sein. Doch nach der ersten Aufregung zog sich das Warten auf die Entwarnung hin. Außer uns waren nur die alten Leute aus der Parterrewohnung im Keller, wie wir hatten auch sie ein altes Sofa mit Decken in den kaltfeuchten Raum hin eingestellt, es gab Kerzen und eine Petroleumlampe, aber es blieb ungemütlich. Wenn Peterchen noch anfing zu schreien und sich nicht beruhigen ließ, lauschte ich angestrengt auf das Brummen der Flugzeugmotoren, das dumpf über die Stadt hinwegzog. Dann dachte ich oft, vielleicht ist Papa in einem dieser Flieger und kommt doch zurück. Wenn ich es meiner Mutter erzählte, erklärte sie mir jedes Mal, dass dies die feindlichen Flieger seien, die gefährliche Bomben abwarfen, mit denen sie Häuser zerstören und Menschen umbringen konnten. Dann wartete ich gespannt auf das Krachen. Wenn es sehr laut krachte und alles im Kellerraum erzitterte und die Regale um uns he rum schwankten, vergrub ich mein Gesicht voller Angst in meinem Schoß.
Oma und Opa kamen uns häufiger besuchen, seitdem Papa tot war. Oma Clausen aber habe ich nicht mehr wiedergesehen, sie war, kurz nachdem sie vom Tod ihres Sohnes erfahren hatte, selbst verstorben. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie noch einen Samtbeutel voll Schmuck mitgebracht und gesagt: »Das soll die Kleine mal bekommen, wenn sie schon keinen Vater mehr hat.« Ich freute mich über die vielen Ringe und Ketten, manche mit bunten oder hellen Steinen, weil sie so hübsch aussahen.
Die seltenen Besuche bei den Großeltern entlockten mir jedes Mal Jubelrufe. Auf dem Gutshof war immer etwas los. Zu Hause konnte ich einen Teddy über das Gitterbettchen halten, und Peter lächelte mich an, mit der Hündin Elsa aber tobte ich über die Wiesen und die Felder. In Königsberg waren solch ausgelassene Tage rar. Nur wenn Oma und Opa bei uns vorbeischauten, gab es etwas zu lachen. Ich stellte mich auf Opas Füße, und er lief mit mir durch die Wohnung. Oma sang Lieder mit mir, und sie kannte jede Menge Ratespiele. Doch eines Tages wollte sie unbedingt Schule mit mir spielen. Ich selbst war schon zu meinem Kaufladen gelaufen. »Es ist wichtig, dass du weißt, wer du bist und wohin du gehörst «, erklärte Oma. »Falls du mal verloren gehst.«
»Aber warum sollte ich denn verloren gehen?« Ich kicherte und kam hinter der Puppentheke wieder hervor. »Ich verspreche, dass ich hier bleibe. Und für die Schule bin ich doch noch viel zu klein.«
»Nun komm, mein Liebes, so ein paar Fragen beantworten, das schaffst du.« Oma lächelte mir aufmunternd zu. »Wie heißt du?«
»Och, das weißt du doch, Oma ... Monika.«
»Und wie heißt du noch?«
»Monika Charlotte Clausen von Quitzro. So haben es mir Mama und Papa gesagt.«
»Und wie heißt deine Mama?«
»Oma, warum fragst du das? Du weißt das doch alles selbst.«
»Kind, ich möchte, dass du es niemals vergisst. Also sei lieb und antworte mir.«
»Charlotte.«
»Und welche Haarfarbe hat sie?«
»Blond. Ganz schön sieht sie aus.«
»Und wie heißt dein Papa.«
»Gerd ... und er ist im Himmel.«
»Du bist ein schlaues Kind«, lobte Oma mich. Ich wollte mich schon abwenden und meine Puppe holen, aber Oma ließ nicht locker. »Und wo wohnst du?« Jetzt wusste ich keine Antwort mehr. »In Königsberg in Ostpreußen in der Kneiphöfischen Langgasse siebenundachtzig, wiederhol das mal, meine Kleine.« Ich sprach es brav nach, nur die Hausnummer hatte ich mir nicht gemerkt.
»Das üben wir nächstes Mal wieder, wenn wir uns sehen«, sagte Oma und nahm mich in den Arm.
»Kommen wir denn auch bald mal wieder zu euch? Ich möchte so gern mit Elsa spielen. Und bäckst du dann Apfelkuchen? «
Oma lachte. »Ja, dann backe ich Apfelkuchen.«
Ich hatte oft Sehnsucht nach den Großeltern, den Tieren und den Kindern auf dem Hof. An Nachbarskinder in der Stadt kann ich mich nicht erinnern. Mama und ich gingen mit Peterchen im Kinderwagen anfangs noch spazieren, aber wegen des Krieges wurden diese Ausflüge an der frischen Luft seltener. Wenn sie mich zu Erledigungen mitnahm, beeilten wir uns jedes Mal. Die meisten Leute liefen mit gesenkten Köpfen umher und schauten nicht nach rechts und nicht nach links. Es lagen auch immer mehr Schuttberge auf den Straßen, manche Häuser hatten lange Risse, und Fenster waren zerbrochen und mit Pappe notdürftig abgedichtet. Mama zog an meinem Arm. »Komm schnell weiter, Monika.« Ich mochte diese Hast nicht.
Es war im Sommer 1944, als die Fliegerangriffe häufiger wurden und oft Bomben laut in der Nähe einschlugen. Wir mussten immer wieder, ob tags oder nachts, in den Keller. An einem Nachmittag hörte ich wieder einmal die Sirenen jaulen. Aber Mama kam nicht angelaufen wie sonst, wenn ich in meinem Zimmer war. Ich hörte ihre Schritte im Schlafzimmer und ein Klappern, dann versank ich wieder in mein Kaufladenspiel. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, vielleicht nur Minuten, als auf einmal Mutter mit einem Fremden in der Kinderzimmertür stand. Er trug eine dunkelblaue Uniform, nicht so schön wie die meines Vaters. »Das ist Onkel Fritz. Sag guten Tag, Monika.« Ich stand schnell auf und wurde belohnt, denn Onkel Fritz schenkte mir eine Dose Schokolade. Früher hatte mein Vater immer welche mitgebracht, doch das war lange her. Ich wollte mich auf den Boden setzen und die Süßigkeit hervorholen, als Onkel Fritz sagte: »Nimm ein Stück, und dann pack den Rest schnell wieder ein. Wir müssen uns beeilen. Hörst du die Sirenen? Ich bringe euch fort von hier.«
Erst jetzt nahm ich das schrille Geheul und das dumpfe Krachen wieder wahr; laute Rufe von der Straße drangen zu uns in die Wohnung. »Fahren wir zu Oma und Opa ... und Elsa?«, fragte ich, bevor ich mir von der Schokolade in den Mund schob.
»Jetzt komm erst mal, wir müssen los«, sagte Mama und holte meine Jacke.
»Oder fahren wir zu Oma Clausen? Ich habe sie so lange nicht gesehen. Sie hat ein Schmuckgeschäft, und bei ihr fallen sicher keine Bomben«, plapperte ich.
Onkel Fritz nahm mich auf den Arm, und ich zeigte ihm meine Goldkette, auf deren Anhänger neben einem Engelchen mein Name stand. »Die hat mir mein Papa gemacht«, erzählte ich. Onkel Fritz sah lächelnd auf die Gravur, aber ich spürte, wie unruhig er war. - »Charlotte, hast du eine Tasche mit den nötigsten Dingen gepackt?«
Mama nickte. »Ich muss nur noch den Schmuckbeutel holen. Und du, Monika, suche dir eine Puppe aus, die du mitnehmen möchtest.« Onkel Fritz setzte mich ab, und er und Mama verließen das Kinderzimmer.
Ich suchte in meiner Puppenecke Gerda, eine Puppe mit blonden Haaren. Die anderen Puppen hatten alle nur aufgemalte Haare. Gerda war nicht zu finden, ich schaute im Regal nach ihr, unter dem Bett, im Bett, unter dem Schrank, im Schrank ... »Ich finde Gerda nicht!«, rief ich.
»Dann such dir eine andere aus. Aber schnell!« So hörte sich Mamas Stimme sonst nur an, wenn sie anfangen wollte, laut zu schimpfen. Auf der Stelle traten mir Tränen in die Augen.
»Monika, wo bleibst du denn?«, rief sie gereizt.
»Ich weiß aber nicht, welche ...« Mein Schluchzen ließ Mama und Onkel Fritz, der ein Bündel Decken auf dem Arm hielt, zu mir eilen. »Ganz ruhig«, sagte sie jetzt sanfter. In ihrer Hand schaukelte der Samtbeutel von Oma Clausen.
Ich wischte mir die Tränen ab. »Was machst du denn mit Omas Schmuck?«
»Den nehmen wir mit. Und wenn mir etwas passiert, Monika, dann musst du ihn an dich nehmen und unter deinem Kleidchen verstecken. Hörst du? Es ist alles, was wir haben.«
Wieder stiegen Tränen in mir auf. »Was soll dir denn passieren? Gehst du auch in den Himmel?«
»Aber nein, mein Kind, nein, nein. Vergiss das alles ganz schnell wieder. Ich gehe nicht in den Himmel. Wir bleiben zusammen und kommen ganz bald wieder nach Hause.«
Ich schluckte die Tränen hinunter. Wirklich beruhigt hatten mich diese Worte aber nicht. »Und wo gehen wir jetzt hin?«
Ich sah zu dem Onkel auf, und jetzt erst bemerkte ich, dass sich das Bündel bewegte: Er hatte Peter auf dem Arm. Donnerndes Krachen, gefolgt von einem Bersten und gedämpften Schreien erfüllte den Raum. Das Haus bebte. »Los, Monika, die Jacke. Und wo sind ihre Stiefel, Charlotte, hast du auch warme Sachen für die Nacht dabei? Wir müssen hier raus!
Sofort!« Onkel Fritz gab Anweisungen, und wir gehorchten. Mama brachte mir einen Waschlappen. »Hier, halt dir den vor den Mund, sobald wir draußen sind, es ist giftiger Rauch in der Luft.«
»Und lass die Hand deiner Mama unterwegs niemals los, verstanden!«, sagte Onkel Fritz. Dann liefen wir durch das Treppenhaus. Die alten Leute aus dem Parterre waren auf dem Weg in den Keller. »Hier können Sie nicht bleiben!«, rief Onkel Fritz ihnen nach. »Kommen Sie mit uns zum Bunker!« Doch der alte Mann antwortete, dass sie den Weg nicht schaffen würden, wir sollten uns aber beeilen, es wäre höchste Zeit.
Auf der Straße umgab uns beißender Nebel. Obwohl mir der kalte, wassergetränkte Lappen unangenehm war, tat ich, ohne zu zögern, was von mir verlangt worden war. Im ersten Moment sah ich nichts, dann graue Schatten, die hin und her liefen. Leute riefen, manche schrien. Ich hielt Mamas Hand, so fest ich konnte, dann rannten wir los.
»Vorsicht!«, brüllte Onkel Fritz, und im nächsten Moment schlug ein Stück Fenstersims vor uns auf dem Boden auf. »Kommt auf die Straße, der Bürgersteig ist zu gefährlich. « Mama zog mich mit sich; ich hatte Angst zu stolpern, so schnell liefen wir. Brennende Schlangen stürzten vom Himmel, das entsetzliche Grollen, viel schlimmer als bei einem Gewitter, nahm kein Ende. An uns vorbei liefen Menschen mit hässlichen Masken. Solche lagen auch in unserem Keller, ich hatte mich immer vor ihnen gefürchtet, und Mama hatte sie weit weggelegt. Ich musste husten und wollte mir mit dem Waschlappen über die brennenden Augen wischen, da hielt Mama kurz an und drückte mir den Lappen wieder fest auf den Mund. Sie brauchte nichts zu sagen. Bevor wir weiterliefen, sah ich aus dem Augenwinkel Leute auf dem Bürgersteig liegen. Ich wollte nur fort von diesen reglosen Gestalten, den berstenden Scheiben, he runterkrachenden Steinen und Feuerschlangen in der Luft. Voller Angst, dass die glühend heißen Irrlichter uns verfolgten, wandte ich mich um. Wo wir eben noch gelaufen waren, leuchtete jetzt eine lodernd rote Wand. Wie ein Sturm rauschte das Feuer durch die Straßen und schluckte die Todesschreie. Ich schaute zu Mama auf. »Fritz! Wo ist Fritz?«, rief sie voller Panik, hustete und hielt sich ihren Waschlappen wieder vor den Mund. Ich schleuderte an ihrer Hand nach rechts, nach links und im Kreis. »Onkel Fritz?«, schrie ich, traute mich aber nicht, den Lappen dabei vom Mund zu lösen. Endlich hatte Mama unseren Beschützer entdeckt. Sie zeigte aufgeregt unter einen Torbogen.
Wir standen nicht lange unter dem schweren Gemäuer. Onkel Fritz machte uns mit den Händen verständlich, wohin wir weiterlaufen sollten, doch plötzlich umzingelten Flammen das Tor. »Wir müssen zum Wasser!« Onkel Fritz fand einen Weg durch die Flammensäulen, und mit der Hitze stieg meine Angst, dass meine Kleider Feuer fingen. Wie oft hatte Opa mir erklärt, dass man nicht zu nah ans Feuer he rangehen durfte. Strauchelnd lief ich hinter Mama her, den Blick an ihre vorwärtsfliegenden Stiefel geklammert, bis auf einmal immer mehr Stiefel und Schuhe neben Mama auftauchten und wir immer langsamer vorankamen, weil so viele Leute um uns he rum waren. »Wir sind gleich am Ufer!«, rief Onkel Fritz. Anscheinend hatten sich viele Bewohner des Kneiphofs, die sich sonst nicht in Sicherheit hatten bringen können, an die Pregel geflüchtet. Onkel Fritz drängte sich als Erster an einer aufgeregten Menschentraube vorbei, und endlich standen wir am Fluss. »Los, ins Wasser!« Onkel Fritz' Anweisung ließ mich zusammenzucken. Erst jetzt erkannte ich die vielen Menschen, die wie Baumstümpfe aus dem Wasser ragten. Stumm und erstarrt. Oder hörte ich sie leise weinen? Mama wollte meine Hand loslassen, aber ich hielt sie erschrocken fest. Da schüttelte Mama sie energisch von ihrer ab. Onkel Fritz legte ihr Peter in die Arme. Als ich hilflos aufschaute, nahm mich Onkel Fritz und trug mich auf seinem Arm ins Wasser. Meine Füße hingen im Fluss, und in kürzester Zeit hatten sich die Stiefel vollgesogen, und die Kälte und die Feuchtigkeit krochen an mir hinauf. Ich zitterte am ganzen Körper. »Dort, Charlotte, lass uns dort hingehen.« Onkel Fritz wies mit einem Kopfnicken nach vorn. Jetzt standen auch wir im Fluss, und ich weinte leise wie Mama, die mit Peter im Arm neben mir stand. Während wir dastanden, musste ich immer nötiger zur Toilette, traute mich aber nicht, es zu sagen, und kniff die Beine zusammen. Nach einer Weile fing Peter an zu schreien. »Er hat Hunger«, sagte Mama. »Aber ich kann ihn jetzt nicht füttern.« Sie versuchte ihn mit Worten und Singen zu beruhigen, doch es half nicht. »Ich kann den Kleinen kaum noch halten, Fritz.« Mutters Stimme klang elend. Ohne Vorwarnung ließ mich Fritz von seinem Arm hinunter, und ich stand bis zum Bauch im Wasser. Onkel Fritz nahm Mama den schreienden Peter ab. »Wir müssen durchhalten «, sagte er. »Wir werden es schaffen. Kommt näher, dann wärmen wir uns gegenseitig.« Bevor ich mich an Mama drängte, ließ ich das Pipi laufen. Das Gefühl von Wärme und Erleichterung ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Peters Weinen wurde mit der Zeit leiser, dann muss er über seinem Hunger eingeschlafen sein. Wie viele Stunden bis in die Nacht hinein haben wir wohl so dicht beieinander im Wasser verharrt? Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Irgendwann wurde ich trotz der Kälte müde.
Stimmen ... Wo kommen die Stimmen her? Träume ich? Ich erwachte auf dem Arm von Onkel Fritz. »Nein, hier ist kein Platz mehr. Der Bunker ist voll!«, sagte eine raue Männerstimme. Wir befanden uns wieder auf festem Boden, vor einem steilen Treppenabgang, den nur wenige Petroleumlampen beleuchteten. »Gehen Sie weiter, glauben Sie mir, der Bunker ist schon überfüllt.« Onkel Fritz hörte nicht auf den Mann, schob ihn zur Seite und trug mich die Treppe hinunter. Über seine Schulter guckend sah ich, wie uns Mama mit Peter auf dem Arm folgte. Unten im Keller saßen, hockten und standen überall Menschen. »Sie, mit den Kindern, kommen Sie hierher, hier ist noch ein Eckchen!«, rief eine Frau zu uns he rüber. »Lasst die mal durch!«, rief ein alter Mann. »Die sind ganz nass und durchgefroren.« Dort, wo die Frau hingezeigt hatte, rutschten die Leute eng zusammen, sodass wirklich noch etwas Boden für uns frei wurde. Eine alte Frau neben mir breitete für uns eine Decke aus. »Komm, setz dich da rauf, du frierst doch sicher.«
»Danke«, sagte ich leise.
Mama legte Peter neben mich und holte aus der Tasche, die Fritz über der Schulter getragen hatte, trockene Sachen für mich he raus. »Hier, zieh das an, sonst holst du dir noch den Tod.« Ihre Stimme war heiser. Ich kuschelte mich an meinen Bruder, und er lachte mich an. Wenn er lachte, strahlte er über das ganze Gesicht. Und für einen Moment vergaß ich völlig, dass wir in diesem großen Keller mit den vielen fremden Menschen waren. Mama holte ein Fläschchen Milch aus der Tasche und gab es zuerst Peter, dann reichte sie es mir.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Klaus und ich verbringen den dritten Winter in Marbella an der Costa del Sol. Es ist Anfang Dezember und zu Hause regnet es aus einem grau verhangenen Himmel, wie mir Aylin, meine Tochter aus zweiter Ehe, heute am Telefon erzählte. Während ich beim Gehen die Muscheln im Sand betrachte - zum Sammeln habe ich in den nächsten Wochen noch genügend Zeit -, sehe ich Aylin vor mir, ihr braunes Haar, das hübsche schmale Gesicht, die dunklen Augen. Darüber die Brauen, zornig zusammengezogen. »Du bist so egozentrisch. Nie hast du Zeit für mich, wenn es mal wichtig ist!« Aylin ahnt nicht, wie hart ihre Worte mich getroffen haben. Meine Töchter sind mein Ein und Alles. Ich wollte immer für sie da sein, ihnen den Weg ebnen, sie mit einem guten Polster an Mutterliebe und Kraft ausstatten, damit sie als starke junge Frauen ihren Weg finden. Katharina, die Ältere, hat inzwischen ihre eigene kleine Familie. Sie und ihr Mann teilen sich das Geldverdienen und die Versorgung der Kinder: eine moderne Ehe. Ich habe zwar auch immer gearbeitet, aber ich spürte die Verantwortung doch oft allein auf meinen Schultern. Erst mit Klaus habe ich einen Partner gefunden, der mir Sicherheit und Geborgenheit schenkt. Immerhin seit mehr als zwanzig Jahren. Er und Aylin sind in der Vergangenheit oft aneinandergeraten, zuletzt bei unserem Zusammentreffen im November, als Aylin uns in Hamm besuchte. Klaus hat sich immer eine Tochter gewünscht und hätte Aylin gern in seiner Firma gesehen. Doch sie fühlte sich mit der Büroarbeit nicht wohl und ist auch heute mit Anfang dreißig noch beruflich auf der Suche. Ich selbst mache mir Vorwürfe, dass ich ihr nicht zum Abitur verhelfen, sie in schulischen Dingen nicht besser unterstützen konnte. Heute weiß ich nicht, was ich noch tun soll. Zum einen mag sie schon lange keine Ratschläge mehr von mir annehmen, zum anderen wirft sie mir plötzlich vor, nicht für sie da zu sein. Unser kurzes Telefonat eben, in dem sie mir mitteilte, dass sie ihren Job gekündigt habe, endete abrupt, weil ich Aylin bat, lieber am nächsten Tag in Ruhe zu telefonieren; wir hatten einen Tisch reserviert. Ohne ein Tschüs legte sie auf.
»Na, immer noch in Gedanken bei Aylin?« Klaus drückt meine Hand in seiner.
»Irgendwann müssen die Kinder doch mal groß werden ...«, sage ich und versuche unbekümmert zu lachen. Ich will diesmal keine endlose Diskussion mit Klaus, möchte uns unseren Ankunftsabend nicht verderben. Wir haben uns so auf den ersten Spaziergang an der Küste entlang und auf das Abendessen unter Palmen gefreut. »Lass uns über die nächsten Tage reden, was wollen wir unternehmen?«, frage ich. »Morgen erst mal im Meer baden?«
Klaus und ich lieben beide das Schwimmen, bummeln gern durch die spanischen Altstädte und genießen die Sonne und die Natur.
Nach einer Weile tauchen vor uns die beigefarbenen Sonnenschirme des Ana del mar zwischen den Palmenkronen auf.
»Buenas tardes, señora y señor Dahlhoff, qué tal?« Pablo strahlt übers ganze Gesicht vor Freude, uns zu sehen. Er ruft seine Frau Ana, die uns ebenfalls sogleich begrüßt, führt uns zu einem eingedeckten Tisch und lässt uns vom Kellner frischen Orangensaft für mich und einen Sherry für Klaus servieren. Pablo hat also nicht vergessen, dass ich nur selten Alkohol trinke, und wenn, dann nur wenig.
Wir fühlen uns wie immer willkommen und prosten uns zu. Aylins Vorwurf, der mir jetzt wieder durch den Kopf geistert, schiebe ich mit aller Macht zur Seite, Grübeleien helfen nicht. Diesen ersten Abend in Spanien werde ich unbeschwert genießen und mich nicht schlecht fühlen. Klaus hat unsere Paella schon vorbestellt, sodass wir aus der Karte nur noch eine kleine Vorspeise wählen, etwas Iberico-Schinken, Käse und Oliven aus der Region sowie Brot, außerdem Wein zur Paella. Leise beginnt im Hintergrund eine Gitarre zu spielen.
»Die Paella mit Fleisch«, sagt der Kellner und legt erst mir, dann Klaus davon auf. Wie lange hatte ich diesen verlockenden bitter-würzigen Safranduft nicht mehr in der Nase? Während wir das Essen und den herrlichen Ausblick aufs Meer genießen, füllt sich das Lokal; bald ist kein einziger Tisch mehr frei. Die Gäste, vor allem die Spanier, unterhalten sich laut. Klaus und ich sind auch sonst kein Paar, das sich im Restaurant schweigend gegenübersitzt, aber das Lachen um uns he rum und das Klingen der Gläser hebt unsere Stimmung. Es ist schon dunkel, die weißen Jachten und gekalkten Häuser von Puerto Banús, vor einer Weile noch von blauem Meer und graubraunem Berghang eingerahmt, strahlen nun hell erleuchtet im nächtlichen Schwarz.
»Bin gleich wieder da«, sage ich nach dem Essen, um mich kurz frisch zu machen und die Lippen nachzuziehen. Beschwingt erhebe ich mich aus dem Korbstuhl, greife nach meiner hellroten Lederhandtasche, die den gleichen Farbton wie mein Kleid hat, und wende mich zum hinteren Teil des Restaurants, als einer der Kellner wie aus dem Nichts vor mir steht. Im letzten Moment halten wir beide inne, sodass Schlimmeres ausbleibt. Schlimmeres für den Kellner, für andere Gäste. Nicht einmal ein Schreckensruf stört das fröhliche Lärmen.
Für mich jedoch könnte es nicht grausamer sein. Mein Blick haftet auf der schwankenden Silberplatte in der Hand des Kellners. Die weißen Augen eines großen Fisches starren mich an. Ich kann mich nicht bewegen, das Blut weicht mir rauschend aus dem Kopf. Mir wird kalt, winterkalt. Um mich he rum ist augenblicklich Schnee, meterhoch. Ich stapfe mit Lumpen um die Füße, so schnell ich kann, hinter den anderen Kindern her. Mit meinen dünnen Beinchen klettere ich auf den Misthaufen an der Baracke vor uns. Hier gibt es jede Menge Abfälle. Gierig nagen wir Fleischreste von Knochen, stecken Kartoffelschalen und Brotenden ein. Dann der Blick durch das hell erleuchtete Fenster. Soldaten lachen, singen und tanzen zur russischen Musik. Keiner von ihnen entdeckt uns, sie sind viel zu sehr mit den Mädchen beschäftigt, die sie sich geholt haben. Ich recke den Kopf und sehe in einer Ecke einen nackten Mädchenkörper auf einem Tisch, das Gesicht hebt sich und angstgeweitete Augen blicken mich an, der Mund ist zum Schrei geöffnet. Im nächsten Moment stopft ein Soldat ihn mit einem Fischkopf, der Fischkörper mit dem Schwanz fegt hin und her, so sehr windet sich das Mädchen. Der Soldat steht ohne Hose vor dem Kind, hält es fest und stößt in es hinein.
»Monika, alles ist gut, setz dich.« Klaus hat mir seine Jacke umgelegt und hält mich im Arm, der Kellner mit der Fischplatte ist nicht mehr zu sehen. »Du zitterst ja am ganzen Leib, komm, trink erst mal einen Schnaps. Der wärmt.«
Doch der Alkohol kann weder die Kälte in mir noch die Übelkeit und das Unbehagen lindern. Ich erhole mich mühsam, möchte nur fort von hier, fort von den anderen Menschen. Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich die Kontrolle verliere, und befürchte, man sieht mir an, welche Bilder sich meiner bemächtigen. Mit leerem Blick schaue ich über das dunkle Meer vor uns und lausche angestrengt auf das Rauschen, um all die Stimmen, das Lachen und die Musik endgültig zu vertreiben. Ich sehne mich danach, allein zu sein, und zugleich habe ich Angst davor. Die Erinnerungen werden wie das Wasser des Meeres in Wellen angespült, mal nähern sie sich langsam, dann türmen sie sich ohne Vorwarnung auf; sie reißen kraftvoll und unbarmherzig allen Grund mit sich, ziehen sich zurück in die Tiefe und sammeln sich noch mächtiger, um mit der nächsten Wallung erneut emporzusteigen, immer wieder so, als würden sie mir das allererste Mal ins Bewusstsein dringen.
Klaus begleicht die Rechnung. »Lass uns noch ein wenig durch die Altstadt bummeln, dann kommst du auf andere Gedanken.«
1940 bis 1944
Frühe Kindheit in Ostpreußen
Ich bin ein Kriegskind, im Krieg in Königsberg geboren und die ersten vier Jahre dort aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in der Kneiphöfischen Langgasse, der prächtigen Hauptstraße im Stadtteil Kneiphof, wie eine Insel von zwei Flussarmen umgeben. Vor allem angesehene Kaufleute hatten nahe am Pregelufer mit seinen Schiffsanlegestellen und Speichern ihre Wohnungen und Geschäfte. Am gegenüberliegenden östlichen Ende des Kneiphofs überragte der Dom die Dächer. Erinnerungen an die Stadt habe ich kaum. Überhaupt weiß ich über meine ersten vier Lebensjahre nicht viel und besitze auch nur eine Handvoll inzwischen verblasster Schwarz-Weiß-Fotografien. Aber einige Bilder, Erlebnisse und Gefühle haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und sie scheinen mir echt zu sein.
Als ich zur Welt kam, war mein Vater vierundzwanzig Jahre alt und Soldat bei der Luftwaffe; er wird nicht oft bei uns gewesen sein, ich werde ihn nicht oft gesehen haben. Trotzdem habe ich eine starke Erinnerung an ihn. Wenn ich in den Nachthimmel blicke, sehe ich noch heute meinen Vater vor mir, der liebevoll zu mir herunterschaut und dem ich alles sagen kann. Er ist mein Herzensmensch, meine Kraftquelle. Meine Mutter hatte mich mit nur achtzehn Jahren zur Welt gebracht; fast selbst noch ein Kind, sorgte sie für mich, während ihr Mann immer wieder in den Krieg zog. Wenn ich an sie als junge Frau denke, sehe ich eigentlich nur die alten Fotografien von ihr vor meinem inneren Auge. Sie war eine wunderschöne Frau, aber sie wird in meiner Vorstellung nie so lebendig wie der Vater. Ihn sehe ich nach Hause kommen, auf Heimaturlaub. Ein schlanker junger Mann in blaugrauer Uniform. »Monika, Engelchen!«, rief er jedes Mal und hob mich zur Begrüßung hoch in die Luft. Ich war vielleicht zwei Jahre alt, als er fragte: »Würdest du dich freuen, ein Brüderchen zu bekommen? Dann hast du immer jemanden zum Spielen.« - »Ja, Papa!«, höre ich mich noch heute begeistert antworten. »Hast du mir eins mitgebracht?« Mein Vater und meine Mutter lachten, und Papa nahm mich auf den Arm. »Du weißt doch, dass Mama und ich uns sehr lieb haben, und wenn wir uns fest in den Arm nehmen, wirst du einen Bruder bekommen.« - »Oh, Papa, dann halt die Mama ganz, ganz fest!« Wieder lachten die beiden und Papa zwinkerte mir zu. »Da muss ich heute Abend mit deiner Mama noch mal allein drüber sprechen ...« Er gab mir einen Kuss und ließ mich von seinem Arm hinunter. »Bitte, bitte, Mama, sag Ja!«, rief ich und hüpfte durch die Wohnstube. Dann rannte ich in mein Zimmer und rief: »Ein Brüderchen, ein Brüderchen!«
Sobald Vater zu Hause war, kam auch Oma Clausen, Vaters Mutter Gerda, oft zu Besuch, oder wir fuhren zu ihr nach Lyck, wo sie ein Juweliergeschäft betrieb. Mein Vater Gerd, ein gelernter Goldschmied, und seine Familie haben mir wohl die Leidenschaft für Schmuck und alles, was glänzt, vererbt. Ob ich auch einen Opa Clausen hatte oder ob er schon verstorben war, da ran kann ich mich nicht erinnern.
Meine Großeltern mütterlicherseits nannte ich immer nur Oma und Opa, bei ihnen war ich besonders gern zu Besuch, denn sie besaßen nahe Königsberg ein Gut mit vielen Tieren. Doch der Weg dorthin war für meine Mutter und mich zu beschwerlich, sodass die Großeltern meist uns besuchen kamen.
Wenn ich mal wieder traurig war, weil Papa zurück an die Front musste, versuchte mich meine Mutter zu trösten. Worte halfen selten. Also spendierte sie uns ein Stück Torte in unserem Lieblingscafé ein paar Häuser weiter, oder wir besuchten den Tiergarten.
Eines Tages lag meine Mutter auf dem Sofa; sie hatte schon in den Wochen zuvor häufig über Übelkeit geklagt. Ich war wohl unruhig, denn Mama rief mich zu sich. »Komm, Monika, ich zeige dir was, du musst dir keine Sorgen machen «, sagte sie. Sie schob ihre Bluse hoch, legte ihre Hand auf den gewölbten Bauch und zog mich zu sich he ran. »Gib mir mal dein Händchen.« Zögernd streckte ich meinen Arm aus, und vorsichtig legte sie meine Hand auf ihren Bauch. Er war warm. Mama bedeutete mir, leise zu sein. Ich traute mich kaum zu atmen. Plötzlich spürte ich, wie etwas von innen gegen ihren Bauch trat. Erschrocken wich ich zurück. »Hab keine Angst, das ist dein Brüderchen. Er ist bei mir im Bauch und wächst, bis er groß genug ist, um auf die Welt zu kommen.«
Ich muss das alles sehr aufregend gefunden haben, wenngleich ich wohl nichts verstanden habe. Von nun an verging jedenfalls kein Tag, an dem ich den Babybauch nicht befühlte.
Noch ein Mal kam mein Vater auf Heimaturlaub nach Hause. Diesmal sagte er beim Abschied zu mir: »Pass gut auf Mama auf. Zur Geburt deines Bruders bin ich zurück.«
Sie war im achten Monat schwanger und ihr Bauch kugelrund, als ein Soldat vor unserer Wohnungstür stand. Zuerst sah ich am Kleid meiner Mutter vorbei nur die Uniform und dachte, es wäre Papa. Doch dann hörte ich die fremde Stimme. Der Soldat hatte seine Mütze abgenommen und reichte Mama ein Päckchen. »Ich muss leider eine traurige Nachricht überbringen. Das Flugzeug ihres Mannes wurde abgeschossen. Es tut mir wirklich sehr leid ...« Dann ging alles schnell. Mama fiel in Ohnmacht, sie wäre hingefallen, wenn der Fremde sie nicht aufgefangen hätte. Ich stand reglos da. Was war hier los? Ob das Baby kam? Aber es war doch noch viel zu früh, hatte Mama gesagt. Ich hatte ständig nachgefragt, wann es endlich so weit sei.
Der Soldat trug meine Mutter in die Wohnstube und legte sie aufs Sofa. »Ich hole einen Arzt!«, rief er und war auch schon aus der Tür. Ich streichelte Mama durch den weichen Stoff ihres Kleiderärmels, aber sie bewegte sich nicht. »Wach doch auf, Mama«, flüsterte ich. »Papa kommt bestimmt auch bald.«
Meine Mutter kam tatsächlich wieder zu sich, noch bevor ein Arzt in Uniform und der fremde Soldat ins Zimmer stürmten. »Gucken Sie mal den Bauch, da ist mein Brüderchen drinnen, deshalb ist Mama sicher umgefallen«, plapperte ich drauflos, als der Arzt sich über das Sofa beugte. Sanft schob er mich zur Seite, untersuchte meine Mutter und sprach leise mit ihr. Ich hörte ihr Wimmern, dann schickte sie die Männer fort.
Während sie das Päckchen auspackte, in dem die wenigen Habseligkeiten meines Vaters lagen, brach sie immer wieder in Tränen aus. Ich legte meine dünnen Arme um ihren Hals. »Mama, hör doch auf zu weinen«, flehte ich.
Erst eine ganze Weile später setzte sie sich auf und holte ein Taschentuch hervor, um sich die Tränen zu trocknen. Ihre Augen waren geschwollen, und die blonden Haare klebten feucht an den glühenden Wangen. Sie presste sich das Taschentuch gegen die Augen und weinte nur noch heftiger. Hatte Papa nicht gesagt, ich sollte auf Mama aufpassen? Ich nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und wischte über ihr Gesicht. Doch auch das half nicht. Sie sank auf das Sofa zurück, und ich legte mich zu ihr, ganz nah an den Babybauch. Irgendwann müssen wir beide über ihrem Weinen eingeschlafen sein.
Ich wachte auf, weil in Mamas Bauch etwas heftig rumpelte. Meine Mutter sah mich ohne ein Lächeln an. »Ich hole uns etwas zu trinken«, sagte sie, kam mit zwei Gläsern Wasser aus der Küche zurück und setzte sich zu mir. »Du musst jetzt ganz tapfer sein, Monika.« Noch nie hatten ihre Augen so traurig ausgesehen. »Papa kommt nicht mehr zu uns zurück. Er ist tot. Sein Flugzeug ist vom Himmel gefallen.«
Jetzt weinten wir beide. »Aber wo ist er denn, wenn er tot ist?«, fragte ich.
»Beim lieben Gott im Himmel.«
»Für immer?«
»Ja, Monika. Irgendwann werden wir ihn dort wiedersehen. «
»Und mein Brüderchen, wird er es dann auch sehen?«
»Ja, irgendwann ...«
Ich weiß nicht, wie viele Tage meine Mutter noch weinte, es kam mir unendlich lange vor. Als eines Morgens die Wehen einsetzten, war es für die Geburt eigentlich noch zu früh. Doch es gab keinen Aufschub mehr, Mama musste ins Krankenhaus.
Ich freute mich, dass Oma und Opa kamen, um auf mich aufzupassen. Und am nächsten Tag fuhren sie mit mir ins Krankenhaus; mein Bruder war geboren.
»Der ist aber klein!«, rief ich enttäuscht. »Mit dem kann ich ja gar nicht spielen.«
»Du glaubst nicht, wie schnell der groß wird«, sagte meine Oma zum Trost. Doch dann begann sie zu schluchzen, und auch meiner Mutter liefen wieder die Tränen über das Gesicht. Selbst in den Augen von Opa stand das Wasser.
»Ach, heult doch nicht, ich werde später mit ihm spielen«, sagte ich schnell. »Jetzt passe ich erst mal auf ihn auf, damit ihm nichts passiert.« Und dann fiel mir ein, dass er noch gar keinen Namen hatte, und ich fragte meine Mutter danach.
»Deinem Vater gefiel Peter als Jungenname besonders gut, sollen wir ihn Peter nennen?«
Ich nickte. »Na, Peterchen ...«
Erst als Mama mit meinem Bruder schon eine Weile zu Hause war, erfuhr ich, dass er niemals würde laufen können. Er hatte eine Rückenlähmung. Für meine Mutter bedeutete das noch mehr Arbeit, als sie ohnehin mit einem Säugling gehabt hätte. Das Stillen, das Wickeln, das Baden, die Bewegungsübungen, die sie mit Peter machen musste, die Wäsche, der Haushalt ... da blieb nicht mehr viel Zeit für mich. Ich spielte häufig allein mit meinen Puppen, am liebsten Vater, Mutter, Kind.
Manchmal war ich froh, wenn das Sirenengeheul losging und wir in den Keller mussten, denn da konnte ich ganz nah bei Mama sein. Doch nach der ersten Aufregung zog sich das Warten auf die Entwarnung hin. Außer uns waren nur die alten Leute aus der Parterrewohnung im Keller, wie wir hatten auch sie ein altes Sofa mit Decken in den kaltfeuchten Raum hin eingestellt, es gab Kerzen und eine Petroleumlampe, aber es blieb ungemütlich. Wenn Peterchen noch anfing zu schreien und sich nicht beruhigen ließ, lauschte ich angestrengt auf das Brummen der Flugzeugmotoren, das dumpf über die Stadt hinwegzog. Dann dachte ich oft, vielleicht ist Papa in einem dieser Flieger und kommt doch zurück. Wenn ich es meiner Mutter erzählte, erklärte sie mir jedes Mal, dass dies die feindlichen Flieger seien, die gefährliche Bomben abwarfen, mit denen sie Häuser zerstören und Menschen umbringen konnten. Dann wartete ich gespannt auf das Krachen. Wenn es sehr laut krachte und alles im Kellerraum erzitterte und die Regale um uns he rum schwankten, vergrub ich mein Gesicht voller Angst in meinem Schoß.
Oma und Opa kamen uns häufiger besuchen, seitdem Papa tot war. Oma Clausen aber habe ich nicht mehr wiedergesehen, sie war, kurz nachdem sie vom Tod ihres Sohnes erfahren hatte, selbst verstorben. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie noch einen Samtbeutel voll Schmuck mitgebracht und gesagt: »Das soll die Kleine mal bekommen, wenn sie schon keinen Vater mehr hat.« Ich freute mich über die vielen Ringe und Ketten, manche mit bunten oder hellen Steinen, weil sie so hübsch aussahen.
Die seltenen Besuche bei den Großeltern entlockten mir jedes Mal Jubelrufe. Auf dem Gutshof war immer etwas los. Zu Hause konnte ich einen Teddy über das Gitterbettchen halten, und Peter lächelte mich an, mit der Hündin Elsa aber tobte ich über die Wiesen und die Felder. In Königsberg waren solch ausgelassene Tage rar. Nur wenn Oma und Opa bei uns vorbeischauten, gab es etwas zu lachen. Ich stellte mich auf Opas Füße, und er lief mit mir durch die Wohnung. Oma sang Lieder mit mir, und sie kannte jede Menge Ratespiele. Doch eines Tages wollte sie unbedingt Schule mit mir spielen. Ich selbst war schon zu meinem Kaufladen gelaufen. »Es ist wichtig, dass du weißt, wer du bist und wohin du gehörst «, erklärte Oma. »Falls du mal verloren gehst.«
»Aber warum sollte ich denn verloren gehen?« Ich kicherte und kam hinter der Puppentheke wieder hervor. »Ich verspreche, dass ich hier bleibe. Und für die Schule bin ich doch noch viel zu klein.«
»Nun komm, mein Liebes, so ein paar Fragen beantworten, das schaffst du.« Oma lächelte mir aufmunternd zu. »Wie heißt du?«
»Och, das weißt du doch, Oma ... Monika.«
»Und wie heißt du noch?«
»Monika Charlotte Clausen von Quitzro. So haben es mir Mama und Papa gesagt.«
»Und wie heißt deine Mama?«
»Oma, warum fragst du das? Du weißt das doch alles selbst.«
»Kind, ich möchte, dass du es niemals vergisst. Also sei lieb und antworte mir.«
»Charlotte.«
»Und welche Haarfarbe hat sie?«
»Blond. Ganz schön sieht sie aus.«
»Und wie heißt dein Papa.«
»Gerd ... und er ist im Himmel.«
»Du bist ein schlaues Kind«, lobte Oma mich. Ich wollte mich schon abwenden und meine Puppe holen, aber Oma ließ nicht locker. »Und wo wohnst du?« Jetzt wusste ich keine Antwort mehr. »In Königsberg in Ostpreußen in der Kneiphöfischen Langgasse siebenundachtzig, wiederhol das mal, meine Kleine.« Ich sprach es brav nach, nur die Hausnummer hatte ich mir nicht gemerkt.
»Das üben wir nächstes Mal wieder, wenn wir uns sehen«, sagte Oma und nahm mich in den Arm.
»Kommen wir denn auch bald mal wieder zu euch? Ich möchte so gern mit Elsa spielen. Und bäckst du dann Apfelkuchen? «
Oma lachte. »Ja, dann backe ich Apfelkuchen.«
Ich hatte oft Sehnsucht nach den Großeltern, den Tieren und den Kindern auf dem Hof. An Nachbarskinder in der Stadt kann ich mich nicht erinnern. Mama und ich gingen mit Peterchen im Kinderwagen anfangs noch spazieren, aber wegen des Krieges wurden diese Ausflüge an der frischen Luft seltener. Wenn sie mich zu Erledigungen mitnahm, beeilten wir uns jedes Mal. Die meisten Leute liefen mit gesenkten Köpfen umher und schauten nicht nach rechts und nicht nach links. Es lagen auch immer mehr Schuttberge auf den Straßen, manche Häuser hatten lange Risse, und Fenster waren zerbrochen und mit Pappe notdürftig abgedichtet. Mama zog an meinem Arm. »Komm schnell weiter, Monika.« Ich mochte diese Hast nicht.
Es war im Sommer 1944, als die Fliegerangriffe häufiger wurden und oft Bomben laut in der Nähe einschlugen. Wir mussten immer wieder, ob tags oder nachts, in den Keller. An einem Nachmittag hörte ich wieder einmal die Sirenen jaulen. Aber Mama kam nicht angelaufen wie sonst, wenn ich in meinem Zimmer war. Ich hörte ihre Schritte im Schlafzimmer und ein Klappern, dann versank ich wieder in mein Kaufladenspiel. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, vielleicht nur Minuten, als auf einmal Mutter mit einem Fremden in der Kinderzimmertür stand. Er trug eine dunkelblaue Uniform, nicht so schön wie die meines Vaters. »Das ist Onkel Fritz. Sag guten Tag, Monika.« Ich stand schnell auf und wurde belohnt, denn Onkel Fritz schenkte mir eine Dose Schokolade. Früher hatte mein Vater immer welche mitgebracht, doch das war lange her. Ich wollte mich auf den Boden setzen und die Süßigkeit hervorholen, als Onkel Fritz sagte: »Nimm ein Stück, und dann pack den Rest schnell wieder ein. Wir müssen uns beeilen. Hörst du die Sirenen? Ich bringe euch fort von hier.«
Erst jetzt nahm ich das schrille Geheul und das dumpfe Krachen wieder wahr; laute Rufe von der Straße drangen zu uns in die Wohnung. »Fahren wir zu Oma und Opa ... und Elsa?«, fragte ich, bevor ich mir von der Schokolade in den Mund schob.
»Jetzt komm erst mal, wir müssen los«, sagte Mama und holte meine Jacke.
»Oder fahren wir zu Oma Clausen? Ich habe sie so lange nicht gesehen. Sie hat ein Schmuckgeschäft, und bei ihr fallen sicher keine Bomben«, plapperte ich.
Onkel Fritz nahm mich auf den Arm, und ich zeigte ihm meine Goldkette, auf deren Anhänger neben einem Engelchen mein Name stand. »Die hat mir mein Papa gemacht«, erzählte ich. Onkel Fritz sah lächelnd auf die Gravur, aber ich spürte, wie unruhig er war. - »Charlotte, hast du eine Tasche mit den nötigsten Dingen gepackt?«
Mama nickte. »Ich muss nur noch den Schmuckbeutel holen. Und du, Monika, suche dir eine Puppe aus, die du mitnehmen möchtest.« Onkel Fritz setzte mich ab, und er und Mama verließen das Kinderzimmer.
Ich suchte in meiner Puppenecke Gerda, eine Puppe mit blonden Haaren. Die anderen Puppen hatten alle nur aufgemalte Haare. Gerda war nicht zu finden, ich schaute im Regal nach ihr, unter dem Bett, im Bett, unter dem Schrank, im Schrank ... »Ich finde Gerda nicht!«, rief ich.
»Dann such dir eine andere aus. Aber schnell!« So hörte sich Mamas Stimme sonst nur an, wenn sie anfangen wollte, laut zu schimpfen. Auf der Stelle traten mir Tränen in die Augen.
»Monika, wo bleibst du denn?«, rief sie gereizt.
»Ich weiß aber nicht, welche ...« Mein Schluchzen ließ Mama und Onkel Fritz, der ein Bündel Decken auf dem Arm hielt, zu mir eilen. »Ganz ruhig«, sagte sie jetzt sanfter. In ihrer Hand schaukelte der Samtbeutel von Oma Clausen.
Ich wischte mir die Tränen ab. »Was machst du denn mit Omas Schmuck?«
»Den nehmen wir mit. Und wenn mir etwas passiert, Monika, dann musst du ihn an dich nehmen und unter deinem Kleidchen verstecken. Hörst du? Es ist alles, was wir haben.«
Wieder stiegen Tränen in mir auf. »Was soll dir denn passieren? Gehst du auch in den Himmel?«
»Aber nein, mein Kind, nein, nein. Vergiss das alles ganz schnell wieder. Ich gehe nicht in den Himmel. Wir bleiben zusammen und kommen ganz bald wieder nach Hause.«
Ich schluckte die Tränen hinunter. Wirklich beruhigt hatten mich diese Worte aber nicht. »Und wo gehen wir jetzt hin?«
Ich sah zu dem Onkel auf, und jetzt erst bemerkte ich, dass sich das Bündel bewegte: Er hatte Peter auf dem Arm. Donnerndes Krachen, gefolgt von einem Bersten und gedämpften Schreien erfüllte den Raum. Das Haus bebte. »Los, Monika, die Jacke. Und wo sind ihre Stiefel, Charlotte, hast du auch warme Sachen für die Nacht dabei? Wir müssen hier raus!
Sofort!« Onkel Fritz gab Anweisungen, und wir gehorchten. Mama brachte mir einen Waschlappen. »Hier, halt dir den vor den Mund, sobald wir draußen sind, es ist giftiger Rauch in der Luft.«
»Und lass die Hand deiner Mama unterwegs niemals los, verstanden!«, sagte Onkel Fritz. Dann liefen wir durch das Treppenhaus. Die alten Leute aus dem Parterre waren auf dem Weg in den Keller. »Hier können Sie nicht bleiben!«, rief Onkel Fritz ihnen nach. »Kommen Sie mit uns zum Bunker!« Doch der alte Mann antwortete, dass sie den Weg nicht schaffen würden, wir sollten uns aber beeilen, es wäre höchste Zeit.
Auf der Straße umgab uns beißender Nebel. Obwohl mir der kalte, wassergetränkte Lappen unangenehm war, tat ich, ohne zu zögern, was von mir verlangt worden war. Im ersten Moment sah ich nichts, dann graue Schatten, die hin und her liefen. Leute riefen, manche schrien. Ich hielt Mamas Hand, so fest ich konnte, dann rannten wir los.
»Vorsicht!«, brüllte Onkel Fritz, und im nächsten Moment schlug ein Stück Fenstersims vor uns auf dem Boden auf. »Kommt auf die Straße, der Bürgersteig ist zu gefährlich. « Mama zog mich mit sich; ich hatte Angst zu stolpern, so schnell liefen wir. Brennende Schlangen stürzten vom Himmel, das entsetzliche Grollen, viel schlimmer als bei einem Gewitter, nahm kein Ende. An uns vorbei liefen Menschen mit hässlichen Masken. Solche lagen auch in unserem Keller, ich hatte mich immer vor ihnen gefürchtet, und Mama hatte sie weit weggelegt. Ich musste husten und wollte mir mit dem Waschlappen über die brennenden Augen wischen, da hielt Mama kurz an und drückte mir den Lappen wieder fest auf den Mund. Sie brauchte nichts zu sagen. Bevor wir weiterliefen, sah ich aus dem Augenwinkel Leute auf dem Bürgersteig liegen. Ich wollte nur fort von diesen reglosen Gestalten, den berstenden Scheiben, he runterkrachenden Steinen und Feuerschlangen in der Luft. Voller Angst, dass die glühend heißen Irrlichter uns verfolgten, wandte ich mich um. Wo wir eben noch gelaufen waren, leuchtete jetzt eine lodernd rote Wand. Wie ein Sturm rauschte das Feuer durch die Straßen und schluckte die Todesschreie. Ich schaute zu Mama auf. »Fritz! Wo ist Fritz?«, rief sie voller Panik, hustete und hielt sich ihren Waschlappen wieder vor den Mund. Ich schleuderte an ihrer Hand nach rechts, nach links und im Kreis. »Onkel Fritz?«, schrie ich, traute mich aber nicht, den Lappen dabei vom Mund zu lösen. Endlich hatte Mama unseren Beschützer entdeckt. Sie zeigte aufgeregt unter einen Torbogen.
Wir standen nicht lange unter dem schweren Gemäuer. Onkel Fritz machte uns mit den Händen verständlich, wohin wir weiterlaufen sollten, doch plötzlich umzingelten Flammen das Tor. »Wir müssen zum Wasser!« Onkel Fritz fand einen Weg durch die Flammensäulen, und mit der Hitze stieg meine Angst, dass meine Kleider Feuer fingen. Wie oft hatte Opa mir erklärt, dass man nicht zu nah ans Feuer he rangehen durfte. Strauchelnd lief ich hinter Mama her, den Blick an ihre vorwärtsfliegenden Stiefel geklammert, bis auf einmal immer mehr Stiefel und Schuhe neben Mama auftauchten und wir immer langsamer vorankamen, weil so viele Leute um uns he rum waren. »Wir sind gleich am Ufer!«, rief Onkel Fritz. Anscheinend hatten sich viele Bewohner des Kneiphofs, die sich sonst nicht in Sicherheit hatten bringen können, an die Pregel geflüchtet. Onkel Fritz drängte sich als Erster an einer aufgeregten Menschentraube vorbei, und endlich standen wir am Fluss. »Los, ins Wasser!« Onkel Fritz' Anweisung ließ mich zusammenzucken. Erst jetzt erkannte ich die vielen Menschen, die wie Baumstümpfe aus dem Wasser ragten. Stumm und erstarrt. Oder hörte ich sie leise weinen? Mama wollte meine Hand loslassen, aber ich hielt sie erschrocken fest. Da schüttelte Mama sie energisch von ihrer ab. Onkel Fritz legte ihr Peter in die Arme. Als ich hilflos aufschaute, nahm mich Onkel Fritz und trug mich auf seinem Arm ins Wasser. Meine Füße hingen im Fluss, und in kürzester Zeit hatten sich die Stiefel vollgesogen, und die Kälte und die Feuchtigkeit krochen an mir hinauf. Ich zitterte am ganzen Körper. »Dort, Charlotte, lass uns dort hingehen.« Onkel Fritz wies mit einem Kopfnicken nach vorn. Jetzt standen auch wir im Fluss, und ich weinte leise wie Mama, die mit Peter im Arm neben mir stand. Während wir dastanden, musste ich immer nötiger zur Toilette, traute mich aber nicht, es zu sagen, und kniff die Beine zusammen. Nach einer Weile fing Peter an zu schreien. »Er hat Hunger«, sagte Mama. »Aber ich kann ihn jetzt nicht füttern.« Sie versuchte ihn mit Worten und Singen zu beruhigen, doch es half nicht. »Ich kann den Kleinen kaum noch halten, Fritz.« Mutters Stimme klang elend. Ohne Vorwarnung ließ mich Fritz von seinem Arm hinunter, und ich stand bis zum Bauch im Wasser. Onkel Fritz nahm Mama den schreienden Peter ab. »Wir müssen durchhalten «, sagte er. »Wir werden es schaffen. Kommt näher, dann wärmen wir uns gegenseitig.« Bevor ich mich an Mama drängte, ließ ich das Pipi laufen. Das Gefühl von Wärme und Erleichterung ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Peters Weinen wurde mit der Zeit leiser, dann muss er über seinem Hunger eingeschlafen sein. Wie viele Stunden bis in die Nacht hinein haben wir wohl so dicht beieinander im Wasser verharrt? Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Irgendwann wurde ich trotz der Kälte müde.
Stimmen ... Wo kommen die Stimmen her? Träume ich? Ich erwachte auf dem Arm von Onkel Fritz. »Nein, hier ist kein Platz mehr. Der Bunker ist voll!«, sagte eine raue Männerstimme. Wir befanden uns wieder auf festem Boden, vor einem steilen Treppenabgang, den nur wenige Petroleumlampen beleuchteten. »Gehen Sie weiter, glauben Sie mir, der Bunker ist schon überfüllt.« Onkel Fritz hörte nicht auf den Mann, schob ihn zur Seite und trug mich die Treppe hinunter. Über seine Schulter guckend sah ich, wie uns Mama mit Peter auf dem Arm folgte. Unten im Keller saßen, hockten und standen überall Menschen. »Sie, mit den Kindern, kommen Sie hierher, hier ist noch ein Eckchen!«, rief eine Frau zu uns he rüber. »Lasst die mal durch!«, rief ein alter Mann. »Die sind ganz nass und durchgefroren.« Dort, wo die Frau hingezeigt hatte, rutschten die Leute eng zusammen, sodass wirklich noch etwas Boden für uns frei wurde. Eine alte Frau neben mir breitete für uns eine Decke aus. »Komm, setz dich da rauf, du frierst doch sicher.«
»Danke«, sagte ich leise.
Mama legte Peter neben mich und holte aus der Tasche, die Fritz über der Schulter getragen hatte, trockene Sachen für mich he raus. »Hier, zieh das an, sonst holst du dir noch den Tod.« Ihre Stimme war heiser. Ich kuschelte mich an meinen Bruder, und er lachte mich an. Wenn er lachte, strahlte er über das ganze Gesicht. Und für einen Moment vergaß ich völlig, dass wir in diesem großen Keller mit den vielen fremden Menschen waren. Mama holte ein Fläschchen Milch aus der Tasche und gab es zuerst Peter, dann reichte sie es mir.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Monika Dahlhoff
Monika Dahlhoff wird 1940 in Königsberg geboren. An ihrem 18. Geburtstag verlässt sie ihre Familie und baut sich in Düsseldorf ein eigenes Leben auf. Viele Jahre lang muss sie hart arbeiten, um eine glückliche und sorgenfreie Existenz führen zu können. Doch es gelingt. Heute ist Monika Dahlhoff Mutter zweier erwachsener Töchter und lebt mit ihrem Mann in Hamm.
Bibliographische Angaben
- Autor: Monika Dahlhoff
- 2013, 4. Aufl., 272 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404607147
- ISBN-13: 9783404607143
- Erscheinungsdatum: 13.03.2013
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