Das "Dritte Reich"
Verständlich und auf der Basis neuester Forschungsergebnisse informieren renommierte Historiker über zentrale Fragen und Themen der Geschichte des Nationalsozialismus
Wo lag das Machtzentrum des "Dritten Reiches"? Wer...
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Produktinformationen zu „Das "Dritte Reich" “
Verständlich und auf der Basis neuester Forschungsergebnisse informieren renommierte Historiker über zentrale Fragen und Themen der Geschichte des Nationalsozialismus
Wo lag das Machtzentrum des "Dritten Reiches"? Wer plante den Judenmord, und wer wagte Widerstand gegen Hitler? Wie profitierten die deutschen "Volksgenossen" von Krieg und Barbarei? Welche Rolle spielte die Bürokratie im NS-Staat?
Diese und zahlreiche andere Fragen beantwortet die kompakte und leicht verständlich geschriebene Einführung. Dabei liefert sie nicht nur einen kompetenten Überblick über alle wichtigen und bislang vernachlässigten Fragen zum "Dritten Reich", sondern ermöglicht auch interessante Einblicke in neue Forschungserkenntnisse und aktuelle Debatten. Unverzichtbar für jeden, der sich für die Geschichte des Nationalsozialismus und seine Folgen interessiert.
Im Anhang: Zeittafel sowie Auswahlbiographie.
Lese-Probe zu „Das "Dritte Reich" “
„Das Dritte Reich" von Dietmar Süß und Winfried Süß (Hg.)Das »Dritte Reich«
Zur Einführung
Dietmar Süss und Winfried Süss
Woher diese Gewalt? Woher diese destruktive Dynamik? Die nationalsozialistische Massenbewegung kam aus der Mitte der deutschen Gesellschaft, überwältigte die Weimarer Demokratie und brachte Verheerung und Tod über Europa. Die Suche nach den Wurzeln ihrer Zerstörungskräfte hat Generationen von Historikern beschäftigt und beschäftigt sie noch heute. Auch wenn die Zahl derjenigen, die die NS-Herrschaft unmittelbar miterlebt haben, von Tag zu Tag kleiner wird, steht die Geschichte der braunen Diktatur mehr als jedes andere zeithistorische Thema im Blickfeld der Öffentlichkeit. Vergangen ist diese Vergangenheit auch mehr als 60 Jahre nach dem Sieg der Alliierten über das »Dritte Reich« also keineswegs, und ihre Deutung bleibt in vieler Hinsicht strittig.
Historisch Interessierte stehen angesichts der kaum überschaubaren Fülle an Literatur vor dem Problem, einen zuverlässigen Überblick zu gewinnen. Dabei will ihnen diese Einführung helfen und auf knappem Raum über zentrale Themen der NS-Geschichte informieren. Anmerkungen und bibliographische Hinweise sind auf das Notwendige beschränkt. Den Autorinnen und Autoren ging es nicht um Vollständigkeit, sondern um die pointierte Schwerpunktsetzung, etwas was gerade für Studierende der neuen Bachelor-Studiengänge immer wichtiger wird. Alle Beiträge verknüpfen Darstellung und Forschungsüberblick; sie ziehen Bilanz, vermessen die Themenfelder, benennen Kontroversen und wollen so zur weiterführenden Lektüre anregen.
Vier Perspektiven waren prägend für die Konzeption dieser Einführung: Die erste ist geographisch bestimmt. Immer deutlicher hat die neuere Forschung gezeigt, dass der Nationalsozialismus
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Teil einer europäischen Gewaltgeschichte der Moderne war. Daher stellt der Band die deutsche Entwicklung in den Kontext autoritärer und faschistischer Regime, die vielerorts die liberalen Demokratien beiseitedrängten; er fragt nach der Wahrnehmung des »Dritten Reiches« im Ausland und richtet den Blick auf die territoriale Expansion der NS-Herrschaft.
Damit verbunden ist zweitens eine Verschiebung der zeitlichen Perspektive. Während ältere Darstellungen zur Geschichte des »Dritten Reiches« oft das Jahr 1933 als analytischen Fluchtpunkt wählten und so den Akzent auf das Scheitern der Weimarer Demokratie, die Machteroberung und Herrschaftsstabilisierung der Nationalsozialisten setzten, richtet diese Einführung ihren Fokus stärker auf das Jahr 1939. Hierdurch rückt die Radikalisierungsdynamik der nationalsozialistischen Diktatur in den Kriegsjahren in den Mittelpunkt, und Fragen nach Opfern, Tätern und Handlungsspielräumen im nationalsozialistischen Rassenkrieg stellen sich mit neuer Eindringlichkeit.
Nicht nur der Krieg nach »außen«, auch der Krieg nach »innen«, an der »Heimatfront« des »Dritten Reiches«, ist in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert worden und damit die in der Konsequenz vielfach tödliche Ambivalenz von Inklusion und radikalisierter Exklusion. Inwieweit verwandelte sich die deutsche Gesellschaft in die »kämpfende Volksgemeinschaft«, die der nationalsozialistischen Führung vorschwebte? Die Frage nach den Anziehungs- und Bindekräften der NS-Diktatur führt zu einer dritten Leitperspektive, die sozialgeschichtlichen Zugängen breiten Raum gibt. Dabei geht es in erster Linie um die Teilhabe von Individuen oder sozialen Gruppen am NS-Regime.
Mancher wird gesonderte Beiträge zur Verfolgung politischer Gegner oder zur Entwicklung einzelner politischer Institutionen im »Staat Hitlers« vermissen. Wir haben uns dafür entschieden, diese Themen in die Beiträge zu integrieren. Auf diese Weise lässt sich Gewalt als konstituierender Faktor des NS-Regimes in ganz unterschiedlichen Wirkungszusammenhängen darstellen, und das Grundprinzip nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik tritt scharf konturiert hervor: die Politisierung des Sozialen im Zeichen der Rassenideologie. Deutlich wird zudem, dass Macht keine statische, an einzelne Institutionen gekoppelte Größe war, sondern ein dynamisches Element. Auch in der Diktatur musste Herrschaft immer wieder neu generiert, verhandelt und legitimiert werden. Dazu gehörten die tätige Mitwirkung großer Bevölkerungsteile an der Verwirklichung nationalsozialistischer Ziele, die integrierende Wirkung sozialer Versprechen, aber auch Verfolgung und Terror.
Eine vierte, vergleichsweise junge Forschungsperspektive zielt auf den schwierigen Umgang mit der Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus: Was geschah nach dem Ende der Diktatur mit den Opfern, was mit den Tätern, Mitläufern und Begünstigten des Regimes? Welche Rolle spielte die Erfahrung der nationalsozialistischen Zeit bei der Formierung der politischen Kultur in den Nachkriegsgesellschaften diesseits und jenseits des Eisernen Vor-hangs? Wie veränderte sich die Erinnerung und wie beeinflussten die Konjunkturen der Erinnerung den Blick, mit dem wir die Geschichte des »Dritten Reiches« betrachten?
Wer über das »Dritte Reich« schreibt, betritt kein unbestelltes Feld. Aber falls das Diktum stimmt, dass jede Generation ihre Geschichte neu schreibt, dann trifft das mit Sicherheit für die Zeit des Nationalsozialismus zu. Wenn diese Einführung dabei helfen kann, neben einer ersten Orientierung auch zu zeigen, dass der Nationalsozialismus keineswegs abschließend erforscht ist und wie wichtig eine sich beständig erneuernde Auseinandersetzung mit der Geschichte des »Dritten Reiches« bleibt, dann ist ein zentrales Anliegen der Herausgeber erreicht. Auf dem Weg dorthin haben viele geholfen: ein Verlag, der in Gestalt unserer Lektoren Tobias Winstel und Heike Specht das Vorhaben engagiert gefördert hat, Anne Goldfuß, die uns bei der Textredaktion tatkräftig zur Seite stand, vor allem aber Autorinnen und Autoren, die sich auf das Konzept der Herausgeber eingelassen und den Band auch zu ihrer eigenen Sache gemacht haben.
Dietmar Süß
Winfried Süß
München, im Februar 2008
Auf dem Weg in die Diktatur
Faschistische Bewegungen und die Krise der europäischen Demokratien
MARTIN BAUMEISTER
Der Nationalsozialismus wird gerne als ein Spezifikum der deutschen Geschichte behandelt. In der Tat stellt die Hitlerdiktatur bis heute den zentralen Bezugspunkt der jüngeren Nationalgeschichte dar, das Zentrum des als »dunkler Kontinent«1 bezeichneten Europa im 20. Jahrhundert: Dort wurde die destruktive Utopie des Rassestaats unter einem charismatischen Führer geboren und in die Tat umgesetzt, dort wurde die Eliminierung alles »Fremden« und »Schädlichen« im eigenen »Volkskörper« betrieben, von dort aus wurde imperialistisches Expansionsstreben bis in den Vernichtungskrieg gesteigert.
Nicht immer jedoch wurde der Nationalsozialismus vornehmlich in einer nationalgeschichtlichen Verengung betrachtet. Von der Machtübernahme Mussolinis an bis in die 1940er Jahre hatte sich eine intensive Faschismusforschung und -theoriebildung in vergleichender Perspektive entwickelt, die unter veränderten Voraussetzungen in den 1960er und 1970er Jahren fortgeführt wurde und in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus stand. Nur zögerlich hingegen hat die deutsche Geschichtswissenschaft begonnen, die intensive Debatte über einen »generischen« Faschismus, den Faschismus als Gattungskonzept, die sich seit den 1990er Jahren vor allem im angelsächsischen Raum entfaltet hat, zur Kenntnis zu nehmen und deren Fragen und Ansätze für die historische Forschung aufzugreifen. Der Faschismus, so betont etwa der amerikanische Historiker Robert Paxton, sei die einzige große neue politische Bewegung und Ideologie, die im Europa des 20. Jahrhunderts aufkam und zur Quelle vielen Leids wurde.
Insofern erscheint es unerlässlich, den Aufstieg des Nationalsozialismus in die europäische Krisengeschichte der Zwischenkriegszeit einzubetten und zugleich nach den unterschiedlichen Etappen und neueren Ansätzen der Faschismusforschung zu fragen. Nur so kann der Faschismus als eine nationale Grenzen und Besonderheiten überschreitende Erscheinung analysiert und die Frage nach seinem historischen Ort, seinen Bedeutungen und Folgen gestellt werden. Diese Sichtweise führt keineswegs zwangsweise zu einer Nivellierung höchst unterschiedlicher nationaler Entwicklungen, wie einige Forscher argumentiert haben. Vielmehr öffnet sie den Weg zur vergleichenden Profilierung, in der gerade der deutsche Fall eine besondere Stellung einnimmt: Deutschland war die größte Macht und das ökonomisch am weitesten entwickelte Land, in dem Faschisten die Herrschaft übernehmen konnten. Die Nationalsozialisten waren die weltweit größte faschistische Bewegung mit den stärksten paramilitärischen Kräften und den höchsten Stimmenanteilen bei freien Wahlen. Der Nationalsozialismus begründete das dynamischste, »radikalste«2 faschistische Regime, das die schlimmsten Verbrechen beging.
Der italienische Archetypus
Bis heute ist der Begriff des Faschismus im Vergleich zu anderen zentralen politischen Konzepten wohl immer noch der am wenigsten klar gefasste.3 Die Etymologie des Wortes legt eine erste Spur für das Verständnis des Phänomens. Abzuleiten ist der Begriff vom italienischen fascio, »Bündel«, »Bund«, ein Wort, das wiederum vom lateinischen fasces, »Rutenbündel«, kommt. Dieses Herrschaftszeichen der römischen Antike hatte in die politische Symbolwelt der Französischen Revolution Eingang gefunden und war wohl durch Vermittlung von Anhängern der Revolution in Italien als Symbol der nationalen Einheit in die politische Kultur der Linken auf der Apenninenhalbinsel gewandert. Im vereinten Italien kam der Begriff als Bezeichnung außerparlamentarischer politischer und sozialer Zusammenschlüsse demokratischer, sozialistischer oder auch anarchistischer Ausrichtung zur Anwendung. Im Ersten Weltkrieg wurde er verstärkt national aufgeladen, seine politische Zuordnung begann sich erstmals nach rechts zu verschieben.
Bald nach Kriegsbeginn hatten sich die Befürworter eines Kriegseintritts Italiens auf der Linken, unter ihnen der Sozialist Benito Mussolini, in den Fasci d'azione rivoluzionaria (FAR) zusammengeschlossen. 1917 formierten sich dann vor allem rechtsgerichtete Kräfte, die eine Radikalisierung der italienischen Kriegs-anstrengungen forderten, im Fascio parlamentare. Im März 1919 schließlich gründete der bereits im November 1914 aus der Sozialistischen Partei Italiens ausgeschlossene Kriegsveteran Mussolini in einer bunt gemischten Versammlung von Veteranen, Angehörigen der revolutionären Linken, futuristischen Künstlern und Intellektuellen an der Mailänder Piazza San Sepolcro die Fasci di combattimento, die sogenannten Faschistischen Kampfbünde.
Ihr Programm blieb allerdings reichlich vage. Es verband einen scharfen Antisozialismus mit linken Forderungen und proklamierte die Erneuerung Italiens aus dem Geist des Kriegsnationalismus. Die Bezeichnung fascisti, wie die Leute von der Piazza San Sepolcro und ihre Mitstreiter bald genannt wurden, lieferte die Vorlage für einen neuen politischen »Ismus«, den fascismo - ein Wort, das selbst Mussolini zunächst noch in Anführungszeichen setzte. Die Entstehungsgeschichte dieses Begriffs, in dem die Bezeichnung eines politischen Symbols, des Rutenbündels, und einer Organisationsform, des militanten Bundes, zusammenfließen, deutet auf einige wichtige Kennzeichen der neuen Bewegung hin: Ultranationalismus und Militarismus, Antisozialismus und Antiliberalismus sowie ein neuer, von revolutionärer Militanz bestimmter politischer Stil.
Die neue Kraft in der italienischen Politik legte eine geradezu chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit an den Tag. Zweieinhalb Jahre nach ihrer Gründung formierten sich die fasci, die als »Antipartei« angetreten waren, zum Partito nazionale fascista (PNF). Der Faschismus, der noch weit bis ins Jahr 1920 eine kleine Minderheit dargestellt hatte, stieg nun vor allem im Schlag gegen die sozialistische Offensive der sogenannten »zwei roten Jahre« von 1919/20 zur Massenbewegung auf. Aus einer großstädtischen linken Sammelbewegung wurde eine in den agrarischen Regionen Mittel- und Norditaliens erfolgreiche Bewegung, in der aggressive paramilitärische squadre, bewaffnete Banden junger Männer in Schwarzhemden unter der Führung von »Provinzfürsten«, den Ton angaben. Finanziert von Grundbesitzern und begünstigt durch das bewusste Wegsehen von Polizei und Behörden, begannen sie ländliche und kleinstädtische Bastionen der Sozialisten und der katholischen Volkspartei mit nackter Gewalt zu schleifen. In wenigen Monaten wuchsen die faschistischen Gruppierungen so zur größten politischen Organisation der Geschichte des italienischen Parlamentarismus heran - von gut 20 000 Mitgliedern Ende 1920 auf über 320 000 im Mai 1922 - und lagen somit noch deutlich vor der größten Massenpartei, den Sozialisten.
Im Oktober desselben Jahres setzte Mussolini zum entscheidenden Schlag an. Eine recht klägliche Veranstaltung, bei der einige Tausende schlecht ausgerüsteter Schwarzhemden in strömendem Regen zur Eroberung der italienischen Hauptstadt aufgebrochen waren, wurde von der faschistischen Propaganda zum heroischen »Marsch auf Rom« stilisiert. In einem riskanten Erpressungsmanöver konnte der König gegen den Rat seines Regierungschefs dazu bewegt werden, Mussolini mit der Führung der Regierungsgeschäfte zu beauftragen und so die Bildung einer Mehrparteienregierung unter faschistischer Führung zu ermöglichen. Der zukünftige »Duce« erkämpfte sich den Zugang zur Macht nicht durch einen revolutionären Akt, sondern gewann ihn nach dem Aufbau einer wenig imposanten Drohkulisse durch die Zustimmung der herrschenden Eliten.
Bereits zum Zeitpunkt des spektakulären Machtantritts Mussolinis zeichnete sich ab, dass der Faschismus trotz seiner dezidiert nationalistischen Ausrichtung mehr war als lediglich eine italienische Sonderentwicklung. Insbesondere jenseits der Alpen, in der jungen Weimarer Republik, verfolgte man in unterschiedlichen politischen Lagern die zur Regierungsmacht aufgestiegene neue Bewegung mit großer Aufmerksamkeit. 1921 hatte Adolf Hitler den Vorsitz der kleinen, aufstrebenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) übernommen. Bereits im September 1922, noch vor dem »Marsch auf Rom«, ließ er Mussolini, der von seinem Bewunderer in München nie zuvor gehört hatte, über einen Verbindungsmann den Vorschlag einer Zusammenarbeit von Faschismus und Nationalsozialismus unterbreiten. Der »Marsch auf Rom« elektrisierte die deutschen Nationalsozialisten wie kaum ein anderes politisches Ereignis der Zeit. Anfang November 1922 proklamierte Hermann Esser, ein früher Mitstreiter Hitlers, seinen Parteivorsitzenden in einer Versammlung im Münchner Hofbräuhaus zu »Deutschlands Mussolini«. In diesem symbolischen Moment, so Hitlers Biograph Ian Kershaw, hätten dessen Anhänger den Führerkult erfunden. Die Bewunderung Hitlers für sein italienisches Vorbild sollte bis zum bitteren Ende anhalten. Das überdimensionierte Arbeitszimmer des »Führers« im Münchner »Braunen Haus« zierte eine monumentale Mussolini-Büste. Noch kurz vor seinem Selbstmord im Frühjahr 1945 soll Hitler zwar das Bündnis mit Italien als politischen Fehler bezeichnet, jedoch an seiner persönlichen Verbundenheit mit dem »Duce« festgehalten haben. Und auch über die persönliche Ebene hinaus blieb der deutsche »Führer« bei seiner Überzeugung, dass die »faschistische« und die »nationalsozialistische Revolution« eng miteinander verbunden gewesen seien.
Faschismus als internationales Phänomen
Kurze Zeit nach dem Machtwechsel in Rom vom Herbst 1922 hatte der Publizist Arthur Moeller van den Bruck, ein namhafter Stichwortgeber der »konservativen Revolution«, die fortan gerne zitierte Formel »Italia docet« geprägt und zugleich die Frage gestellt: »Ist Fascismus in Deutschland möglich?«4 Fast über Nacht war Mussolini zum Vorbild der antidemokratischen Rechten im Europa der Nachkriegszeit geworden. Zwar hatte er selbst lange Zeit nichts davon gehalten, aus dem Faschismus eine »Exportware« zu machen, doch wurden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Stimmen junger Faschisten laut, die von »Panfaschismus« und einer Föderation faschistischer Nationen Europas sprachen; und nach 1929 erwog auch der »Duce« zunehmend eine Internationalisierung seiner Bewegung. Zum zehnten Jahrestag des »Marschs auf Rom« verkündete er, schon zehn Jahre später werde ganz Europa faschistisch sein.
Während sich die Pläne und Absichtserklärungen der faschistischen Politiker auf eine Ausdehnung des italienischen Machtbereiches um das Zentrum des neoimperialen »Dritten Roms« bezogen, war das Label »faschistisch« zur Selbstbezeichnung politischer Bewegungen und Parteien jenseits Italiens nur wenig attraktiv. Dennoch entwickelte sich nicht nur unter Politikern wie Hitler und Mussolini ein Bewusstsein grenzüberschreitender Nähe und Verwandtschaft. Im Europa der Zwischenkriegszeit entstand eine Vielzahl politischer Gruppierungen, die man aufgrund der Gemeinsamkeiten in ihrem Selbstverständnis und ihren Werten, in ihren Führungsgruppen und ihrer Anhängerschaft, ihren Organisationsformen wie ihrem politischen Stil einer großen »faschistischen Familie« zurechnen kann. Häufig rivalisierten mehrere faschistische Gruppierungen innerhalb eines Landes im vielfach fragmentierten Feld der äußersten Rechten miteinander. Immer wieder gerieten dabei die Grenzen zwischen Faschismus und der autoritären Rechten ins Fließen, wobei sich beide in ihren Zielen annäherten und fast nur noch in ihren Mitteln unterschieden. Fluktuationen militanter Anhänger, ideologische Orientierungswechsel und Anpassungsmanöver waren nicht selten.
In der französischen Dritten Republik konkurrierten, angetrieben von den Wahlerfolgen der Linken, neben einer Reihe rechtsnationalistischer Bünde auch einige genuin faschistische Gruppierungen wie Le Faisceau, die Francistes, die sogenannten Grünhemden des Front Paysan oder des Parti Populaire FranVais um Macht und Anhänger. In der aus einem gewaltigen Vielvölkerreich hervorgegangenen österreichischen »Rumpfrepublik« standen zwei Bewegungen einander gegenüber, die konträre national-staatliche Zielvorstellungen verfolgten: auf der einen Seite die Austrofaschisten, die auf einem unabhängigen Österreich beharrten und dabei das Erbe der katholischen Habsburgermonarchie hochhielten, auf der anderen die österreichische NSDAP, die für den »Anschluss« an ein großdeutsches Reich kämpfte.
Was die Zahl faschistischer, semifaschistischer und rechtsradikaler Bewegungen anbelangt, nahm Ungarn unter dem langlebigen, gemäßigt autoritären Regime des ehemaligen k.u.k.-Admirals Miklos Horthy, gemessen an der Bevölkerungszahl, wohl eine Spitzenposition unter allen europäischen Staaten der Zwischenkriegszeit ein. In den 1920er Jahren machte Major Gyula Gömbös mit seiner Partei der »Rasseschützer« von sich reden. In den 1930er Jahren begünstigte die Große Depression in Ungarn den Vormarsch der Faschisten. Ende 1932 wurde Gömbös zum Regierungschef ernannt und bemühte sich um den Aufbau einer faschistischen Partei »von oben«, während sich mehr als ein halbes Dutzend kleiner nationalsozialistischer Parteien nach deutschem Vorbild formierten. Die von dem ehemaligen Generalstabsoffizier Ferenc Szálasi gegründete »hungaristische« Pfeilkreuzler-Bewegung stieg 1939 kurzfristig zur größten politischen Kraft und zur einzigen ernsthaften Opposition gegen das Horthy-System auf. In dem halbautoritären Regime blieb ihr der Zugang zur Macht jedoch versperrt, den ihr erst 1944 die Deutschen in einer von den Nationalsozialisten abhängigen Satellitenregierung verschafften.
In der jungen, von heftigen ideologischen und sozialen Spannungen belasteten Spanischen Republik von 1931 blieben die Faschisten, seit 1934 zusammengeschlossen in der Falange Española de las Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista, bis 1936 eine winzige Splittergruppe, die bei Wahlen kläglich scheiterte. In den Augen der Linken bildete die stärkste konservative Kraft des Landes, die mit einem autoritären Ständestaat liebäugelnde katholische Sammelpartei der Confederaciön Española de Derechas Autönomas (CEDA), die eigentliche »faschistische« Kraft, deren radikalisierte junge Anhänger nach dem Sieg einer Volksfront-Koalition im Februar 1936 in Scharen zur Falange überliefen. Nach dem Militärputsch vom Juli 1936 stieg die Falange durch die Rekrutierung Tausender von Freiwilligen für die Aufständischen zur Massenbewegung auf, büßte dafür jedoch ihre Unabhängigkeit ein. Die falangistischen Blauhemden wurden der militärischen Kommandogewalt unterworfen. 1937 wurde die Falange in die neue, heterogene Einheitspartei der Franco-Diktatur zwangseingegliedert.
Die Fälle Ungarn und Spanien könnten zu der Annahme verleiten, demokratische Systeme hätten bessere Voraussetzungen für den Aufstieg faschistischer Bewegungen geboten als autoritäre beziehungsweise halbautoritäre Regime. Frankreich liefert jedoch ein Gegenbeispiel. Dort setzten vergleichsweise fest verwurzelte republikanische Traditionen und der dezidierte Widerstand der Regierung dem faschistischen Vormarsch Grenzen - unter anderem dadurch, dass 1936 die Organisationen der radikalen Rechten verboten wurden. Auch in Belgien, wo die Rexisten unter der Führung von Léon Degrelle 1936 unter den Vorzeichen der wirtschaftlichen Depression und schwerer nationaler Verwerfungen mit 11,5 Prozent die größten Erfolge einer westeuropäischen faschistischen Partei in nationalen Wahlen der Zwischenkriegszeit erzielen konnten, führte die ablehnende Haltung der politischen und sozialen Eliten zum schnellen Niedergang der faschistischen Bewegung.
Der europäische Faschismus war ein Krisenprodukt und als solches abhängig von kurzfristigen Konjunkturen, aber auch von den Spielräumen im etablierten politischen System, von der Stärke und Widerstandskraft der bestehenden Institutionen, vom Verhalten der herrschenden Eliten, von der Verfügbarkeit von Verbündeten und nicht zuletzt von der Entschiedenheit, vom taktischen Geschick und vom Machtwillen seiner Führer. Nur im Falle des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus gelang es faschistischen Bewegungen, die Macht im Land ohne Unterstützung von außen zu erobern und ein eigenständiges Regime zu installieren - freilich in deutlichem zeitlichen Abstand voneinander und unter jeweils sehr unterschiedlichen Voraussetzungen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
© 2008 Pantheon Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Damit verbunden ist zweitens eine Verschiebung der zeitlichen Perspektive. Während ältere Darstellungen zur Geschichte des »Dritten Reiches« oft das Jahr 1933 als analytischen Fluchtpunkt wählten und so den Akzent auf das Scheitern der Weimarer Demokratie, die Machteroberung und Herrschaftsstabilisierung der Nationalsozialisten setzten, richtet diese Einführung ihren Fokus stärker auf das Jahr 1939. Hierdurch rückt die Radikalisierungsdynamik der nationalsozialistischen Diktatur in den Kriegsjahren in den Mittelpunkt, und Fragen nach Opfern, Tätern und Handlungsspielräumen im nationalsozialistischen Rassenkrieg stellen sich mit neuer Eindringlichkeit.
Nicht nur der Krieg nach »außen«, auch der Krieg nach »innen«, an der »Heimatfront« des »Dritten Reiches«, ist in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert worden und damit die in der Konsequenz vielfach tödliche Ambivalenz von Inklusion und radikalisierter Exklusion. Inwieweit verwandelte sich die deutsche Gesellschaft in die »kämpfende Volksgemeinschaft«, die der nationalsozialistischen Führung vorschwebte? Die Frage nach den Anziehungs- und Bindekräften der NS-Diktatur führt zu einer dritten Leitperspektive, die sozialgeschichtlichen Zugängen breiten Raum gibt. Dabei geht es in erster Linie um die Teilhabe von Individuen oder sozialen Gruppen am NS-Regime.
Mancher wird gesonderte Beiträge zur Verfolgung politischer Gegner oder zur Entwicklung einzelner politischer Institutionen im »Staat Hitlers« vermissen. Wir haben uns dafür entschieden, diese Themen in die Beiträge zu integrieren. Auf diese Weise lässt sich Gewalt als konstituierender Faktor des NS-Regimes in ganz unterschiedlichen Wirkungszusammenhängen darstellen, und das Grundprinzip nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik tritt scharf konturiert hervor: die Politisierung des Sozialen im Zeichen der Rassenideologie. Deutlich wird zudem, dass Macht keine statische, an einzelne Institutionen gekoppelte Größe war, sondern ein dynamisches Element. Auch in der Diktatur musste Herrschaft immer wieder neu generiert, verhandelt und legitimiert werden. Dazu gehörten die tätige Mitwirkung großer Bevölkerungsteile an der Verwirklichung nationalsozialistischer Ziele, die integrierende Wirkung sozialer Versprechen, aber auch Verfolgung und Terror.
Eine vierte, vergleichsweise junge Forschungsperspektive zielt auf den schwierigen Umgang mit der Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus: Was geschah nach dem Ende der Diktatur mit den Opfern, was mit den Tätern, Mitläufern und Begünstigten des Regimes? Welche Rolle spielte die Erfahrung der nationalsozialistischen Zeit bei der Formierung der politischen Kultur in den Nachkriegsgesellschaften diesseits und jenseits des Eisernen Vor-hangs? Wie veränderte sich die Erinnerung und wie beeinflussten die Konjunkturen der Erinnerung den Blick, mit dem wir die Geschichte des »Dritten Reiches« betrachten?
Wer über das »Dritte Reich« schreibt, betritt kein unbestelltes Feld. Aber falls das Diktum stimmt, dass jede Generation ihre Geschichte neu schreibt, dann trifft das mit Sicherheit für die Zeit des Nationalsozialismus zu. Wenn diese Einführung dabei helfen kann, neben einer ersten Orientierung auch zu zeigen, dass der Nationalsozialismus keineswegs abschließend erforscht ist und wie wichtig eine sich beständig erneuernde Auseinandersetzung mit der Geschichte des »Dritten Reiches« bleibt, dann ist ein zentrales Anliegen der Herausgeber erreicht. Auf dem Weg dorthin haben viele geholfen: ein Verlag, der in Gestalt unserer Lektoren Tobias Winstel und Heike Specht das Vorhaben engagiert gefördert hat, Anne Goldfuß, die uns bei der Textredaktion tatkräftig zur Seite stand, vor allem aber Autorinnen und Autoren, die sich auf das Konzept der Herausgeber eingelassen und den Band auch zu ihrer eigenen Sache gemacht haben.
Dietmar Süß
Winfried Süß
München, im Februar 2008
Auf dem Weg in die Diktatur
Faschistische Bewegungen und die Krise der europäischen Demokratien
MARTIN BAUMEISTER
Der Nationalsozialismus wird gerne als ein Spezifikum der deutschen Geschichte behandelt. In der Tat stellt die Hitlerdiktatur bis heute den zentralen Bezugspunkt der jüngeren Nationalgeschichte dar, das Zentrum des als »dunkler Kontinent«1 bezeichneten Europa im 20. Jahrhundert: Dort wurde die destruktive Utopie des Rassestaats unter einem charismatischen Führer geboren und in die Tat umgesetzt, dort wurde die Eliminierung alles »Fremden« und »Schädlichen« im eigenen »Volkskörper« betrieben, von dort aus wurde imperialistisches Expansionsstreben bis in den Vernichtungskrieg gesteigert.
Nicht immer jedoch wurde der Nationalsozialismus vornehmlich in einer nationalgeschichtlichen Verengung betrachtet. Von der Machtübernahme Mussolinis an bis in die 1940er Jahre hatte sich eine intensive Faschismusforschung und -theoriebildung in vergleichender Perspektive entwickelt, die unter veränderten Voraussetzungen in den 1960er und 1970er Jahren fortgeführt wurde und in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus stand. Nur zögerlich hingegen hat die deutsche Geschichtswissenschaft begonnen, die intensive Debatte über einen »generischen« Faschismus, den Faschismus als Gattungskonzept, die sich seit den 1990er Jahren vor allem im angelsächsischen Raum entfaltet hat, zur Kenntnis zu nehmen und deren Fragen und Ansätze für die historische Forschung aufzugreifen. Der Faschismus, so betont etwa der amerikanische Historiker Robert Paxton, sei die einzige große neue politische Bewegung und Ideologie, die im Europa des 20. Jahrhunderts aufkam und zur Quelle vielen Leids wurde.
Insofern erscheint es unerlässlich, den Aufstieg des Nationalsozialismus in die europäische Krisengeschichte der Zwischenkriegszeit einzubetten und zugleich nach den unterschiedlichen Etappen und neueren Ansätzen der Faschismusforschung zu fragen. Nur so kann der Faschismus als eine nationale Grenzen und Besonderheiten überschreitende Erscheinung analysiert und die Frage nach seinem historischen Ort, seinen Bedeutungen und Folgen gestellt werden. Diese Sichtweise führt keineswegs zwangsweise zu einer Nivellierung höchst unterschiedlicher nationaler Entwicklungen, wie einige Forscher argumentiert haben. Vielmehr öffnet sie den Weg zur vergleichenden Profilierung, in der gerade der deutsche Fall eine besondere Stellung einnimmt: Deutschland war die größte Macht und das ökonomisch am weitesten entwickelte Land, in dem Faschisten die Herrschaft übernehmen konnten. Die Nationalsozialisten waren die weltweit größte faschistische Bewegung mit den stärksten paramilitärischen Kräften und den höchsten Stimmenanteilen bei freien Wahlen. Der Nationalsozialismus begründete das dynamischste, »radikalste«2 faschistische Regime, das die schlimmsten Verbrechen beging.
Der italienische Archetypus
Bis heute ist der Begriff des Faschismus im Vergleich zu anderen zentralen politischen Konzepten wohl immer noch der am wenigsten klar gefasste.3 Die Etymologie des Wortes legt eine erste Spur für das Verständnis des Phänomens. Abzuleiten ist der Begriff vom italienischen fascio, »Bündel«, »Bund«, ein Wort, das wiederum vom lateinischen fasces, »Rutenbündel«, kommt. Dieses Herrschaftszeichen der römischen Antike hatte in die politische Symbolwelt der Französischen Revolution Eingang gefunden und war wohl durch Vermittlung von Anhängern der Revolution in Italien als Symbol der nationalen Einheit in die politische Kultur der Linken auf der Apenninenhalbinsel gewandert. Im vereinten Italien kam der Begriff als Bezeichnung außerparlamentarischer politischer und sozialer Zusammenschlüsse demokratischer, sozialistischer oder auch anarchistischer Ausrichtung zur Anwendung. Im Ersten Weltkrieg wurde er verstärkt national aufgeladen, seine politische Zuordnung begann sich erstmals nach rechts zu verschieben.
Bald nach Kriegsbeginn hatten sich die Befürworter eines Kriegseintritts Italiens auf der Linken, unter ihnen der Sozialist Benito Mussolini, in den Fasci d'azione rivoluzionaria (FAR) zusammengeschlossen. 1917 formierten sich dann vor allem rechtsgerichtete Kräfte, die eine Radikalisierung der italienischen Kriegs-anstrengungen forderten, im Fascio parlamentare. Im März 1919 schließlich gründete der bereits im November 1914 aus der Sozialistischen Partei Italiens ausgeschlossene Kriegsveteran Mussolini in einer bunt gemischten Versammlung von Veteranen, Angehörigen der revolutionären Linken, futuristischen Künstlern und Intellektuellen an der Mailänder Piazza San Sepolcro die Fasci di combattimento, die sogenannten Faschistischen Kampfbünde.
Ihr Programm blieb allerdings reichlich vage. Es verband einen scharfen Antisozialismus mit linken Forderungen und proklamierte die Erneuerung Italiens aus dem Geist des Kriegsnationalismus. Die Bezeichnung fascisti, wie die Leute von der Piazza San Sepolcro und ihre Mitstreiter bald genannt wurden, lieferte die Vorlage für einen neuen politischen »Ismus«, den fascismo - ein Wort, das selbst Mussolini zunächst noch in Anführungszeichen setzte. Die Entstehungsgeschichte dieses Begriffs, in dem die Bezeichnung eines politischen Symbols, des Rutenbündels, und einer Organisationsform, des militanten Bundes, zusammenfließen, deutet auf einige wichtige Kennzeichen der neuen Bewegung hin: Ultranationalismus und Militarismus, Antisozialismus und Antiliberalismus sowie ein neuer, von revolutionärer Militanz bestimmter politischer Stil.
Die neue Kraft in der italienischen Politik legte eine geradezu chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit an den Tag. Zweieinhalb Jahre nach ihrer Gründung formierten sich die fasci, die als »Antipartei« angetreten waren, zum Partito nazionale fascista (PNF). Der Faschismus, der noch weit bis ins Jahr 1920 eine kleine Minderheit dargestellt hatte, stieg nun vor allem im Schlag gegen die sozialistische Offensive der sogenannten »zwei roten Jahre« von 1919/20 zur Massenbewegung auf. Aus einer großstädtischen linken Sammelbewegung wurde eine in den agrarischen Regionen Mittel- und Norditaliens erfolgreiche Bewegung, in der aggressive paramilitärische squadre, bewaffnete Banden junger Männer in Schwarzhemden unter der Führung von »Provinzfürsten«, den Ton angaben. Finanziert von Grundbesitzern und begünstigt durch das bewusste Wegsehen von Polizei und Behörden, begannen sie ländliche und kleinstädtische Bastionen der Sozialisten und der katholischen Volkspartei mit nackter Gewalt zu schleifen. In wenigen Monaten wuchsen die faschistischen Gruppierungen so zur größten politischen Organisation der Geschichte des italienischen Parlamentarismus heran - von gut 20 000 Mitgliedern Ende 1920 auf über 320 000 im Mai 1922 - und lagen somit noch deutlich vor der größten Massenpartei, den Sozialisten.
Im Oktober desselben Jahres setzte Mussolini zum entscheidenden Schlag an. Eine recht klägliche Veranstaltung, bei der einige Tausende schlecht ausgerüsteter Schwarzhemden in strömendem Regen zur Eroberung der italienischen Hauptstadt aufgebrochen waren, wurde von der faschistischen Propaganda zum heroischen »Marsch auf Rom« stilisiert. In einem riskanten Erpressungsmanöver konnte der König gegen den Rat seines Regierungschefs dazu bewegt werden, Mussolini mit der Führung der Regierungsgeschäfte zu beauftragen und so die Bildung einer Mehrparteienregierung unter faschistischer Führung zu ermöglichen. Der zukünftige »Duce« erkämpfte sich den Zugang zur Macht nicht durch einen revolutionären Akt, sondern gewann ihn nach dem Aufbau einer wenig imposanten Drohkulisse durch die Zustimmung der herrschenden Eliten.
Bereits zum Zeitpunkt des spektakulären Machtantritts Mussolinis zeichnete sich ab, dass der Faschismus trotz seiner dezidiert nationalistischen Ausrichtung mehr war als lediglich eine italienische Sonderentwicklung. Insbesondere jenseits der Alpen, in der jungen Weimarer Republik, verfolgte man in unterschiedlichen politischen Lagern die zur Regierungsmacht aufgestiegene neue Bewegung mit großer Aufmerksamkeit. 1921 hatte Adolf Hitler den Vorsitz der kleinen, aufstrebenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) übernommen. Bereits im September 1922, noch vor dem »Marsch auf Rom«, ließ er Mussolini, der von seinem Bewunderer in München nie zuvor gehört hatte, über einen Verbindungsmann den Vorschlag einer Zusammenarbeit von Faschismus und Nationalsozialismus unterbreiten. Der »Marsch auf Rom« elektrisierte die deutschen Nationalsozialisten wie kaum ein anderes politisches Ereignis der Zeit. Anfang November 1922 proklamierte Hermann Esser, ein früher Mitstreiter Hitlers, seinen Parteivorsitzenden in einer Versammlung im Münchner Hofbräuhaus zu »Deutschlands Mussolini«. In diesem symbolischen Moment, so Hitlers Biograph Ian Kershaw, hätten dessen Anhänger den Führerkult erfunden. Die Bewunderung Hitlers für sein italienisches Vorbild sollte bis zum bitteren Ende anhalten. Das überdimensionierte Arbeitszimmer des »Führers« im Münchner »Braunen Haus« zierte eine monumentale Mussolini-Büste. Noch kurz vor seinem Selbstmord im Frühjahr 1945 soll Hitler zwar das Bündnis mit Italien als politischen Fehler bezeichnet, jedoch an seiner persönlichen Verbundenheit mit dem »Duce« festgehalten haben. Und auch über die persönliche Ebene hinaus blieb der deutsche »Führer« bei seiner Überzeugung, dass die »faschistische« und die »nationalsozialistische Revolution« eng miteinander verbunden gewesen seien.
Faschismus als internationales Phänomen
Kurze Zeit nach dem Machtwechsel in Rom vom Herbst 1922 hatte der Publizist Arthur Moeller van den Bruck, ein namhafter Stichwortgeber der »konservativen Revolution«, die fortan gerne zitierte Formel »Italia docet« geprägt und zugleich die Frage gestellt: »Ist Fascismus in Deutschland möglich?«4 Fast über Nacht war Mussolini zum Vorbild der antidemokratischen Rechten im Europa der Nachkriegszeit geworden. Zwar hatte er selbst lange Zeit nichts davon gehalten, aus dem Faschismus eine »Exportware« zu machen, doch wurden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Stimmen junger Faschisten laut, die von »Panfaschismus« und einer Föderation faschistischer Nationen Europas sprachen; und nach 1929 erwog auch der »Duce« zunehmend eine Internationalisierung seiner Bewegung. Zum zehnten Jahrestag des »Marschs auf Rom« verkündete er, schon zehn Jahre später werde ganz Europa faschistisch sein.
Während sich die Pläne und Absichtserklärungen der faschistischen Politiker auf eine Ausdehnung des italienischen Machtbereiches um das Zentrum des neoimperialen »Dritten Roms« bezogen, war das Label »faschistisch« zur Selbstbezeichnung politischer Bewegungen und Parteien jenseits Italiens nur wenig attraktiv. Dennoch entwickelte sich nicht nur unter Politikern wie Hitler und Mussolini ein Bewusstsein grenzüberschreitender Nähe und Verwandtschaft. Im Europa der Zwischenkriegszeit entstand eine Vielzahl politischer Gruppierungen, die man aufgrund der Gemeinsamkeiten in ihrem Selbstverständnis und ihren Werten, in ihren Führungsgruppen und ihrer Anhängerschaft, ihren Organisationsformen wie ihrem politischen Stil einer großen »faschistischen Familie« zurechnen kann. Häufig rivalisierten mehrere faschistische Gruppierungen innerhalb eines Landes im vielfach fragmentierten Feld der äußersten Rechten miteinander. Immer wieder gerieten dabei die Grenzen zwischen Faschismus und der autoritären Rechten ins Fließen, wobei sich beide in ihren Zielen annäherten und fast nur noch in ihren Mitteln unterschieden. Fluktuationen militanter Anhänger, ideologische Orientierungswechsel und Anpassungsmanöver waren nicht selten.
In der französischen Dritten Republik konkurrierten, angetrieben von den Wahlerfolgen der Linken, neben einer Reihe rechtsnationalistischer Bünde auch einige genuin faschistische Gruppierungen wie Le Faisceau, die Francistes, die sogenannten Grünhemden des Front Paysan oder des Parti Populaire FranVais um Macht und Anhänger. In der aus einem gewaltigen Vielvölkerreich hervorgegangenen österreichischen »Rumpfrepublik« standen zwei Bewegungen einander gegenüber, die konträre national-staatliche Zielvorstellungen verfolgten: auf der einen Seite die Austrofaschisten, die auf einem unabhängigen Österreich beharrten und dabei das Erbe der katholischen Habsburgermonarchie hochhielten, auf der anderen die österreichische NSDAP, die für den »Anschluss« an ein großdeutsches Reich kämpfte.
Was die Zahl faschistischer, semifaschistischer und rechtsradikaler Bewegungen anbelangt, nahm Ungarn unter dem langlebigen, gemäßigt autoritären Regime des ehemaligen k.u.k.-Admirals Miklos Horthy, gemessen an der Bevölkerungszahl, wohl eine Spitzenposition unter allen europäischen Staaten der Zwischenkriegszeit ein. In den 1920er Jahren machte Major Gyula Gömbös mit seiner Partei der »Rasseschützer« von sich reden. In den 1930er Jahren begünstigte die Große Depression in Ungarn den Vormarsch der Faschisten. Ende 1932 wurde Gömbös zum Regierungschef ernannt und bemühte sich um den Aufbau einer faschistischen Partei »von oben«, während sich mehr als ein halbes Dutzend kleiner nationalsozialistischer Parteien nach deutschem Vorbild formierten. Die von dem ehemaligen Generalstabsoffizier Ferenc Szálasi gegründete »hungaristische« Pfeilkreuzler-Bewegung stieg 1939 kurzfristig zur größten politischen Kraft und zur einzigen ernsthaften Opposition gegen das Horthy-System auf. In dem halbautoritären Regime blieb ihr der Zugang zur Macht jedoch versperrt, den ihr erst 1944 die Deutschen in einer von den Nationalsozialisten abhängigen Satellitenregierung verschafften.
In der jungen, von heftigen ideologischen und sozialen Spannungen belasteten Spanischen Republik von 1931 blieben die Faschisten, seit 1934 zusammengeschlossen in der Falange Española de las Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista, bis 1936 eine winzige Splittergruppe, die bei Wahlen kläglich scheiterte. In den Augen der Linken bildete die stärkste konservative Kraft des Landes, die mit einem autoritären Ständestaat liebäugelnde katholische Sammelpartei der Confederaciön Española de Derechas Autönomas (CEDA), die eigentliche »faschistische« Kraft, deren radikalisierte junge Anhänger nach dem Sieg einer Volksfront-Koalition im Februar 1936 in Scharen zur Falange überliefen. Nach dem Militärputsch vom Juli 1936 stieg die Falange durch die Rekrutierung Tausender von Freiwilligen für die Aufständischen zur Massenbewegung auf, büßte dafür jedoch ihre Unabhängigkeit ein. Die falangistischen Blauhemden wurden der militärischen Kommandogewalt unterworfen. 1937 wurde die Falange in die neue, heterogene Einheitspartei der Franco-Diktatur zwangseingegliedert.
Die Fälle Ungarn und Spanien könnten zu der Annahme verleiten, demokratische Systeme hätten bessere Voraussetzungen für den Aufstieg faschistischer Bewegungen geboten als autoritäre beziehungsweise halbautoritäre Regime. Frankreich liefert jedoch ein Gegenbeispiel. Dort setzten vergleichsweise fest verwurzelte republikanische Traditionen und der dezidierte Widerstand der Regierung dem faschistischen Vormarsch Grenzen - unter anderem dadurch, dass 1936 die Organisationen der radikalen Rechten verboten wurden. Auch in Belgien, wo die Rexisten unter der Führung von Léon Degrelle 1936 unter den Vorzeichen der wirtschaftlichen Depression und schwerer nationaler Verwerfungen mit 11,5 Prozent die größten Erfolge einer westeuropäischen faschistischen Partei in nationalen Wahlen der Zwischenkriegszeit erzielen konnten, führte die ablehnende Haltung der politischen und sozialen Eliten zum schnellen Niedergang der faschistischen Bewegung.
Der europäische Faschismus war ein Krisenprodukt und als solches abhängig von kurzfristigen Konjunkturen, aber auch von den Spielräumen im etablierten politischen System, von der Stärke und Widerstandskraft der bestehenden Institutionen, vom Verhalten der herrschenden Eliten, von der Verfügbarkeit von Verbündeten und nicht zuletzt von der Entschiedenheit, vom taktischen Geschick und vom Machtwillen seiner Führer. Nur im Falle des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus gelang es faschistischen Bewegungen, die Macht im Land ohne Unterstützung von außen zu erobern und ein eigenständiges Regime zu installieren - freilich in deutlichem zeitlichen Abstand voneinander und unter jeweils sehr unterschiedlichen Voraussetzungen.
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© 2008 Pantheon Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Dietmar Süß , Winfried Süß
- 392 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13 x 20,9 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828946968
- ISBN-13: 9783828946965
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