Was danach geschah
Roman
Als die Anwältin Brek an einem verlassenen Bahnhof aufwacht, weiß sie nicht, was passiert ist. Ihre kleine Tochter ist weg, und weit und breit ist niemand zu sehen. Brek ist tot. Im Jenseits muss sie nun Menschen vor dem jüngsten Gericht verteidigen.
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Produktinformationen zu „Was danach geschah “
Als die Anwältin Brek an einem verlassenen Bahnhof aufwacht, weiß sie nicht, was passiert ist. Ihre kleine Tochter ist weg, und weit und breit ist niemand zu sehen. Brek ist tot. Im Jenseits muss sie nun Menschen vor dem jüngsten Gericht verteidigen.
Klappentext zu „Was danach geschah “
'Als die Anwältin Brek Cuttler an einem verlassenen Bahnhof aufwacht, weiß sie nicht, was passiert ist. Ihre kleine Tochter ist weg, und weit und breit sieht sie keinen Menschen. Brek ist tot. Im Jenseits muss sie nun andere Verstorbene vor dem Jüngsten Gericht verteidigen. Ihre Mandanten haben alle große Schuld auf sich geladen. Und dennoch hat ihr Handeln auch Gutes hervorgebracht. Brek lernt ihre größte Lektion, und sie muss erkennen, dass Gott den schmalen Grat zwischen Gut und Böse immer im Blick hat.
Lese-Probe zu „Was danach geschah “
Was danach geschah von James Kimmel1
Ich kam im Bahnhof von Schemaja an, nachdem mein Herz aufgehört hatte zu schlagen und mein Hirn seine Tätigkeit unwiderruflich eingestellt hatte.
Dies ist die medizinische Definition von Tod, auch wenn sich sowohl die Lebenden als auch, wie ich hier versichere, die Toten über dessen Endgültigkeit ärgern. Es gibt immer Grund zur Hoffnung, wie die Menschen sagen, und manchmal geschehen Wunder. Sogar nach dem Tod. Ich habe zum Beispiel entdeckt, dass, wird man am Ende doch nicht von einem Wunder am Leben gehalten, es immer noch die Möglichkeit gibt, am Jüngsten Gericht davor bewahrt zu werden, den Rest der Ewigkeit damit zuzubringen, sich den Tod anderer herbeizuwünschen.
Ich wusste nicht, dass ich gestorben war, als ich den Bahnhof von Schemaja erreichte, und hatte auch keinen Grund, dies zu vermuten. Niemand sagt einem, dass das Leben vorbei ist, wenn es so weit ist. Was mich betraf, schlug mein Herz noch, und mein Hirn funktionierte auch. Ich hatte lediglich keine Ahnung, wo ich war oder wie ich dorthin gekommen war - der einzige Hinweis für mich, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Ich saß einfach allein auf einer Holzbank in einem verlassenen städtischen Bahnhof mit einer hohen Kuppel aus verrosteten Stahlträgern und zerbrochenen Scheiben, die mit Ruß verschmiert waren. Ich erinnerte mich weder an eine Zugfahrt noch an ein Ziel. Eine schwach beleuchtete Tafel im Wartebereich zeigte die Ankunfts-, aber nicht die Abfahrtzeiten von Zügen an, und ich vermutete wie die meisten, die hierherkommen, dass die Tafel defekt war oder es Probleme mit den Gleisen für die abfahrenden Züge gab.
... mehr
Ich starrte zur Anzeigetafel hinauf und wartete auf einen Hinweis darauf, wo ich war oder zumindest, wohin ich fahren würde. Als ich diesen Hinweis nicht erhielt, erhob ich mich und blickte die Gleise entlang wie eine besorgte Reisende, die in der Ferne nach einem aufflackernden Licht oder einem einfahrenden Zug Ausschau hält. Die Gleise verschwanden in völliger Dunkelheit, die entweder von einem Tunnel oder einer schwarzen sternenlosen Nacht rührte. Wieder blickte ich zur Tafel hinauf, bevor ich mich verzweifelt im Bahnhof umsah: zehn Gleise und zehn Bahnsteige, alle leer; Fahrkartenautomat, Zeitungskiosk, Wartebereich, Schuhputzgerät - niemand da. Im Gebäude war es völlig still: keine Ankündigungen über Lautsprecher, keine Pfiffe, keine quietschenden Bremsen oder kreischende Luftkompressoren, keine rufenden Schaffner, sich beschwerende Fahrgäste oder bettelnde Musiker. Nicht einmal das Geräusch eines Besens, mit dem ein Hausmeister in irgendeiner Ecke den Boden fegte.
Ich setzte mich wieder und stellte fest, dass ich ein schwarzes Seidenkostüm trug. Der Anblick des Kostüms vermittelte mir etwas Sicherheit. Ich war zu Lebzeiten Anwältin gewesen, und Anwältinnen tragen immer Kostüme, um sich weniger verletzlich zu fühlen. Dies hier war mein Lieblingskostüm, weil ich darin, wenn ich den Gerichtssaal betrat, am selbstbewusstesten war und ganz und gar nicht das Gefühl hatte, mich für die junge Frau, die ich war, entschuldigen zu müssen. Ich strich vorne den Rock glatt, bewunderte den leichten Stoff und die Webart, freute mich, wie er über meine Strümpfe glitt. Es war ein wirklich schönes Kostüm - eines, mit dem ich die Blicke meiner Kollegen, der gegnerischen Anwälte und selbst der Männer auf der Straße auf mich zog. Dieses Kostüm machte aus mir eine ernstzunehmende Anwältin. Doch das Beste war: Ich hatte es bei einem Ausverkauf ergattert - ein Power-Outfit und ein Schnäppchen. Ich liebte dieses Kostüm.
So saß ich also allein auf einer Bank in diesem verlassenen Bahnhof, vernarrt in mein schwarzes Seidenkostüm, als ich einige kleine Flecken auf der Schulter und dem Revers der Jacke bemerkte. Die Flecken waren angetrocknet und gelblich weiß. Wahrscheinlich hatte ich mich mit Cappuccino bekleckert, meinem Lieblingskaffee. Mit einem lackierten, aber kurzgeschnittenen Fingernagel kratzte ich an den Flecken und erwartete, dass mir der Geruch von Kaffee in die Nase stieg. Doch es war ein ganz anderer Geruch, der in mein Bewusstsein drang: Babymilch.
Babymilch? Habe ich ein Kind ...? Ja, natürlich ... ein Kind ... ein Töchterchen ... jetzt erinnere ich mich. Aber wie heißt sie? Ich glaube, der Name fängt mit einem S an ... Susan, Sharon, Samantha, Stephanie, Sarah ... Sarah? Ja, Sarah.
Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich erinnerte mich weder an Sarahs Gesicht oder Haar oder an die Art, wie sie kicherte oder weinte, noch an den Geruch ihrer Haut oder wie sie sich wand, wenn ich sie hielt. Ich erinnerte mich nur, dass ein Kind in mir gewachsen und Teil von mir geworden war und mich dann verlassen hatte, um Teil der Welt um mich herum zu werden - in der ich sie sehen und berühren, aber nicht in der Weise schützen konnte, wie ich es getan hatte, solange sie noch in mir gewesen war. Dass ich mich aber nur an den Namen meiner Tochter erinnerte, bereitete mir überhaupt keine Sorgen. Dort auf der Bank im Bahnhof von Schemaja sitzend, sorgte ich mich mehr um die Flecken auf meiner Jacke und befürchtete, dass jemand sehen könnte, was mit meinem schwarzen »Ich gehöre dazu«-Seidenkostüm geschehen war.
Ich kratzte kräftiger an den Flecken, doch sie ließen sich nicht entfernen. Also leckte ich mir über die Fingerspitzen. Plötzlich wurden die Flecken größer, änderten ihre Farbe von gelblich weiß zu einem dunklen Weinrot.
Das Kostüm ist schlecht gefärbt ... deswegen war es heruntergesetzt.
Doch auch die Form der Flecken veränderte sich. Sie wurden flüssig, liefen in roten Streifen an meiner Jacke, meinem Rock, meinen Beinen hinab. Faszinierend. Ich tupfte mit den Fingern auf die rote Flüssigkeit, vorsichtig zunächst, wie ein Kind, dem man einen Farbtopf in die Hand gedrückt hat, dann beherzter. Ich malte mit der Flüssigkeit zwei Strichfiguren neben mir auf die Bank - eine Mutter und ihre kleine Tochter. Die Flüssigkeit war warm und klebrig und schmeckte angenehm salzig, als ich einen Finger vorsichtig ableckte. Auf dem Boden vor mir sammelte sich eine Pfütze. Ich zog meine Stöckelschuhe aus, und fasziniert von dem samtigen Gefühl strich ich mit den Zehen darüber.
Und während ich so vor mich hin spielte, trat ein Mann an meine Bank und setzte sich neben mich.
»Willkommen in Schemaja«, begrüßte er mich. »Ich heiße Luas.«
Luas' graue Augen waren feucht, als würde er ständig an etwas Ergreifendes denken. Sein auffälliges und freundliches Gesicht, das schlaff war und an einen Frosch erinnerte, strahlte Weisheit aus wie ein abgenutztes Buch. Es kam mir vertraut vor, und nach einer Weile erkannte ich es als das Gesicht meines Mentors, des Anwalts, der mich gleich nach meinem Jurastudium eingestellt hatte.
Wie hieß er doch gleich? Ach ja, Bill, Bill Gwynne. Doch der alte Mann neben mir sagte, er heiße Luas, nicht Bill.
Luas heißt jeden in Schemaja willkommen. Jedem erscheint er anders, und jedem auf seine eigene Art - dem einen als Automechaniker oder Lehrer, dem anderen als Geistlicher oder Prediger oder gar als Wahnsinniger oder als Kombination aus allem. In Schemaja verkleiden wir den anderen so, dass er genau so aussieht, wie wir es von ihm erwarten. Für mich war Luas eine Kombination aus drei älteren Männern, die ich in meinem Leben bewundert hatte. Er trug ein weißes Hemd mit Tweedblazer, der, genau wie bei meinem Großvater Cuttler, nach Pfeifentabak mit Rumaroma roch; und er hatte, wie gesagt, Bill Gwynnes schlaffes Gesicht; doch als ich ihm hilflos wie ein Mädchen, das mit ihren Spaghetti spielt, meine rotgefärbten Füße und linke Hand zeigte, grinste er mich wissend an wie Opa Bellini, als wollte er sagen: Ja, mein Enkeltöchterchen, ich kann es sehen; ich kann sehen, wovor du aus Angst die Augen verschließt, aber ich werde so tun, als hätte ich es nicht bemerkt.
»Komm mit, Brek«, forderte Luas mich auf. »Wir machen dich wieder sauber.«
Woher kennt er meinen Namen?
Wieder blickte ich nach unten, doch jetzt waren meine Kleider fort - mein schwarzes Seidenkostüm und die cremefarbene Seidenbluse, mein BH, mein Slip, die Strumpfhose und die Schuhe. Eigentlich waren sie nie da gewesen. Es hatte nur die Vorstellung von Kleidern gegeben, so wie ich nur eine Vorstellung derjenigen Person war, die ich während meines 31-jährigen Lebens hatte sein wollen. Nur mein Körper blieb, nackt und blutüberströmt. Ich wusste jetzt, dass die rote Flüssigkeit Blut und dass es mein Blut war, weil es durch drei kleine Löcher aus meinem Oberkörper sprudelte und sich warm und kostbar anfühlte, wie es nur Blut tut. Plötzlich veränderte sich meine Perspektive, und es schien, als würde ich die Szene von der gegenüberliegenden Bank aus beobachten.
Wer ist diese Frau?, fragte ich mich. Warum steckt sie nicht ihre Finger in die Löcher, um die Blutung zu stoppen? Warum ruft sie nicht nach Hilfe? Sie ist so jung und hübsch, es muss so viel geben, wofür sie leben will. Aber sie sitzt einfach nur da, sieht nur an sich hinab und jammert innerlich - wegen des zu spät gerinnenden Blutes, wegen der Teile ihres Körpers, die einmal zu einem Ganzen gehört haben. Und da - sieh nur, wie ihr Hirn flackert, zuerst die Denkfähigkeit verliert, dann das Bewusstsein. Horch. Das Rauschen des Nichts erfüllt ihre Ohren.
Luas zog seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Ich weinte, und er umarmte mich wie eine Enkelin, die ich hätte sein können. Ich weinte, weil ich mich an eine Vergangenheit erinnerte, die es vor dem Bahnhof von Schema- ja und Luas gegeben hatte, vor den Babymilch- und Blutflecken. Ich erinnerte mich an meine Augen, irischgrün wie die meines Vaters, an mein Haar, lang, dicht und italienischschwarz wie das meiner Mutter. Ich erinnerte mich an den leeren rechten Ärmel meiner Kleider, zurückgesteckt, hochgekrempelt oder zugenäht. Ich erinnerte mich, dass sich die Leute fragten - das sah ich ihren Gesichtern an -, womit ein achtjähriges Mädchen all die leeren Ärmel verdient hatte. Ich erinnerte mich, dass ich ihnen hatte sagen, sie daran hatte erinnern wollen, dass Gott die Kinder für die Sünden ihrer Eltern bestraft.
Ja, einen kurzen, unerträglichen Moment lang erinnerte ich mich bei meiner Ankunft am Bahnhof von Schemaja an viele Dinge. Ich erinnerte mich an in der Sonne sterbende Flusskrebse und an die grausame Ungerechtigkeit. Ich erinnerte mich an den Gestank verrottender Pilze und an die Unmöglichkeit zu vergeben. Ich erinnerte mich an die Transportkette des Miststreuers meines Großvaters, mit dem mein rechter Unterarm ab dem Ellbogen abgerissen und mitsamt dem Dung aufs Feld geschleudert wurde. Ich erinnerte mich an das engelhafte Gesicht meiner Tochter Sarah, zehn Monate alt und jung und frisch, mein heißgeliebter Schatz. Ich erinnerte mich an die Babymilch, die aus ihrem Fläschchen auf den leeren rechten Ärmel meiner Kostümjacke getropft war, und an die leichten Gewissensbisse, weil ich sie an diesem Morgen in der Tagesstätte hatte abgeben müssen, und die heftigen Gewissensbisse, weil ich erleichtert gewesen war. Ich erinnerte mich an Staub auf Gesetzesbüchern und den bitteren Geschmack von Kaffee. Ich erinnerte mich, meinem Mann gesagt zu haben, dass ich ihn liebte, und zu wissen, dass es stimmte. Ich erinnerte mich, meine Tochter am Ende des Tages abgeholt zu haben, und an unser freudiges Schreien, als wir einander erblickt hatten. Ich erinnerte mich, auf dem Heimweg Heißen Tee und Bienenhonig für sie gesungen und mich gefragt zu haben, was mein Mann zum Abendessen gemacht haben würde, weil er dafür freitags immer zuständig war. Am intensivsten erinnerte ich mich an das Gefühl, wie angenehm mein Leben für mich geworden war ... und dass ich alles tun ... alles geben ... vor nichts haltmachen würde ..., damit es andauerte.
Und dann verblassten meine Erinnerungen, als hätte man einen Stecker gezogen. Es gab nur noch in Blut verwandelte Babymilch. Es war überall, auf meinem Gesicht, Hals und Bauch, lief an meinem Ellbogen und meinem Handgelenk hinab, am Stumpf meines rechten Arms, färbte meine Beine und Füße und Zehen rot, schwemmte mein Leben aus meinem Körper und ergoss sich über Luas, malte uns in einer gemeinsamen Umarmung, sickerte durch seine Jacke und sein Hemd, breitete sich über sein Gesicht aus, bildete eine Pfütze auf dem Boden mit hässlichen roten Klumpen an den Rändern.
So traf ich am Bahnhof von Schemaja ein, als ich starb.
Und irgendwo im Universum seufzte Gott.
Copyright © Ullstein Verlag
Ich starrte zur Anzeigetafel hinauf und wartete auf einen Hinweis darauf, wo ich war oder zumindest, wohin ich fahren würde. Als ich diesen Hinweis nicht erhielt, erhob ich mich und blickte die Gleise entlang wie eine besorgte Reisende, die in der Ferne nach einem aufflackernden Licht oder einem einfahrenden Zug Ausschau hält. Die Gleise verschwanden in völliger Dunkelheit, die entweder von einem Tunnel oder einer schwarzen sternenlosen Nacht rührte. Wieder blickte ich zur Tafel hinauf, bevor ich mich verzweifelt im Bahnhof umsah: zehn Gleise und zehn Bahnsteige, alle leer; Fahrkartenautomat, Zeitungskiosk, Wartebereich, Schuhputzgerät - niemand da. Im Gebäude war es völlig still: keine Ankündigungen über Lautsprecher, keine Pfiffe, keine quietschenden Bremsen oder kreischende Luftkompressoren, keine rufenden Schaffner, sich beschwerende Fahrgäste oder bettelnde Musiker. Nicht einmal das Geräusch eines Besens, mit dem ein Hausmeister in irgendeiner Ecke den Boden fegte.
Ich setzte mich wieder und stellte fest, dass ich ein schwarzes Seidenkostüm trug. Der Anblick des Kostüms vermittelte mir etwas Sicherheit. Ich war zu Lebzeiten Anwältin gewesen, und Anwältinnen tragen immer Kostüme, um sich weniger verletzlich zu fühlen. Dies hier war mein Lieblingskostüm, weil ich darin, wenn ich den Gerichtssaal betrat, am selbstbewusstesten war und ganz und gar nicht das Gefühl hatte, mich für die junge Frau, die ich war, entschuldigen zu müssen. Ich strich vorne den Rock glatt, bewunderte den leichten Stoff und die Webart, freute mich, wie er über meine Strümpfe glitt. Es war ein wirklich schönes Kostüm - eines, mit dem ich die Blicke meiner Kollegen, der gegnerischen Anwälte und selbst der Männer auf der Straße auf mich zog. Dieses Kostüm machte aus mir eine ernstzunehmende Anwältin. Doch das Beste war: Ich hatte es bei einem Ausverkauf ergattert - ein Power-Outfit und ein Schnäppchen. Ich liebte dieses Kostüm.
So saß ich also allein auf einer Bank in diesem verlassenen Bahnhof, vernarrt in mein schwarzes Seidenkostüm, als ich einige kleine Flecken auf der Schulter und dem Revers der Jacke bemerkte. Die Flecken waren angetrocknet und gelblich weiß. Wahrscheinlich hatte ich mich mit Cappuccino bekleckert, meinem Lieblingskaffee. Mit einem lackierten, aber kurzgeschnittenen Fingernagel kratzte ich an den Flecken und erwartete, dass mir der Geruch von Kaffee in die Nase stieg. Doch es war ein ganz anderer Geruch, der in mein Bewusstsein drang: Babymilch.
Babymilch? Habe ich ein Kind ...? Ja, natürlich ... ein Kind ... ein Töchterchen ... jetzt erinnere ich mich. Aber wie heißt sie? Ich glaube, der Name fängt mit einem S an ... Susan, Sharon, Samantha, Stephanie, Sarah ... Sarah? Ja, Sarah.
Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich erinnerte mich weder an Sarahs Gesicht oder Haar oder an die Art, wie sie kicherte oder weinte, noch an den Geruch ihrer Haut oder wie sie sich wand, wenn ich sie hielt. Ich erinnerte mich nur, dass ein Kind in mir gewachsen und Teil von mir geworden war und mich dann verlassen hatte, um Teil der Welt um mich herum zu werden - in der ich sie sehen und berühren, aber nicht in der Weise schützen konnte, wie ich es getan hatte, solange sie noch in mir gewesen war. Dass ich mich aber nur an den Namen meiner Tochter erinnerte, bereitete mir überhaupt keine Sorgen. Dort auf der Bank im Bahnhof von Schemaja sitzend, sorgte ich mich mehr um die Flecken auf meiner Jacke und befürchtete, dass jemand sehen könnte, was mit meinem schwarzen »Ich gehöre dazu«-Seidenkostüm geschehen war.
Ich kratzte kräftiger an den Flecken, doch sie ließen sich nicht entfernen. Also leckte ich mir über die Fingerspitzen. Plötzlich wurden die Flecken größer, änderten ihre Farbe von gelblich weiß zu einem dunklen Weinrot.
Das Kostüm ist schlecht gefärbt ... deswegen war es heruntergesetzt.
Doch auch die Form der Flecken veränderte sich. Sie wurden flüssig, liefen in roten Streifen an meiner Jacke, meinem Rock, meinen Beinen hinab. Faszinierend. Ich tupfte mit den Fingern auf die rote Flüssigkeit, vorsichtig zunächst, wie ein Kind, dem man einen Farbtopf in die Hand gedrückt hat, dann beherzter. Ich malte mit der Flüssigkeit zwei Strichfiguren neben mir auf die Bank - eine Mutter und ihre kleine Tochter. Die Flüssigkeit war warm und klebrig und schmeckte angenehm salzig, als ich einen Finger vorsichtig ableckte. Auf dem Boden vor mir sammelte sich eine Pfütze. Ich zog meine Stöckelschuhe aus, und fasziniert von dem samtigen Gefühl strich ich mit den Zehen darüber.
Und während ich so vor mich hin spielte, trat ein Mann an meine Bank und setzte sich neben mich.
»Willkommen in Schemaja«, begrüßte er mich. »Ich heiße Luas.«
Luas' graue Augen waren feucht, als würde er ständig an etwas Ergreifendes denken. Sein auffälliges und freundliches Gesicht, das schlaff war und an einen Frosch erinnerte, strahlte Weisheit aus wie ein abgenutztes Buch. Es kam mir vertraut vor, und nach einer Weile erkannte ich es als das Gesicht meines Mentors, des Anwalts, der mich gleich nach meinem Jurastudium eingestellt hatte.
Wie hieß er doch gleich? Ach ja, Bill, Bill Gwynne. Doch der alte Mann neben mir sagte, er heiße Luas, nicht Bill.
Luas heißt jeden in Schemaja willkommen. Jedem erscheint er anders, und jedem auf seine eigene Art - dem einen als Automechaniker oder Lehrer, dem anderen als Geistlicher oder Prediger oder gar als Wahnsinniger oder als Kombination aus allem. In Schemaja verkleiden wir den anderen so, dass er genau so aussieht, wie wir es von ihm erwarten. Für mich war Luas eine Kombination aus drei älteren Männern, die ich in meinem Leben bewundert hatte. Er trug ein weißes Hemd mit Tweedblazer, der, genau wie bei meinem Großvater Cuttler, nach Pfeifentabak mit Rumaroma roch; und er hatte, wie gesagt, Bill Gwynnes schlaffes Gesicht; doch als ich ihm hilflos wie ein Mädchen, das mit ihren Spaghetti spielt, meine rotgefärbten Füße und linke Hand zeigte, grinste er mich wissend an wie Opa Bellini, als wollte er sagen: Ja, mein Enkeltöchterchen, ich kann es sehen; ich kann sehen, wovor du aus Angst die Augen verschließt, aber ich werde so tun, als hätte ich es nicht bemerkt.
»Komm mit, Brek«, forderte Luas mich auf. »Wir machen dich wieder sauber.«
Woher kennt er meinen Namen?
Wieder blickte ich nach unten, doch jetzt waren meine Kleider fort - mein schwarzes Seidenkostüm und die cremefarbene Seidenbluse, mein BH, mein Slip, die Strumpfhose und die Schuhe. Eigentlich waren sie nie da gewesen. Es hatte nur die Vorstellung von Kleidern gegeben, so wie ich nur eine Vorstellung derjenigen Person war, die ich während meines 31-jährigen Lebens hatte sein wollen. Nur mein Körper blieb, nackt und blutüberströmt. Ich wusste jetzt, dass die rote Flüssigkeit Blut und dass es mein Blut war, weil es durch drei kleine Löcher aus meinem Oberkörper sprudelte und sich warm und kostbar anfühlte, wie es nur Blut tut. Plötzlich veränderte sich meine Perspektive, und es schien, als würde ich die Szene von der gegenüberliegenden Bank aus beobachten.
Wer ist diese Frau?, fragte ich mich. Warum steckt sie nicht ihre Finger in die Löcher, um die Blutung zu stoppen? Warum ruft sie nicht nach Hilfe? Sie ist so jung und hübsch, es muss so viel geben, wofür sie leben will. Aber sie sitzt einfach nur da, sieht nur an sich hinab und jammert innerlich - wegen des zu spät gerinnenden Blutes, wegen der Teile ihres Körpers, die einmal zu einem Ganzen gehört haben. Und da - sieh nur, wie ihr Hirn flackert, zuerst die Denkfähigkeit verliert, dann das Bewusstsein. Horch. Das Rauschen des Nichts erfüllt ihre Ohren.
Luas zog seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Ich weinte, und er umarmte mich wie eine Enkelin, die ich hätte sein können. Ich weinte, weil ich mich an eine Vergangenheit erinnerte, die es vor dem Bahnhof von Schema- ja und Luas gegeben hatte, vor den Babymilch- und Blutflecken. Ich erinnerte mich an meine Augen, irischgrün wie die meines Vaters, an mein Haar, lang, dicht und italienischschwarz wie das meiner Mutter. Ich erinnerte mich an den leeren rechten Ärmel meiner Kleider, zurückgesteckt, hochgekrempelt oder zugenäht. Ich erinnerte mich, dass sich die Leute fragten - das sah ich ihren Gesichtern an -, womit ein achtjähriges Mädchen all die leeren Ärmel verdient hatte. Ich erinnerte mich, dass ich ihnen hatte sagen, sie daran hatte erinnern wollen, dass Gott die Kinder für die Sünden ihrer Eltern bestraft.
Ja, einen kurzen, unerträglichen Moment lang erinnerte ich mich bei meiner Ankunft am Bahnhof von Schemaja an viele Dinge. Ich erinnerte mich an in der Sonne sterbende Flusskrebse und an die grausame Ungerechtigkeit. Ich erinnerte mich an den Gestank verrottender Pilze und an die Unmöglichkeit zu vergeben. Ich erinnerte mich an die Transportkette des Miststreuers meines Großvaters, mit dem mein rechter Unterarm ab dem Ellbogen abgerissen und mitsamt dem Dung aufs Feld geschleudert wurde. Ich erinnerte mich an das engelhafte Gesicht meiner Tochter Sarah, zehn Monate alt und jung und frisch, mein heißgeliebter Schatz. Ich erinnerte mich an die Babymilch, die aus ihrem Fläschchen auf den leeren rechten Ärmel meiner Kostümjacke getropft war, und an die leichten Gewissensbisse, weil ich sie an diesem Morgen in der Tagesstätte hatte abgeben müssen, und die heftigen Gewissensbisse, weil ich erleichtert gewesen war. Ich erinnerte mich an Staub auf Gesetzesbüchern und den bitteren Geschmack von Kaffee. Ich erinnerte mich, meinem Mann gesagt zu haben, dass ich ihn liebte, und zu wissen, dass es stimmte. Ich erinnerte mich, meine Tochter am Ende des Tages abgeholt zu haben, und an unser freudiges Schreien, als wir einander erblickt hatten. Ich erinnerte mich, auf dem Heimweg Heißen Tee und Bienenhonig für sie gesungen und mich gefragt zu haben, was mein Mann zum Abendessen gemacht haben würde, weil er dafür freitags immer zuständig war. Am intensivsten erinnerte ich mich an das Gefühl, wie angenehm mein Leben für mich geworden war ... und dass ich alles tun ... alles geben ... vor nichts haltmachen würde ..., damit es andauerte.
Und dann verblassten meine Erinnerungen, als hätte man einen Stecker gezogen. Es gab nur noch in Blut verwandelte Babymilch. Es war überall, auf meinem Gesicht, Hals und Bauch, lief an meinem Ellbogen und meinem Handgelenk hinab, am Stumpf meines rechten Arms, färbte meine Beine und Füße und Zehen rot, schwemmte mein Leben aus meinem Körper und ergoss sich über Luas, malte uns in einer gemeinsamen Umarmung, sickerte durch seine Jacke und sein Hemd, breitete sich über sein Gesicht aus, bildete eine Pfütze auf dem Boden mit hässlichen roten Klumpen an den Rändern.
So traf ich am Bahnhof von Schemaja ein, als ich starb.
Und irgendwo im Universum seufzte Gott.
Copyright © Ullstein Verlag
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Autoren-Porträt von James Kimmel
James Kimmel ist Anwalt und beschäftigt sich insbesondere mit der Verbindung zwischen Gesetz und Spiritualität. Außerdem hilft er psychisch Kranken und Drogenabhängigen im Umgang mit dem Strafjustizsystem. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Pennsylvania.
Bibliographische Angaben
- Autor: James Kimmel
- 2012, 448 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Splinter, Helmut
- Übersetzer: Helmut Splinter
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284833
- ISBN-13: 9783548284835
- Erscheinungsdatum: 14.12.2012
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