Digitale Demenz
Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen
Der Gehirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer zeigt auf, wie die (zu) häufige Verwendung digitaler Medien Körper und Geist schädigen können. "Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach....
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Produktinformationen zu „Digitale Demenz “
Der Gehirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer zeigt auf, wie die (zu) häufige Verwendung digitaler Medien Körper und Geist schädigen können. "Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht", so Spitzer.
Spitzer weist darauf hin, dass digitale Medien uns mehr und mehr die geistige Arbeit abnehmen würden.Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht hätten, werde heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Das berge immense Gefahren. Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: "Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist." Bei Kindern und Jugendlichen werde die Lernfähigkeit durch Bildschirmmedien drastisch vermindert. Die Folgen: Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung auf und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung.
Klappentext zu „Digitale Demenz “
Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Das birgt immense Gefahren, so der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer. Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.
Lese-Probe zu „Digitale Demenz “
Digitale Demenz von Manfred SpitzerVorwort
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»Herr Spitzer, Sie kämpfen gegen Windmühlen - nein, gegen ganze Windfarmen. Machen Sie bitte weiter!«
Eine E-Mail schreibt man weit eher als einen konventionellen Brief per Schneckenpost. Und so bekomme ich sehr viele E-Mails, freundliche und weniger freundliche.
»Herr Spitzer, ich ballere hier gerade mit einer virtuellen Kalaschnikow. Wenn ich eine reale hätte, wären Sie der Erste, den ich umnieten würde. PS: Was Sie über den Zusammenhang zwischen virtueller Gewalt und realer Gewalt sagen, ist vollkommener Unsinn.«
Mehrere Bürgermeister haben mich in Stadthallen anlässlich von Vorträgen folgendermaßen begrüßt:
»Guten Abend, Herr Spitzer, mein Sohn hasst Sie, und ich hätte ihn gerne mitgebracht.« Die Wahrheit ist zuweilen auch für Fünfzehnjährige unbequem!
Auch die folgende: »Etwa 250 000 der Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährigen gelten als internetabhängig, 1,4 Millionen als problematische Internetnutzer.« So steht es im Jahresbericht der Suchtbeauftragten der Bundesregierung Mechthild Dyckmans, der am 22. Mai 2012 publiziert wurde. Während der Konsum von Alkohol, Nikotin sowie weichen und harten illegalen Rauschdrogen rückläufig ist, steigen Computer- und Internet-sucht dramatisch an. Die Regierung ist ratlos. Das Einzige, was ihr bislang eingefallen ist, sind höhere Strafen für Gastwirte, wenn sie Minderjährige an Glücksspielautomaten lassen.
Keine vier Wochen vor Erscheinen des Berichts der Suchtbeauftragten hatte Kulturstaatsminister Bernd Neumann die Laudatio auf ein Killerspiel gehalten, dessen Produzenten 50 000 Euro Steuergelder als Preis erhielten. Zugleich wird eine Verdreifachung der Spielsucht innerhalb von nur fünf Jahren festgestellt, die vor allem arbeitslose junge Männer betrifft. Ich selbst habe Computerspielsüchtige und Internetabhängige als Patienten an der von mir geleiteten Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm behandelt. Das Leben dieser Patienten wurde durch digitale Medien völlig ruiniert. Vor fünf Jahren verzeichneten Ärzte in Südkorea, einem hochmodernen Industriestaat mit weltweit führender Informationstechnik, bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Sie nannten das Krankheitsbild digitale Demenz.
Wenn ich in diesem Buch versuche, diese besorgniserregenden Entwicklungen zusammenfassend darzustellen, muss ich zwangsläufig auf Gedanken zurückgreifen, die ich schon vor Jahren aufgeschrieben und publiziert habe. Denn mit den durch Lernen bedingten Veränderungen des Gehirns und mit dem, was dies für unsere Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten bedeutet, beschäftige ich mich seit über zwanzig Jahren. Wie man an der Aktualität der hier verwendeten Literatur sehen kann, habe ich mich darum bemüht, vor allem neue und neueste Erkenntnisse in die Diskussion einzubinden.
Zuweilen wurde mir in der Vergangenheit bei verschiedenen Gelegenheiten vorgeworfen, ich hätte keine Ahnung, worüber ich schreibe. Nur wer selbst ein passionierter Spieler von Gewaltspielen sei, könne deren Faszination und die Effekte auf seine Psyche beurteilen. Dies ist nach meiner Erfahrung als Psychiater falsch. Der Alkoholiker kann die Auswirkungen von Alkohol auf seinen Körper und Geist deutlich schlechter einschätzen als der ihn behandelnde Psychiater, und nicht anders ist es bei anderen Suchterkrankungen und seelischen Leiden: Abstand und eine relativ unbeteiligte Sicht von außen sind nicht selten die besten Voraussetzungen dafür, einen Sachverhalt auch nur halbwegs objektiv zu beurteilen. Warum sollte dies im Hinblick auf digitale Medien anders sein?
Ich habe mich bemüht, den wissenschaftlichen Anforderun-
gen nach Genauigkeit und Dokumentation der Quellen zu genügen, ohne dabei die Lesbarkeit des Textes zu beeinträchtigen. So habe ich auf die Angabe von Signifikanzen (p-Werte) verzichtet, kann aber versichern, dass ich im Text nur auf Unterschiede eingehe, die statistisch signifikant sind. Wer dies im Einzelfall überprüfen möchte, sei auf die Originalliteratur verwiesen. Weiterhin sind sämtliche englischen Zitate von mir übersetzt, so dass ich mir einige hundert Hinweise »Übersetzung durch den Autor« gespart habe.
Dieses Buch ist meinen Kindern gewidmet. Ihnen eine Welt zu hinterlassen, die wertvoll, erhaltenswert und so lebenswert ist, dass man sich - trotz Erderwärmung, Weltwirtschaftskrise und den vielen bekannten großen Herausforderungen der Gegenwart - gerne dazu entschließt, selbst Kinder zu bekommen, ist mir ein hohes Ziel. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Welt zu arbeiten: Gemeinschaft, Zukunft, Freiheit, das Sich-Kümmern um die Menschen und ihre tatsächlichen Probleme, das selbstbestimmte Handeln aufgeklärter kritikfähiger Menschen zu fördern und sich für diejenigen einzusetzen, die das noch nicht können - unsere Kinder - oder nicht mehr können - Kranke und Ältere. Das sind meine Werte, die ich als Kind von meinen Eltern vorgelebt, wie eine Impfung aufgenommen und fürs Leben mitbekommen habe.
Ulm, an Pfingsten 2012
Manfred Spitzer
Einführung
Macht Google uns dumm?
»Macht Google uns dumm?« -- so lautet der Titel eines medienkritischen Essays des amerikanischen Publizisten und Internetexperten Nicholas Carr. 1 Wenn man sich mit den digitalen Medien und den von ihnen ausgehenden möglichen Gefahren befasst, dann sollte sich die Aufmerksamkeit allerdings nicht nur auf Google richten -- und es kann auch nicht allein um Dummheit gehen. Die moderne Gehirnforschung legt nämlich nahe, dass wir bei der Nutzung der digitalen Medien in einem größeren Rahmen allen Grund zur Sorge haben. Denn unser Gehirn befindet sich in einem fortwährenden Veränderungsprozess, und daraus folgt zwingend, dass der tägliche Umgang mit digitalen Medien eines nicht haben kann: keine Auswirkungen auf uns, die Nutzer.
Digitale Medien - Computer, Smartphones, Spielkonsolen und nicht zuletzt das Fernsehen -- verändern unser Leben. In den USA verbringen Jugendliche mittlerweile mehr Zeit mit digitalen Medien - gut siebeneinhalb Stunden täglich - als mit Schlafen, wie eine repräsentative Studie mit mehr als zweitausend Kindern und Jugendlichen im Alter von acht bis achtzehn Jahren ergab.
In Deutschland liegt die Mediennutzungszeit von Neuntklässlern bei knapp 7,5 Stunden täglich, wie eine große Befragung von 43 500 Schülern ergab. Das Nutzen von Handys und MP3-Playern ist dabei noch nicht mitberücksichtigt. Die folgende Tabelle liefert eine Übersicht nach Medien und Geschlecht aufgeschlüsselt.
Auch hierzulande wird mit Medienkonsum mehr Zeit zugebracht als in der Schule (knapp vier Stunden). 4 Eine ganze Reihe von Studien zum Medienkonsum zeigt mittlerweile überdeutlich, dass dies im höchsten Maße Anlass zur Besorgnis geben sollte. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Es wird in den Augen vieler Menschen ein unbequemes Buch sein, ein sehr unbequemes. Als Psychiater und Gehirnforscher kann ich aber nicht anders. Ich habe Kinder und möchte nicht, dass sie mir in zwanzig Jahren vorhalten: »Papa, du wusstest das alles - und warum hast du dann nichts getan?«
Weil ich mich seit Jahrzehnten mit Menschen, dem Gehirn, Lernprozessen und den Medien beschäftige und weil ich Entwicklungen - sicherlich durch die Brille des Vaters und auch durch die des Gehirnforschers - anders sehe als die meisten Menschen, möchte ich die Fakten, Daten und Argumente so klar wie möglich auf den Tisch legen. Ich beziehe mich dabei in der Hauptsache auf wissenschaftliche Studien aus guten, bekannten und für jedermann zugänglichen wissenschaftlichen Fachblättern. »Ach, Sie mit Ihrer Wissenschaft«, höre ich Kritiker schon entgegnen.
Hierzu nur ganz kurz: Wissenschaft ist das Beste, was wir haben! Sie ist die gemeinschaftliche Suche nach wahren, verlässlichen Erkenntnissen über die Welt einschließlich unserer selbst. Wer in die Apotheke geht und eine Kopfschmerztablette kauft, ein Auto oder Flugzeug besteigt, den Herd oder auch nur das Licht einschaltet (von Fernseher oder Computer gar nicht zu reden!), der hat im Grunde jedes Mal schon unterschrieben, wie sehr er sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaft verlassen kann und auch tatsächlich verlässt. Wer die Verlässlichkeit der Ergebnisse von Wissenschaft in Bausch und Bogen einfach ablehnt, der weiß entweder nicht, was er sagt, oder sagt bewusst die Unwahrheit.
Wo ist das Problem?
Im Jahre 1913 schrieb Thomas Edison - der Erfinder der Glühbirne, des Plattenspielers und des Kinos - in einer New Yorker Zeitung: »Bücher werden in Schulen bald obsolet sein ... Es ist möglich, jeden Zweig des Wissens der Menschheit mit Hilfe von Filmen zu lehren. Unser Schulsystem wird innerhalb von zehn Jahren vollkommen verändert sein.« 5 Als knapp fünfzig Jahre später das Fernsehen aufkam, gab es ähnlich optimistische Stimmen, die meinten, man könne nun endlich Kultur, Werte und Wissen bis in die letzten Winkel der Welt bringen und so den Bildungsstand der Menschheit insgesamt deutlich verbessern. Noch einmal fünfzig Jahre später bringt der Computer die Leute dazu, wieder von völlig neuen Möglichkeiten zu sprechen, die das Lernen in der Schule revolutionieren werden. Dieses Mal ist allerdings alles anders, werden Scharen von Medienpädagogen nicht müde zu betonen. Dabei sind wir schon Zeuge des Aufstiegs und Falls des E-Learning geworden, so wie wir in den siebziger Jahren das Scheitern von Sprachlaboren und Programmiertem Unterricht erlebt haben. Das Lernen allein am Computer funktioniert nicht - darüber sind sich mittlerweile sogar die größten Fürsprecher der Computernutzung einig. Warum ist das so? Und was bedeutet das für diejenigen, die dauernd mit Computer und Internet umgehen?
Der Publizist Nicholas Carr beschreibt die von ihm erlebten Folgen seiner Internetnutzung wie folgt: »Das Netz scheint mir meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation zu zerstören. Mein Geist erwartet nun, Informationen in genau der Weise aufzunehmen, wie sie durch das Netz geliefert werden: In Form eines rasch bewegten Stroms kleiner Teilchen [ ... ] Meine Freunde sagen dasselbe: Je mehr sie das Netz benutzen, desto mehr müssen sie kämpfen, um sich auf das Schreiben längerer Abschnitte zu konzentrieren.« 6
Zur Beantwortung der Frage, was das Internet und die neuen digitalen Medien mit uns machen, gibt es weit mehr als nur Erlebnisberichte und empirische Studien aus der Medienwirkungsforschung. Auch die Grundlagenforschung zur Funktion des Gehirns kann hier einiges beitragen. In ähnlicher Weise, wie die Biochemie unseren Blick für Stoffwechselerkrankungen schärft, ermöglicht uns heute das Verständnis der Mechanismen von Lernen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Entwicklung eine klarere Sicht auf die Gefahren digitaler Medien.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen im Bereich der Neurobiologie gehört, dass sich das Gehirn durch seinen Gebrauch permanent ändert. Wahrnehmen, Denken, Erleben, Fühlen und Handeln -
all dies hinterlässt so genannte Gedächtnisspuren. Waren diese bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch hypothetische Gebilde, so kann man sie heute sichtbar machen. Die Synapsen - jene plastischen, sich verändernden Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, über welche die elektrischen Signale laufen, mit denen das Gehirn arbeitet - können heute fotografiert und sogar gefilmt werden. Man kann zusehen, wie sie sich bei Lernprozessen verändern. Auch die Größe und die Aktivität ganzer Bereiche des Gehirns lassen sich mittels bildgebender Verfahren sichtbar machen, und so lassen sich die neuronalen Auswirkungen von Lernprozessen im großen Stil nachweisen.
Wenn nun aber das Gehirn immer lernt (es kann eines nicht: nicht lernen!), dann hinterlässt auch die mit digitalen Medien verbrachte Zeit ihre Spuren. Hierbei ist auch noch Folgendes zu beachten: Unser Gehirn ist das Produkt der Evolution; es entstand also über einen langen Zeitraum durch Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen, zu denen digitale Medien definitiv nicht gehörten. Und ebenso wie man heute sehr viele Zivilisationskrankheiten als Ausdruck eines Missverhältnisses der früheren Lebensweise ( Jagen und Sammeln, also viel Bewegung und ballaststoffreiche Nahrung) und des modernen Lebensstils (wenig Bewegung, ballaststoffarme Nahrung) versteht, lassen sich die negativen Auswirkungen der digitalen Medien auf geistig-seelische Prozesse im evolutions- und neurobiologischen Rahmen besser begreifen. Es können hierbei ganz unterschiedliche Mechanismen und Prozesse beschrieben werden, die kognitive Leistungen wie Aufmerksamkeit, Sprach- oder Intelligenzentwicklung betreffen, sich also letztlich auf die Funktion des menschlichen Geistes beziehen. Wie in der Folge anhand von Beispielen gezeigt werden wird, hat dies erhebliche Auswirkungen auf emotionale und soziale psychische Prozesse, bis hin zu ethisch-moralischen Einstellungen sowie unsere Eigenperspektive, also unsere personale Identität.
»Digitale Demenz - so ein Unfug!«, höre ich meine Kritiker schon laut rufen. Dabei bräuchten sie nur selbst ins weltumspannende digitale Datennetz zu gehen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Googelt man die Stichwörter »digitale Demenz« bzw. »digital dementia«, dann erhält man in etwas weniger als einer Fünftelsekunde etwa 8000 und auf Englisch 38 000 Einträge.
Wer denken lässt, wird kein Experte
Wer jetzt noch zweifelt, der überlege einmal kurz: Die Telefonnummern der Verwandten, Freunde und Bekannten sind im Handy gespeichert. Den Weg zum verabredeten Treffen mit ihnen zeigt das Navigationssystem. Die beruflichen und privaten Termine hat man ebenfalls im Handy oder im PDA (dem Personal Digital Assistant). Wer etwas wissen will, der googelt; seine Fotos, Briefe, Mails, Bücher und Musik hat man in der Wolke. Selbst denken, speichern, überlegen - Fehlanzeige.
Jeden Tag bekomme ich von Schülern und Studenten E-Mails etwa der folgenden Art:
Lieber Herr Professor,
ich / wir arbeite / n gerade an einem Referat [einer Hausarbeit / einer Bachelor- / Magisterarbeit / einer Dissertation] zum Thema Gehirn und x [setzen Sie für die Variable x jeden beliebigen Sachverhalt ein]. Können Sie mir / uns bitte die folgenden Fragen beantworten: (1) Wie funktioniert das Gehirn? (2) ...
[Und wenn es sich beim Absender um Schüler handelt, findet sich nicht selten der folgende Schlusssatz.] Bitte beachten Sie noch, dass wir morgen abgeben müssen; es wäre also gut, wir hätten Ihre Antworten gleich ...
Wenn ich überhaupt antworte (das hängt von meiner Tagesform, Zeit und der Nettigkeit des Schreibens ab), dann schicke ich Artikel, die von den Betreffenden selbst gelesen werden müssen. Und das sage ich ihnen auch. Denn wer im Netz einfach jemanden fragt, statt sich selbst mit einem Thema zu beschäftigen, der hat gar nicht begriffen, warum er diese Arbeit überhaupt macht: Die Schüler sollen ja lernen, selbst zu denken! So lässt sich vermeiden, was drei Schülern passiert ist: Sie sollten ein Referat über Georgien halten und lieferten eine sehr schöne PowerPoint-Präsentation ab - über Georgia!
Was mir sehr zu denken gibt, ist die Tatsache, dass sogar manche Lehrer und Professoren nicht begriffen zu haben scheinen, was Lernen eigentlich bedeutet. Denn Studenten schreiben mir nach meiner Verweigerung eines Interviews oder einer Fragenbeantwortung: »Ich bekomme eine schlechtere Note, wenn ich nicht Experten zum Thema befrage.« Den Lehrkräften würde ich dann gerne antworten (und zuweilen sende ich dem Schüler / Studenten einen entsprechenden Text): So wenig, wie man das Bergsteigen dadurch erlernt, wenn jemand einen auf den Gipfel trägt, wird ein junger Mensch zum Experten (für welches Sachgebiet auch immer), wenn er einen Experten fragt. Sich Wissen aus Quellen selbst anzueignen, es kritisch zu hinterfragen, abzuwägen, die Quellen selbst zu hinterfragen, die Details eines Puzzles zu einer sinnvollen Einheit zusammenzufügen - all das muss man selbst tun, um es irgendwann zu können. Dieses Können wird, wie jedes Expertentum, auch in der Kenntnis mancher Sachverhalte bestehen, aber es wird vor allem auf einer sicheren Kenntnis von Quellen und deren Zuverlässigkeit und vielem mehr beruhen. Kurzum: Ein Sachverhalt will durchdrungen sein.
Es geht hier nicht um »Auswendiglernen«. Niemand wird Bergsteiger, wenn er die Namen von Bergen oder die Wegmarken von Routen auswendig lernt! (Wohlgemerkt: Bergsteiger verfügen über dieses Wissen; aber es ist offensichtlich, dass dies nicht alles ist und dass es darum auch gar nicht geht. Man lernt das nebenbei.) Oft werde ich gefragt, ob es schlecht sei, dass man heute in der Schule weniger Gedichte auswendig lernt. Ich bin mir da nicht sicher, aber ich weiß, dass man dadurch lernen kann, seinen Geist als Speicher zu gebrauchen, und dies ist nicht unwichtig, wenn man etwas lernt. Wer schon weiß, dass er den Sachverhalt, mit dem er sich gerade beschäftigt, gar nicht lernen kann oder will, der lernt ihn auch tatsächlich deutlich schlechter. Wer also nicht darauf aus ist, dass etwas hängenbleibt, bei dem bleibt auch deutlich weniger hängen.
Demenz ist mehr als nur Vergesslichkeit. Und so geht es mir bei der digitalen Demenz auch um mehr als nur darum, dass besonders junge Menschen immer vergesslicher zu werden scheinen, worauf erstmals koreanische Wissenschaftler im Jahre 2007 hingewiesen haben. Es geht vielmehr um geistige Leistungsfähigkeit, Denken, Kritikfähigkeit, um die Übersicht im »Dickicht der Informationsflut«. Wenn die Kassiererin »2 plus 2« mit der Maschine berechnet und nicht merkt, dass das Ergebnis »400« falsch sein muss, wenn die NASA einen Satelliten in den Sand (bzw. ins endlose All) setzt, weil niemandem aufgefallen ist, dass Inches und Meilen nicht dasselbe sind wie Zentimeter und Kilometer, oder wenn Banker sich mal eben um 55 Milliarden Euro verrechnen, dann heißt dies letztlich alles nur, dass keiner mehr mitdenkt. Offenbar hat in diesen Fällen niemand grob im Kopf überschlagen, was größenordnungsmäßig herauskommen müsste, sondern sich stattdessen auf irgendeinen digitalen Assistenten verlassen. Wer hingegen mit Rechenschieber oder Abakus rechnet, der muss die Größenordnung im Geist mitbedenken und kann kein völlig unwahrscheinliches Ergebnis liefern.
Ewig gestrig, romantisch, technikfeindlich?
»Sie sind ja völlig altmodisch! Wollen Sie nicht gleich zurück in die Höhle?«, werden Kritiker mir wieder entgegnen. Nein, das will ich nicht. Im Gegenteil: Wenn wir nicht aufpassen und nicht endlich damit aufhören, die nächste Generation systematisch zu verdummen, dann werden spätestens deren Kinder zwar nicht in der Höhle, aber jedenfalls in ungünstigeren Umständen leben. Denn unser Wohlstand und unsere Gesellschaft hängen wesentlich davon ab, dass viele von uns Experten sind und irgendetwas richtig gut können.
Ich bin auch kein »Medienhasser«, wie immer wieder behauptet wird. Jede Woche am Freitag um 22.45 läuft meine Sendung Geist und Gehirn, und wenn Sie sich diese 15 Minuten Fernsehen wöchentlich gönnen, dann gebe ich Ihnen hiermit schriftlich, dass dies Ihrem Gehirn nicht schadet. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert arbeite ich auch nahezu täglich am Computer. Der ist aus meinem Leben ebenso wenig wegzudenken wie aus dem Leben der meisten Menschen. Warum arbeiten Millionen Menschen am Computer? Weil er Arbeitsabläufe beschleunigt, indem er uns geistige Arbeit abnimmt. Warum fahren Menschen mit dem Auto? Weil dies unsere Fortbewegung beschleunigt, indem es uns die körperlichen Mühen der Fortbewegung abnimmt. Und genauso, wie ich täglich einen Computer benutze, fahre ich täglich Auto.
Wie die meisten Autofahrer weiß ich aber auch, dass ich mich zu wenig bewege. Stellen Sie sich nun vor, es käme jemand auf die Idee, ein Gaspedal ohne Auto zu bauen, um es in Schulen zum Training der wegen Bewegungsmangel verkümmernden Wadenmuskulatur der Schüler einzusetzen. »Wir sind eine der größten Autonationen der Welt. Unsere Schüler brauchen mehr Training; also müssen wir ihnen das Autofahren frühzeitig nahebringen. Was könnte besser sein als ein Gaspedal für jeden Schüler, unter dem Tisch rechts vor dem Stuhl. Dann bleiben die Waden fit, und wir gewöhnen sie auch gleich ans Autofahren.« So hätten sich Heerscharen von Verkehrspädagogen vor dreißig Jahren schon äußern können, wäre das Argument nicht für jeden nachvollziehbar lächerlich. Bei digitalen Medien ist das ebenso, und viele Menschen merken auch, dass das Marktgeschrei von der digitalen Revolution im Klassenzimmer nicht stimmt. Es heißt, dass die neuen Medien heute eben zum Alltag gehören und wir die Kinder an sie gewöhnen müssen. Dem muss entgegnet werden: Neue Medien haben wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen ein Suchtpotenzial. Computer- und Internetsucht sind hierzulande mittlerweile häufig auftretende Phänomene mit verheerenden Folgen für die Betroffenen. Man könnte also auch behaupten: »Bier und Wein sind Bestandteil unserer Gesellschaft und Kultur. Wir müssen den Kindern schon im Kindergarten den kritischen Umgang damit beibringen. Daher gehören sie dorthin.« Eine ganze Industrie würde sich über solche Empfehlungen sehr freuen, viele Menschen und die Gesellschaft ins gesamt würden jedoch großen Schaden davontragen.
»Herr Spitzer, Sie sind technikfeindlich!«, mögen mir einige vorwerfen. Nein das bin ich nicht. Ich bin jedoch sehr dafür, dass wir vorsichtig sind, was neue Technik anbelangt. Anhand eines Beispiels sollten wir aus der Geschichte lernen: Als vor gut hundert Jahren die Röntgenstrahlen erfunden wurden, waren Röntgengeräte bald danach auf Partys der Oberschicht der Renner, und man fotografierte sich gegenseitig die Knochen. 7 Allein in den USA hielten Mitte der zwanziger bis Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehr als 10 000 Pedoskope Einzug in Schuhgeschäfte, mit denen man seine Fußknochen betrachten konnte. 8 Den Verkauf der Geräte beförderte interessanterweise die Angst der Kunden vor nicht gut passenden Schuhen - vor allem auch bei ihren Kindern: »Ihre Füße haben Sie lebenslänglich« 9 , erinnerte man die Kunden durch entsprechende Werbung, und daher sollten die Schuhe genau passen - insbesondere natürlich den Kindern. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Depression in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde zudem argumentiert, dass gut passende Schuhe länger halten - dass man also durch das Gerät Geld spare. Man machte sich zudem die Tatsache zunutze, dass in den Jahren zuvor das Stromnetz in nahezu alle Haushalte Einzug gehalten hatte, wodurch der Siegeszug der Technisierung allen Beteiligten sehr deutlich vor Augen geführt worden war: Niemand konnte dem Argument widerstehen, dass jetzt endlich alles besser werden würde, auch wenn es keinerlei wissenschaftliche Daten gab, welche die Einführung und breite Verwendung der Apparate rechtfertigte. »Das dornige Problem der Wahrheit in der Werbung wurde auf diese Weise fein säuberlich umgangen«, bemerken die kanadischen Medizinhistoriker Jacalyn Duffin and Charles Hayter 10 in einer Übersicht zu diesen Geräten lakonisch. In Wahrheit war das Ganze ein Trick, um die Menschen in die Schuhgeschäfte zu locken. Vor allem Kinder, die für alles Neue einfach zu begeistern sind, hatten einen Riesenspaß daran, ihre eigenen Fußknochen zu betrachten, weswegen die Maschinen »für Kinder so aufregend waren wie geschenkte Luftballons
und Dauerlutscher«. 11 Man stellte die Geräte daher auch entsprechend im Schuhgeschäft auf: »Wir empfehlen Ihnen, die Maschine in der Mitte des Ladens aufzustellen, so dass man von allen Seiten gut an sie herankommt. Natürlich sollten sie in der Nähe der Damen- und Kinderabteilung aufgestellt werden, weil dort mehr Umsatz gemacht wird« 12 , hieß es in der Anweisung zur Aufstellung der Geräte. Dass dies auch tatsächlich geschah, zeigt die folgende Abbildung.
Erst als man nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki im Jahre 1945 die massiven Strahlenschäden bei den Überlebenden zur Kenntnis nahm, wurde den Menschen weltweit die Gefahr durch elektromagnetische Strahlen bewusst. Im Jahr 1950 publizierte Messungen 13 an Pedoskopen ergaben eine aus heutiger Sicht unverantwortlich hohe Strahlenbelastung mit - gerade bei Kindern - kaum abschätzbaren gesundheitlichen Folgen. Dennoch dauerte es noch mehr als zwanzig Jahre, bis auch die letzten Geräte aus den Läden verschwanden. Über das Ausmaß an Krankheit und Tod durch ihren weltweiten Einsatz über vier Jahrzehnte hinweg können heute nur noch Vermutungen angestellt werden. Aber eines sollte klar sein: Werbung zur Verkaufsförderung, gemischt mit Angst und zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei eher armen Schichten der Bevölkerung vor dem Hintergrund der gerade erfolgten flächendeckenden Einführung eines neuen Netzanschlusses, waren schon damals die treibenden Kräfte für die Verbreitung neuer Maschinen, deren Funktion durch eine einfache Messlatte ebenso gut erfüllt wurde und deren Gefährlichkeit für die Volksgesundheit erst Jahrzehnte später erkannt wurde.
Die Ähnlichkeiten mit der Vermarktung von Computern im Bildungsbereich sind verblüffend: Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen braucht man einen Computer zum Lernen genauso dringend wie ein Fahrrad zum Schwimmen oder ein Röntgengerät, um Schuhe anzuprobieren. Weil jedoch gerade sozial schwache Familien permanent erzählt bekommen, wie wichtig ein Computer für das Lernen sei, kaufen vor allem diese von ihren ohnehin geringen Ersparnissen ein Gerät - letztlich aus Sorge um die Zukunft der Kinder - und bewirken damit genau das Gegenteil dessen, was sie für ihre Kinder wollen: bessere Bildungschancen. Denn Computer fördern nicht die Bildung der jungen Menschen, sondern verhindern sie eher oder haben bestenfalls gar keinen Effekt, wie in den folgenden Kapiteln detailliert gezeigt wird. Die Industrie operiert also geschickt mit der Angst der Eltern aus sozial schwachen Schichten, um ihnen auch noch das letzte Geld aus den Taschen zu ziehen.
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© 2012 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
»Herr Spitzer, Sie kämpfen gegen Windmühlen - nein, gegen ganze Windfarmen. Machen Sie bitte weiter!«
Eine E-Mail schreibt man weit eher als einen konventionellen Brief per Schneckenpost. Und so bekomme ich sehr viele E-Mails, freundliche und weniger freundliche.
»Herr Spitzer, ich ballere hier gerade mit einer virtuellen Kalaschnikow. Wenn ich eine reale hätte, wären Sie der Erste, den ich umnieten würde. PS: Was Sie über den Zusammenhang zwischen virtueller Gewalt und realer Gewalt sagen, ist vollkommener Unsinn.«
Mehrere Bürgermeister haben mich in Stadthallen anlässlich von Vorträgen folgendermaßen begrüßt:
»Guten Abend, Herr Spitzer, mein Sohn hasst Sie, und ich hätte ihn gerne mitgebracht.« Die Wahrheit ist zuweilen auch für Fünfzehnjährige unbequem!
Auch die folgende: »Etwa 250 000 der Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährigen gelten als internetabhängig, 1,4 Millionen als problematische Internetnutzer.« So steht es im Jahresbericht der Suchtbeauftragten der Bundesregierung Mechthild Dyckmans, der am 22. Mai 2012 publiziert wurde. Während der Konsum von Alkohol, Nikotin sowie weichen und harten illegalen Rauschdrogen rückläufig ist, steigen Computer- und Internet-sucht dramatisch an. Die Regierung ist ratlos. Das Einzige, was ihr bislang eingefallen ist, sind höhere Strafen für Gastwirte, wenn sie Minderjährige an Glücksspielautomaten lassen.
Keine vier Wochen vor Erscheinen des Berichts der Suchtbeauftragten hatte Kulturstaatsminister Bernd Neumann die Laudatio auf ein Killerspiel gehalten, dessen Produzenten 50 000 Euro Steuergelder als Preis erhielten. Zugleich wird eine Verdreifachung der Spielsucht innerhalb von nur fünf Jahren festgestellt, die vor allem arbeitslose junge Männer betrifft. Ich selbst habe Computerspielsüchtige und Internetabhängige als Patienten an der von mir geleiteten Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm behandelt. Das Leben dieser Patienten wurde durch digitale Medien völlig ruiniert. Vor fünf Jahren verzeichneten Ärzte in Südkorea, einem hochmodernen Industriestaat mit weltweit führender Informationstechnik, bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Sie nannten das Krankheitsbild digitale Demenz.
Wenn ich in diesem Buch versuche, diese besorgniserregenden Entwicklungen zusammenfassend darzustellen, muss ich zwangsläufig auf Gedanken zurückgreifen, die ich schon vor Jahren aufgeschrieben und publiziert habe. Denn mit den durch Lernen bedingten Veränderungen des Gehirns und mit dem, was dies für unsere Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten bedeutet, beschäftige ich mich seit über zwanzig Jahren. Wie man an der Aktualität der hier verwendeten Literatur sehen kann, habe ich mich darum bemüht, vor allem neue und neueste Erkenntnisse in die Diskussion einzubinden.
Zuweilen wurde mir in der Vergangenheit bei verschiedenen Gelegenheiten vorgeworfen, ich hätte keine Ahnung, worüber ich schreibe. Nur wer selbst ein passionierter Spieler von Gewaltspielen sei, könne deren Faszination und die Effekte auf seine Psyche beurteilen. Dies ist nach meiner Erfahrung als Psychiater falsch. Der Alkoholiker kann die Auswirkungen von Alkohol auf seinen Körper und Geist deutlich schlechter einschätzen als der ihn behandelnde Psychiater, und nicht anders ist es bei anderen Suchterkrankungen und seelischen Leiden: Abstand und eine relativ unbeteiligte Sicht von außen sind nicht selten die besten Voraussetzungen dafür, einen Sachverhalt auch nur halbwegs objektiv zu beurteilen. Warum sollte dies im Hinblick auf digitale Medien anders sein?
Ich habe mich bemüht, den wissenschaftlichen Anforderun-
gen nach Genauigkeit und Dokumentation der Quellen zu genügen, ohne dabei die Lesbarkeit des Textes zu beeinträchtigen. So habe ich auf die Angabe von Signifikanzen (p-Werte) verzichtet, kann aber versichern, dass ich im Text nur auf Unterschiede eingehe, die statistisch signifikant sind. Wer dies im Einzelfall überprüfen möchte, sei auf die Originalliteratur verwiesen. Weiterhin sind sämtliche englischen Zitate von mir übersetzt, so dass ich mir einige hundert Hinweise »Übersetzung durch den Autor« gespart habe.
Dieses Buch ist meinen Kindern gewidmet. Ihnen eine Welt zu hinterlassen, die wertvoll, erhaltenswert und so lebenswert ist, dass man sich - trotz Erderwärmung, Weltwirtschaftskrise und den vielen bekannten großen Herausforderungen der Gegenwart - gerne dazu entschließt, selbst Kinder zu bekommen, ist mir ein hohes Ziel. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Welt zu arbeiten: Gemeinschaft, Zukunft, Freiheit, das Sich-Kümmern um die Menschen und ihre tatsächlichen Probleme, das selbstbestimmte Handeln aufgeklärter kritikfähiger Menschen zu fördern und sich für diejenigen einzusetzen, die das noch nicht können - unsere Kinder - oder nicht mehr können - Kranke und Ältere. Das sind meine Werte, die ich als Kind von meinen Eltern vorgelebt, wie eine Impfung aufgenommen und fürs Leben mitbekommen habe.
Ulm, an Pfingsten 2012
Manfred Spitzer
Einführung
Macht Google uns dumm?
»Macht Google uns dumm?« -- so lautet der Titel eines medienkritischen Essays des amerikanischen Publizisten und Internetexperten Nicholas Carr. 1 Wenn man sich mit den digitalen Medien und den von ihnen ausgehenden möglichen Gefahren befasst, dann sollte sich die Aufmerksamkeit allerdings nicht nur auf Google richten -- und es kann auch nicht allein um Dummheit gehen. Die moderne Gehirnforschung legt nämlich nahe, dass wir bei der Nutzung der digitalen Medien in einem größeren Rahmen allen Grund zur Sorge haben. Denn unser Gehirn befindet sich in einem fortwährenden Veränderungsprozess, und daraus folgt zwingend, dass der tägliche Umgang mit digitalen Medien eines nicht haben kann: keine Auswirkungen auf uns, die Nutzer.
Digitale Medien - Computer, Smartphones, Spielkonsolen und nicht zuletzt das Fernsehen -- verändern unser Leben. In den USA verbringen Jugendliche mittlerweile mehr Zeit mit digitalen Medien - gut siebeneinhalb Stunden täglich - als mit Schlafen, wie eine repräsentative Studie mit mehr als zweitausend Kindern und Jugendlichen im Alter von acht bis achtzehn Jahren ergab.
In Deutschland liegt die Mediennutzungszeit von Neuntklässlern bei knapp 7,5 Stunden täglich, wie eine große Befragung von 43 500 Schülern ergab. Das Nutzen von Handys und MP3-Playern ist dabei noch nicht mitberücksichtigt. Die folgende Tabelle liefert eine Übersicht nach Medien und Geschlecht aufgeschlüsselt.
Auch hierzulande wird mit Medienkonsum mehr Zeit zugebracht als in der Schule (knapp vier Stunden). 4 Eine ganze Reihe von Studien zum Medienkonsum zeigt mittlerweile überdeutlich, dass dies im höchsten Maße Anlass zur Besorgnis geben sollte. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Es wird in den Augen vieler Menschen ein unbequemes Buch sein, ein sehr unbequemes. Als Psychiater und Gehirnforscher kann ich aber nicht anders. Ich habe Kinder und möchte nicht, dass sie mir in zwanzig Jahren vorhalten: »Papa, du wusstest das alles - und warum hast du dann nichts getan?«
Weil ich mich seit Jahrzehnten mit Menschen, dem Gehirn, Lernprozessen und den Medien beschäftige und weil ich Entwicklungen - sicherlich durch die Brille des Vaters und auch durch die des Gehirnforschers - anders sehe als die meisten Menschen, möchte ich die Fakten, Daten und Argumente so klar wie möglich auf den Tisch legen. Ich beziehe mich dabei in der Hauptsache auf wissenschaftliche Studien aus guten, bekannten und für jedermann zugänglichen wissenschaftlichen Fachblättern. »Ach, Sie mit Ihrer Wissenschaft«, höre ich Kritiker schon entgegnen.
Hierzu nur ganz kurz: Wissenschaft ist das Beste, was wir haben! Sie ist die gemeinschaftliche Suche nach wahren, verlässlichen Erkenntnissen über die Welt einschließlich unserer selbst. Wer in die Apotheke geht und eine Kopfschmerztablette kauft, ein Auto oder Flugzeug besteigt, den Herd oder auch nur das Licht einschaltet (von Fernseher oder Computer gar nicht zu reden!), der hat im Grunde jedes Mal schon unterschrieben, wie sehr er sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaft verlassen kann und auch tatsächlich verlässt. Wer die Verlässlichkeit der Ergebnisse von Wissenschaft in Bausch und Bogen einfach ablehnt, der weiß entweder nicht, was er sagt, oder sagt bewusst die Unwahrheit.
Wo ist das Problem?
Im Jahre 1913 schrieb Thomas Edison - der Erfinder der Glühbirne, des Plattenspielers und des Kinos - in einer New Yorker Zeitung: »Bücher werden in Schulen bald obsolet sein ... Es ist möglich, jeden Zweig des Wissens der Menschheit mit Hilfe von Filmen zu lehren. Unser Schulsystem wird innerhalb von zehn Jahren vollkommen verändert sein.« 5 Als knapp fünfzig Jahre später das Fernsehen aufkam, gab es ähnlich optimistische Stimmen, die meinten, man könne nun endlich Kultur, Werte und Wissen bis in die letzten Winkel der Welt bringen und so den Bildungsstand der Menschheit insgesamt deutlich verbessern. Noch einmal fünfzig Jahre später bringt der Computer die Leute dazu, wieder von völlig neuen Möglichkeiten zu sprechen, die das Lernen in der Schule revolutionieren werden. Dieses Mal ist allerdings alles anders, werden Scharen von Medienpädagogen nicht müde zu betonen. Dabei sind wir schon Zeuge des Aufstiegs und Falls des E-Learning geworden, so wie wir in den siebziger Jahren das Scheitern von Sprachlaboren und Programmiertem Unterricht erlebt haben. Das Lernen allein am Computer funktioniert nicht - darüber sind sich mittlerweile sogar die größten Fürsprecher der Computernutzung einig. Warum ist das so? Und was bedeutet das für diejenigen, die dauernd mit Computer und Internet umgehen?
Der Publizist Nicholas Carr beschreibt die von ihm erlebten Folgen seiner Internetnutzung wie folgt: »Das Netz scheint mir meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation zu zerstören. Mein Geist erwartet nun, Informationen in genau der Weise aufzunehmen, wie sie durch das Netz geliefert werden: In Form eines rasch bewegten Stroms kleiner Teilchen [ ... ] Meine Freunde sagen dasselbe: Je mehr sie das Netz benutzen, desto mehr müssen sie kämpfen, um sich auf das Schreiben längerer Abschnitte zu konzentrieren.« 6
Zur Beantwortung der Frage, was das Internet und die neuen digitalen Medien mit uns machen, gibt es weit mehr als nur Erlebnisberichte und empirische Studien aus der Medienwirkungsforschung. Auch die Grundlagenforschung zur Funktion des Gehirns kann hier einiges beitragen. In ähnlicher Weise, wie die Biochemie unseren Blick für Stoffwechselerkrankungen schärft, ermöglicht uns heute das Verständnis der Mechanismen von Lernen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Entwicklung eine klarere Sicht auf die Gefahren digitaler Medien.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen im Bereich der Neurobiologie gehört, dass sich das Gehirn durch seinen Gebrauch permanent ändert. Wahrnehmen, Denken, Erleben, Fühlen und Handeln -
all dies hinterlässt so genannte Gedächtnisspuren. Waren diese bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch hypothetische Gebilde, so kann man sie heute sichtbar machen. Die Synapsen - jene plastischen, sich verändernden Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, über welche die elektrischen Signale laufen, mit denen das Gehirn arbeitet - können heute fotografiert und sogar gefilmt werden. Man kann zusehen, wie sie sich bei Lernprozessen verändern. Auch die Größe und die Aktivität ganzer Bereiche des Gehirns lassen sich mittels bildgebender Verfahren sichtbar machen, und so lassen sich die neuronalen Auswirkungen von Lernprozessen im großen Stil nachweisen.
Wenn nun aber das Gehirn immer lernt (es kann eines nicht: nicht lernen!), dann hinterlässt auch die mit digitalen Medien verbrachte Zeit ihre Spuren. Hierbei ist auch noch Folgendes zu beachten: Unser Gehirn ist das Produkt der Evolution; es entstand also über einen langen Zeitraum durch Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen, zu denen digitale Medien definitiv nicht gehörten. Und ebenso wie man heute sehr viele Zivilisationskrankheiten als Ausdruck eines Missverhältnisses der früheren Lebensweise ( Jagen und Sammeln, also viel Bewegung und ballaststoffreiche Nahrung) und des modernen Lebensstils (wenig Bewegung, ballaststoffarme Nahrung) versteht, lassen sich die negativen Auswirkungen der digitalen Medien auf geistig-seelische Prozesse im evolutions- und neurobiologischen Rahmen besser begreifen. Es können hierbei ganz unterschiedliche Mechanismen und Prozesse beschrieben werden, die kognitive Leistungen wie Aufmerksamkeit, Sprach- oder Intelligenzentwicklung betreffen, sich also letztlich auf die Funktion des menschlichen Geistes beziehen. Wie in der Folge anhand von Beispielen gezeigt werden wird, hat dies erhebliche Auswirkungen auf emotionale und soziale psychische Prozesse, bis hin zu ethisch-moralischen Einstellungen sowie unsere Eigenperspektive, also unsere personale Identität.
»Digitale Demenz - so ein Unfug!«, höre ich meine Kritiker schon laut rufen. Dabei bräuchten sie nur selbst ins weltumspannende digitale Datennetz zu gehen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Googelt man die Stichwörter »digitale Demenz« bzw. »digital dementia«, dann erhält man in etwas weniger als einer Fünftelsekunde etwa 8000 und auf Englisch 38 000 Einträge.
Wer denken lässt, wird kein Experte
Wer jetzt noch zweifelt, der überlege einmal kurz: Die Telefonnummern der Verwandten, Freunde und Bekannten sind im Handy gespeichert. Den Weg zum verabredeten Treffen mit ihnen zeigt das Navigationssystem. Die beruflichen und privaten Termine hat man ebenfalls im Handy oder im PDA (dem Personal Digital Assistant). Wer etwas wissen will, der googelt; seine Fotos, Briefe, Mails, Bücher und Musik hat man in der Wolke. Selbst denken, speichern, überlegen - Fehlanzeige.
Jeden Tag bekomme ich von Schülern und Studenten E-Mails etwa der folgenden Art:
Lieber Herr Professor,
ich / wir arbeite / n gerade an einem Referat [einer Hausarbeit / einer Bachelor- / Magisterarbeit / einer Dissertation] zum Thema Gehirn und x [setzen Sie für die Variable x jeden beliebigen Sachverhalt ein]. Können Sie mir / uns bitte die folgenden Fragen beantworten: (1) Wie funktioniert das Gehirn? (2) ...
[Und wenn es sich beim Absender um Schüler handelt, findet sich nicht selten der folgende Schlusssatz.] Bitte beachten Sie noch, dass wir morgen abgeben müssen; es wäre also gut, wir hätten Ihre Antworten gleich ...
Wenn ich überhaupt antworte (das hängt von meiner Tagesform, Zeit und der Nettigkeit des Schreibens ab), dann schicke ich Artikel, die von den Betreffenden selbst gelesen werden müssen. Und das sage ich ihnen auch. Denn wer im Netz einfach jemanden fragt, statt sich selbst mit einem Thema zu beschäftigen, der hat gar nicht begriffen, warum er diese Arbeit überhaupt macht: Die Schüler sollen ja lernen, selbst zu denken! So lässt sich vermeiden, was drei Schülern passiert ist: Sie sollten ein Referat über Georgien halten und lieferten eine sehr schöne PowerPoint-Präsentation ab - über Georgia!
Was mir sehr zu denken gibt, ist die Tatsache, dass sogar manche Lehrer und Professoren nicht begriffen zu haben scheinen, was Lernen eigentlich bedeutet. Denn Studenten schreiben mir nach meiner Verweigerung eines Interviews oder einer Fragenbeantwortung: »Ich bekomme eine schlechtere Note, wenn ich nicht Experten zum Thema befrage.« Den Lehrkräften würde ich dann gerne antworten (und zuweilen sende ich dem Schüler / Studenten einen entsprechenden Text): So wenig, wie man das Bergsteigen dadurch erlernt, wenn jemand einen auf den Gipfel trägt, wird ein junger Mensch zum Experten (für welches Sachgebiet auch immer), wenn er einen Experten fragt. Sich Wissen aus Quellen selbst anzueignen, es kritisch zu hinterfragen, abzuwägen, die Quellen selbst zu hinterfragen, die Details eines Puzzles zu einer sinnvollen Einheit zusammenzufügen - all das muss man selbst tun, um es irgendwann zu können. Dieses Können wird, wie jedes Expertentum, auch in der Kenntnis mancher Sachverhalte bestehen, aber es wird vor allem auf einer sicheren Kenntnis von Quellen und deren Zuverlässigkeit und vielem mehr beruhen. Kurzum: Ein Sachverhalt will durchdrungen sein.
Es geht hier nicht um »Auswendiglernen«. Niemand wird Bergsteiger, wenn er die Namen von Bergen oder die Wegmarken von Routen auswendig lernt! (Wohlgemerkt: Bergsteiger verfügen über dieses Wissen; aber es ist offensichtlich, dass dies nicht alles ist und dass es darum auch gar nicht geht. Man lernt das nebenbei.) Oft werde ich gefragt, ob es schlecht sei, dass man heute in der Schule weniger Gedichte auswendig lernt. Ich bin mir da nicht sicher, aber ich weiß, dass man dadurch lernen kann, seinen Geist als Speicher zu gebrauchen, und dies ist nicht unwichtig, wenn man etwas lernt. Wer schon weiß, dass er den Sachverhalt, mit dem er sich gerade beschäftigt, gar nicht lernen kann oder will, der lernt ihn auch tatsächlich deutlich schlechter. Wer also nicht darauf aus ist, dass etwas hängenbleibt, bei dem bleibt auch deutlich weniger hängen.
Demenz ist mehr als nur Vergesslichkeit. Und so geht es mir bei der digitalen Demenz auch um mehr als nur darum, dass besonders junge Menschen immer vergesslicher zu werden scheinen, worauf erstmals koreanische Wissenschaftler im Jahre 2007 hingewiesen haben. Es geht vielmehr um geistige Leistungsfähigkeit, Denken, Kritikfähigkeit, um die Übersicht im »Dickicht der Informationsflut«. Wenn die Kassiererin »2 plus 2« mit der Maschine berechnet und nicht merkt, dass das Ergebnis »400« falsch sein muss, wenn die NASA einen Satelliten in den Sand (bzw. ins endlose All) setzt, weil niemandem aufgefallen ist, dass Inches und Meilen nicht dasselbe sind wie Zentimeter und Kilometer, oder wenn Banker sich mal eben um 55 Milliarden Euro verrechnen, dann heißt dies letztlich alles nur, dass keiner mehr mitdenkt. Offenbar hat in diesen Fällen niemand grob im Kopf überschlagen, was größenordnungsmäßig herauskommen müsste, sondern sich stattdessen auf irgendeinen digitalen Assistenten verlassen. Wer hingegen mit Rechenschieber oder Abakus rechnet, der muss die Größenordnung im Geist mitbedenken und kann kein völlig unwahrscheinliches Ergebnis liefern.
Ewig gestrig, romantisch, technikfeindlich?
»Sie sind ja völlig altmodisch! Wollen Sie nicht gleich zurück in die Höhle?«, werden Kritiker mir wieder entgegnen. Nein, das will ich nicht. Im Gegenteil: Wenn wir nicht aufpassen und nicht endlich damit aufhören, die nächste Generation systematisch zu verdummen, dann werden spätestens deren Kinder zwar nicht in der Höhle, aber jedenfalls in ungünstigeren Umständen leben. Denn unser Wohlstand und unsere Gesellschaft hängen wesentlich davon ab, dass viele von uns Experten sind und irgendetwas richtig gut können.
Ich bin auch kein »Medienhasser«, wie immer wieder behauptet wird. Jede Woche am Freitag um 22.45 läuft meine Sendung Geist und Gehirn, und wenn Sie sich diese 15 Minuten Fernsehen wöchentlich gönnen, dann gebe ich Ihnen hiermit schriftlich, dass dies Ihrem Gehirn nicht schadet. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert arbeite ich auch nahezu täglich am Computer. Der ist aus meinem Leben ebenso wenig wegzudenken wie aus dem Leben der meisten Menschen. Warum arbeiten Millionen Menschen am Computer? Weil er Arbeitsabläufe beschleunigt, indem er uns geistige Arbeit abnimmt. Warum fahren Menschen mit dem Auto? Weil dies unsere Fortbewegung beschleunigt, indem es uns die körperlichen Mühen der Fortbewegung abnimmt. Und genauso, wie ich täglich einen Computer benutze, fahre ich täglich Auto.
Wie die meisten Autofahrer weiß ich aber auch, dass ich mich zu wenig bewege. Stellen Sie sich nun vor, es käme jemand auf die Idee, ein Gaspedal ohne Auto zu bauen, um es in Schulen zum Training der wegen Bewegungsmangel verkümmernden Wadenmuskulatur der Schüler einzusetzen. »Wir sind eine der größten Autonationen der Welt. Unsere Schüler brauchen mehr Training; also müssen wir ihnen das Autofahren frühzeitig nahebringen. Was könnte besser sein als ein Gaspedal für jeden Schüler, unter dem Tisch rechts vor dem Stuhl. Dann bleiben die Waden fit, und wir gewöhnen sie auch gleich ans Autofahren.« So hätten sich Heerscharen von Verkehrspädagogen vor dreißig Jahren schon äußern können, wäre das Argument nicht für jeden nachvollziehbar lächerlich. Bei digitalen Medien ist das ebenso, und viele Menschen merken auch, dass das Marktgeschrei von der digitalen Revolution im Klassenzimmer nicht stimmt. Es heißt, dass die neuen Medien heute eben zum Alltag gehören und wir die Kinder an sie gewöhnen müssen. Dem muss entgegnet werden: Neue Medien haben wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen ein Suchtpotenzial. Computer- und Internetsucht sind hierzulande mittlerweile häufig auftretende Phänomene mit verheerenden Folgen für die Betroffenen. Man könnte also auch behaupten: »Bier und Wein sind Bestandteil unserer Gesellschaft und Kultur. Wir müssen den Kindern schon im Kindergarten den kritischen Umgang damit beibringen. Daher gehören sie dorthin.« Eine ganze Industrie würde sich über solche Empfehlungen sehr freuen, viele Menschen und die Gesellschaft ins gesamt würden jedoch großen Schaden davontragen.
»Herr Spitzer, Sie sind technikfeindlich!«, mögen mir einige vorwerfen. Nein das bin ich nicht. Ich bin jedoch sehr dafür, dass wir vorsichtig sind, was neue Technik anbelangt. Anhand eines Beispiels sollten wir aus der Geschichte lernen: Als vor gut hundert Jahren die Röntgenstrahlen erfunden wurden, waren Röntgengeräte bald danach auf Partys der Oberschicht der Renner, und man fotografierte sich gegenseitig die Knochen. 7 Allein in den USA hielten Mitte der zwanziger bis Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehr als 10 000 Pedoskope Einzug in Schuhgeschäfte, mit denen man seine Fußknochen betrachten konnte. 8 Den Verkauf der Geräte beförderte interessanterweise die Angst der Kunden vor nicht gut passenden Schuhen - vor allem auch bei ihren Kindern: »Ihre Füße haben Sie lebenslänglich« 9 , erinnerte man die Kunden durch entsprechende Werbung, und daher sollten die Schuhe genau passen - insbesondere natürlich den Kindern. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Depression in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde zudem argumentiert, dass gut passende Schuhe länger halten - dass man also durch das Gerät Geld spare. Man machte sich zudem die Tatsache zunutze, dass in den Jahren zuvor das Stromnetz in nahezu alle Haushalte Einzug gehalten hatte, wodurch der Siegeszug der Technisierung allen Beteiligten sehr deutlich vor Augen geführt worden war: Niemand konnte dem Argument widerstehen, dass jetzt endlich alles besser werden würde, auch wenn es keinerlei wissenschaftliche Daten gab, welche die Einführung und breite Verwendung der Apparate rechtfertigte. »Das dornige Problem der Wahrheit in der Werbung wurde auf diese Weise fein säuberlich umgangen«, bemerken die kanadischen Medizinhistoriker Jacalyn Duffin and Charles Hayter 10 in einer Übersicht zu diesen Geräten lakonisch. In Wahrheit war das Ganze ein Trick, um die Menschen in die Schuhgeschäfte zu locken. Vor allem Kinder, die für alles Neue einfach zu begeistern sind, hatten einen Riesenspaß daran, ihre eigenen Fußknochen zu betrachten, weswegen die Maschinen »für Kinder so aufregend waren wie geschenkte Luftballons
und Dauerlutscher«. 11 Man stellte die Geräte daher auch entsprechend im Schuhgeschäft auf: »Wir empfehlen Ihnen, die Maschine in der Mitte des Ladens aufzustellen, so dass man von allen Seiten gut an sie herankommt. Natürlich sollten sie in der Nähe der Damen- und Kinderabteilung aufgestellt werden, weil dort mehr Umsatz gemacht wird« 12 , hieß es in der Anweisung zur Aufstellung der Geräte. Dass dies auch tatsächlich geschah, zeigt die folgende Abbildung.
Erst als man nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki im Jahre 1945 die massiven Strahlenschäden bei den Überlebenden zur Kenntnis nahm, wurde den Menschen weltweit die Gefahr durch elektromagnetische Strahlen bewusst. Im Jahr 1950 publizierte Messungen 13 an Pedoskopen ergaben eine aus heutiger Sicht unverantwortlich hohe Strahlenbelastung mit - gerade bei Kindern - kaum abschätzbaren gesundheitlichen Folgen. Dennoch dauerte es noch mehr als zwanzig Jahre, bis auch die letzten Geräte aus den Läden verschwanden. Über das Ausmaß an Krankheit und Tod durch ihren weltweiten Einsatz über vier Jahrzehnte hinweg können heute nur noch Vermutungen angestellt werden. Aber eines sollte klar sein: Werbung zur Verkaufsförderung, gemischt mit Angst und zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei eher armen Schichten der Bevölkerung vor dem Hintergrund der gerade erfolgten flächendeckenden Einführung eines neuen Netzanschlusses, waren schon damals die treibenden Kräfte für die Verbreitung neuer Maschinen, deren Funktion durch eine einfache Messlatte ebenso gut erfüllt wurde und deren Gefährlichkeit für die Volksgesundheit erst Jahrzehnte später erkannt wurde.
Die Ähnlichkeiten mit der Vermarktung von Computern im Bildungsbereich sind verblüffend: Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen braucht man einen Computer zum Lernen genauso dringend wie ein Fahrrad zum Schwimmen oder ein Röntgengerät, um Schuhe anzuprobieren. Weil jedoch gerade sozial schwache Familien permanent erzählt bekommen, wie wichtig ein Computer für das Lernen sei, kaufen vor allem diese von ihren ohnehin geringen Ersparnissen ein Gerät - letztlich aus Sorge um die Zukunft der Kinder - und bewirken damit genau das Gegenteil dessen, was sie für ihre Kinder wollen: bessere Bildungschancen. Denn Computer fördern nicht die Bildung der jungen Menschen, sondern verhindern sie eher oder haben bestenfalls gar keinen Effekt, wie in den folgenden Kapiteln detailliert gezeigt wird. Die Industrie operiert also geschickt mit der Angst der Eltern aus sozial schwachen Schichten, um ihnen auch noch das letzte Geld aus den Taschen zu ziehen.
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Autoren-Porträt von Manfred Spitzer
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, war Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, Gastprofessor an der Harvard-Universität und am Institute for Cognitive and Decision Sciences in Oregon. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft, der Lernforschung und Psychiatrie. Seit 1997 ist er Ordinarius für Psychiatrie in Ulm. Spitzer ist Herausgeber des psychiatrischen Anteils der Zeitschrift 'Nervenheilkunde' und leitet das von ihm gegründete 'Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen' in Ulm. Er hat mehrere neurowissenschaftliche Bestseller verfasst und moderiert eine wöchentliche Fernsehserie zum Thema Geist und Gehirn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Manfred Spitzer
- 2012, 368 Seiten, 40 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426276038
- ISBN-13: 9783426276037
Rezension zu „Digitale Demenz “
"Klar, der Mann ist vom Fach! Für Eltern, die ihre Kinder ohnehin vernünftig erziehen - also unter weitestgehenden Umschiffung digitaler Ablenkmedien -, bietet das Buch vor allem eine Bestätigung und eine fundierte Argumentationsgrundlage. Die konkreten Tips zum adäquaten Hirntraining, die Spitzer bietet, mögen banal erscheinen, sind aber goldrichtig." Sezession, 01.12.2012
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