Die Glocken von Kronstadt
Mit "Die Glocken von Kronstadt" gibt Ruth Eder dem fernen Siebenbürgen seine Geschichte wieder und erzählt die Chronik einer versunkenen Welt.
Zwischen fröhlichen Volksfesten, Kleinstadtklatsch und Familiengezänk...
Zwischen fröhlichen Volksfesten, Kleinstadtklatsch und Familiengezänk...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Glocken von Kronstadt “
Mit "Die Glocken von Kronstadt" gibt Ruth Eder dem fernen Siebenbürgen seine Geschichte wieder und erzählt die Chronik einer versunkenen Welt.
Zwischen fröhlichen Volksfesten, Kleinstadtklatsch und Familiengezänk wachsen sie im südöstlichen Teil des alten Europas auf: zwei Frauen, die noch als imposante Großmütter die Geschicke ihrer inzwischen verwandten Familien bestimmen sollen. Mit Ida Greysing und der "schönen Malwine" beginnen gut fünfzig Jahre Familiengeschichte - wechselvolle Jahre von den letzten Sternstunden unter dem Doppeladler bis zum Untergang einer vermeintlich heilen Welt. Das mitreißende Porträt eines kontrastreichen Landes und seiner Bewohner.
"Mit viel Gespür für Menschlich-Allzumenschliches und einem erfrischenden Sinn für Skurriles erweist sich Ruth Eder als Chronistin einer versunkenen Welt, deren Erinnerung leise Sehnsucht hervorruft."
Holsteinische Nachrichten
Zwischen fröhlichen Volksfesten, Kleinstadtklatsch und Familiengezänk wachsen sie im südöstlichen Teil des alten Europas auf: zwei Frauen, die noch als imposante Großmütter die Geschicke ihrer inzwischen verwandten Familien bestimmen sollen. Mit Ida Greysing und der "schönen Malwine" beginnen gut fünfzig Jahre Familiengeschichte - wechselvolle Jahre von den letzten Sternstunden unter dem Doppeladler bis zum Untergang einer vermeintlich heilen Welt. Das mitreißende Porträt eines kontrastreichen Landes und seiner Bewohner.
"Mit viel Gespür für Menschlich-Allzumenschliches und einem erfrischenden Sinn für Skurriles erweist sich Ruth Eder als Chronistin einer versunkenen Welt, deren Erinnerung leise Sehnsucht hervorruft."
Holsteinische Nachrichten
Lese-Probe zu „Die Glocken von Kronstadt “
Die Glocken von Kronstadt von Ruth EderWeidenbach 1913
... mehr
Es wurde allmählich Frühling in Siebenbürgen. Morgens lag noch feiner Reif auf den Wiesen, in einigen Mulden des Hügellandes hielten sich gelbliche Schneeflecken. Aber über Mittag war die Luft schon sanft, und die Vögel wärmten ihre schmal gewordenen, roten und gelben Brüste in den Hecken. Die Triebe der Pflanzen wurden mit jedem Tag Frühlingssonne praller. Im Morgengrauen lauschten die Menschen dem ersten, zögernden Vogelgezwitscher und wussten, dass die strenge Stille des Winters vorüber war. In Weidenbach hatte das Tauwetter die lehmige Dorfstraße wie jedes Jahr in Morast verwandelt. Über den matschigen Pfützen bildete sich nachts noch eine dünne Eisschicht. Die Dorfbuben, die die Büffelherde mittags schon manchmal an den Bach hinaustrieben, freuten sich, wenn das Eis unter ihren groben, dick eingewachsten Schnürstiefeln leise knisternd nachgab. Das Dorf erwachte aus der Winterruhe. Dann und wann kamen die alten Bäuerinnen mit ihren schwarzen Kopftüchern aus den Häusern hervor und setzten sich für ein paar Minuten auf eine der verwitterten Holzbänke, die neben den mächtigen Rundbögen der Hofeinfahrten links und rechts entlang der Straße standen. Sie hatten dabei die alte Kirchenburg vor Augen, die das Dorf überragte und seinen Bewohnern seit Jahrhunderten Schutz bot. Dicht neben der Kirche lag das Pfarrhaus, wuchtig, efeuumrankt wie die Mauer des Gotteshauses. Alles war so, wie es immer gewesen war. Nichts deutete in diesem südöstlichen Winkel Europas darauf hin, dass es draußen in der Welt brodelte, dass das Habsburger Reich, zu dessen Kronländern Siebenbürgen seit langer Zeit zählte, seinem Untergang entgegenging. Die Zeitenwende des Ersten Weltkriegs stand bevor. Es wurde Frühling, und die Felder mussten bestellt werden. Das allein zählte in Weidenbach. Im Pfarrhaus war es still. Es war Samstag. Der alte Pfarrer bereitete seine Predigt vor. Er wollte dabei keinesfalls gestört werden. So war es immer gehalten worden. Pfarrer Fabritius saß in seiner Studierstube im ersten Stock am Biedermeiersekretär. Wie fast alle Möbel im Haus, hatte ihn ein Vorfahre, der - wie es hieß - Kunstschreiner gewesen war, angefertigt. Der Pfarrer war ein eher zierlicher, sich sehr aufrecht haltender Mann um die sechzig, dessen weißes, feines, jedoch dichtes Haar und dessen ebenfalls weißer Vollbart kurz gestutzt waren. Sein kantiges, auffallend gutgeschnittenes Gesicht mit den ernsten, dunklen Augen stach, wenn er sonntags auf der Kanzel der Kirchenburg stand, entschieden von denen seiner Schäfchen ab. Blauäugig, semmelblond und rotbackig saßen die Männer in ihren reichbestickten Kirchenpelzen, die Frauen in ihren üppigen, gebauschten Trachten da. »Du bist nicht bei der Sache«, tadelte sich der Pfarrer. Anders als sonst, ließ seine Laune an diesem Samstag zu wünschen übrig. Für gewöhnlich liebte er diese stillen Vormittage, an denen er ohne Hast arbeiten und sein Thema für den Sonntag formulieren konnte. Er liebte es auch, wenn gegen Mittag allmählich die Düfte des Essens durchs Haus zogen, das seine Frau, Kathi und seine Tochter Ida zubereiteten. Ida. Sie würde nicht mehr lang zu Hause sein. Er würde samstags zum Mittagessen die Treppe hinuntersteigen, und sie würde nicht mehr da sein. Dem Pfarrer wurde es zu warm. Der Geruch von Hendl stieg ihm in die Nase. Er störte ihn plötzlich. Er hatte wegen des feierlichen Anlasses, der heute bevorstand, bereits seine Amtstracht, den pelzbesetzten, plissierten Talar sächsischer Pfarrer angelegt, der aussah wie ein Rittermantel. Er hatte nicht erwartet, dass es heute schon so frühlingshaft warm werden würde. Er verbot es sich, den Talar kurz abzulegen. Der Besuch konnte jeden Augenblick eintreffen. Er war es schließlich gewohnt, streng und ernst seine Pflicht zu tun, seit er vor vielen Jahren nach dem Studium in Tübingen wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, um seine erste Pfarrstelle zu übernehmen. Unerbittliches Pflichtgefühl war das Korsett, das ihn zugleich stützte und einengte. Der Pfarrer musste sich eingestehen, dass er der Aufwartung seines künftigen Schwiegersohnes mit äußerst gemischten Gefühlen entgegensah. »Du willst ja nur deine Tochter nicht hergeben, alter Egoist«, sagte er sich. »Schäm dich ...« Er beschloss, am Sonntag eine Predigt über die Gefahren der Ichsucht zu halten. Wenn nur dieser Johannes Greysing bürgerlichen Maßstäben wenigstens ein bisschen gerechter würde! Bodenständig, eigensinnig und solide, wie die meisten Siebenbürger Sachsen waren, hätte er sich eigentlich einen anderen Mann für seine Jüngste gewünscht. Andererseits war Ida bereits vierundzwanzig, und die Tatsache, dass ihr Auserwählter zwar bedauerlicherweise Künstler, aber immerhin Abkömmling einer angesehenen und vermögenden Kronstädter Familie sowie alleiniger Eigentümer eines mehrstöckigen Hauses am Marktplatz der Stadt zu sein schien, stimmte den Pfarrer einigermaßen versöhnlich. »Dieser Mensch fällt in jeder Hinsicht aus dem Rahmen«, sagte er sich mit Unbehagen. Plötzlich schmunzelte er. Er wusste nur zu genau, dass ihm keiner gut genug für seine Jüngste gewesen wäre. Nun würde sie also mit diesem Greysing weggehen ... Einem Maler. Wer weiß, wohin. Es hieß, er reise gern um die Welt, habe jahrelang im Ausland gelebt. In der Beurteilung seines künftigen Schwiegersohnes stimmte der Pfarrer, ohne es zu ahnen, aufs Haar mit derjenigen von Johannes Greysing sen., Vater des aufstrebenden Künstlers und Direktor der ehrwürdigen Kronstädter Allgemeinen Sparkassa überein: Ein »Sachs«, so viel war gewiss, malte höchstens in seiner Freizeit, die ihm ein ordentliches und einträgliches Berufsleben ließ. Der Pfarrer klappte seine in Schweinsleder gebundene Bibel über dem in siebenbürgischen Farben gestickten Lesezeichen, das ihm Ida vor langer Zeit in der Schule angefertigt hatte, zusammen. Sein Blick fiel auf sein rubinrotes, mit silbernen Eichenblättern verziertes Studentenkäppi, das, inzwischen ziemlich ausgebleicht, schon immer auf seinem Schreibtisch lag. Dann seufzte Pfarrer Fabritius, richtete sich kerzengerade auf und stieg langsam die in der Mitte ausgetretene, frisch gescheuerte Holztreppe hinunter. »Wo bleift der Besach ... wo bleibt denn der Besuch?«, fragte er unwirsch in die Küche hinein. Er verfiel dabei in die Mundart seiner Heimat, die seine Vorfahren vor achthundert Jahren aus der Luxemburger Gegend mitgebracht hatten. »Hi wit schi kun ... er wird schon noch kommen«, konterte seine Frau unbeeindruckt. Die Pfarrerin war gerade damit beschäftigt, mit Kathi, der hübschen, schwarzgelockten Szeklerin, besonders sorgfältig das Essen herzurichten, und ließ sich nicht gern in die Töpfe schauen. Die Küche war ihr Reich. Besuchern wurde im Pfarrhaus immer ordentlich aufgewartet, das war bekannt, aber in diesem Fall gab sich die Pfarrerin besondere Mühe. Die speckgefüllten Hendl waren so weit, dass sie, sobald der offizielle Teil des Besuches ausgestanden war, serviert werden konnten, Gemüse, Krebssuppe, im Hendlsaft gegarte Kartoffeln, Nockerl , Baumstriezel und Gebäck waren ebenfalls vorbereitet. Der Kokelthaler Weiße stand auf einem Silbertablett, der Flaschenöffner und die guten Kristallgläser griffbereit. Kathi hatte eine frische weiße Bluse an, unter den roten, bauschigen Röcken lugten weiße gestärkte Unterröcke hervor. Die Pfarrerin war zufrieden. Die Pfarrerin streifte ihren Mann mit einem Blick. Sie wusste, dass er sich vor dem Tag fürchtete, an dem Ida das Haus verlassen würde. Ihr würde es genauso gehen. Doch sie hatte den Mann, den Ida vom ersten Augenblick an geliebt hatte, mit deren Augen zu sehen versucht. Sie würde den Schmerz des Vaters teilen, aber ebenso das Glück des Kindes.
Idas künftigem Mann musste heute ordentlich aufgewartet werden. »Dat de mer en uch urentlich emfehst ... dass du ihn mir auch ordentlich empfängst«, ermahnte sie ihren Mann. Sie sah den Mann, den ihr letztes noch zu Hause lebendes Kind liebte und heiraten würde, bereits mit den Augen der Tochter. Die Pfarrerin war zwar nie eine Schönheit gewesen, aber sie wusste, dass sie als Hausfrau, Pfarrerin und vierfache Mutter immer eine untadelige Figur abgegeben hatte und dass ihr Mann dies zu schätzen wusste. Er selbst war immer ein gut aussehender Mann gewesen, aber was bedeutete das im Grunde schon? »Eine deutsche Pfarrfrau am äußersten Rand des christlichen Abendlandes hat nicht hübsch zu sein, sondern ihre Pflicht zu tun«, hatte Fabritius einmal gesagt. Mit den Jahren, das schien er schon bei der Hochzeit gewusst zu haben, hatte er ihr Äußeres immer weniger, ihre innere Schönheit jedoch immer klarer wahrgenommen. Leider war nur die Jüngste in ihrem Aussehen nach dem Vater geraten. »Wo stächt des Känd iverhift ... wo steckt das Kind überhaupt? «, hörte sie ihren Mann sagen. Er klang gereizt, wie immer, wenn er nervös war. »Schließlich geht es ja heute um sie.« »Hier ist sie«, erwiderte Ida und verschwand in der Küche. In den meisten deutschen Häusern Siebenbürgens bildete die Küche den Mittelpunkt des Familienlebens. Hier wurde erzählt, geklatscht, gelacht und geweint. Hier wurden Entscheidungen gefällt oder auch zurückgenommen. Ein riesiger holzgefeuerter Herd verbreitete Wärme, es roch nach Essen, nach Leben. In der Mitte des großen, anheimelnd dämmrigen Raums mit dem rauen, gescheuerten Holzfußboden stand ein schwerer, roher Arbeitstisch aus Holz. Auf ihm wurde Fleisch geschnitten, Hähnchen gefüllt, Teig ausgerollt, waren früher Schularbeiten gemacht worden und hatten die Kinder nicht selten Kathi beim Essen Gesellschaft geleistet. Ida lächelte, als sie daran dachte, wie sie und auch ihre Geschwister viel lieber mit Kathi in der Küche gesessen hatten als mit den Eltern nebenan in dem vornehmen Speisezimmer. Ida fing einen arglos bewundernden Blick Kathis auf. Ursprünglich war sie auf Wunsch ihrer Familie für ein Jahr ins Pfarrhaus gekommen, um dort Lebensart und vielleicht auch ein wenig Deutsch zu lernen. Jetzt war sie, Jahre später, immer noch da, half der Pfarrerin beim Kochen, wusch ab, putzte, besorgte den Pfarrgarten, fütterte die Hühner und sprach immer noch kein Deutsch. Alle fanden es einfacher, mit ihr Ungarisch, die offizielle Landessprache, zu sprechen. Kathi hatte sich oft gewundert, dass das kisaçzony, das »Fräulein«, wie sie Ida nannte, nicht schon längst unter der Haube war. An interessierten jungen Herren hatte es bei den Kränzchen im Pfarrhaus nie gefehlt. Dafür sorgten schon die zwei älteren Brüder des Fräuleins. Aber das Fräulein war für keinen zu erwärmen gewesen. Dass bei solchen Anlässen mitunter der eine oder andere fesche Studiosus kurzfristig bei Kathi hängengeblieben war, darüber wurde in einem Pfarrhaus selbstverständlich hinweggesehen. Ida Fabritius war zierlich, wirkte aber größer, als sie war, was vermutlich an ihrer mächtigen Stimme, aber ebenso an ihrer aparten, fremdländischen Schönheit lag. Alles an ihr war dunkel, die Stimme, das seidenzarte, hüftlange Haar und die übergroßen, aufmerksamen Augen. Ihr Gesicht war fast dreieckig, Kinn und Nase ausgeprägt, aber weich, die hohen Backenknochen gingen von zarthäutigen Schläfen in eine runde, hohe Stirn über. Das Mädchen unterstrich das Dunkle, Geheimnisvolle ihrer Erscheinung, indem sie mit Vorliebe dunkle Farben, vor allem Schwarz trug. Auch heute hatte sie ein schwarzes Kleid gewählt, mit hohem, eng am Hals anliegenden Kragen, einem weit geschnittenen Oberteil mit runden, kleinen Silberknöpfen und passender dünner Silberkette. Der Rock war schmal geschnitten und knöchellang. Unter dem Saum lugten schwarze lederne Knöpfstiefelchen hervor. Sie trug ihr weiches, ebenholzfarbenes Haar in der Mitte gescheitelt, an den Seiten über den Ohren wellig gebauscht und an ihrem schönen, außergewöhnlich hohen Hinterkopf locker aufgesteckt. Sie bewegte sich mit einer auffallend gelassenen Anmut. Ihre Erscheinung sollte einen Stammtischbruder von Johannes Greysing aus dem Kronstädter Literatencafé später einmal zu der äußerst treffenden Bemerkung inspirieren: »Sie hat Augen wie rumänischer Bernstein, tiefbraun, mit kleinen, goldenen Lichtern darin, und einen Gang wie ein junger Indianer.« Der alte Pfarrer sah seine Tochter an und versuchte, sich vorzustellen, wie es im Pfarrhaus ohne sie sein würde. Auf einmal erschien ihm dieser Maler noch unseriöser. »Ich möcht nur wissen, ob dieser Greysing überhaupt auf Dauer eine Familie wird ernähren können«, sagte er in einem Ton, den er mitunter auf der Kanzel anschlug. Sofort bereute er, diesen Satz nicht lediglich gedacht zu haben. Dass Töchter weggeheiratet wurden, war nun einmal der Lauf der Welt. Er gestand sich ein, dass es ihn weniger geschmerzt hatte, als Lilly, die ältere Tochter, ihren Gutsverwalter aus Deutschland nahm und das Haus verließ. Von den beiden Söhnen hatte er sich ohnehin schon viel früher gelöst. Ob alle Väter mehr an ihren Töchtern, besonders an der Jüngsten hingen? Pfarrer Fabritius hörte durch seine Gedanken hindurch die Stimme seiner Frau. Wie gewöhnlich sprang sie, die Glucke, dem letzten ihrer Küken bei. Sie sagte irgendetwas wie »Aber Tata ...«, wobei sie die bei den Sachsen übliche rumänische Form von Papa benutzte, und dann das Übliche über die allseits angesehene Greysing'sche Familie. Er hatte es schon hundertmal gehört. Pferdegetrappel riss ihn aus seinen Gedanken. Es kam von der Straße her. »Er kommt.« Ida wurde blass. Kutschenräder drehten sich im Matsch. »Brrrrr«, beschwichtigte der Kutscher die Pferde. Dann fiel ein Wagenschlag zu. Ida spürte ihren Herzschlag in der Kehle. Es war ihr, als könnte sie jeden Augenblick Schluckauf bekommen. »Nur das nicht«, dachte sie. »Nur jetzt das nicht, lieber Gott!« Wie sollte sie sich benehmen? Sie hatte keine Ahnung. Wie trat man dem Mann entgegen, mit dem man sein ganzes Leben verbringen wollte? Sie hatte ihn vor Kurzem erst mit ihrem Bruder Hermann auf einem Kostümfest in Kronstadt getroffen. Er war tatsächlich gekommen. Er würde bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Er hatte mit ihr doch nur auf den großen Faschingsball in der Kronstädter Redoute gehen wollen. Ihr Vater hatte es nicht erlaubt. »So etwas geht vielleicht in Paris, aber nicht bei uns in Siebenbürgen«, hatte Tata nur gesagt. »Dann verloben wir uns eben«, hatte Johannes lachend gemeint. Ihr hatte das Herz geklopft. Und nun war er tatsächlich da. Er war es gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen. Ihr Hals und ihr Gesicht prickelten. Ihr war heiß. Lampenfieber, dachte sie. Wie eine Schauspielerin vor der Premiere. Nur dass es für dieses Stück keine Proben gegeben hatte. Ihre Hände wurden feucht. Es kam ihr vor, als ob sie an viel zu langen Armen unbeholfen und kalt herabhingen. »Na servus, so wirst du ihm ja wunderbar gefallen«, dachte sie grimmig und unterdrückte den Impuls, hysterisch loszukichern. Er überkam sie meist, wenn es die Situation absolut verbot. Tata konnte von manchen Predigten her ein Lied davon singen. Tata! Er hatte so traurig ausgesehen. Johannes würde sie mitnehmen. Sie liebte ihn und doch ... Draußen auf der Straße johlten die Dorfbuben. Sicher standen sie schon um die Kutsche herum. Die Buben bekamen ja auch nicht jeden Tag den Lebensstil eines Johannes Greysing vorgeführt. Stolz machte sich in ihr breit. Und plötzlich wilde, jubelnde Freude. Johannes! Dieser faszinierende Mann war gerade erst aus der Welt gekommen, aus Paris, aus Brügge, aus München. Zehn Jahre war er weg gewesen. Und jetzt kam er nach Weidenbach, um sie, die Tochter des Dorfpfarrers, zu holen. Johannes, der alles war, der alles hatte. Gutes Aussehen, Begabung, Intelligenz, Bildung, Stil, Sensibilität. Er wusste es. Er wusste es nur zu gut. Ida wurde ganz ruhig. Sie würde diesem Mann ihr ganzes Leben zu Füßen legen. Langsam, versunken, ging sie hinter ihrem Vater her in den Garten, dem Gast entgegen. Der Himmel war bedeckt, die Luft schon mild. Auf dem Kiesweg, der um ein kleines grasbewachsenes Rondell führte, das im Sommer von bunten Blumen überquoll, jetzt aber bräunlich und unscheinbar aussah, verwestes, glitschiges Laub. Die Obstbäume neben dem Haus reckten ihre noch kahlen, aber schon knospenbesetzten Äste über die ziegelgedeckte, massive Mauer des Pfarrgartens. Ida lächelte ruhig und froh. »Sie recken sich genauso, wie ich Johannes zustrebe«, dachte sie versonnen. Sie schaute sich um. Mutter und Kathi waren in der Tür ihres Elternhauses stehen geblieben. Kathis dunkle Augen lugten neugierig hinter der Pfarrerin hervor. Ach, Mamas vertrautes, geliebtes Gesicht. Ida umfasste das alte Pfarrhaus, den Garten, die Mauer, die Eltern mit einem Blick, in dem Liebe und Wehmut lag. Sie würde nicht mehr lange hier leben ... Ida war am Zaun stehen geblieben. Ihr Herz klopfte. Das Lachen und Kreischen der Dorfkinder, die tatsächlich den lackschwarzen, eleganten Jagdwagen umringten, verstummte. Dann steigerte es sich mit einem Mal zu frenetischem Geschrei. Wo war Johannes? »Der bies Bäffel kit, der bies Bäffel kit, der böse Büffel kommt!« Die Kinder kreischten und stoben auseinander. Da sah sie Johannes stehen. Mitten auf der Dorfstraße, an den Jagdwagen gelehnt, groß gewachsen, blond und ungemein elegant im schwarzgrauen Cut und Zylinder. Mit zusammengekniffenen Augen, in denen Spott lag, beobachtete er die träge dahinschaukelnde Büffelherde, die sich offenbar schon im Dorfbach gesuhlt hatte. Die Tiere fielen in schweren Galopp. Atemlos beobachtete Ida, wie sich eine dieser lehmverschmierten, schwarzen Urgestalten, denen die nach hinten gebogenen Hörner ein noch verwegeneres Aussehen gaben, aus der Herde löste und direkt auf Johannes zukam. Es war das Leittier, der böse Büffel. Sie wusste wie alle im Dorf, dass er gefährlich war, wenn ihm etwas Ungewohntes begegnete. Der Spott war aus Johannes' Augen gewichen. Die Erde schien unter den Hufen der gewaltigen Tiere zu beben. Der Büffel schnaubte, griff an ... Ida schrie auf. »Joi«, hörte sie Kathi in der Haustür jammern, »joi.« Mit einer gewaltigen Flanke rettete sich Johannes Greysing über den Zaun des Pfarrgartens. Der Büffel donnerte an ihm vorüber und zertrampelte den Habig-Zylinder, der im Matsch liegen blieb. Johannes richtete sich auf, kam die wenigen Schritte auf die entsetzte Pfarrersfamilie zu, korrigierte mit einer knappen Bewegung den Sitz seiner Fliege und lächelte. Leise Belustigung war in seine glitzernden Augen zurückgekehrt. »Küss die Hand«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit und beugte sich über die Hand der sprachlosen Ida. Und zu ihrem Vater gewandt: »Darf ich mir erlauben, Herr Pfarrer, Ihnen meine Aufwartung zu machen ...« Diese Geschichte pflegte das Ehepaar Greysing später oft und gern bei geselligen Anlässen zum Besten zu geben. Sie sollte den sechsjährigen Nachkommen schließlich zu der Bemerkung veranlassen: »Ohne den Büffel hätte er es sich vielleicht noch einmal überlegt, und es würde mich gar nicht geben ...« Die beiden Herren zogen sich ins Studierzimmer im ersten Stock zurück. Johannes Greysing, immer um sorgsam inszenierte Auftritte bemüht, fühlte sich erbärmlich. Er war, gelinde gesagt, nicht ganz so einwandfrei ausstaffiert, wie er es schätzte, ja er war sogar, wie er es insgeheim nannte, ziemlich »derangiert«. Wie haarklein hatte er sich doch seine Ankunft und seine wohlgesetzten Worte diesem zwar ehrwürdigen, jedoch reichlich provinziellen Pfaffen gegenüber zurechtgelegt. Jetzt hatte ausgerechnet ein dummes Vieh den blendenden Eindruck, mit dem er gedacht hatte, den Alten zu überfahren, zunichte gemacht. Johannes war ziemlich gehemmt, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Er ahnte nicht, dass gerade seine Unsicherheit und Verwirrung weit sympathischer auf den Menschenkenner Fabritius wirkten, als seine üblicherweise zur Schau gestellte, stets ein wenig überhebliche Attitüde es je vermocht hätte. Die beiden Männer kamen rasch zur Sache. »Und Sie meinen tatsächlich, mit Ihrem doch etwas unsicheren Beruf ... Sie verstehen, was ich meine, lieber Greysing ...«, sagte der Pfarrer. Johannes holte aus der Brusttasche seines Cuts ein silbernes Zigarettenetui hervor. »Sie rauchen?«
Besuchen Sie uns im Internet: www.weltbild.de Copyright der Originalausgabe © 1991 by Ruth Eder Copyright © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Es wurde allmählich Frühling in Siebenbürgen. Morgens lag noch feiner Reif auf den Wiesen, in einigen Mulden des Hügellandes hielten sich gelbliche Schneeflecken. Aber über Mittag war die Luft schon sanft, und die Vögel wärmten ihre schmal gewordenen, roten und gelben Brüste in den Hecken. Die Triebe der Pflanzen wurden mit jedem Tag Frühlingssonne praller. Im Morgengrauen lauschten die Menschen dem ersten, zögernden Vogelgezwitscher und wussten, dass die strenge Stille des Winters vorüber war. In Weidenbach hatte das Tauwetter die lehmige Dorfstraße wie jedes Jahr in Morast verwandelt. Über den matschigen Pfützen bildete sich nachts noch eine dünne Eisschicht. Die Dorfbuben, die die Büffelherde mittags schon manchmal an den Bach hinaustrieben, freuten sich, wenn das Eis unter ihren groben, dick eingewachsten Schnürstiefeln leise knisternd nachgab. Das Dorf erwachte aus der Winterruhe. Dann und wann kamen die alten Bäuerinnen mit ihren schwarzen Kopftüchern aus den Häusern hervor und setzten sich für ein paar Minuten auf eine der verwitterten Holzbänke, die neben den mächtigen Rundbögen der Hofeinfahrten links und rechts entlang der Straße standen. Sie hatten dabei die alte Kirchenburg vor Augen, die das Dorf überragte und seinen Bewohnern seit Jahrhunderten Schutz bot. Dicht neben der Kirche lag das Pfarrhaus, wuchtig, efeuumrankt wie die Mauer des Gotteshauses. Alles war so, wie es immer gewesen war. Nichts deutete in diesem südöstlichen Winkel Europas darauf hin, dass es draußen in der Welt brodelte, dass das Habsburger Reich, zu dessen Kronländern Siebenbürgen seit langer Zeit zählte, seinem Untergang entgegenging. Die Zeitenwende des Ersten Weltkriegs stand bevor. Es wurde Frühling, und die Felder mussten bestellt werden. Das allein zählte in Weidenbach. Im Pfarrhaus war es still. Es war Samstag. Der alte Pfarrer bereitete seine Predigt vor. Er wollte dabei keinesfalls gestört werden. So war es immer gehalten worden. Pfarrer Fabritius saß in seiner Studierstube im ersten Stock am Biedermeiersekretär. Wie fast alle Möbel im Haus, hatte ihn ein Vorfahre, der - wie es hieß - Kunstschreiner gewesen war, angefertigt. Der Pfarrer war ein eher zierlicher, sich sehr aufrecht haltender Mann um die sechzig, dessen weißes, feines, jedoch dichtes Haar und dessen ebenfalls weißer Vollbart kurz gestutzt waren. Sein kantiges, auffallend gutgeschnittenes Gesicht mit den ernsten, dunklen Augen stach, wenn er sonntags auf der Kanzel der Kirchenburg stand, entschieden von denen seiner Schäfchen ab. Blauäugig, semmelblond und rotbackig saßen die Männer in ihren reichbestickten Kirchenpelzen, die Frauen in ihren üppigen, gebauschten Trachten da. »Du bist nicht bei der Sache«, tadelte sich der Pfarrer. Anders als sonst, ließ seine Laune an diesem Samstag zu wünschen übrig. Für gewöhnlich liebte er diese stillen Vormittage, an denen er ohne Hast arbeiten und sein Thema für den Sonntag formulieren konnte. Er liebte es auch, wenn gegen Mittag allmählich die Düfte des Essens durchs Haus zogen, das seine Frau, Kathi und seine Tochter Ida zubereiteten. Ida. Sie würde nicht mehr lang zu Hause sein. Er würde samstags zum Mittagessen die Treppe hinuntersteigen, und sie würde nicht mehr da sein. Dem Pfarrer wurde es zu warm. Der Geruch von Hendl stieg ihm in die Nase. Er störte ihn plötzlich. Er hatte wegen des feierlichen Anlasses, der heute bevorstand, bereits seine Amtstracht, den pelzbesetzten, plissierten Talar sächsischer Pfarrer angelegt, der aussah wie ein Rittermantel. Er hatte nicht erwartet, dass es heute schon so frühlingshaft warm werden würde. Er verbot es sich, den Talar kurz abzulegen. Der Besuch konnte jeden Augenblick eintreffen. Er war es schließlich gewohnt, streng und ernst seine Pflicht zu tun, seit er vor vielen Jahren nach dem Studium in Tübingen wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, um seine erste Pfarrstelle zu übernehmen. Unerbittliches Pflichtgefühl war das Korsett, das ihn zugleich stützte und einengte. Der Pfarrer musste sich eingestehen, dass er der Aufwartung seines künftigen Schwiegersohnes mit äußerst gemischten Gefühlen entgegensah. »Du willst ja nur deine Tochter nicht hergeben, alter Egoist«, sagte er sich. »Schäm dich ...« Er beschloss, am Sonntag eine Predigt über die Gefahren der Ichsucht zu halten. Wenn nur dieser Johannes Greysing bürgerlichen Maßstäben wenigstens ein bisschen gerechter würde! Bodenständig, eigensinnig und solide, wie die meisten Siebenbürger Sachsen waren, hätte er sich eigentlich einen anderen Mann für seine Jüngste gewünscht. Andererseits war Ida bereits vierundzwanzig, und die Tatsache, dass ihr Auserwählter zwar bedauerlicherweise Künstler, aber immerhin Abkömmling einer angesehenen und vermögenden Kronstädter Familie sowie alleiniger Eigentümer eines mehrstöckigen Hauses am Marktplatz der Stadt zu sein schien, stimmte den Pfarrer einigermaßen versöhnlich. »Dieser Mensch fällt in jeder Hinsicht aus dem Rahmen«, sagte er sich mit Unbehagen. Plötzlich schmunzelte er. Er wusste nur zu genau, dass ihm keiner gut genug für seine Jüngste gewesen wäre. Nun würde sie also mit diesem Greysing weggehen ... Einem Maler. Wer weiß, wohin. Es hieß, er reise gern um die Welt, habe jahrelang im Ausland gelebt. In der Beurteilung seines künftigen Schwiegersohnes stimmte der Pfarrer, ohne es zu ahnen, aufs Haar mit derjenigen von Johannes Greysing sen., Vater des aufstrebenden Künstlers und Direktor der ehrwürdigen Kronstädter Allgemeinen Sparkassa überein: Ein »Sachs«, so viel war gewiss, malte höchstens in seiner Freizeit, die ihm ein ordentliches und einträgliches Berufsleben ließ. Der Pfarrer klappte seine in Schweinsleder gebundene Bibel über dem in siebenbürgischen Farben gestickten Lesezeichen, das ihm Ida vor langer Zeit in der Schule angefertigt hatte, zusammen. Sein Blick fiel auf sein rubinrotes, mit silbernen Eichenblättern verziertes Studentenkäppi, das, inzwischen ziemlich ausgebleicht, schon immer auf seinem Schreibtisch lag. Dann seufzte Pfarrer Fabritius, richtete sich kerzengerade auf und stieg langsam die in der Mitte ausgetretene, frisch gescheuerte Holztreppe hinunter. »Wo bleift der Besach ... wo bleibt denn der Besuch?«, fragte er unwirsch in die Küche hinein. Er verfiel dabei in die Mundart seiner Heimat, die seine Vorfahren vor achthundert Jahren aus der Luxemburger Gegend mitgebracht hatten. »Hi wit schi kun ... er wird schon noch kommen«, konterte seine Frau unbeeindruckt. Die Pfarrerin war gerade damit beschäftigt, mit Kathi, der hübschen, schwarzgelockten Szeklerin, besonders sorgfältig das Essen herzurichten, und ließ sich nicht gern in die Töpfe schauen. Die Küche war ihr Reich. Besuchern wurde im Pfarrhaus immer ordentlich aufgewartet, das war bekannt, aber in diesem Fall gab sich die Pfarrerin besondere Mühe. Die speckgefüllten Hendl waren so weit, dass sie, sobald der offizielle Teil des Besuches ausgestanden war, serviert werden konnten, Gemüse, Krebssuppe, im Hendlsaft gegarte Kartoffeln, Nockerl , Baumstriezel und Gebäck waren ebenfalls vorbereitet. Der Kokelthaler Weiße stand auf einem Silbertablett, der Flaschenöffner und die guten Kristallgläser griffbereit. Kathi hatte eine frische weiße Bluse an, unter den roten, bauschigen Röcken lugten weiße gestärkte Unterröcke hervor. Die Pfarrerin war zufrieden. Die Pfarrerin streifte ihren Mann mit einem Blick. Sie wusste, dass er sich vor dem Tag fürchtete, an dem Ida das Haus verlassen würde. Ihr würde es genauso gehen. Doch sie hatte den Mann, den Ida vom ersten Augenblick an geliebt hatte, mit deren Augen zu sehen versucht. Sie würde den Schmerz des Vaters teilen, aber ebenso das Glück des Kindes.
Idas künftigem Mann musste heute ordentlich aufgewartet werden. »Dat de mer en uch urentlich emfehst ... dass du ihn mir auch ordentlich empfängst«, ermahnte sie ihren Mann. Sie sah den Mann, den ihr letztes noch zu Hause lebendes Kind liebte und heiraten würde, bereits mit den Augen der Tochter. Die Pfarrerin war zwar nie eine Schönheit gewesen, aber sie wusste, dass sie als Hausfrau, Pfarrerin und vierfache Mutter immer eine untadelige Figur abgegeben hatte und dass ihr Mann dies zu schätzen wusste. Er selbst war immer ein gut aussehender Mann gewesen, aber was bedeutete das im Grunde schon? »Eine deutsche Pfarrfrau am äußersten Rand des christlichen Abendlandes hat nicht hübsch zu sein, sondern ihre Pflicht zu tun«, hatte Fabritius einmal gesagt. Mit den Jahren, das schien er schon bei der Hochzeit gewusst zu haben, hatte er ihr Äußeres immer weniger, ihre innere Schönheit jedoch immer klarer wahrgenommen. Leider war nur die Jüngste in ihrem Aussehen nach dem Vater geraten. »Wo stächt des Känd iverhift ... wo steckt das Kind überhaupt? «, hörte sie ihren Mann sagen. Er klang gereizt, wie immer, wenn er nervös war. »Schließlich geht es ja heute um sie.« »Hier ist sie«, erwiderte Ida und verschwand in der Küche. In den meisten deutschen Häusern Siebenbürgens bildete die Küche den Mittelpunkt des Familienlebens. Hier wurde erzählt, geklatscht, gelacht und geweint. Hier wurden Entscheidungen gefällt oder auch zurückgenommen. Ein riesiger holzgefeuerter Herd verbreitete Wärme, es roch nach Essen, nach Leben. In der Mitte des großen, anheimelnd dämmrigen Raums mit dem rauen, gescheuerten Holzfußboden stand ein schwerer, roher Arbeitstisch aus Holz. Auf ihm wurde Fleisch geschnitten, Hähnchen gefüllt, Teig ausgerollt, waren früher Schularbeiten gemacht worden und hatten die Kinder nicht selten Kathi beim Essen Gesellschaft geleistet. Ida lächelte, als sie daran dachte, wie sie und auch ihre Geschwister viel lieber mit Kathi in der Küche gesessen hatten als mit den Eltern nebenan in dem vornehmen Speisezimmer. Ida fing einen arglos bewundernden Blick Kathis auf. Ursprünglich war sie auf Wunsch ihrer Familie für ein Jahr ins Pfarrhaus gekommen, um dort Lebensart und vielleicht auch ein wenig Deutsch zu lernen. Jetzt war sie, Jahre später, immer noch da, half der Pfarrerin beim Kochen, wusch ab, putzte, besorgte den Pfarrgarten, fütterte die Hühner und sprach immer noch kein Deutsch. Alle fanden es einfacher, mit ihr Ungarisch, die offizielle Landessprache, zu sprechen. Kathi hatte sich oft gewundert, dass das kisaçzony, das »Fräulein«, wie sie Ida nannte, nicht schon längst unter der Haube war. An interessierten jungen Herren hatte es bei den Kränzchen im Pfarrhaus nie gefehlt. Dafür sorgten schon die zwei älteren Brüder des Fräuleins. Aber das Fräulein war für keinen zu erwärmen gewesen. Dass bei solchen Anlässen mitunter der eine oder andere fesche Studiosus kurzfristig bei Kathi hängengeblieben war, darüber wurde in einem Pfarrhaus selbstverständlich hinweggesehen. Ida Fabritius war zierlich, wirkte aber größer, als sie war, was vermutlich an ihrer mächtigen Stimme, aber ebenso an ihrer aparten, fremdländischen Schönheit lag. Alles an ihr war dunkel, die Stimme, das seidenzarte, hüftlange Haar und die übergroßen, aufmerksamen Augen. Ihr Gesicht war fast dreieckig, Kinn und Nase ausgeprägt, aber weich, die hohen Backenknochen gingen von zarthäutigen Schläfen in eine runde, hohe Stirn über. Das Mädchen unterstrich das Dunkle, Geheimnisvolle ihrer Erscheinung, indem sie mit Vorliebe dunkle Farben, vor allem Schwarz trug. Auch heute hatte sie ein schwarzes Kleid gewählt, mit hohem, eng am Hals anliegenden Kragen, einem weit geschnittenen Oberteil mit runden, kleinen Silberknöpfen und passender dünner Silberkette. Der Rock war schmal geschnitten und knöchellang. Unter dem Saum lugten schwarze lederne Knöpfstiefelchen hervor. Sie trug ihr weiches, ebenholzfarbenes Haar in der Mitte gescheitelt, an den Seiten über den Ohren wellig gebauscht und an ihrem schönen, außergewöhnlich hohen Hinterkopf locker aufgesteckt. Sie bewegte sich mit einer auffallend gelassenen Anmut. Ihre Erscheinung sollte einen Stammtischbruder von Johannes Greysing aus dem Kronstädter Literatencafé später einmal zu der äußerst treffenden Bemerkung inspirieren: »Sie hat Augen wie rumänischer Bernstein, tiefbraun, mit kleinen, goldenen Lichtern darin, und einen Gang wie ein junger Indianer.« Der alte Pfarrer sah seine Tochter an und versuchte, sich vorzustellen, wie es im Pfarrhaus ohne sie sein würde. Auf einmal erschien ihm dieser Maler noch unseriöser. »Ich möcht nur wissen, ob dieser Greysing überhaupt auf Dauer eine Familie wird ernähren können«, sagte er in einem Ton, den er mitunter auf der Kanzel anschlug. Sofort bereute er, diesen Satz nicht lediglich gedacht zu haben. Dass Töchter weggeheiratet wurden, war nun einmal der Lauf der Welt. Er gestand sich ein, dass es ihn weniger geschmerzt hatte, als Lilly, die ältere Tochter, ihren Gutsverwalter aus Deutschland nahm und das Haus verließ. Von den beiden Söhnen hatte er sich ohnehin schon viel früher gelöst. Ob alle Väter mehr an ihren Töchtern, besonders an der Jüngsten hingen? Pfarrer Fabritius hörte durch seine Gedanken hindurch die Stimme seiner Frau. Wie gewöhnlich sprang sie, die Glucke, dem letzten ihrer Küken bei. Sie sagte irgendetwas wie »Aber Tata ...«, wobei sie die bei den Sachsen übliche rumänische Form von Papa benutzte, und dann das Übliche über die allseits angesehene Greysing'sche Familie. Er hatte es schon hundertmal gehört. Pferdegetrappel riss ihn aus seinen Gedanken. Es kam von der Straße her. »Er kommt.« Ida wurde blass. Kutschenräder drehten sich im Matsch. »Brrrrr«, beschwichtigte der Kutscher die Pferde. Dann fiel ein Wagenschlag zu. Ida spürte ihren Herzschlag in der Kehle. Es war ihr, als könnte sie jeden Augenblick Schluckauf bekommen. »Nur das nicht«, dachte sie. »Nur jetzt das nicht, lieber Gott!« Wie sollte sie sich benehmen? Sie hatte keine Ahnung. Wie trat man dem Mann entgegen, mit dem man sein ganzes Leben verbringen wollte? Sie hatte ihn vor Kurzem erst mit ihrem Bruder Hermann auf einem Kostümfest in Kronstadt getroffen. Er war tatsächlich gekommen. Er würde bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Er hatte mit ihr doch nur auf den großen Faschingsball in der Kronstädter Redoute gehen wollen. Ihr Vater hatte es nicht erlaubt. »So etwas geht vielleicht in Paris, aber nicht bei uns in Siebenbürgen«, hatte Tata nur gesagt. »Dann verloben wir uns eben«, hatte Johannes lachend gemeint. Ihr hatte das Herz geklopft. Und nun war er tatsächlich da. Er war es gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen. Ihr Hals und ihr Gesicht prickelten. Ihr war heiß. Lampenfieber, dachte sie. Wie eine Schauspielerin vor der Premiere. Nur dass es für dieses Stück keine Proben gegeben hatte. Ihre Hände wurden feucht. Es kam ihr vor, als ob sie an viel zu langen Armen unbeholfen und kalt herabhingen. »Na servus, so wirst du ihm ja wunderbar gefallen«, dachte sie grimmig und unterdrückte den Impuls, hysterisch loszukichern. Er überkam sie meist, wenn es die Situation absolut verbot. Tata konnte von manchen Predigten her ein Lied davon singen. Tata! Er hatte so traurig ausgesehen. Johannes würde sie mitnehmen. Sie liebte ihn und doch ... Draußen auf der Straße johlten die Dorfbuben. Sicher standen sie schon um die Kutsche herum. Die Buben bekamen ja auch nicht jeden Tag den Lebensstil eines Johannes Greysing vorgeführt. Stolz machte sich in ihr breit. Und plötzlich wilde, jubelnde Freude. Johannes! Dieser faszinierende Mann war gerade erst aus der Welt gekommen, aus Paris, aus Brügge, aus München. Zehn Jahre war er weg gewesen. Und jetzt kam er nach Weidenbach, um sie, die Tochter des Dorfpfarrers, zu holen. Johannes, der alles war, der alles hatte. Gutes Aussehen, Begabung, Intelligenz, Bildung, Stil, Sensibilität. Er wusste es. Er wusste es nur zu gut. Ida wurde ganz ruhig. Sie würde diesem Mann ihr ganzes Leben zu Füßen legen. Langsam, versunken, ging sie hinter ihrem Vater her in den Garten, dem Gast entgegen. Der Himmel war bedeckt, die Luft schon mild. Auf dem Kiesweg, der um ein kleines grasbewachsenes Rondell führte, das im Sommer von bunten Blumen überquoll, jetzt aber bräunlich und unscheinbar aussah, verwestes, glitschiges Laub. Die Obstbäume neben dem Haus reckten ihre noch kahlen, aber schon knospenbesetzten Äste über die ziegelgedeckte, massive Mauer des Pfarrgartens. Ida lächelte ruhig und froh. »Sie recken sich genauso, wie ich Johannes zustrebe«, dachte sie versonnen. Sie schaute sich um. Mutter und Kathi waren in der Tür ihres Elternhauses stehen geblieben. Kathis dunkle Augen lugten neugierig hinter der Pfarrerin hervor. Ach, Mamas vertrautes, geliebtes Gesicht. Ida umfasste das alte Pfarrhaus, den Garten, die Mauer, die Eltern mit einem Blick, in dem Liebe und Wehmut lag. Sie würde nicht mehr lange hier leben ... Ida war am Zaun stehen geblieben. Ihr Herz klopfte. Das Lachen und Kreischen der Dorfkinder, die tatsächlich den lackschwarzen, eleganten Jagdwagen umringten, verstummte. Dann steigerte es sich mit einem Mal zu frenetischem Geschrei. Wo war Johannes? »Der bies Bäffel kit, der bies Bäffel kit, der böse Büffel kommt!« Die Kinder kreischten und stoben auseinander. Da sah sie Johannes stehen. Mitten auf der Dorfstraße, an den Jagdwagen gelehnt, groß gewachsen, blond und ungemein elegant im schwarzgrauen Cut und Zylinder. Mit zusammengekniffenen Augen, in denen Spott lag, beobachtete er die träge dahinschaukelnde Büffelherde, die sich offenbar schon im Dorfbach gesuhlt hatte. Die Tiere fielen in schweren Galopp. Atemlos beobachtete Ida, wie sich eine dieser lehmverschmierten, schwarzen Urgestalten, denen die nach hinten gebogenen Hörner ein noch verwegeneres Aussehen gaben, aus der Herde löste und direkt auf Johannes zukam. Es war das Leittier, der böse Büffel. Sie wusste wie alle im Dorf, dass er gefährlich war, wenn ihm etwas Ungewohntes begegnete. Der Spott war aus Johannes' Augen gewichen. Die Erde schien unter den Hufen der gewaltigen Tiere zu beben. Der Büffel schnaubte, griff an ... Ida schrie auf. »Joi«, hörte sie Kathi in der Haustür jammern, »joi.« Mit einer gewaltigen Flanke rettete sich Johannes Greysing über den Zaun des Pfarrgartens. Der Büffel donnerte an ihm vorüber und zertrampelte den Habig-Zylinder, der im Matsch liegen blieb. Johannes richtete sich auf, kam die wenigen Schritte auf die entsetzte Pfarrersfamilie zu, korrigierte mit einer knappen Bewegung den Sitz seiner Fliege und lächelte. Leise Belustigung war in seine glitzernden Augen zurückgekehrt. »Küss die Hand«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit und beugte sich über die Hand der sprachlosen Ida. Und zu ihrem Vater gewandt: »Darf ich mir erlauben, Herr Pfarrer, Ihnen meine Aufwartung zu machen ...« Diese Geschichte pflegte das Ehepaar Greysing später oft und gern bei geselligen Anlässen zum Besten zu geben. Sie sollte den sechsjährigen Nachkommen schließlich zu der Bemerkung veranlassen: »Ohne den Büffel hätte er es sich vielleicht noch einmal überlegt, und es würde mich gar nicht geben ...« Die beiden Herren zogen sich ins Studierzimmer im ersten Stock zurück. Johannes Greysing, immer um sorgsam inszenierte Auftritte bemüht, fühlte sich erbärmlich. Er war, gelinde gesagt, nicht ganz so einwandfrei ausstaffiert, wie er es schätzte, ja er war sogar, wie er es insgeheim nannte, ziemlich »derangiert«. Wie haarklein hatte er sich doch seine Ankunft und seine wohlgesetzten Worte diesem zwar ehrwürdigen, jedoch reichlich provinziellen Pfaffen gegenüber zurechtgelegt. Jetzt hatte ausgerechnet ein dummes Vieh den blendenden Eindruck, mit dem er gedacht hatte, den Alten zu überfahren, zunichte gemacht. Johannes war ziemlich gehemmt, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Er ahnte nicht, dass gerade seine Unsicherheit und Verwirrung weit sympathischer auf den Menschenkenner Fabritius wirkten, als seine üblicherweise zur Schau gestellte, stets ein wenig überhebliche Attitüde es je vermocht hätte. Die beiden Männer kamen rasch zur Sache. »Und Sie meinen tatsächlich, mit Ihrem doch etwas unsicheren Beruf ... Sie verstehen, was ich meine, lieber Greysing ...«, sagte der Pfarrer. Johannes holte aus der Brusttasche seines Cuts ein silbernes Zigarettenetui hervor. »Sie rauchen?«
Besuchen Sie uns im Internet: www.weltbild.de Copyright der Originalausgabe © 1991 by Ruth Eder Copyright © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Ruth Eder
Ruth Eder, geboren in Stuttgart, stammt aus einer rumäniendeutschen Familie. Schon während ihres Studiums der Germanistik und Theatergeschichte in München arbeitete sie als Autorin, aber auch als Schauspielerin und Regieassistentin bei Tageszeitungen, Theater, Film und Fernsehen. Nach dem Examen war sie bei renommierten Zeitungen und Zeitschriften als Redakteurin und Autorin tätig. Seitdem ist sie freie Autorin und Journalistin und organisiert und moderiert außerdem in ihrem Wohnort München-Ottobrunn den "Kulturstammtisch", eine Live-Talkshow mit prominenten Kulturschaffenden.
Als Kolumnistin beim größten deutschen Frauen-Portal www.womenweb.de schreibt sie einen wöchentlichen Blog mit dem Titel "Altweibersommer", der sich humorvoll mit dem alltäglichen Wahnsinn eines Frauenlebens mit 50plus befasst.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ruth Eder
- 2013, 1, 416 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654838
- ISBN-13: 9783863654832
Kommentare zu "Die Glocken von Kronstadt"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Glocken von Kronstadt“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Glocken von Kronstadt".
Kommentar verfassen