Der Wolf
Psychothriller
Das alte Märchen vom "Rotkäppchen" inspiriert einen Killer zu schaurigen Taten. Seine Opfer: rothaarige Frauen, denen er in einem Brief ihren Tod ankündigt.
"Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch. Ihr seid drei....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Wolf “
Das alte Märchen vom "Rotkäppchen" inspiriert einen Killer zu schaurigen Taten. Seine Opfer: rothaarige Frauen, denen er in einem Brief ihren Tod ankündigt.
"Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch. Ihr seid drei. Und ich habe mich entschlossen, euch umzubringen." Unterzeichnet ist der Brief vom "großen bösen Wolf". Er ist ein erfolgloser Schriftsteller und er will unsterblich werden. Mit einem spektakulären Verbrechen. Seine literarische Inspiration: Das Märchen vom Rotkäppchen. Gezielt sucht er sich drei rothaarige Frauen aus, denen er eine Todesdrohung schickt. Keine der Frauen weiß, wer die anderen Opfer sind. Zermürbt vor Angst versuchen sie ihrem Schicksal zu entgehen und sich gegen den Unbekannten zur Wehr zu setzen.
Klappentext zu „Der Wolf “
Er ist ein Mörder und erfolgloser Schriftsteller - und will mit einem spektakulären Verbrechen unsterblich werden. Seine Inspiration: das Märchen vom "Rotkäppchen". Seine Opfer: drei rothaarige Frauen. In einem anonymen Brief kündigt ihnen der "böse Wolf" an, dass er sie jagen und zur Strecke bringen wird Die Opfer wissen nichts voneinander. Und sie haben keine Ahnung, wann und wie der Täter Jagd auf sie machen wird. Zermürbt von ihrer Angst versuchen sie, ihr Leben zu retten ...
Lese-Probe zu „Der Wolf “
Der Wolf von John Katzenbach Prolog
... mehr
Rote Eins stand da und sah hilflos einem Mann beim Sterben zu, als ihr Brief an ihrem abgelegenen Wohnsitz auf dem Lande eintraf. Rote Zwei war von Medikamenten, Alkohol und Verzweiflung wie benommen, als ihr Brief durch den Türschlitz ihres bescheidenen Vorstadtreihenhauses fi el. Rote Drei starrte gerade auf einen Misserfolg und dachte dar über nach, dass ihr weitere, noch schlimmere Fehlschläge bevorstanden, während ihr Brief in dem Postfach direkt unter ihrem Zimmer im Wohnheim des Internats auf sie wartete. Die drei Frauen waren zwischen siebzehn und einundfünfzig Jahre alt. Obwohl sie nur wenige Meilen voneinander entfernt wohnten, kannten sie sich nicht. Eine war Internistin; eine war Lehrerin an einer Mittelschule gewesen; eine war Schülerin an einer Prepschool. Sie hatten wenig miteinander gemein, bis auf ein unübersehbares Merkmal: ihr rotes Haar. Im glatten, kastanienbraunen Haar der Ärztin zeigten sich die ersten grauen Strähnen, und sie trug es streng aus dem Gesicht gekämmt. Bei der Arbeit band sie es immer zusammen. Die Lehrerin hatte üppige, leuchtend kupferfarbene Locken, die ihr wie elektrisch aufgeladen, dank ihres mangelnden Geschicks, zerzaust vom Kopf ab standen und auf die Schulter fi elen. Die Schülerin war mit einem etwas helleren, verführerischen Blondrot gesegnet, einem unwiderstehlichen Rot, hätte es nicht ein Gesicht gerahmt, das jeden Tag ein wenig bleicher und zerfurchter schien, als schulterte das Mädchen eine Last, die für ihr Alter viel zu schwer wog. Die drei Frauen ahnten nicht, dass sie abgesehen von dem ins Auge springenden roten Haar weit mehr miteinander verband. Sie waren - jede auf ihre Weise - schutzlos und verwundbar. Von außen waren die Briefe unauffällig: blickdichte, selbstklebende, weiße Umschläge, wie man sie in jeder Schreibwarenabteilung kaufen kann, und abgestempelt in New York. Die Mitteilung, die sie enthielten, war auf handelsüblichem Achtzig-Gramm-Papier mit demselben Computer gedruckt. Keine der Empfängerinnen verfügte über die forensischen Fachkenntnisse, die ihnen sagten, dass an diesen Briefen weder Fingerabdrücke noch sonst irgendwelche verräterischen DNA-Partikel, etwa von Spucke, einem Haar oder von Hautschuppen, zu fi nden waren, die wiederum einem versierten Ermittler mit Zugang zu einem modernen Labor Aufschluss darüber gegeben hätten, wer die Briefe abgeschickt hatte - vorausgesetzt, der Absender war in einer landesweiten DNA-Datenbank erfasst. Was der Absender nicht war. Kurz gesagt, die Briefe waren in einer Zeit des Instant Messaging, der E-Mail, des Mobilfunks und der SMS so antiquiert wie Rauchzeichen, Brieftauben oder die Morsetelegrafi e. Die drei Briefe enthielten eine identische, scheinbar willkürliche Botschaft. Dabei hielt sich der Schreiber nicht mit einer Anrede oder Einleitung auf: Eines schönen Morgens nahm Rotkäppchen einen Korb mit allerlei Leckereien und machte sich auf den Weg zu ihrer Großmutter, die auf der anderen Seite des tiefen dunklen Waldes in einer Hütte wohnte ... Zweifellos habt ihr die Geschichte vor vielen Jahren als Kinder gehört. Allerdings haben sie euch vermutlich die bereinigte Version erzählt - wo sich die Großmutter in ihrer Kammer versteckt und Rotkäppchen dank dem wackeren Jägersmann mit seinem Messer nicht selbst zum Fraß des Bösen Wolfs wird. Diese Fassung hat einen glücklichen Ausgang, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Doch das ist nicht das ursprüngliche Märchen, das ein anderes, düsteres Ende nimmt und über die Jahre die unterschiedlichsten psychologischen Deutungen erfahren hat. Es wäre ratsam, das in den kommenden Wochen zu beherzigen. Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch. Es gibt drei von euch. Ich habe beschlossen, euch Rote Eins Rote Zwei Rote Drei zu nennen. Ich weiß, dass sich jede von euch im Wald verirrt hat. Und genauso wie das kleine Mädchen im Märchen seid ihr auserwählt zu sterben.
1
Der Böse Wolf Auf die erste Seite schrieb er: Kapitel 1: Auswahl Er legte eine Pause ein, klimperte wie ein Magier bei einem Zaubertrick mit den Fingern über der Tastatur und beugte sich dann vor, um weiterzuschreiben. Die erste - und in vielen Fällen entscheidende - Frage ist die Wahl des Opfers. Hier begehen die Gedankenlosen, die Ungeduldigen und die reinen Amateure die meisten ihrer idiotischen Fehler. Er hasste es, in Vergessenheit zu geraten. Es war fast fünfzehn Jahre her, seit er das letzte druckreife Wort geschrieben oder einen unschuldigen Menschen getötet hatte, und der erzwungene Ruhestand war ihm ein Greuel. Nächstes Jahr würde er fünfundsechzig, und er rechnete nicht damit, noch allzu lange zu leben. Der Realist in ihm rief sich ins Gedächtnis, dass ein hohes Alter nicht in seinen Genen lag, auch wenn er äußerlich in bester Form war. Seine beiden Eltern waren mit Anfang sechzig an Karzinomen gestorben, seine Großmutter mütterlicherseits im selben Alter an Herzversagen, und so stand zu vermuten, dass auch ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen war, registrierte er seltsame Dauerbeschwerden, kurze, stechende, unerklärliche Schmerzen und eine seltsame Erschöpfung im ganzen Körper - klare Indizien seines Alterns und mögliche Hinweise darauf, dass in ihm etwas weit Schlimmeres heranwuchs. Vor vielen Monaten hatte er alles gelesen, was der berühmte Schriftsteller Anthony Burgess in jenem überaus produktiven Jahr zu Papier gebracht hatte, in dem man bei ihm - irrtümlicherweise - einen inoperablen, bösartigen Hirntumor festgestellt hatte. Auch ohne die Bescheinigung durch einen Arzt glaubte er, dass er in einer ähnlichen Situation stecken könnte, nur dass es bei ihm keine Fehldiagnose gab. Woran auch immer er litt, es war tödlich. Und so war sein Entschluss gereift, in der ihm verbleibenden Zeit - seien es zwanzig Tage, zwanzig Wochen oder zwanzig Monate - etwas absolut Bedeutsames zu hinterlassen. Er musste etwas so Denkwürdiges, so Unvergessliches vollbringen, von dem man noch sprach, wenn er längst von dieser Erde abgetreten war und in der Hölle schmorte, falls es sie denn gab. Mit einem gewissen Stolz ging er fest davon aus, dass er unter den Verdammten einen Ehrenplatz einnehmen würde. Und so fühlte er sich an dem Abend, an dem er seinen letzten Geniestreich als krönenden Abschluss in Angriff nahm, nach langer Zeit endlich einmal wieder so aufgeregt wie ein Kind vor Weihnachten. Nach der langen, erzwungenen Abstinenz eine letzte Runde zu spielen und sich mit seinem Meisterwerk ein Denkmal zu setzen erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung. Perfekte Verbrechen gab es selten, doch sie kamen vor. Gewöhnlich waren sie weniger dem Genie der Kriminellen geschuldet als der zuverlässigen Inkompetenz der Ermittlungsbehörden, und normalerweise lief es auf die banale Frage hinaus, ob der Täter damit durchkam oder nicht. Zufällig perfekte Morde wäre wohl die angemessenere Bezeichnung, denn mit einem Mord ungeschoren davonzukommen war eigentlich keine allzu große Herausforderung. Echte perfekte Verbrechen dagegen bildeten eine Klasse für sich, und er hegte keinen Zweifel daran, dass er sich auf dem besten Wege dahin befand. Sein ausgeklügelter Plan würde ihm auf vielfältige Weise Befriedigung verschaffen. Wenn dir das gelingt, dachte er genüsslich, wirst du Schulstoff. Sie diskutieren in Fernsehrunden darüber. Sie drehen Filme über dich. In hundert Jahren bist du so bekannt wie Billy the Kid oder Jack the Ripper. Vielleicht singt sogar irgendjemand ein Lied über dich. Keinen eingängigen, melodiösen Folksong. Eher Heavy Metal. Mehr als irgendetwas sonst hasste er es, sich durchschnittlich zu fühlen. Er hatte ein dringendes Verlangen nach unsterblichem Ruhm. Wann immer er im Lauf seines Lebens für kurze Zeit in den Genuss mäßiger Berühmtheit gelangt war, hatte er sich wie im Rausch gefühlt, nur dass auf jedes High die drückende Alltagsroutine gefolgt war. Er konnte sich genau erinnern, fast fünfzig Jahre war das jetzt her, wie er an der Highschool beim Football in einem Endrundenspiel im entscheidenden Moment den Ball erobert hatte. In den folgenden Tagen war er im Sportteil der Zeitung aus der Anonymität des Abwehrspielers zu plötzlichem Heldenstatus aufgestiegen und hatte eine Woche lang in den trostlosen Korridoren der Schule neidische Blicke und anerkennendes Schulterklopfen auf sich gelenkt - bis die Mannschaft am folgenden Freitagabend verlor. Später dann gewann er während seines vierjährigen, halbherzigen Studiums in einem Essaywettbewerb, der am College ausgetragen wurde, einen mit fünfhundert Dollar dotierten Preis. Sein Thema war: Wieso Kafka heute wichtiger ist denn je. Als er das Semester mit Bestnote abschloss, wurde er vom Direktor des Anglistik- Instituts besonders gewürdigt. »Scharfsinnige Argumentation und eloquenter Ausdruck«, sagte der Mann. Doch dann kamen ein neues Semester und ein Wettbewerb, den er nicht gewann, und es war vorbei. Später, nach vielen Jahren am Redaktionstisch einer Reihe von mittelgroßen Zeitungen, wo er nachts wie am Fließband die Grammatikfehler nachlässiger Reporter korrigierte, hatte ihn die Zusage eines angesehenen Verlags, seinen ersten Roman zu veröffentlichen, wie ein Stromschlag durchzuckt. Das Buch war unter einem Tusch recht positiver Rezensionen erschienen. Ein Naturtalent, hatte ein Kritiker kommentiert. Und nachdem er bei der Zeitung gekündigt hatte, um weitere Bücher zu schreiben, war er mit dem einen oder anderen Interview in einer Literaturzeitschrift oder im Feuilleton der Lokalzeitungen erschienen. Einmal hatte ein lokaler Fernsehsender einen kleinen Beitrag über ihn gebracht, als einer seiner vier Thriller zur Verfilmung vorgeschlagen wurde - auch wenn am Ende aus dem Drehbuch, das sich irgendein obskurer Autor an der Westküste aus den Fingern gesogen hatte, nichts wurde. Doch schneller als erwartet gingen die Verkaufszahlen zurück, und selbst diese bescheidenen Erfolge verliefen im Sande, als er mit dem Schreiben ganz aufhörte. In den Buchläden, sogar auf den Ramschtischen für Restexemplare und Lagerbestände, suchte er vergeblich nach seinen Romanen. Und während er unerbittlich älter wurde, nannte ihn niemand mehr scharfsinnig oder ein Naturtalent. Selbst das Morden hatte seinen Glanz für ihn verloren. Die Tage schriller Schlagzeilen, das Trommelfeuer wochenlanger Zeitungskommentare voller Spekulationen war längst verstummt. Der Tod - selbst ein willkürlicher, brutaler Mord - hatte im Nachrichtengeschäft, so schien es ihm, sein Gütesiegel eingebüßt. Und der Stern des erbarmungslosen Einzeltäters war verblasst. Amokläufe irrer Psychoten, die in wildem Wahn wahllos um sich schossen, zogen die Presse immer noch magisch an. Auf das Blutbad in einem Drogenkrieg richteten sich nach wie vor die Fernsehkameras. Wenn jemand in einem Büro aus heiterem Himmel eine Schar von Kollegen niederschoss, verbreitete sich auch eine solche Heldentat in kürzester Zeit über alle Stationen. In einer Welt der kurzlebigen Sensationslust war für beharrliche, umsichtige Planung jedoch kein Platz - und so fühlte er sich zunehmend isoliert, nutzlos und ausgestoßen. Er hatte ein in Leder gebundenes Album angelegt, um die Rezensionen seiner Bücher und die Zeitungsausschnitte zu seinen vier Morden darin aufzubewahren. Vier Bücher. Vier Morde. Während er in früheren Tagen jeden Absatz genüsslich immer wieder gelesen hatte, war es ihm inzwischen zuwider, das Album auch nur aufzuschlagen. Sosehr ihn diese Morde und die Bücher, die er geschrieben hatte, einmal mit Stolz und Befriedigung erfüllt hatten, so sehr stießen sie ihm heute nur noch sauer auf. Es nagte jede Stunde des Tages an ihm und erfüllte ihn mit zunehmender Frustration, es quälte ihn nachts mit Träumen, aus denen er schweißgebadet erwachte, dass er für seine beiden Berufungen keine stetige und größere Anerkennung geerntet hatte. In seinen Augen konnte er jedem Stephen King oder Ted Bundy das Wasser reichen, doch niemand schien das zu sehen. Die einzigen wahren Leidenschaften, die ihm blieben, waren Wut und Hass - was einer unheilbaren Krankheit recht nahekam, nur dass es hierfür keine Pille oder Spritze und keinen operativen Eingriff gab, nicht einmal die Möglichkeit einer klaren Diagnose durch Röntgen oder Kernspintomographie. So war er im Lauf des letzten Jahres, in dem er seinen ultimativen Coup akribisch vorbereitet hatte, zu der Erkenntnise gelangt, dass ihm kein anderer Ausweg blieb. Wollte er in den Jahren, die ihm blieben, in der Lage sein, lauthals über einen Witz zu lachen oder einen guten Wein zu einem exquisiten Essen zu genießen, bei einer Sportmeisterschaft mit einer Mannschaft mitzufiebern oder auch nur mit einem gewissen Optimismus einen Politiker zu wählen, dann blieb ihm gar nichts anderes übrig, als einen wahrhaft denkwürdigen Mord zu inszenieren. Nur so konnte er hoffen, seine letzten Tage mit Sinn und Leben zu erfüllen. Es würde ihm Gewicht verleihen, ihn bereichern - in jeder Hinsicht. Planen. Ausführen. Entkommen. Er schmunzelte bei dem Gedanken, dass dies die Heilige Dreifaltigkeit des Serienmörders war. Er war selbst ein wenig überrascht, dass er so viele Jahre gebraucht hatte, um zu erkennen, dass in dieser Gleichung ein viertes Element fehlte: darüber schreiben. Er hämmerte energisch in die Computertastatur und stellte sich dabei vor, er säße am Schlagzeug einer Rockband - der Herzschlag der Musik. Auch wenn ein plötzlicher, willkürlicher Mord, bei dem man einem geeigneten Opfer rein zufällig über den Weg läuft und dem Impuls folgt, durchaus etwas Bewundernswertes hat, bringen diese Taten letztlich keine wahre Befriedigung. Sie werden lediglich zu einer Art Sprungbrett, wecken den Wunsch nach mehr, werden irgendwann zum Zwang, so dass man aus Mordlust nicht mehr klar denken und planerisch vorgehen kann: der sichere Weg, sich zu verraten. Solche Taten sind unbeholfen, plump, und früher oder später klopft ein Polizist mit gezückter Waffe an deine Tür. Der beste, befriedigendste Mord ist eine Verbindung von intensiver, gründlicher Recherche, Hingabe und schließlich auch Begierde. Die Droge der Wahl ist hier die Kontrolle über die Situation. Denke weiter als die anderen, dränge deine Gegner ins Abseits, sei findiger und besser als sie - und du begehst einen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Mord. Du wirst deine finstersten Bedürfnisse zufriedenstellen. Genau dies habe ich mit meinen drei Rotkäppchen vor. An dem Abend, als er die Briefe aufgab, kaufte er sich an einem kleinen Kiosk in der Nähe der Fußgängerbrücke, die an der 42. Straße in den Bahnhof Grand Central führt, ein altbackenes Croissant mit undefinierbarem Käse sowie einen Plastikbecher bitteren, brühend heißen Kaffee und bezahlte in bar. Er hatte sich eine dunkle Lederaktentasche an einem Schulterriemen umgehängt und trug einen schiefergrauen Wollmantel über seinem dunkelblauen Anzug. Sein graumeliertes, dunkles Haar hatte er aschblond getönt. Ergänzt wurde die Verkleidung durch eine dunkel umrandete Brille sowie einen falschen Lippen- und Kinnbart, beide aus einem Laden, der die Film- und Theaterindustrie mit Kostümen und Masken versorgte. Zusätzlich hatte er sich eine Schirmmütze aus Tweed tief in die Stirn gezogen. Er war davon überzeugt, dass er genug getan hatte, um jeder Gesichterkennungssoftware ein Schnippchen zu schlagen, auch wenn er ohnehin nicht damit rechnen musste, dass irgendein rühriger Ermittler darauf zurückgreifen würde. Der Kaffee stieg ihm wohlig warm in die Nase, und er begab sich in die riesige Gewölbehalle des Bahnhofs. Die mattblaue Decke reflektierte gelbliches Licht, und er tauchte in die stetige Geräuschkulisse ein. Das Dröhnen ein- und ausfahrender Züge wirkte auf ihn wie Musikberieselung. Das Klicken seiner Schuhe auf dem blank gescheuerten Boden erinnerte ihn an einen Stepptänzer oder auch an eine Marschkolonne im präzisen Gleichschritt. Es war der Höhepunkt der Rushhour, als er an seinem Croissant kaute und sich unter die Heerscharen der Berufspendler mischte, die mehr oder weniger alle so aussahen wie er. Auf seinem Weg zu einem Briefkasten direkt vor dem Bahnsteigeingang zu einem Pendlerzug nach New Jersey kam er an zwei gelangweilten New Yorker Polizisten vorbei. In diesem Moment hätte er sich am liebsten zu ihnen umgedreht und gerufen: »Ich bin ein Mörder!«, nur um ihre Reaktion zu sehen, doch er wusste sich zu beherrschen. Wenn die wüssten, wie nahe sie gerade einem Kapitalverbrecher waren ... Bei der Vorstellung musste er unwillkürlich grinsen, denn diese Art von Ironie war Teil des ganzen Theaters. Er nahm sich vor, am Abend diese Überlegungen und Gefühle in seine Prosa aufzunehmen. Er trug OP-Latexhandschuhe - es amüsierte ihn, dass offenbar keiner der beiden Cops dieses verräterische Detail bemerkt hatte. Wahrscheinlich haben sie mich einfach für einen Paranoiden mit Bakterienphobie gehalten. Er blieb vor einem Abfalleimer stehen, um die Reste seines Croissants und Kaffees zu entsorgen. In einer selbstverständlichen Bewegung, die er zu Hause eingeübt hatte, zog er die Tasche von der Schulter und holte drei Umschläge heraus, die er in der Hand hielt, während er sich vom Strom der Pendler zum Briefkasten treiben ließ. Mit gesenktem Kopf - er rechnete mit Kameras, die gegen potentielle Terroristen an uneinsehbaren Stellen installiert sein mochten - schob er die drei Briefe schnell durch den schmalen Schlitz, über dem ein Schild davor warnte, gefährliche Materialien einzuwerfen. Auch darüber hätte er lauthals lachen können. Unter gefährlich verstand die Post der Vereinigten Staaten Drogen, Gift oder Flüssigkeiten, die zur Herstellung von Bomben dienten. Dabei wusste er, dass sorgfältig gewählte Worte weitaus gefährlicher sein konnten. Manchmal, musste er denken, sind die Witze, die außer einem selbst niemand hören kann, die besten. Die drei Briefe befanden sich nun in einem der größten - und zuverlässigsten - Postverarbeitungssysteme der Vereinigten Staaten. Aus lauter Vorfreude hätte er am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen oder einen fernen Mond angeheult, der sich irgendwo über dem hohen Gewölbe des Grand Central verbarg. Er merkte, wie ihm das Blut in den Adern pochte und das Getöse der Züge und der Menschenmenge in den Hintergrund trat, während ihn eine eigene, wohlige Stille einhüllte. Es war, als tauche er ein in die glasklare Karibische See und betrachte die Lichtstrahlen, die diese azurblaue Welt durchzogen. Wie der Taucher, als der er sich sah, atmete er langsam aus, während er unaufhaltsam wieder an die Oberfläche stieg. Es geht also los, dachte er. Dann ließ er sich von der anonymen Masse in einen vollbesetzten Pendelzug schieben. Es war ihm egal, wohin er fuhr, denn sein eigentliches Ziel lag ohnehin woanders.
2
Die drei Roten Der Tag, an dem sie zu Rote Eins wurde, war für Dr. Karen Jayson hart genug. Zunächst hatte sie an diesem Morgen einer Frau mittleren Alters sagen müssen, dass sie ihren Testergebnissen nach an Eierstockkrebs litt; mittags hatte sie durch einen Anruf der örtlichen Notaufnahme erfahren, dass einer ihrer langjährigen Patienten bei einem Autounfall schwer verletzt worden war; gleichzeitig hatte sie einen anderen Patienten mit einem Nierenstein ins Krankenhaus einweisen müssen, weil in diesem schweren Fall die übliche Schmerztherapie nicht griff. Anschließend hatte sie sich fast eine Stunde lang am Telefon mit einem Versicherungsangestellten herumgeschlagen, um diese ärztliche Entscheidung zu rechtfertigen. Unterdessen hatte sich ihr Wartezimmer mit Patienten gefüllt - von der Routineuntersuchung über die Mandelentzündung bis zur Grippe war alles dabei, und die Patienten, die mehr oder weniger frustriert und leidend ihre Zeit absaßen, steckten sich derweil munter gegenseitig an. Am späten Nachmittag eines in ihren Augen ohnehin mühseligen Tags war sie in den Hospiztrakt des Altenheims »Schattenhain« gerufen worden - einer Einrichtung unweit ihrer Praxis, die weder an einem Hain lag noch besonderen Schatten bot -, um einem Sterbenden, den sie kaum kannte, letzten Beistand zu leisten. Der über neunzig Jahre alte Mann, von dem außer der Trichterbrust, den eingesunkenen Augen und einem fl ackernden Rest von Bewusstsein kaum etwas übrig war, klammerte sich mit der Zähigkeit eines Pitbulls ans Leben. Im Lauf ihres Berufslebens hatte Karen viele Menschen sterben sehen; für eine Internistin mit einer Zusatzausbildung in Gerontologie war das unvermeidlich. Doch auch nach so vielen Jahren Erfahrung mit dieser Situation hatte sie sich nie ganz daran gewöhnt, und obwohl sie nur neben dem Bett des Mannes stand und gelegentlich seine Tropfi nfusion anpasste, war sie aufgewühlt und von ihren Gefühlen hin und her geworfen wie ein Baum im eisigen Wind. Sie wünschte sich, die Hospizschwestern hätten sie nicht gerufen, sondern diesen Todesfall alleine bewältigt. Doch sie hatten es getan, und sie war gekommen. Das Zimmer wirkte abweisend und kalt, obwohl die altmodischen Heizkörper auf Hochtouren liefen. Es herrschte trübes Licht, als verschaffte ein abgedunkeltes Zimmer dem Tod leichteren Zugang. Ein paar Apparate, ein verriegeltes Fenster, eine alte Nachttischlampe, zerwühlte, weiße Laken und ein schwacher Abfallgeruch waren alles, was den alten Mann umgab. Nicht einmal ein billiges, aber farbenfrohes Gemälde hing an einer der Wände, um die Trostlosigkeit des Zimmers aufzulockern. Es war kein guter Ort zum Sterben. Zum Teufel mit den Dichtern, dachte sie, Sterben hat nicht den leisesten Hauch von Romantik, schon gar nicht in einem Altenpflegeheim, das bessere Tage gesehen hat. »Er ist tot«, sagte die diensthabende Schwester. Karen hatte in den letzten Sekunden dasselbe gehört: ein langsames Ausatmen, als entweiche das letzte bisschen Luft aus einem undichten Ballon, gefolgt von einem schrillen Signalton des Herzmonitors, wie man ihn aus den Ärzteserien im Fernsehen kannte. Sie beugte sich vor und schaltete nach einem prüfenden Blick auf die leuchtende grüne Linie den Apparat aus; auch die vermeintliche dramatische Spannung, konstatierte sie, ging dem routinemäßigen Sterben ab. Es erinnerte sie eher daran, wie in einem großen Zuschauerraum, nachdem das Publikum gegangen war, die Lichterreihen ausgeschaltet wurden, bis alle verloschen waren und nur noch Dunkelheit herrschte. Sie seufzte bei der Erkenntnis, dass selbst dieses Bild zu poetisch war, und fl üchtete sich in die eingespielten nächsten Schritte. Auf der Suche nach einem Puls in der Carotis legte sie dem alten Mann die Finger an den Hals. Seine Haut fühlte sich wie Seidenpapier an, und ihr kam der seltsame Gedanke, dass schon die zarteste Berührung verräterische Narben hinterlassen würde. »Todeseintritt 16 Uhr 44«, sagte sie. Zahlen hatten mit ihrer mathematischen Verlässlichkeit etwas Befriedigendes, wie Puzzleteile, die man passgenau ineinanderfügt. Sie warf einen Blick auf die Patientenverfügung des Toten und spähte zur Schwester hinüber, die damit begonnen hatte, die Kabelanschlüsse von seiner Brust zu entfernen. »Wenn Sie mit Mister ...«, sie wandte sich wieder dem Formular zu, »Wilsons Papieren fertig sind, bringen Sie mir sicher alles zur Unterschrift rüber?« Karen schämte sich ein wenig dafür, dass ihr der Name des alten Mannes entfallen war. Ganz so anonym sollte der Tod nicht sein. Wie nicht anders zu erwarten, sah das Gesicht des Verstorbenen friedlich aus. Tod und Klischees, dachte sie, gehören einfach zusammen. Einen Moment lang fragte sie sich, was für ein Mensch Mister Wilson wohl gewesen war - eine Menge Hoffnungen, Träume, Erinnerungen und Erfahrungen, die um 16 Uhr 44 erloschen waren. Was hatte er erlebt? Familie? Schule? Krieg? Liebe? Trauer? Freude? In seinen letzten Augenblicken verriet nichts in diesem Raum, wer er gewesen war. Karen fühlte Wut in sich aufsteigen dar über, dass der Tod eine solche Anonymität mit sich brachte. Die Hospizschwester musste etwas von ihren Gefühlen bemerkt haben, denn sie beeilte sich, dem drückenden Schweigen ein Ende zu setzen. »Schon traurig«, sagte die Schwester. »Mister Wilson war ein liebenswürdiger alter Herr. Wussten Sie, dass er nichts so sehr liebte wie Dudelsackmusik? Dabei war er kein Schotte. Ich glaube, er stammte irgendwo aus dem Mittleren Westen. Iowa oder Idaho. Schon seltsam.« Karen vermutete, dass es zu dieser Liebe eine Vorgeschichte gab, doch die war nun unwiederbringlich verloren. »Wissen Sie von Angehörigen, die ich benachrichtigen sollte?«, fragte sie. Die Schwester schüttelte den Kopf, sagte jedoch: »Ich muss noch mal in seinen Einweisungspapieren nachsehen. Ich weiß nur, dass wir niemanden angerufen haben, als er ins Hospiz kam.« Die Schwester war bereits von der einen Routine - der Betreuung eines über Neunzigjährigen an der Schwelle zum Jenseits - zur nächsten Pflicht übergegangen, der ordnungsgemäßen, bürokratischen Abwicklung des Todes. »Ich geh kurz raus, während Sie die Formulare zusammenstellen. « Die Schwester nickte kaum merklich. Sie war mit Dr. Jaysons Gewohnheiten nach einem Todesfall vertraut: Nach einer heimlichen Zigarettenpause in der hintersten Ecke des Parkplatzes, wo die Ärztin sich - irrtümlicherweise - unbeobachtet glaubte, würde sie wieder hereinkommen, um im Hauptbüro, in dem ihr ein eigener Schreibtisch zur Verfügung stand, Kranken- und Pflegeformulare auszufüllen und anschließend mit ihrer Unterschrift unter den staatlich vorgeschriebenen Totenschein das unvermeidliche Ende eines Aufenthalts im Heim zu besiegeln. Das Altenheim lag nur wenige Blocks von dem quadratischen roten Ziegelbau des Ärztehauses entfernt, in dem Karen neben einem Dutzend anderer Kollegen der unterschiedlichsten Fachrichtungen von Psychiatrie bis Kardiologie ihre kleine Internistenpraxis betrieb. Die Schwester wusste, dass die Ärztin genau eine halbe Zigarette rauchen würde, bevor sie wieder hereinkam, um Mister Wilsons Papiere auszufüllen. In der Packung Marlboros, die Karen, wie jeder, der im Hospiztrakt arbeitete, wusste, in ihrer obersten Schreibtischschublade versteckte, hatte sie jede Zigarette sorgfältig und präzise abgemessen und die Mitte mit rotem Kugelschreiber markiert. Außerdem wusste die Schwester, dass Karen sich keinen Mantel überziehen würde, selbst wenn es in West Massachusetts in Strömen goss oder klirrend kalt war. Die Schwester vermutete, dass es für sie eine Art Bußübung war, sich den Launen des Wetters auszusetzen, eine selbst auferlegte Strafe für ihre abstoßende Sucht, mit der sie sich sehenden Auges früher oder später ins Grab bringen würde und für die praktisch jeder im Gesundheitswesen, zu dem die Ärztin gehörte, nur Verachtung übrig hatte. Es war später Abend, lange nach der üblichen Essenszeit, als Karen in die Kieseinfahrt zu ihrem Haus einbog und an dem zerbeulten, alten Briefkasten am Straßenrand hielt. Sie lebte in einem ländlichen Teil des County, in dem die etwas teureren Eigenheime ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt lagen und viele davon Aussicht auf die fernen Berge boten. Wenn sich im Herbst das Laub färbte, war der Blick spektakulär, doch diese Jahreszeit war vorbei, und es herrschte kalter, nackter, nasser Winter.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
© 2012 John Katzenbach Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2012 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Rote Eins stand da und sah hilflos einem Mann beim Sterben zu, als ihr Brief an ihrem abgelegenen Wohnsitz auf dem Lande eintraf. Rote Zwei war von Medikamenten, Alkohol und Verzweiflung wie benommen, als ihr Brief durch den Türschlitz ihres bescheidenen Vorstadtreihenhauses fi el. Rote Drei starrte gerade auf einen Misserfolg und dachte dar über nach, dass ihr weitere, noch schlimmere Fehlschläge bevorstanden, während ihr Brief in dem Postfach direkt unter ihrem Zimmer im Wohnheim des Internats auf sie wartete. Die drei Frauen waren zwischen siebzehn und einundfünfzig Jahre alt. Obwohl sie nur wenige Meilen voneinander entfernt wohnten, kannten sie sich nicht. Eine war Internistin; eine war Lehrerin an einer Mittelschule gewesen; eine war Schülerin an einer Prepschool. Sie hatten wenig miteinander gemein, bis auf ein unübersehbares Merkmal: ihr rotes Haar. Im glatten, kastanienbraunen Haar der Ärztin zeigten sich die ersten grauen Strähnen, und sie trug es streng aus dem Gesicht gekämmt. Bei der Arbeit band sie es immer zusammen. Die Lehrerin hatte üppige, leuchtend kupferfarbene Locken, die ihr wie elektrisch aufgeladen, dank ihres mangelnden Geschicks, zerzaust vom Kopf ab standen und auf die Schulter fi elen. Die Schülerin war mit einem etwas helleren, verführerischen Blondrot gesegnet, einem unwiderstehlichen Rot, hätte es nicht ein Gesicht gerahmt, das jeden Tag ein wenig bleicher und zerfurchter schien, als schulterte das Mädchen eine Last, die für ihr Alter viel zu schwer wog. Die drei Frauen ahnten nicht, dass sie abgesehen von dem ins Auge springenden roten Haar weit mehr miteinander verband. Sie waren - jede auf ihre Weise - schutzlos und verwundbar. Von außen waren die Briefe unauffällig: blickdichte, selbstklebende, weiße Umschläge, wie man sie in jeder Schreibwarenabteilung kaufen kann, und abgestempelt in New York. Die Mitteilung, die sie enthielten, war auf handelsüblichem Achtzig-Gramm-Papier mit demselben Computer gedruckt. Keine der Empfängerinnen verfügte über die forensischen Fachkenntnisse, die ihnen sagten, dass an diesen Briefen weder Fingerabdrücke noch sonst irgendwelche verräterischen DNA-Partikel, etwa von Spucke, einem Haar oder von Hautschuppen, zu fi nden waren, die wiederum einem versierten Ermittler mit Zugang zu einem modernen Labor Aufschluss darüber gegeben hätten, wer die Briefe abgeschickt hatte - vorausgesetzt, der Absender war in einer landesweiten DNA-Datenbank erfasst. Was der Absender nicht war. Kurz gesagt, die Briefe waren in einer Zeit des Instant Messaging, der E-Mail, des Mobilfunks und der SMS so antiquiert wie Rauchzeichen, Brieftauben oder die Morsetelegrafi e. Die drei Briefe enthielten eine identische, scheinbar willkürliche Botschaft. Dabei hielt sich der Schreiber nicht mit einer Anrede oder Einleitung auf: Eines schönen Morgens nahm Rotkäppchen einen Korb mit allerlei Leckereien und machte sich auf den Weg zu ihrer Großmutter, die auf der anderen Seite des tiefen dunklen Waldes in einer Hütte wohnte ... Zweifellos habt ihr die Geschichte vor vielen Jahren als Kinder gehört. Allerdings haben sie euch vermutlich die bereinigte Version erzählt - wo sich die Großmutter in ihrer Kammer versteckt und Rotkäppchen dank dem wackeren Jägersmann mit seinem Messer nicht selbst zum Fraß des Bösen Wolfs wird. Diese Fassung hat einen glücklichen Ausgang, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Doch das ist nicht das ursprüngliche Märchen, das ein anderes, düsteres Ende nimmt und über die Jahre die unterschiedlichsten psychologischen Deutungen erfahren hat. Es wäre ratsam, das in den kommenden Wochen zu beherzigen. Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch. Es gibt drei von euch. Ich habe beschlossen, euch Rote Eins Rote Zwei Rote Drei zu nennen. Ich weiß, dass sich jede von euch im Wald verirrt hat. Und genauso wie das kleine Mädchen im Märchen seid ihr auserwählt zu sterben.
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Der Böse Wolf Auf die erste Seite schrieb er: Kapitel 1: Auswahl Er legte eine Pause ein, klimperte wie ein Magier bei einem Zaubertrick mit den Fingern über der Tastatur und beugte sich dann vor, um weiterzuschreiben. Die erste - und in vielen Fällen entscheidende - Frage ist die Wahl des Opfers. Hier begehen die Gedankenlosen, die Ungeduldigen und die reinen Amateure die meisten ihrer idiotischen Fehler. Er hasste es, in Vergessenheit zu geraten. Es war fast fünfzehn Jahre her, seit er das letzte druckreife Wort geschrieben oder einen unschuldigen Menschen getötet hatte, und der erzwungene Ruhestand war ihm ein Greuel. Nächstes Jahr würde er fünfundsechzig, und er rechnete nicht damit, noch allzu lange zu leben. Der Realist in ihm rief sich ins Gedächtnis, dass ein hohes Alter nicht in seinen Genen lag, auch wenn er äußerlich in bester Form war. Seine beiden Eltern waren mit Anfang sechzig an Karzinomen gestorben, seine Großmutter mütterlicherseits im selben Alter an Herzversagen, und so stand zu vermuten, dass auch ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen war, registrierte er seltsame Dauerbeschwerden, kurze, stechende, unerklärliche Schmerzen und eine seltsame Erschöpfung im ganzen Körper - klare Indizien seines Alterns und mögliche Hinweise darauf, dass in ihm etwas weit Schlimmeres heranwuchs. Vor vielen Monaten hatte er alles gelesen, was der berühmte Schriftsteller Anthony Burgess in jenem überaus produktiven Jahr zu Papier gebracht hatte, in dem man bei ihm - irrtümlicherweise - einen inoperablen, bösartigen Hirntumor festgestellt hatte. Auch ohne die Bescheinigung durch einen Arzt glaubte er, dass er in einer ähnlichen Situation stecken könnte, nur dass es bei ihm keine Fehldiagnose gab. Woran auch immer er litt, es war tödlich. Und so war sein Entschluss gereift, in der ihm verbleibenden Zeit - seien es zwanzig Tage, zwanzig Wochen oder zwanzig Monate - etwas absolut Bedeutsames zu hinterlassen. Er musste etwas so Denkwürdiges, so Unvergessliches vollbringen, von dem man noch sprach, wenn er längst von dieser Erde abgetreten war und in der Hölle schmorte, falls es sie denn gab. Mit einem gewissen Stolz ging er fest davon aus, dass er unter den Verdammten einen Ehrenplatz einnehmen würde. Und so fühlte er sich an dem Abend, an dem er seinen letzten Geniestreich als krönenden Abschluss in Angriff nahm, nach langer Zeit endlich einmal wieder so aufgeregt wie ein Kind vor Weihnachten. Nach der langen, erzwungenen Abstinenz eine letzte Runde zu spielen und sich mit seinem Meisterwerk ein Denkmal zu setzen erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung. Perfekte Verbrechen gab es selten, doch sie kamen vor. Gewöhnlich waren sie weniger dem Genie der Kriminellen geschuldet als der zuverlässigen Inkompetenz der Ermittlungsbehörden, und normalerweise lief es auf die banale Frage hinaus, ob der Täter damit durchkam oder nicht. Zufällig perfekte Morde wäre wohl die angemessenere Bezeichnung, denn mit einem Mord ungeschoren davonzukommen war eigentlich keine allzu große Herausforderung. Echte perfekte Verbrechen dagegen bildeten eine Klasse für sich, und er hegte keinen Zweifel daran, dass er sich auf dem besten Wege dahin befand. Sein ausgeklügelter Plan würde ihm auf vielfältige Weise Befriedigung verschaffen. Wenn dir das gelingt, dachte er genüsslich, wirst du Schulstoff. Sie diskutieren in Fernsehrunden darüber. Sie drehen Filme über dich. In hundert Jahren bist du so bekannt wie Billy the Kid oder Jack the Ripper. Vielleicht singt sogar irgendjemand ein Lied über dich. Keinen eingängigen, melodiösen Folksong. Eher Heavy Metal. Mehr als irgendetwas sonst hasste er es, sich durchschnittlich zu fühlen. Er hatte ein dringendes Verlangen nach unsterblichem Ruhm. Wann immer er im Lauf seines Lebens für kurze Zeit in den Genuss mäßiger Berühmtheit gelangt war, hatte er sich wie im Rausch gefühlt, nur dass auf jedes High die drückende Alltagsroutine gefolgt war. Er konnte sich genau erinnern, fast fünfzig Jahre war das jetzt her, wie er an der Highschool beim Football in einem Endrundenspiel im entscheidenden Moment den Ball erobert hatte. In den folgenden Tagen war er im Sportteil der Zeitung aus der Anonymität des Abwehrspielers zu plötzlichem Heldenstatus aufgestiegen und hatte eine Woche lang in den trostlosen Korridoren der Schule neidische Blicke und anerkennendes Schulterklopfen auf sich gelenkt - bis die Mannschaft am folgenden Freitagabend verlor. Später dann gewann er während seines vierjährigen, halbherzigen Studiums in einem Essaywettbewerb, der am College ausgetragen wurde, einen mit fünfhundert Dollar dotierten Preis. Sein Thema war: Wieso Kafka heute wichtiger ist denn je. Als er das Semester mit Bestnote abschloss, wurde er vom Direktor des Anglistik- Instituts besonders gewürdigt. »Scharfsinnige Argumentation und eloquenter Ausdruck«, sagte der Mann. Doch dann kamen ein neues Semester und ein Wettbewerb, den er nicht gewann, und es war vorbei. Später, nach vielen Jahren am Redaktionstisch einer Reihe von mittelgroßen Zeitungen, wo er nachts wie am Fließband die Grammatikfehler nachlässiger Reporter korrigierte, hatte ihn die Zusage eines angesehenen Verlags, seinen ersten Roman zu veröffentlichen, wie ein Stromschlag durchzuckt. Das Buch war unter einem Tusch recht positiver Rezensionen erschienen. Ein Naturtalent, hatte ein Kritiker kommentiert. Und nachdem er bei der Zeitung gekündigt hatte, um weitere Bücher zu schreiben, war er mit dem einen oder anderen Interview in einer Literaturzeitschrift oder im Feuilleton der Lokalzeitungen erschienen. Einmal hatte ein lokaler Fernsehsender einen kleinen Beitrag über ihn gebracht, als einer seiner vier Thriller zur Verfilmung vorgeschlagen wurde - auch wenn am Ende aus dem Drehbuch, das sich irgendein obskurer Autor an der Westküste aus den Fingern gesogen hatte, nichts wurde. Doch schneller als erwartet gingen die Verkaufszahlen zurück, und selbst diese bescheidenen Erfolge verliefen im Sande, als er mit dem Schreiben ganz aufhörte. In den Buchläden, sogar auf den Ramschtischen für Restexemplare und Lagerbestände, suchte er vergeblich nach seinen Romanen. Und während er unerbittlich älter wurde, nannte ihn niemand mehr scharfsinnig oder ein Naturtalent. Selbst das Morden hatte seinen Glanz für ihn verloren. Die Tage schriller Schlagzeilen, das Trommelfeuer wochenlanger Zeitungskommentare voller Spekulationen war längst verstummt. Der Tod - selbst ein willkürlicher, brutaler Mord - hatte im Nachrichtengeschäft, so schien es ihm, sein Gütesiegel eingebüßt. Und der Stern des erbarmungslosen Einzeltäters war verblasst. Amokläufe irrer Psychoten, die in wildem Wahn wahllos um sich schossen, zogen die Presse immer noch magisch an. Auf das Blutbad in einem Drogenkrieg richteten sich nach wie vor die Fernsehkameras. Wenn jemand in einem Büro aus heiterem Himmel eine Schar von Kollegen niederschoss, verbreitete sich auch eine solche Heldentat in kürzester Zeit über alle Stationen. In einer Welt der kurzlebigen Sensationslust war für beharrliche, umsichtige Planung jedoch kein Platz - und so fühlte er sich zunehmend isoliert, nutzlos und ausgestoßen. Er hatte ein in Leder gebundenes Album angelegt, um die Rezensionen seiner Bücher und die Zeitungsausschnitte zu seinen vier Morden darin aufzubewahren. Vier Bücher. Vier Morde. Während er in früheren Tagen jeden Absatz genüsslich immer wieder gelesen hatte, war es ihm inzwischen zuwider, das Album auch nur aufzuschlagen. Sosehr ihn diese Morde und die Bücher, die er geschrieben hatte, einmal mit Stolz und Befriedigung erfüllt hatten, so sehr stießen sie ihm heute nur noch sauer auf. Es nagte jede Stunde des Tages an ihm und erfüllte ihn mit zunehmender Frustration, es quälte ihn nachts mit Träumen, aus denen er schweißgebadet erwachte, dass er für seine beiden Berufungen keine stetige und größere Anerkennung geerntet hatte. In seinen Augen konnte er jedem Stephen King oder Ted Bundy das Wasser reichen, doch niemand schien das zu sehen. Die einzigen wahren Leidenschaften, die ihm blieben, waren Wut und Hass - was einer unheilbaren Krankheit recht nahekam, nur dass es hierfür keine Pille oder Spritze und keinen operativen Eingriff gab, nicht einmal die Möglichkeit einer klaren Diagnose durch Röntgen oder Kernspintomographie. So war er im Lauf des letzten Jahres, in dem er seinen ultimativen Coup akribisch vorbereitet hatte, zu der Erkenntnise gelangt, dass ihm kein anderer Ausweg blieb. Wollte er in den Jahren, die ihm blieben, in der Lage sein, lauthals über einen Witz zu lachen oder einen guten Wein zu einem exquisiten Essen zu genießen, bei einer Sportmeisterschaft mit einer Mannschaft mitzufiebern oder auch nur mit einem gewissen Optimismus einen Politiker zu wählen, dann blieb ihm gar nichts anderes übrig, als einen wahrhaft denkwürdigen Mord zu inszenieren. Nur so konnte er hoffen, seine letzten Tage mit Sinn und Leben zu erfüllen. Es würde ihm Gewicht verleihen, ihn bereichern - in jeder Hinsicht. Planen. Ausführen. Entkommen. Er schmunzelte bei dem Gedanken, dass dies die Heilige Dreifaltigkeit des Serienmörders war. Er war selbst ein wenig überrascht, dass er so viele Jahre gebraucht hatte, um zu erkennen, dass in dieser Gleichung ein viertes Element fehlte: darüber schreiben. Er hämmerte energisch in die Computertastatur und stellte sich dabei vor, er säße am Schlagzeug einer Rockband - der Herzschlag der Musik. Auch wenn ein plötzlicher, willkürlicher Mord, bei dem man einem geeigneten Opfer rein zufällig über den Weg läuft und dem Impuls folgt, durchaus etwas Bewundernswertes hat, bringen diese Taten letztlich keine wahre Befriedigung. Sie werden lediglich zu einer Art Sprungbrett, wecken den Wunsch nach mehr, werden irgendwann zum Zwang, so dass man aus Mordlust nicht mehr klar denken und planerisch vorgehen kann: der sichere Weg, sich zu verraten. Solche Taten sind unbeholfen, plump, und früher oder später klopft ein Polizist mit gezückter Waffe an deine Tür. Der beste, befriedigendste Mord ist eine Verbindung von intensiver, gründlicher Recherche, Hingabe und schließlich auch Begierde. Die Droge der Wahl ist hier die Kontrolle über die Situation. Denke weiter als die anderen, dränge deine Gegner ins Abseits, sei findiger und besser als sie - und du begehst einen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Mord. Du wirst deine finstersten Bedürfnisse zufriedenstellen. Genau dies habe ich mit meinen drei Rotkäppchen vor. An dem Abend, als er die Briefe aufgab, kaufte er sich an einem kleinen Kiosk in der Nähe der Fußgängerbrücke, die an der 42. Straße in den Bahnhof Grand Central führt, ein altbackenes Croissant mit undefinierbarem Käse sowie einen Plastikbecher bitteren, brühend heißen Kaffee und bezahlte in bar. Er hatte sich eine dunkle Lederaktentasche an einem Schulterriemen umgehängt und trug einen schiefergrauen Wollmantel über seinem dunkelblauen Anzug. Sein graumeliertes, dunkles Haar hatte er aschblond getönt. Ergänzt wurde die Verkleidung durch eine dunkel umrandete Brille sowie einen falschen Lippen- und Kinnbart, beide aus einem Laden, der die Film- und Theaterindustrie mit Kostümen und Masken versorgte. Zusätzlich hatte er sich eine Schirmmütze aus Tweed tief in die Stirn gezogen. Er war davon überzeugt, dass er genug getan hatte, um jeder Gesichterkennungssoftware ein Schnippchen zu schlagen, auch wenn er ohnehin nicht damit rechnen musste, dass irgendein rühriger Ermittler darauf zurückgreifen würde. Der Kaffee stieg ihm wohlig warm in die Nase, und er begab sich in die riesige Gewölbehalle des Bahnhofs. Die mattblaue Decke reflektierte gelbliches Licht, und er tauchte in die stetige Geräuschkulisse ein. Das Dröhnen ein- und ausfahrender Züge wirkte auf ihn wie Musikberieselung. Das Klicken seiner Schuhe auf dem blank gescheuerten Boden erinnerte ihn an einen Stepptänzer oder auch an eine Marschkolonne im präzisen Gleichschritt. Es war der Höhepunkt der Rushhour, als er an seinem Croissant kaute und sich unter die Heerscharen der Berufspendler mischte, die mehr oder weniger alle so aussahen wie er. Auf seinem Weg zu einem Briefkasten direkt vor dem Bahnsteigeingang zu einem Pendlerzug nach New Jersey kam er an zwei gelangweilten New Yorker Polizisten vorbei. In diesem Moment hätte er sich am liebsten zu ihnen umgedreht und gerufen: »Ich bin ein Mörder!«, nur um ihre Reaktion zu sehen, doch er wusste sich zu beherrschen. Wenn die wüssten, wie nahe sie gerade einem Kapitalverbrecher waren ... Bei der Vorstellung musste er unwillkürlich grinsen, denn diese Art von Ironie war Teil des ganzen Theaters. Er nahm sich vor, am Abend diese Überlegungen und Gefühle in seine Prosa aufzunehmen. Er trug OP-Latexhandschuhe - es amüsierte ihn, dass offenbar keiner der beiden Cops dieses verräterische Detail bemerkt hatte. Wahrscheinlich haben sie mich einfach für einen Paranoiden mit Bakterienphobie gehalten. Er blieb vor einem Abfalleimer stehen, um die Reste seines Croissants und Kaffees zu entsorgen. In einer selbstverständlichen Bewegung, die er zu Hause eingeübt hatte, zog er die Tasche von der Schulter und holte drei Umschläge heraus, die er in der Hand hielt, während er sich vom Strom der Pendler zum Briefkasten treiben ließ. Mit gesenktem Kopf - er rechnete mit Kameras, die gegen potentielle Terroristen an uneinsehbaren Stellen installiert sein mochten - schob er die drei Briefe schnell durch den schmalen Schlitz, über dem ein Schild davor warnte, gefährliche Materialien einzuwerfen. Auch darüber hätte er lauthals lachen können. Unter gefährlich verstand die Post der Vereinigten Staaten Drogen, Gift oder Flüssigkeiten, die zur Herstellung von Bomben dienten. Dabei wusste er, dass sorgfältig gewählte Worte weitaus gefährlicher sein konnten. Manchmal, musste er denken, sind die Witze, die außer einem selbst niemand hören kann, die besten. Die drei Briefe befanden sich nun in einem der größten - und zuverlässigsten - Postverarbeitungssysteme der Vereinigten Staaten. Aus lauter Vorfreude hätte er am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen oder einen fernen Mond angeheult, der sich irgendwo über dem hohen Gewölbe des Grand Central verbarg. Er merkte, wie ihm das Blut in den Adern pochte und das Getöse der Züge und der Menschenmenge in den Hintergrund trat, während ihn eine eigene, wohlige Stille einhüllte. Es war, als tauche er ein in die glasklare Karibische See und betrachte die Lichtstrahlen, die diese azurblaue Welt durchzogen. Wie der Taucher, als der er sich sah, atmete er langsam aus, während er unaufhaltsam wieder an die Oberfläche stieg. Es geht also los, dachte er. Dann ließ er sich von der anonymen Masse in einen vollbesetzten Pendelzug schieben. Es war ihm egal, wohin er fuhr, denn sein eigentliches Ziel lag ohnehin woanders.
2
Die drei Roten Der Tag, an dem sie zu Rote Eins wurde, war für Dr. Karen Jayson hart genug. Zunächst hatte sie an diesem Morgen einer Frau mittleren Alters sagen müssen, dass sie ihren Testergebnissen nach an Eierstockkrebs litt; mittags hatte sie durch einen Anruf der örtlichen Notaufnahme erfahren, dass einer ihrer langjährigen Patienten bei einem Autounfall schwer verletzt worden war; gleichzeitig hatte sie einen anderen Patienten mit einem Nierenstein ins Krankenhaus einweisen müssen, weil in diesem schweren Fall die übliche Schmerztherapie nicht griff. Anschließend hatte sie sich fast eine Stunde lang am Telefon mit einem Versicherungsangestellten herumgeschlagen, um diese ärztliche Entscheidung zu rechtfertigen. Unterdessen hatte sich ihr Wartezimmer mit Patienten gefüllt - von der Routineuntersuchung über die Mandelentzündung bis zur Grippe war alles dabei, und die Patienten, die mehr oder weniger frustriert und leidend ihre Zeit absaßen, steckten sich derweil munter gegenseitig an. Am späten Nachmittag eines in ihren Augen ohnehin mühseligen Tags war sie in den Hospiztrakt des Altenheims »Schattenhain« gerufen worden - einer Einrichtung unweit ihrer Praxis, die weder an einem Hain lag noch besonderen Schatten bot -, um einem Sterbenden, den sie kaum kannte, letzten Beistand zu leisten. Der über neunzig Jahre alte Mann, von dem außer der Trichterbrust, den eingesunkenen Augen und einem fl ackernden Rest von Bewusstsein kaum etwas übrig war, klammerte sich mit der Zähigkeit eines Pitbulls ans Leben. Im Lauf ihres Berufslebens hatte Karen viele Menschen sterben sehen; für eine Internistin mit einer Zusatzausbildung in Gerontologie war das unvermeidlich. Doch auch nach so vielen Jahren Erfahrung mit dieser Situation hatte sie sich nie ganz daran gewöhnt, und obwohl sie nur neben dem Bett des Mannes stand und gelegentlich seine Tropfi nfusion anpasste, war sie aufgewühlt und von ihren Gefühlen hin und her geworfen wie ein Baum im eisigen Wind. Sie wünschte sich, die Hospizschwestern hätten sie nicht gerufen, sondern diesen Todesfall alleine bewältigt. Doch sie hatten es getan, und sie war gekommen. Das Zimmer wirkte abweisend und kalt, obwohl die altmodischen Heizkörper auf Hochtouren liefen. Es herrschte trübes Licht, als verschaffte ein abgedunkeltes Zimmer dem Tod leichteren Zugang. Ein paar Apparate, ein verriegeltes Fenster, eine alte Nachttischlampe, zerwühlte, weiße Laken und ein schwacher Abfallgeruch waren alles, was den alten Mann umgab. Nicht einmal ein billiges, aber farbenfrohes Gemälde hing an einer der Wände, um die Trostlosigkeit des Zimmers aufzulockern. Es war kein guter Ort zum Sterben. Zum Teufel mit den Dichtern, dachte sie, Sterben hat nicht den leisesten Hauch von Romantik, schon gar nicht in einem Altenpflegeheim, das bessere Tage gesehen hat. »Er ist tot«, sagte die diensthabende Schwester. Karen hatte in den letzten Sekunden dasselbe gehört: ein langsames Ausatmen, als entweiche das letzte bisschen Luft aus einem undichten Ballon, gefolgt von einem schrillen Signalton des Herzmonitors, wie man ihn aus den Ärzteserien im Fernsehen kannte. Sie beugte sich vor und schaltete nach einem prüfenden Blick auf die leuchtende grüne Linie den Apparat aus; auch die vermeintliche dramatische Spannung, konstatierte sie, ging dem routinemäßigen Sterben ab. Es erinnerte sie eher daran, wie in einem großen Zuschauerraum, nachdem das Publikum gegangen war, die Lichterreihen ausgeschaltet wurden, bis alle verloschen waren und nur noch Dunkelheit herrschte. Sie seufzte bei der Erkenntnis, dass selbst dieses Bild zu poetisch war, und fl üchtete sich in die eingespielten nächsten Schritte. Auf der Suche nach einem Puls in der Carotis legte sie dem alten Mann die Finger an den Hals. Seine Haut fühlte sich wie Seidenpapier an, und ihr kam der seltsame Gedanke, dass schon die zarteste Berührung verräterische Narben hinterlassen würde. »Todeseintritt 16 Uhr 44«, sagte sie. Zahlen hatten mit ihrer mathematischen Verlässlichkeit etwas Befriedigendes, wie Puzzleteile, die man passgenau ineinanderfügt. Sie warf einen Blick auf die Patientenverfügung des Toten und spähte zur Schwester hinüber, die damit begonnen hatte, die Kabelanschlüsse von seiner Brust zu entfernen. »Wenn Sie mit Mister ...«, sie wandte sich wieder dem Formular zu, »Wilsons Papieren fertig sind, bringen Sie mir sicher alles zur Unterschrift rüber?« Karen schämte sich ein wenig dafür, dass ihr der Name des alten Mannes entfallen war. Ganz so anonym sollte der Tod nicht sein. Wie nicht anders zu erwarten, sah das Gesicht des Verstorbenen friedlich aus. Tod und Klischees, dachte sie, gehören einfach zusammen. Einen Moment lang fragte sie sich, was für ein Mensch Mister Wilson wohl gewesen war - eine Menge Hoffnungen, Träume, Erinnerungen und Erfahrungen, die um 16 Uhr 44 erloschen waren. Was hatte er erlebt? Familie? Schule? Krieg? Liebe? Trauer? Freude? In seinen letzten Augenblicken verriet nichts in diesem Raum, wer er gewesen war. Karen fühlte Wut in sich aufsteigen dar über, dass der Tod eine solche Anonymität mit sich brachte. Die Hospizschwester musste etwas von ihren Gefühlen bemerkt haben, denn sie beeilte sich, dem drückenden Schweigen ein Ende zu setzen. »Schon traurig«, sagte die Schwester. »Mister Wilson war ein liebenswürdiger alter Herr. Wussten Sie, dass er nichts so sehr liebte wie Dudelsackmusik? Dabei war er kein Schotte. Ich glaube, er stammte irgendwo aus dem Mittleren Westen. Iowa oder Idaho. Schon seltsam.« Karen vermutete, dass es zu dieser Liebe eine Vorgeschichte gab, doch die war nun unwiederbringlich verloren. »Wissen Sie von Angehörigen, die ich benachrichtigen sollte?«, fragte sie. Die Schwester schüttelte den Kopf, sagte jedoch: »Ich muss noch mal in seinen Einweisungspapieren nachsehen. Ich weiß nur, dass wir niemanden angerufen haben, als er ins Hospiz kam.« Die Schwester war bereits von der einen Routine - der Betreuung eines über Neunzigjährigen an der Schwelle zum Jenseits - zur nächsten Pflicht übergegangen, der ordnungsgemäßen, bürokratischen Abwicklung des Todes. »Ich geh kurz raus, während Sie die Formulare zusammenstellen. « Die Schwester nickte kaum merklich. Sie war mit Dr. Jaysons Gewohnheiten nach einem Todesfall vertraut: Nach einer heimlichen Zigarettenpause in der hintersten Ecke des Parkplatzes, wo die Ärztin sich - irrtümlicherweise - unbeobachtet glaubte, würde sie wieder hereinkommen, um im Hauptbüro, in dem ihr ein eigener Schreibtisch zur Verfügung stand, Kranken- und Pflegeformulare auszufüllen und anschließend mit ihrer Unterschrift unter den staatlich vorgeschriebenen Totenschein das unvermeidliche Ende eines Aufenthalts im Heim zu besiegeln. Das Altenheim lag nur wenige Blocks von dem quadratischen roten Ziegelbau des Ärztehauses entfernt, in dem Karen neben einem Dutzend anderer Kollegen der unterschiedlichsten Fachrichtungen von Psychiatrie bis Kardiologie ihre kleine Internistenpraxis betrieb. Die Schwester wusste, dass die Ärztin genau eine halbe Zigarette rauchen würde, bevor sie wieder hereinkam, um Mister Wilsons Papiere auszufüllen. In der Packung Marlboros, die Karen, wie jeder, der im Hospiztrakt arbeitete, wusste, in ihrer obersten Schreibtischschublade versteckte, hatte sie jede Zigarette sorgfältig und präzise abgemessen und die Mitte mit rotem Kugelschreiber markiert. Außerdem wusste die Schwester, dass Karen sich keinen Mantel überziehen würde, selbst wenn es in West Massachusetts in Strömen goss oder klirrend kalt war. Die Schwester vermutete, dass es für sie eine Art Bußübung war, sich den Launen des Wetters auszusetzen, eine selbst auferlegte Strafe für ihre abstoßende Sucht, mit der sie sich sehenden Auges früher oder später ins Grab bringen würde und für die praktisch jeder im Gesundheitswesen, zu dem die Ärztin gehörte, nur Verachtung übrig hatte. Es war später Abend, lange nach der üblichen Essenszeit, als Karen in die Kieseinfahrt zu ihrem Haus einbog und an dem zerbeulten, alten Briefkasten am Straßenrand hielt. Sie lebte in einem ländlichen Teil des County, in dem die etwas teureren Eigenheime ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt lagen und viele davon Aussicht auf die fernen Berge boten. Wenn sich im Herbst das Laub färbte, war der Blick spektakulär, doch diese Jahreszeit war vorbei, und es herrschte kalter, nackter, nasser Winter.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
© 2012 John Katzenbach Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2012 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von John Katzenbach
John Katzenbach, geb. 1950, war ursprünglich Gerichtsreporter für den 'Miami Herald' und die 'Miami News'. In den USA sind inzwischen zehn Kriminalromane von ihm erschienen. Zweimal war Katzenbach für den Edgar Award nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Amherst im Westen des US-Bundesstaates Massachusetts.Anke Kreutzer studierte Anglistik, Germanistik und Kunstwissenschaft. Neben ihrer Tätigkeit als Übersetzerin leistet sie internationale Friedensarbeit, u.a. für die UNO.Eberhard Kreutzer studierte Anglistik, Germanistik und Sprachwissenschaft. Er war Professor für Anglistik und übersetzt aus dem Englischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Katzenbach
- 2012, 508 Seiten, Maße: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kreutzer, Anke; Kreutzer, Eberhard
- Übersetzer: Anke Kreutzer, Eberhard Kreutzer
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426198258
- ISBN-13: 9783426198254
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
Rezension zu „Der Wolf “
Ein extrem spannendes Buch!Sat1 Frühstücksfernsehen, Peter Hetzel, 04.12.2012
Wolf jagt Rotkäppchen. John Katzenbach fügt neues Blut zum Grimm-Märchen hinzu.
Mindener Tagblatt, 09.11.2012
Besonders im Grimm-Jahr ist diese ungewöhnliche "Rotkäppchen"-Adaption ein echtes Lesevergnügen für Thriller- und Märchenfans.
Oberhesseische Presse, 09.11.2012
Hier verwandelt sich das Märchen vom Rotkäppchen in einen atemlosen Psychothriller mit grandiosem Finale.
Petra, 07.11.2012
Schauriger Spaß garantiert!
tz, 03.11.2012
Auch wenn die Hanldung reichlich kontruiert ist, bietet Katzenbach einmal mehr genussvollen Nervenkitzel.
Münstersche Zeitung, 08.10.2012
..eher ein feingeistiger Thriller, der leise und ironisch angeschlichen kommt. Wer sich ohne Erwartungen darauf einlassen kann, wird den Nervenkitzel bei der Lektüre dieser mördersichen Rotkäppchen-Version spüren, der sich vornehmlich im eigenen Kopf abspielt.
Bremer, Dezember 2012
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