3er-Flex-Package: Rosentrilogie
Rosen für eine Leiche; Rosenschmerz; Rosenmörder
Mörderisches Oberbayern
Zwei Tote werden in einem Ausflugskahn an den Strand des Chiemsees getrieben. Direkt vor die Füße von Kriminalrat a.D. Joe Ottakring, dem früheren Chef der Münchner Mordkommission....
Zwei Tote werden in einem Ausflugskahn an den Strand des Chiemsees getrieben. Direkt vor die Füße von Kriminalrat a.D. Joe Ottakring, dem früheren Chef der Münchner Mordkommission....
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Produktinformationen zu „3er-Flex-Package: Rosentrilogie “
Mörderisches Oberbayern
Zwei Tote werden in einem Ausflugskahn an den Strand des Chiemsees getrieben. Direkt vor die Füße von Kriminalrat a.D. Joe Ottakring, dem früheren Chef der Münchner Mordkommission. Eigentlich wollte Ottakring nichts mehr zu tun haben mit unbekannten Leichen. Er ist genug beschäftigt mit den beiden Frauen, die ihm den Schlaf rauben. Doch der Fall lässt ihn nicht los.
Saunatod im Rosenheimer Land
Das Luxushotel "Voglwirt" ist der Laufsteg der Schönen und Reichen im Rosenheimer Land. Kein Wunder, dass die Angst umgeht, als plötzlich einer der ihren tot in der Sauna liegt. Rosen sind es wieder einmal, die Kriminalrat Josef "Joe" Ottakring und seine quirlige Kollegin Chili Toledo auf überraschenden Umwegen zum verblüffenden Finale leiten - dabei führt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit die makabre Regie.
Russisches Roulette in Oberbayern
Kriminalrat Ottakring im todbringenden Netz: Ein Bürgermeister wird erdrosselt. Tiere werden getötet. Eine Serie von Morden erschüttert das Rosenheimer Land, seit die Fremden eingedrungen sind. Als Ottakring glaubt, das Rätsel entwirrt zu haben, löst der Killer sich in Luft auf, und ein gigantischer Anschlag steht bevor. Vor dem Kloster auf der Fraueninsel kommt es zum dramatischen Showdown.
Zwei Tote werden in einem Ausflugskahn an den Strand des Chiemsees getrieben. Direkt vor die Füße von Kriminalrat a.D. Joe Ottakring, dem früheren Chef der Münchner Mordkommission. Eigentlich wollte Ottakring nichts mehr zu tun haben mit unbekannten Leichen. Er ist genug beschäftigt mit den beiden Frauen, die ihm den Schlaf rauben. Doch der Fall lässt ihn nicht los.
Saunatod im Rosenheimer Land
Das Luxushotel "Voglwirt" ist der Laufsteg der Schönen und Reichen im Rosenheimer Land. Kein Wunder, dass die Angst umgeht, als plötzlich einer der ihren tot in der Sauna liegt. Rosen sind es wieder einmal, die Kriminalrat Josef "Joe" Ottakring und seine quirlige Kollegin Chili Toledo auf überraschenden Umwegen zum verblüffenden Finale leiten - dabei führt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit die makabre Regie.
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Lese-Probe zu „3er-Flex-Package: Rosentrilogie “
Rosen für eine Leiche von Hannsdieter LoyEins
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Die beiden Leichen wurden an den Strand getrieben, als Liebermanns Biergarten voller Menschen war. Alles hätte ich in dieser Stunde erwartet, nur keine Leichen. Ich saß allein an einem Tisch mit Blick auf den Chiemsee, ein Glas Weißbier vor mir. Die Hitze des Tages durchwanderte gerade den frühen Abend, über meiner Bauchgegend hatten sich nasse Flecken auf dem gelben Poloshirt gebildet. Es war einer jener schwülen Frühsommertage im Rosenheimer Land, die einem zu schaffen machen. Etwas Trostloses lag in der Art, wie sich die Hitze gegen jede Bewegung wehrte. Es herrschte eine bedrückende Stimmung. Unter der Terrasse zum See hin und entlang der seitlichen Hauswände wuchsen Rhododendronbüsche, die in voller Blüte standen; die Hortensien schwangen sich gerade dazu auf - ein Anblick wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Film. Grüne und rote Boote lagerten kieloben am Ufersaum; sie sahen aus wie schlafende Seekühe. Das Blattwerk der alten Eichen säuselte leise, Zeichen einer Abendbrise, die man darunter im Biergarten nicht spürte. Links vom See die Kampenwand, noch mit Schnee im zerklüfteten Fels, den die Sonne langsam rosa färbte. Die Autobahn darunter rauschte leicht. In der Nacht hatte es gestürmt. Obwohl die Brise nun wieder auffrischte, vibrierte die Luft und sang in hoher Frequenz. Alle Schnaken der Gegend waren aus dem Schilf gekrochen und wuselten um mich herum. Sie ließen sich an den freien Flecken meines Körpers nieder und begannen hartnäckig, mich auszusaugen. Zur Gegenwehr hatte ich nur den Spray aus der Dose, die Liebermann auf jeden einzelnen der Tische postiert hatte. Anstatt zu sprühen, hätte ich mit dem Ding auch werfen können - es hätte genauso wenig geholfen. Am Anfang hatte ich nur einen schwarzen Punkt gesehen. Die Dünung des Chiemsees trug ihn aus Richtung Fraueninsel herüber. Als der Punkt zum Strich wurde, hielt ich ihn zuerst für ein Stück Holz oder ein Kleidungsstück, das im Wasser trieb. Dann erkannte ich eine Form. »Tach, Ottakring.« Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. »Ham Se eine Rauchbombe nötich?« Liebermann in seiner viel zu warmen Jägerkluft ragte neben mir empor. Er blickte zufrieden auf seine Stiefelspitzen. Sein Gasthaus brummte. Er bezeichnete sich als Mischlingsbayer, stammte ursprünglich aus Westfalen. Früher war er Opernsänger gewesen, Bariton. Von seinen Einkünften hatte er sich dieses Wirtshaus am südöstlichen Chiemseeufer gekauft, Stück für Stück renoviert und einen Biergarten direkt ans Wasser gesetzt. »Rauchbombe? Wenn's hilft, absolut«, sagte ich und nahm die Zigarre, die er mir hinhielt. Ich steckte sie mir an, drückte mit der ersten Rauchwolke, die ich ausstieß, einen Schwarm Schnaken gegen die Tischplatte und schlug mit der flachen Hand zu. Blut spritzte. Wahrscheinlich meines. Eine Frau am Nebentisch tat entsetzt. Ich blies, ohne hinzusehen, den Rauch meines zweiten Zugs aus dem Mundwinkel in ihre Richtung. »Schauen Sie mal«, sagte ich zu Liebermann. Meine Hand zeigte auf das Treibgut. Liebermann schaute aufs Wasser hinaus. Für eine Minute schwiegen wir. »Das ist ein Boot, nich?«, sagte Liebermann. Ein Hund kam von irgendwoher. Mittelgroß, schwarz, wuscheliges Fell, lange, abgeklappte Ohren und ein Blick, treuer als ein Schaf - nur wesentlich intelligenter. Ich wollte auch gern einen Hund haben. Jetzt wartete ich darauf, dass dieser sich setzte. Doch er blieb stehen, mit den Pfoten im seichten Wasser, wedelte unschlüssig mit dem Schwanz und blickte hinaus. Wie das herantreibende Boot da auf den schwachen Wellen schaukelte, ähnelte es einem Schwimmer, der im Wasser die Luft anhält und den toten Mann markiert. »Das ist ein Kahn«, sagte ich. »Ein ruderloser Kahn.« Ich löschte sorgfältig die Zigarre, stand auf und lehnte mich neben Liebermann an einen Baum. Der Hund tappte durchs seichte Wasser, dann schwamm er hinaus, dem gemächlich anlandenden Kahn entgegen. Offenbar vermisste niemand den schwarzen Kerl. Ob es ein Vergehen war, ihn einfach mitzunehmen? Kein Mensch hätte der ganzen Sache weitere Aufmerksamkeit geschenkt, wäre die Ankunft des Kahns nicht vom Zischen zweier Schwäne und dem Gekläff des Hundes begleitet worden, der mit dem Kahn zurück an den Strand geschwommen kam und jetzt aufgeregt darum herumplanschte. Etwas stimmte nicht. Ich zog Liebermann zum Wasser. Es handelte sich um ein gewöhnliches Ruderboot, wie man es zu Ausflügen auf dem See oder zum Angeln benutzt. Der Hund hatte sich in ein Stück Holz verbissen, das aus dem Kahn ragte. Knurrend zerrte er daran. Ich fand, dass ich eingreifen musste, zog die Schuhe aus, stieg ins flache Wasser, angelte nach der Bugleine, deren loses Ende im Wasser vorausschwamm, und zerrte den Kahn an Land. Liebermann schien kriminologischen Instinkt zu besitzen, denn er tat, was sich gleich darauf als das Richtige erweisen sollte: Er scheuchte eine Handvoll Neugieriger weg. Im Innenraum des Kahns hatten sich einige dürre Zweige ineinander verhakt, wie die Finger zweier Hände sich verhaken. Schemenhaft zeichnete sich darunter etwas ab. Liebermann meldete sich zu Wort. »Diese Zweige hat bestimmt der Nachtwind angeweht. Das macht der öfters. Im und am See. Weiß der Henker, wie.« In diesen Tagen herrschte die gelbe Pollenpest, die es nur alle sieben Jahre gibt. Man merkte es daran, dass die Äste und der ganze Kahn mit gelbem Blütenstaub bedeckt waren. Als ich das Geäst und die Blätter vorsichtig zur Seite räumte, heftete sich der feuchte Staub wie Schminke an meine Arme. Ich zog den oberen Teil weg. Köpfe kamen zum Vorschein. Zwei Köpfe, die zu Menschen gehörten, die auf dem nassen Boden des Kahns lagen. Eine Frau und ein Mann - beide tot. Die Frau war jung, vielleicht Ende zwanzig. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, vage war dezent aufgetragener bläulicher Lidschatten zu erkennen. In brutalem Kontrast: das Loch in ihrer Stirn.
Das Alter des Mannes konnte man möglicherweise an dem weißen Haarkranz bestimmen, nicht aber am Gesicht. Dessen rechte Hälfte fehlte bis zu den Wangen. Ich warf einen Blick zu Liebermann hinüber. Seine Augen richteten sich verwirrt auf mich, so, als ob es an mir wäre, das Rätsel zu lösen. Ein Rätsel, das keine gute Lösung versprach. Ich neigte den Kopf und schloss die Augen. Ein plötzlich auftauchender stechender Schmerz in meiner Brust drohte, mich zu zerreißen. Er zog bis an die Kehle hinauf. Mein Körper reagierte auf ein Gefühl der Panik, als sei ich zu dicht an einen Abgrund geraten. Erst kurz zuvor war ich in dieses Rosenheimer Land gezogen. Weil ich im Ruhestand meine Ruhe haben wollte und weil ich nie mehr im Leben einen menschlichen Kadaver sehen wollte. Jahre um Jahre in der Münchener Mordkommission zu ermitteln, Stunden um Stunden in der Pathologie zu verbringen, das zehrt auf Dauer an den Nerven. Und jetzt das. Ich holte so heftig Luft, dass Liebermann, der ein paar Meter halb links hinter mir stand, es bemerkt haben musste und besorgt mit einem Tuch zu mir herüberwinkte. Sein Gesicht war weiß und um die Nase grünlich. Einen kurzen Moment lang glaubte ich, er werde ohnmächtig. Er wischte sich mit dem Tuch über die Stirn. Doch als er das Tuch sorgfältig gefaltet und über den Arm gelegt hatte, hatte er sich wieder im Griff. Mit der für ihn typischen Art versuchte er, sein Entsetzen zu überspielen: »Eine einzige Vergnüchung für Sie bei uns hier am Chiemsee, nich?«, rief er mir in einem Anflug von tapferer Ironie vom Ufer her zu.
Ein lautloses, hechelndes Lachen stieg in mir hoch. Der Krampf in meiner Brust war weg. Ich zerrte vorsichtig an dem Geäst wie an einem Vorhang, um mir ein Blickfeld zu verschaffen. Beide Körper waren nackt. Der Mann umklammerte mit der Rechten eine Pistole. Die Waffe zog meinen Blick an. Sie war selten und ungewöhnlich. Ich kannte das Modell, ein Irrtum war ausgeschlossen: Der Tote hielt eine Neun- Millimeter-SIG-Sauer-P-226 in der Hand. Sechzehnschüssig, fast ein Kilo schwer im ungeladenen Zustand. Es dauerte ein paar Momente, bis ich meine Augen von der Waffe lösen konnte. Die Frau hatte eine zerbrechlich wirkende Figur und bildete einen herben Kontrast zu dem bauchlastigen, schwammigen Altmännergebilde neben ihr. Sie ruhte auf der rechten Seite, an die Schulter des Mannes geschmiegt, als ob sie friere. Ihre toten Augen starrten blicklos in den Himmel, die blutleeren Lippen wie im Traum geöffnet. Der linke Arm lag über ihrem Oberkörper und berührte den rechten Ellbogen. Dazwischen kleine Brüste, deren halbdunkle Nacktheit die verschämte Haltung noch mehr betonte, mit der sie sich unter die Zweige verkrochen zu haben schien. »Mein Gott«, rief Liebermann, »dat sind ja Rosen. Rosen. « Tatsächlich hielt die Frau eine rote Rose in der rechten Hand, deren Rücken den Oberschenkel des Mannes oberhalb des Knies berührte. Weitere Rosen waren unregelmäßig über den nackten Körper verstreut. »Princess Alexandra of Kent. Eine Rose von David Austin «, sagte ich versonnen.
David-Austin-Rosen kannte ich gut. Sie wuchsen in meinem Garten. Eine seltsame Regung überkam mich. Da war diese äußerst seltene Pistole und daneben die Rosen, die mir so vertraut waren. Es war wie ein Zeichen. Ein geheimes Zeichen, das nur ich verstehen konnte. Sehr behutsam, um für die Spurensicherung nichts zu verändern, ließ ich die Zweige wieder zurückgleiten. Mittlerweile hatte sich eine aufgeregte Traube von Menschen hinter Liebermann gebildet. Ihre Stimmen pflanzten sich bis zu den hintersten Tischen fort. »Ja mei«, sagte Liebermann und deutete zum Boot. Seine Gesichtsfarbe war wieder ins übliche Rot übergegangen »Dat is ja Geschäftsschädichung. Wollen die mich ruinieren?« Ich musste zugeben, sein Sarkasmus hatte etwas Cooles. »Bestimmt liegen die nicht da drin, weil sie zu laut im Kirchenchor gesungen haben«, gab ich zwischen den Zähnen zurück. Und dann deutlicher: »Lassen Sie die KPI Rosenheim verständigen.« Im Zurückwaten rief ich ihm die Nummer zu, Liebermann zückte Block und Stift und notierte. Seit München besaß ich selbst kein Handy mehr. Ich fand, ich war auch so erreichbar genug. »Was ist das, KPE?«, fragte der Mann mit Handy, dem Liebermann den Block in die Hand drückte. »KPI«, verbesserte ich. »Das ist die Einsatzzentrale der Kriminalpolizeiinspektion. Machen Sie schon.« Ungern verscheuchte ich den tropfnassen Hund, aber es musste sein. Ich trat neben das Boot, das ich mit dem Bug auf den Strand gezogen hatte. Ich lugte durch die Zweige, ohne sie zu berühren, und sah mir die Waffe aus der Nähe an. Ich las die Aufschrift »P 226« auf der geriffelten Griffschale. Wo zum Teufel war ich diesem Pistolentyp zum letzten Mal begegnet? Liebermann legte ein paar aufgespannte Sonnenschirme auf den Kiesboden, mit der Breitseite zum Publikum, Absperrung und Sichtschutz zugleich. Ich nickte ihm anerkennend zu. Mein Weißbier stand noch auf dem Tisch. Der schwarze Wuschelhund hatte sich daruntergelegt. Seine großen braunen Augen spähten mir entgegen. Ich griff nach dem Bier über ihm und machte einen so tiefen Zug, dass ich mich verschluckte. Aus dem aktiven Dienst hatte ich mich mit zwei klaren Vorsätzen verabschiedet. Der erste war: Nie wieder Mord! Und jetzt stolperte ich allem Anschein nach über Selbstmord und Mord gleichzeitig. Einfach so, beim Relaxen und Weißbiertrinken, ich konnte es nicht fassen! Wer hatte mir das eingebrockt? Der andere Vorsatz: Falls mir dennoch jemals wieder ein Mord vor die Füße fallen sollte, wollte ich ihn einfach ignorieren. Mich überhaupt nicht darum kümmern. Wozu gab es die jüngeren Kollegen von der lokalen Kripo? Auf einen alten Sack wie mich würden die sowieso nicht hören. Also Finger weg von diesem Fall, Joe Ottakring! Nachdem ich ausgehustet hatte, geschah etwas, was mir zuvor noch nie passiert war. Ich ging zu Liebermann, legte ihm mit gestreckten Armen beide Hände auf die Schultern, sah in sein ungläubiges Gesicht, ließ den Kopf hängen und stieß einen geflüsterten, gehauchten Schrei in Richtung Kiesboden aus: »Neiiiiiiin!« Der Ermittlungstrupp aus Rosenheim war nach dreiundzwanzig Minuten da. Es waren zwei Männer und Chili Toledo in einem Zivilfahrzeug mit Rosenheimer Nummer, dem Tatortkombi. Darin war alles, was man zur Spurensicherung braucht. Unter anderem der große Alukoffer mit Fotoapparaten, Instrumenten und Chemikalien. Nummerntäfelchen, Absperr- und Messbänder, Behälter mit chemischen Pulvern, Wattestäbchen und Reagenzgläser zur DNA-Abnahme. Chili Toledo war achtundzwanzig Jahre alt, hatte einen Hang zu Ehrgeiz und Perfektion und einen eigenen Sinn für Humor. Sie war Kommissarin im K3, der Abteilung Erkennungsdienst. Die EDler trafen immer zuerst am Tatort ein. »Hi, Onkel Josef«, sagte sie. Sie kaute an einer Chilischote herum. Jeden anderen hätte ich auf der Stelle in den See getaucht, wenn er mich Onkel Josef genannt hätte. Nicht aber die Tochter meines Freundes Torsten Toledo. »Grüß dich«, sagte ich. »Grüß dich, Chili.« Chili lebte seit gut zwei Jahren in Bayern. Davor hatte sie von ihrer Geburt an sechsundzwanzig Jahre in Schleswig- Holstein verbracht. Inzwischen sprach sie ein charmantes Touristenbayerisch. Nur an ihrem s-pitzen S-tein blieb sie zwischendurch immer wieder hängen. Sie trug ihr terrakottabraunes Haar lang und offen, was die weiche Linie des Halses und die sanfte Schwellung ihres Busens über dem Rand des schwarzen Tops gut zur Geltung brachte. Ich musterte Chili mit Stolz und Wohlgefallen, und dabei begegnete mir der Blick ihrer dunklen Mandelaugen. Einen Moment zu lange zögerte ich, bevor ich ihre ausgestreckte Hand zum Gruß ergriff. Es war kurz vor acht Uhr abends, die Eichen warfen lange Schatten. Ein aggressives Knirschen im Kies des Parkplatzes riss uns aus der gerade beginnenden Verlegenheit. Mit Blaulicht stürmte der grün-weiße BMW der Priener Kollegen aufs Areal. Mit einem weiteren BMW, zivil dunkelblau, traf Chilis Chef ein und kurz darauf in einem schwarzen Audi Sebastian Scholl vom K1, Tötungsdelikte. Die Staatsanwältin vom Rosenheimer Amtsgericht würde auch bald anrauschen, und ich nahm an, dass der Jourdienst in der KPI die Rechtsmedizin in München benachrichtigt hatte. Dort kannte ich jeden. Hierher in die Provinz würden sie den Jüngsten schicken, den mit der intelligenten Rundbrille. Der würde nach Kontusionsringen, den Quetschungen um die Einschusswunde, suchen. Er würde den Schusskanal feststellen, nach Druckstellen an den Leichen forschen, nach Blutunterlaufungen, Kratzern, Schmutz. Er würde an den Opfern deren eigene und mögliche fremde DNA-Proben sichern und den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen, dem Kl-Chef und der Staatsanwältin gegenüber eine erste Einschätzung abgeben. Die lokale Feuerwehr würde für Beleuchtung sorgen, die Bestatter schließlich die Leichen nach München in die Frauenlobstraße schaffen, wo vermutlich noch heute Nacht die Obduktion stattfinden würde. Die Gedankenkette spulte sich in meinem Kopf ab, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Zu oft hatte ich das Ritual in all den Jahren selbst durchexerziert. Neun Jahre Chef der Münchener Mordkommission, davor zweiundzwanzig lange Jahre Ermittler - das prägt.
Ich schüttelte mich innerlich, versuchte, die Gedanken abzustreifen, blickte auf den See hinaus, hinüber zur Kampenwand. Deren Flanken wurden vom Abendlicht in ein von dunklem Lila überhauchtes Schwarz getaucht. Wieder musste ich an die SIG Sauer in der Hand des Toten denken. Ich wusste, dass die Bundespolizei in den USA, das FBI, damit ausgerüstet war. Auch in der Schweiz war sie verbreitet, und in Jerry-Cotton-Romanen spielte sie eine Rolle. Bei uns war sie so selten wie der Biss eines Skorpions am Chiemseestrand. Da war noch etwas in meinem Hinterkopf. Ein Detail von Bedeutung. Aber jetzt spielten plötzlich meine grauen Zellen nicht mehr richtig mit. Die Hitze! Temperaturen über dem Gefrierpunkt verbunden mit einer Luftfeuchtigkeit nahe der Regengrenze waren für mich unmenschlich. Die Arktis wäre vermutlich eher mein Revier gewesen. Ich ließ die Kollegen ihre Arbeit machen und stellte mich zu Liebermann an die Bar im Inneren des Lokals. Weiter drüben nippte eine große Blonde an ihrem Pils. Schweigend sah ich mich um. Gemälde von Künstlern der Region hingen an weiß gekalkten Wänden, an der Decke Holzvertäfelung mit sparsam bemalten Kassetten. Mein schwarzer Hundefreund und eine Katze streunten zwischen den Tischen umher. Die Gäste saßen da, tranken ihr Bier, wischten sich mit schweißnassen Taschentüchern die Stirn trocken. Gedämpftes Gemurmel lastete im Raum wie zuvor die Schwüle des Nachmittags. Das Geschehen draußen schien bereits in die Gehirne der Menschen vorgedrungen zu sein. Sie wollten sich ablenken. Mit einem Mal raffte einer der vier Männer an einem Tisch in der Ecke die verstreut liegenden Spielkarten zusammen, formte sie zum Stapel und stieß ihn auf der Ahornplatte des Tisches glatt. »Wer gibt jetzt?«, fragte er in die scharfen, kurzen Knaller hinein. »Immer der, der fragt«, war die Antwort des bärtigen Basses ihm gegenüber. Der Schafkopf nahm seinen Fortgang. Das war das Signal gewesen. In der ganzen Wirtsstube hob wieder Stimmengewirr an. Zögerlich mischte sich Lachen in den Lärm. Mit gleichzeitig einsetzendem Geschirrgeklapper wehte auch der Duft von gekochtem Fisch und gebratenem Schnitzel aus der Küche herüber. »Wie lang wird das wohl dauern?«, fragte mich Liebermann. Ich war so benommen von der herrschenden Stimmung, dass ich eine Weile brauchte, bis ich antwortete. »Bis wir vernommen werden? Wenn wir halt dran sind.« Doch dann fiel mir etwas ein. »Heut ist doch Sonntag? Mann, da hab ich noch was vor. Um zwanzig nach elf kommt ›Herrenhaus‹ im Fernsehen.« Ich sah Liebermann an, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. »›Herrenhaus‹«, wiederholte ich, »kennen Sie nicht?« »Nee. Sollte ich?« »Ach geh weiter, kennst du nicht?«, sagte die kühle Blonde ungefragt aus dem Hintergrund und wickelte sich eine Locke um den Finger. »Diese Talkshow im Bayerischen. Kommt sonntags um dreiundzwanzig Uhr zwanzig. Supersendung, ›Herrenhaus‹.« Sie schaute auf die Uhr. »Heut ist Sonntag«, sagte sie wie überrascht und rief nach einem Mann mit grauem struppigen Haar, der allein am übernächsten Tisch saß. »Luggi, komm, wir gehen.« Kurz darauf vernahm mich der Kollege Scholl vom K1 als Zeuge. Die Routinefragen: Zeitpunkt, Wahrnehmungen, Details, mögliche Auffälligkeiten. Zum Abschluss fragte er: »Und was ist Ihre Meinung dazu?« »Ach Scholl«, sagte ich, »das fragen Sie doch nur höflichkeitshalber. Sie wollen meine Meinung doch gar nicht wissen. Sie haben ja eine eigene.« Mit großen Augen sah er mich an. »Ihnen bedeutet die Sache anscheinend nicht sehr viel?«, fragte er. »Sie wissen doch, wie wichtig jedes Krümelchen ist. Vielleicht haben Sie etwas bemerkt, was uns weiterbringen kann. Sie mit Ihrer Münchener Erfahrung. Wär doch schön, wenn Sie uns ein bisschen helfen würden, Herrschaftszeiten.« Das letzte Wort hatte er laut gesprochen. Doch gleich dämpfte er die Stimme wieder und hielt mir die Hand hin: »Oder?« Ich nahm die Hand. Ich merkte, dass ich zu weit gegangen war. Natürlich hatte ich draußen am Fundort vieles gesehen, was nach einer Deutung verlangte. Etliches, was ich noch nicht verstand, ebenso wenig wie Scholl. Die Art, wie die Leichen dalagen. Und irgendetwas war mit den Rosen. Einer, der jemanden tötet, dekoriert die Leiche mit Rosen. Warum macht er sich die Mühe? Er will etwas sagen. Aber was - und wem? Vorerst wollte ich diese Gedanken jedoch für mich behalten. Sie waren noch zu unausgegoren. Nicht klar genug, um sie dem Kollegen anzuvertrauen. Und - hatte ich mir nicht vorgenommen, jeden Mord zu ignorieren, der mir vor die Füße fiel? Also gemach, gemach, Ottakring! Nichtssagend antwortete ich: »Absolut. Wenn mir was einfällt, sag ich's Ihnen.« Scholls Blick durchbohrte mich. Eine Weile überlegte er. »Wie Sie wollen«, sagte er schließlich und entließ mich. Die Enttäuschung war ihm anzumerken. Ich aber wollte »Herrenhaus« nicht verpassen. Tatsächlich kam ich gerade heim, als die Livesendung begann. Lola hatte sich Charles Bardot vorgenommen, den für seine provokante Art berüchtigten Schauspieler. Lolas brauner Pagenschnitt glänzte im Scheinwerferlicht, sie trug ein blaues Kleid mit schmalen Trägern, das ich noch nicht kannte, meine Rosenkette aus Strass um den Hals und sah über die Maßen gut aus. Und sie war auch gut. Bardot versuchte, sie herauszufordern, doch sie kam fabelhaft mit ihm zurecht. Ich war stolz darauf, dass diese Frau meine Partnerin war. In einer früheren Sendung hatte sie einmal das Kürzel LAG für unsere Verbindung verwendet. »Was bedeutet das?«, hatte ich sie danach am Telefon gefragt. »Kennst du nicht?« Sie lachte spitzbübisch. »Lebensabschnittsgefährte. Weiß doch heutzutage jedes Kind.« Wieder mal hinterm Mond gewesen. Ich weiß genau, mit mir hat man's nicht leicht. Doch ich hab mich nicht auf diese Welt bestellt. Ich hab mich einfach vorgefunden und mich auch erst im Lauf der Jahre an mich gewöhnen müssen.
Jedenfalls sahen wir uns in der weiteren Entwicklung immer seltener, Lola und ich. Doch jedes Mal landeten wir im Bett. Ein Glöckchen klingelte, und wir stürzten uns aufeinander. Die Lust aneinander hielt uns zusammen. Wir stritten heftig, doch dann fanden wir uns schwitzend und keuchend auf dem Rücken liegend wieder. Uns war klar, obwohl wir nie darüber redeten: Wir schafften es nicht, auseinanderzugehen. Also blieben wir zusammen. In diesem Augenblick, als sie mich aus dem Bildschirm heraus anlächelte, war ich wieder einmal von ihr fasziniert. Ich liebte Lola sehr. Ich war nie der Typ gewesen, der mit Charme um sich wirft oder quer durch den Saal flirtet. Lola Herrenhaus und ich haben uns vor vier Jahren sehr unspektakulär in der Münchener Stadtbibliothek im Gasteig kennengelernt, als Lola fünfunddreißig war. Sie war beim Aufstehen mit der Stirn gegen einen Lampenschirm gestoßen. Ich ergriff die Chance und stillte die Blutung. In jener Zeit arbeitete sie für die Süddeutsche Zeitung, bekam dann kurz darauf eine Stelle als Radiomoderatorin im Bayerischen Rundfunk. Seit zwei Jahren moderierte sie nun ihre eigene Personality- Show im Fernsehen. »Wie unsere Beziehung ist?«, hatte sie mich einmal gefragt. Und gleich die Antwort gegeben. »Ein Glas, das zerbricht, wenn man es zu unsicher oder zu fest anfasst.« Ja. Sie war eine intelligente Frau, meine Lola.
Zwei Das traditionsreiche Neubeuern war einmal »Schönstes Dorf Deutschlands« gewesen. An klaren Tagen konnte ich von meiner Wohnung aus über die Dächer hinweg den Fernsehturm auf dem Gipfel des Wendelsteins sehen. Hier zu leben hatte nach der Enge in der Großstadt München etwas Sanftes und Beruhigendes. Das Dorf liegt zwischen zwei alten Stadttoren auf einem bewaldeten Hügel unterhalb des Schlosses. Die Fassaden der Häuser sind reich bemalt. Es gibt einen Schmied, eine Apotheke, den Dorfkramer, einen kleinen Buchladen und kaum Parkplätze. Um die Kirche herum eine gute Handvoll Wirtshäuser, die das Leben erträglich machen. Ein bisschen Tratsch überall, keine Hektik, kein Schickimicki-Getue, jeder kennt hier jeden, und bald kannten alle mich. »Grüß Gott, Herr Ottelfing.« Frau Steiner, die Nachbarin, stand auf ihrem Balkon schräg über meinem Garten, eine Gießkanne in der Hand. Ich grüßte zurück. Sprühte aber weiter verdünntes Gift über meine kranken Rosen. Frisch gepflanzt und schon Mehltau. »Ihr Garten wird bestimmt schön«, rief Frau Steiner herunter. Ein Auge zuckte in unregelmäßigen Abständen. »Sie gehen aber auch mit so viel Ellan herran.« Die Worte purzelten abgehackt aus ihrem Mund. Als ob sie sich beeilen müsse beim Sprechen. »Der Harry wird Ihnen schon wieder helfen, wenn's für Ihr Kreuz zu schwer wird.« Ich nickte dankbar zu ihr hinauf. Harry, ihr Sohn, war mir tatsächlich schon öfters zur Hand gegangen. Die Steinerin und ihren Sohn musste ich mir warmhalten. Meine Mietwohnung lag links unten in einem Vierfamilienhaus jenseits des Stadttors. Ich bewohnte drei geräumige Zimmer, zwei Terrassen und einen Rasengarten, in dem ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Gleich nach dem Einzug hatte ich die David-Austin-Rosen gepflanzt. Außerdem Bougainvilleas, kleine Kirsch- und Zitronenbäume, Fuchsienstämmchen und Kapmargeriten in Kübeln ausgesetzt. Alles blühte oder war kurz davor. Ein Flirren, ein Zwitschern, ein Traum. Abends roch es göttlich. Wahrscheinlich hätte ich noch tanzende Nymphen und eine beleuchtete Grotte in mein Reich gesetzt oder Gnomen und Pilze aus Ton auf dem Rasen verstreut, hätte nicht Lola über den guten Geschmack gewacht. Frau Steiners Auge zuckte wieder. »Die Schoff war gut mit der Frau Herrenhaus gestern Abend, wollt ich Ihnen nur sagen. Rrichten Sie ihr bitte schöne Grüße aus?« »Ja, mach ich gern, Frau Steiner«, sagte ich. »Übrigens, mögen Sie Hunde?« »Hunde sind neurottisch, Pieselmonster und verewigen sich in jedem Garten.« Sie deutete vom Balkon herunter eine Verbeugung an. »Mit Verlaub«, sagte sie, wandte sich um und ging hinein. Das goldene Licht der aufgehenden Sonne hatte mich heute früh irgendwann nach fünf Uhr geweckt. Seither ging mir der Hund in Liebermanns Biergarten nicht mehr aus dem Kopf. Der nächste Gedanke hatte den Leichen aus dem Boot gegolten. Sie waren gewiss in der Nacht aufgeschnitten worden. Ich war gespannt, ob es einen Abklatsch von den Schüssen an den Händen des Mannes gab. Sebastian Scholl würde eine Soko bilden, der Chili als EDlerin gewiss angehören würde. Sie war die Beste im Erkennungsdienst. Ungefähr zu der Zeit, als ich unter der Dusche gestanden hatte, war vermutlich die Uferregion am Chiemsee abgesucht und nach der Herkunft des Kahns geforscht worden. Ich stellte mir vor, dass auch die Waffentechniker des LKA ihr Tagewerk am Boot begannen. Bestimmt suchten sie nach Projektilen und Hülsen. Erschwert wurde der Fall sicherlich, weil Tatort nicht gleich Fundort war. Wenn eine Leiche vom Tatort weggebracht und an anderer Stelle abgelegt wird, gestaltet sich die Aufklärung erheblich schwieriger. Das ist wie ein Gesetz. Ich neigte den Kopf zurück und schloss die Augen. Mensch, Ottakring, du machst dir schon wieder Gedanken über einen Fall! Begreif doch endlich: Du bist ein verdammter Ruheständler, den diese Sache überhaupt nichts angeht. Auch hat man dich nicht gerufen, und wo bleibt eigentlich dein so fester Grundsatz? Nie, nie, nie mehr wolltest du je wieder etwas mit irgendwelchen Kadavern zu tun haben. Und jetzt? Woran denkst du ständig? Wahrscheinlich wäre ich mit dem Kopf gegen die Mauer gerannt, um mich zu bestrafen, wäre da nicht meine geliebte Frau Steiner noch einmal angetrabt gekommen. Diesmal mit Sohn. Harry Steiner hatte ein vernarbtes Gesicht, was von falsch behandelten Pickeln in seiner Jugendzeit herrühren mochte. Meistens trug er weite, bestickte Trachtenhemden und weite, knöchellange Hosen aus Hirschleder. Diese Landhausmode war im Grunde ebenso untypisch für Bayern wie DJ Ötzi für die Volksmusik. Doch im Rosenheimer Land war sie der Renner, vor allem zur Zeit des Herbstfests. »Ein Mensch ist ein Mensch«, sagte Harry ungefragt. »Aber ein Hund ist nur eine Sache, rein rechtlich gesehen, wissen Sie. Nur wenn er jemanden beißt, zum Beispiel meine Mutter, dann fällt das unter Gefährdungshaftung, und Sie müssen für den Schaden aufkommen. Im Staatsdienst weiß man so was.« Das wollte ich alles nicht wissen, die Rechtslage eines Hundehalters war mir geläufig. Harry war immer freundlich und hilfsbereit zu mir gewesen, doch er war schwer einzuschätzen. Seine Mutter hatte mir einmal voller Stolz berichtet, dass ihr Sohn »im Staatsdienst« sei. Ich wollte nicht nachfragen, was er denn genau beruflich machte, es interessierte mich zu diesem Zeitpunkt auch nicht. Morgens fuhr er regelmäßig mit seinem Opel Astra weg. Abends kam er wieder heim, meistens eher spät. Jedenfalls würde es schwer werden, in dieser Nachbarschaft einen Hund zu halten. Doch mein Wunsch war stärker. Einfach mal schauen. Um Punkt halb zehn klingelte ich am Tor des Rosenheimer Tierheims. Der Tag versprach heiß zu werden. Ich hatte den Leiter des Tierheims vorher angerufen. Er wusste schon, dass ich ein ähnliches Tier haben wollte wie den schwarzen Wuschelhund in Liebermanns Biergarten. Ich hatte etliche Knäste für verurteilte Menschen von innen gesehen. Dies war mein erstes Tierheim. Neben zwei Rhesusaffen, einem Lama und einem diabetischen Kaiman gab es nur Hunde, fast ohne Ausnahme Mischlinge. Hier etwas vom Schäfer, dort so etwas wie ein Pudel, ein bisschen was weiß-schwarz Gepunktetes im Zwinger neben zwei rötlichen Afghanen-Verschnitten, eine Art Basset mit durchhängendem Bauch, ein Rudel goldiger Chihuahuas, ein riesiger Neufundländer mit zerkautem Sportschuh im Maul, der mich anwinselte, als er mich sah. Scholl würde sich in diesen Stunden darum kümmern, ob die Leichen als vermisst gemeldet waren. Fürs Erste würde er eine Anfrage an die Vermisstenstelle des LKA und Fahndungsschreiben an die örtlichen PIs richten. »Ich bin kein Optimist«, hatte Scholl gesagt, »es gehört immer ein bisschen Glück dazu.« Wie wahr. Mein Hund kauerte im vorletzten Zwinger. Er besaß alle Merkmale eines Berner Sennenhunds, nur war er kurzhaarig. Weiße Maske, weiße Schuhe, weiße Schwanzspitze. Dunkelbraune Augen, die mich an Lola erinnerten, wenn sie mich manchmal fragend ansah. Er hatte den Kopf auf die gekreuzten Pfoten gelegt. Der Hund war vier Jahre alt und hieß Hotzenplotz. Ich nahm ihn mit. Kurz vor der Autobahn hielt ich an. Ich hatte überlegt, ob ich ihm den Namen lassen sollte, aber »Hotzenplotz« war mir zu lang und zu kindisch. »Mozart« war zu süßlich. Lola hätte vielleicht an »Hindemith« gedacht. Ich holte mein Aftershave aus dem Handschuhfach, träufelte ein paar Tropfen auf seinen glänzend schwarzen Scheitel und taufte ihn »Herr Huber«. Herr Huber saß auf dem zerknautschten Ledersitz neben mir, als ich in die A8 Richtung Salzburg einfuhr. Um heim nach Neubeuern zu kommen, hätte ich bald wieder abbiegen müssen. Doch ich war so in Gedanken, dass ich erst kurz vor dem Chiemsee aufwachte. Nein! Ich wollte mich nicht um diese Toten im Kahn kümmern. Meilenweit wollte ich mich fernhalten von ihnen. Der Hund würde mich genügend beschäftigen. Und die garantiert fällige Diskussion mit den Anwohnern. Aber wenn ich schon einmal in der Nähe war. Vier Minuten später knirschten die Reifen meines alten Porsche über den Kiesparkplatz von Liebermanns Biergarten. »Noch in der Nacht haben sie die Leichen wechgebracht«, sagte Liebermann. Er war wieder in seiner Jägerkluft. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals in einem anderen Anzug gesehen zu haben. Wir gingen durchs Lokal auf die Seeseite. Im Biergarten war alles picobello aufgeräumt. Es stellte sich heraus, dass der schwarze Hund, der zwischen den Tischen herumstrich, Liebermann selbst gehörte und so hieß, wie er aussah, nämlich Wuschel. Herr Huber freundete sich sofort mit ihm an. Beim Hinausgehen überließ er Wuschel sogar den Vortritt. Was will man mehr von einem neuen Hund als gute Manieren? Ich sah ihn schon mit Frau Steiner spielen. Ein rot-weißes Absperrband an dünnen Metallspießen begrenzte den Fundort um das Boot im Abstand von etwa sechs bis acht Metern. Die Waffentechniker arbeiteten noch am Objekt. An Haltung, Gesten und der Art, wie sie miteinander redeten, erkannte ich, dass sie nichts Wesentliches gefunden hatten. »Droben in der Hirschauer Bucht suchen sie das Ufer ab«, sagte Liebermann. »Und auf den Inseln sind sie auch zugange, das weiß ich von den Wirtskollegen drüben.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Haben Sie eine Ahnung, wer eigentlich die Toten sind? Die Herren Beamten rücken nichts raus.« Ich grinste in mich hinein. Gestern wäre Liebermann fast ohnmächtig geworden beim Anblick der Toten, und nun machte er auf abgebrüht. Wir hielten uns im leeren Biergarten auf, die Stühle waren aufrecht gegen die Tische gelehnt. Eigentlich hätte es rammelvoll sein müssen um diese Tageszeit. »Hat die Leere hier was mit der Polizei zu tun?«, fragte ich Liebermann. »Bleiben die Gäste weg?« »Nee«, sagte er, »Montach ist Ruhetach. Haben Sie denn keinen Ruhetach?« »Doch«, hörte ich mich sagen, »jeden Tach.« Ich drehte mich um und blickte hinaus auf blau schimmerndes Wasser, auf die beiden Inseln Herren- und Frauenchiemsee und die vielen weißen Tupfer der Segelboote. Durch das seichte Wasser am Strand konnte man die Kiesel sehen, eine kleine Mole ragte in den See, und weiter rechts, nach Norden, lag die Anlage der Wasserwacht auf einer Landzunge. Die Spitzen der Voralpen im Süden stachen durch eine Haube von opalisierendem Dunst. Wenn man an etwas vollkommen anderes denkt, kommt einem manches, an das man sich vorher nicht erinnern konnte, wieder in den Sinn. Gerade als der Anblick der Berge mir so etwas wie Urlaubsgefühl vermittelte und ich mich frei und entspannt fühlte, fiel mir der Name ein. Doch weiter kam ich nicht. Meine Überlegungen wurden unterbrochen. Ich hatte gerade einen Gartenstuhl in die Waagrechte gekippt und eine Ferse darauf abgelegt, da hörte ich Chilis Stimme. »Hi, Joe.« Sie kam vom Parkplatz her ums Haus, ein Fotoapparat mit Tele hing über ihrer Schulter. Chili sah bezaubernd aus in ihrem weißen Top mit Perlmuttknöpfen und ihren pastellblauen Seglerhosen. Eine leichte Brise blähte ihr Haar über der Stirn auf. »Die anderen sind vorn am Tatortkombi. « Sie schob die unvermeidliche Chilischote in den anderen Mundwinkel und wies mit dem Daumen über die Schulter. Es hörte sich an, als müsse sie sich dafür entschuldigen, dass sie allein vor uns stand. Liebermann nickte zustimmend. »Willst du's hören, Joe?«, fragte Chili mich. Sie rückte einen Stuhl zur Seite und packte die Ausrüstung auf den Tisch. Die Chilischote spuckte sie in den Kies. Im Umdrehen runzelte sie die Stirn, hob die Schote wieder auf und legte sie in einen Aschenbecher. Was mich irritierte, waren das unruhige Flattern ihrer Hände und die Falten über der Nasenwurzel. Zuerst setzte ich eine fragende Miene auf. Dann antwortete ich: »Nein.« Offenbar gab sie nichts drauf. Sie sagte: »Erster Eindruck: ein klassisches Liebesdrama, dieser Meinung sind bisher alle, auch Scholl. Älterer Herr stellt junger Geliebter nach. Er erschießt zuerst sie und dann sich. Mord und Suizid also. Wenn sich dieser Tatbestand als unwiderlegbar erweisen sollte, sobald wir wissen, wer die beiden sind, würden wir die Ermittlungen einstellen.« »Einstellen müssen«, murmelte ich. Und fügte fast unhörbar, um mein Gedächtnis zu prüfen, hinzu: »Paragraf 170, Absatz 2, StPO.« Chili nickte. »In beiden Fällen handelte es sich um einen aufgesetzten Schuss, haben die in der Frauenlobstraße festgestellt. Was wir haben, ist die Waffe, eine Neun-Millimeter- SIG-Sauer. Seltsam.« Erst in diesem Moment schien sie zu bemerken, dass Liebermann neben uns stand und aufmerksam zuhörte. »Entschuldigen Sie uns kurz«, sagte sie. Sie nahm meinen Arm und führte mich ans Wasser, vorbei an der abgesperrten Fläche rund um den Kahn. Mit gedämpfter Stimme sprach sie weiter. »Weder Verletzungen an den Händen der Frau noch Blutspuren oder Hautpartikel unter ihren Fingernägeln. Es hat also keinen Kampf gegeben. Zwei Löcher in der oberen Außenhaut des Kahns, knapp unterhalb vom Dollbord. Sie stammen von den Einschüssen in Höhe der Köpfe. Was fehlt, sind Projektile. Keins in den Körpern, keins im Boot. Am Ufer natürlich auch nicht. Aber weißt du, was uns am meisten zu schaffen macht?« Sie war stehen geblieben und sah mich unverwandt an. Ich glaube, ich nahm in diesem Moment zum ersten Mal wahr, dass ihre Augen von einem durchscheinenden Dunkelgrün waren. Was die Ermittler am meisten beschäftigte, konnte ich mir denken. Es war die Identifizierung der Leichen. Sie fragten sich, wer der Mann war, der die Frau erschossen hatte. Sie würden verzweifeln, weil sie die Kleider der Toten nicht finden konnten. Ich schöpfte aus meiner Erfahrung. Ich begann, mir eine vorläufige Meinung zu bilden. Doch ich sagte nichts zu Chili. Es gibt kaum etwas Unangenehmeres als Menschen, die alles wissen oder können und so tun, als seien sie immer einen Schritt voraus. Ich löste mich von Chilis Augenfarbe, legte die Arme auf den Rücken und blickte auf den See hinaus. Der Kompass meines Handelns zeigte nach Norden. Ich hatte mir von Beginn an fest vorgenommen, mich aus dieser Sache herauszuhalten. Dass ich hier unmittelbar in einen Ermittlungsfall hineingeraten war, war reiner Zufall. Die beiden Toten waren direkt vor mich hingetrieben worden. Ich hatte sie entdeckt. Das war alles. Doch dadurch war ich verdammt noch mal nichts als ein ganz einfacher lausiger Zeuge. Kein Ermittler. Kein Reserve-Ermittler. Kein Oberschlauer, der am Rand mitmischt. Hier war ein anderer der Boss. Wenn der mich bitten würde ... Nein, nicht einmal dann wollte ich mich einschalten. Meine Gesundheit, der Hund, Lola, mein Garten, die Berge ... das hatten die Prioritäten eines Pensionisten zu sein. In dieser Reihenfolge. Zögernd drehte ich mich um und blickte zu Chili hinüber. Sie erwiderte meinen Blick, gut drei Meter von mir entfernt. Ihre Mandelaugen gaben mir Rätsel auf. Schon öffnete ich den Mund. Doch das, was ich sagen wollte, kam mir nicht über die Lippen. Chili. Tochter meines Freundes Torsten. Gut aussehend, immer fröhlich, sportlich, sinnlich. Vorbild in unserem Beruf. Ich sollte nach dem Willen ihres Vaters den Aufpasser für sie spielen. Das tat ich auch, so gut es ging. Mein Puls schlug allerdings in diesem Moment Alarm. So wie fast immer, wenn ich dieser Frau begegnete. Ich durfte mir nichts vormachen: Ich hatte Mühe, mich nicht in sie zu verlieben. Was hatte sie in meinem Leben zu suchen? Ich schnaufte tief durch. Es gab in unserer Gesellschaft Mauern und Zäune, die eine ungebremste Beziehung zwischen Männern und Frauen verhinderten. Dass Chili so etwas wie mein Patenkind war, war solch ein Hindernis. Bevor ich über die anderen Dinge, die ich in mir spürte, zu sinnieren begann, zuckte ich mit den Schultern und wiederholte ihre Frage. »Was euch in diesem Fall am meisten zu schaffen macht?«, sagte ich. Meine Stimme klang brüchig und leicht belegt. »Ihr wisst nicht, wer die beiden sind.« »Das auch, ja«, sagte Chili. »Es gibt keine Vermisstenmeldungen in dieser Richtung. Klar haben wir Fahndungsschreiben an die Dienststellen rausgegeben, bisher ohne Ergebnis. Wir lassen vorerst eine Isotopenanalyse von Zähnen und Knochen durchführen, um wenigstens ihren Lebensmittelpunkt einzukreisen. Kennst du ja. Scholl fürchtet schon, wir werden es riskieren müssen, sie öffentlich zu suchen.« Na ja. »Noch irgendwas?«, fragte ich. »In den Lungen des Mannes ist Wasser. Als hätte er unter Wasser gelegen, bevor er die Schüsse abgegeben hat. Noch ist es uns ein Rätsel.« Etwas rannte über den Kies. Fast holte es mich von den Beinen, als Herr Huber hinter Wuschel her ins Wasser schoss. Dabei spannte sich die Leine, ich stolperte und fing mich gerade noch. Chili lachte auf. »Hopperla«, sagte sie und wischte sich ein paar Wasserspritzer von der Wange. »Was sagt denn dein erprobter Ermittlerinstinkt, Herr Kriminalrat? Wer sind die beiden?« Ich musste ein Grinsen unterdrücken. »Der eine gehört zum Wirtshaus. Der andere zu mir. Das ist Herr Huber«, sagte ich. Sie tat es mit einer Handbewegung ab. »Die Vermissten, meine ich. Wer sind sie? Womit würdest du loslegen?« Ich rief Herrn Huber zurück und nahm die Leine kurz. Er schüttelte sich, dass Chili und ich bis zur Hüfte nass wurden. Liebermann, der oben im Biergarten geblieben war, schickte Wuschel ins Haus. »Chili, Mädchen«, sagte ich. »Du kennst doch meine Meinung. Ich bin ein ausrangierter Mördersucher und will nix mehr damit zu tun haben. Eure Soko macht das schon. Du bist doch hoffentlich mit in der Truppe?« Sie straffte ihren Körper, stemmte die Hände in die Hüfte. Dann bückte sie sich abrupt, fuhr Herrn Huber mit der Hand über den Kopf. »Klaro«, sagte sie. »Sag mal, weiß eigentlich Lola schon davon, dass du dir diesen Hund angeschafft hast?« Ich schüttelte den Kopf. »Die wird sich wundern«, sagte sie. Über unseren Köpfen schrie eine Möwe, stieg und ließ sich in den Aufwind fallen. Sanft wurde sie ins helle Blau über dem See gehoben.
Als ich gegen zehn Uhr abends nach Hause kam, war zweierlei neu. Der Hund war neu. Und die Wohnung hatte sich verändert. Ein anderer Geruch lag in der Luft. Die Vorhänge kamen mir anders, die Möbel heller vor. In der Küche stand kein schmutziges Geschirr herum, an meinem und an Lolas Waschbecken lagen zwei teure Stücke Seife, frische Handtücher hingen über den Stangen. Die grüne Schaumstoffmatte für meine Abendgymnastik lag bereit. Herr Huber suchte mit wedelndem Schwanz alles ab, aber bei ihm war der Grund für Neugier und Staunen klar: Für ihn war jeder einzelne Eindruck frisch. Ich aber roch sofort, dass Lola in der Wohnung war. Im Schlafzimmer fand ich sie, wo sie gerade das Bett bezog. Ich ging hinein und schloss die Tür. »Ich hab aufgeräumt«, sagte sie, »und ein bisschen sauber gemacht.« »Ja«, sagte ich. »Das ist nicht zu übersehen.« »Wieso?«, sagte sie. »Wie kommst du darauf?« »Ganz leicht«, sagte ich. »Der Klodeckel ist runtergeklappt. « Einen Augenaufschlag lang sah sie mich an, als hätte einer der Kandidaten in ihrer Show etwas Blödsinniges gesagt. Dann warf sie den Kopf nach hinten und lachte laut. Ihre Stimme. Sie war kehlig und trotzdem weich, selbst wenn sie lachte. Obwohl sie lange Jahre als Journalistin unter Männern gearbeitet hatte und sich auch beim Fernsehen zwischen zotigen Kollegen und begehrlichen Blicken behaupten musste, hatte Lola sich eine weibliche Spontaneität und sogar eine gewisse Naivität bewahrt. Doch nie durfte man sie unterschätzen. Sie konnte auch zur Wölfin werden. Ich nahm eine Strähne ihrer braunen Pagenfrisur zwischen Daumen und Zeigefinger und spürte eine tiefe Zärtlichkeit in mir aufsteigen. »Du siehst aus, als wolltest du sofort auf die Matte«, sagte sie und deutete zu der ausgerollten Gymnastikmatte hin. Ich ließ ein Knurren hören. »Absolut«, sagte ich. »Aber nicht auf diese.« Ich sog ihren Duft ein. Er erregte mich noch mehr. Ich streckte die Arme aus und nahm ihre beiden kleinen Hände. Sie fühlten sich warm und weich an. Ein kleiner Muskel ihres Mundwinkels zog sich zusammen, wodurch ihr Lachen ein wenig schief wurde. »Wann willst du mich heiraten, Joe?«, fragte Lola. »Was machst du mit mir? Warum bringst du das jetzt? Du lässt nicht locker, was?« »Nein. Immer dranbleiben, meine Devise, kennst du doch«, sagte sie. Über ihre Schulter hinweg sah ich, wie sich die Klinke nach unten bewegte. Die Tür ging ruckartig auf. Herr Huber setzte extrem vorsichtig eine weiß beschuhte Pfote vor die andere. Seine Augen baten um Verzeihung. Doch er bewegte sich im Zeitlupentempo weiter. Hatte Lola die Tür gehört oder seine Krallen, die leise über den Parkettboden klickten, oder spürte sie den Wolfshauch in ihrem Rücken - jedenfalls ließ sie meine Hände los und fuhr herum. Ihr Mund öffnete sich, dann schloss er sich wieder. »Vergiss es«, sagte sie. Sie brachte die Zähne kaum auseinander.
»Was?« »Das mit der Matte.« Damit hatte ich bereits gerechnet. Aber es kam noch dicker. »Und das mit dem Heiraten. Du bist ja schon verheiratet. « Der Hund beäugte sie misstrauisch, maulte ein bisschen und gähnte laut vor Verlegenheit. Dann wedelte er zurückhaltend mit dem Schwanz, drehte sich um und trollte sich. Ich schluckte. Wenn Lola bei mir war, war ich von einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit, ja von Glück erfüllt. Alles, was dieses Glück störte, war mein Feind. Doch wie war das mit Herrn Huber? Ich hatte es geahnt.
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Die beiden Leichen wurden an den Strand getrieben, als Liebermanns Biergarten voller Menschen war. Alles hätte ich in dieser Stunde erwartet, nur keine Leichen. Ich saß allein an einem Tisch mit Blick auf den Chiemsee, ein Glas Weißbier vor mir. Die Hitze des Tages durchwanderte gerade den frühen Abend, über meiner Bauchgegend hatten sich nasse Flecken auf dem gelben Poloshirt gebildet. Es war einer jener schwülen Frühsommertage im Rosenheimer Land, die einem zu schaffen machen. Etwas Trostloses lag in der Art, wie sich die Hitze gegen jede Bewegung wehrte. Es herrschte eine bedrückende Stimmung. Unter der Terrasse zum See hin und entlang der seitlichen Hauswände wuchsen Rhododendronbüsche, die in voller Blüte standen; die Hortensien schwangen sich gerade dazu auf - ein Anblick wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Film. Grüne und rote Boote lagerten kieloben am Ufersaum; sie sahen aus wie schlafende Seekühe. Das Blattwerk der alten Eichen säuselte leise, Zeichen einer Abendbrise, die man darunter im Biergarten nicht spürte. Links vom See die Kampenwand, noch mit Schnee im zerklüfteten Fels, den die Sonne langsam rosa färbte. Die Autobahn darunter rauschte leicht. In der Nacht hatte es gestürmt. Obwohl die Brise nun wieder auffrischte, vibrierte die Luft und sang in hoher Frequenz. Alle Schnaken der Gegend waren aus dem Schilf gekrochen und wuselten um mich herum. Sie ließen sich an den freien Flecken meines Körpers nieder und begannen hartnäckig, mich auszusaugen. Zur Gegenwehr hatte ich nur den Spray aus der Dose, die Liebermann auf jeden einzelnen der Tische postiert hatte. Anstatt zu sprühen, hätte ich mit dem Ding auch werfen können - es hätte genauso wenig geholfen. Am Anfang hatte ich nur einen schwarzen Punkt gesehen. Die Dünung des Chiemsees trug ihn aus Richtung Fraueninsel herüber. Als der Punkt zum Strich wurde, hielt ich ihn zuerst für ein Stück Holz oder ein Kleidungsstück, das im Wasser trieb. Dann erkannte ich eine Form. »Tach, Ottakring.« Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. »Ham Se eine Rauchbombe nötich?« Liebermann in seiner viel zu warmen Jägerkluft ragte neben mir empor. Er blickte zufrieden auf seine Stiefelspitzen. Sein Gasthaus brummte. Er bezeichnete sich als Mischlingsbayer, stammte ursprünglich aus Westfalen. Früher war er Opernsänger gewesen, Bariton. Von seinen Einkünften hatte er sich dieses Wirtshaus am südöstlichen Chiemseeufer gekauft, Stück für Stück renoviert und einen Biergarten direkt ans Wasser gesetzt. »Rauchbombe? Wenn's hilft, absolut«, sagte ich und nahm die Zigarre, die er mir hinhielt. Ich steckte sie mir an, drückte mit der ersten Rauchwolke, die ich ausstieß, einen Schwarm Schnaken gegen die Tischplatte und schlug mit der flachen Hand zu. Blut spritzte. Wahrscheinlich meines. Eine Frau am Nebentisch tat entsetzt. Ich blies, ohne hinzusehen, den Rauch meines zweiten Zugs aus dem Mundwinkel in ihre Richtung. »Schauen Sie mal«, sagte ich zu Liebermann. Meine Hand zeigte auf das Treibgut. Liebermann schaute aufs Wasser hinaus. Für eine Minute schwiegen wir. »Das ist ein Boot, nich?«, sagte Liebermann. Ein Hund kam von irgendwoher. Mittelgroß, schwarz, wuscheliges Fell, lange, abgeklappte Ohren und ein Blick, treuer als ein Schaf - nur wesentlich intelligenter. Ich wollte auch gern einen Hund haben. Jetzt wartete ich darauf, dass dieser sich setzte. Doch er blieb stehen, mit den Pfoten im seichten Wasser, wedelte unschlüssig mit dem Schwanz und blickte hinaus. Wie das herantreibende Boot da auf den schwachen Wellen schaukelte, ähnelte es einem Schwimmer, der im Wasser die Luft anhält und den toten Mann markiert. »Das ist ein Kahn«, sagte ich. »Ein ruderloser Kahn.« Ich löschte sorgfältig die Zigarre, stand auf und lehnte mich neben Liebermann an einen Baum. Der Hund tappte durchs seichte Wasser, dann schwamm er hinaus, dem gemächlich anlandenden Kahn entgegen. Offenbar vermisste niemand den schwarzen Kerl. Ob es ein Vergehen war, ihn einfach mitzunehmen? Kein Mensch hätte der ganzen Sache weitere Aufmerksamkeit geschenkt, wäre die Ankunft des Kahns nicht vom Zischen zweier Schwäne und dem Gekläff des Hundes begleitet worden, der mit dem Kahn zurück an den Strand geschwommen kam und jetzt aufgeregt darum herumplanschte. Etwas stimmte nicht. Ich zog Liebermann zum Wasser. Es handelte sich um ein gewöhnliches Ruderboot, wie man es zu Ausflügen auf dem See oder zum Angeln benutzt. Der Hund hatte sich in ein Stück Holz verbissen, das aus dem Kahn ragte. Knurrend zerrte er daran. Ich fand, dass ich eingreifen musste, zog die Schuhe aus, stieg ins flache Wasser, angelte nach der Bugleine, deren loses Ende im Wasser vorausschwamm, und zerrte den Kahn an Land. Liebermann schien kriminologischen Instinkt zu besitzen, denn er tat, was sich gleich darauf als das Richtige erweisen sollte: Er scheuchte eine Handvoll Neugieriger weg. Im Innenraum des Kahns hatten sich einige dürre Zweige ineinander verhakt, wie die Finger zweier Hände sich verhaken. Schemenhaft zeichnete sich darunter etwas ab. Liebermann meldete sich zu Wort. »Diese Zweige hat bestimmt der Nachtwind angeweht. Das macht der öfters. Im und am See. Weiß der Henker, wie.« In diesen Tagen herrschte die gelbe Pollenpest, die es nur alle sieben Jahre gibt. Man merkte es daran, dass die Äste und der ganze Kahn mit gelbem Blütenstaub bedeckt waren. Als ich das Geäst und die Blätter vorsichtig zur Seite räumte, heftete sich der feuchte Staub wie Schminke an meine Arme. Ich zog den oberen Teil weg. Köpfe kamen zum Vorschein. Zwei Köpfe, die zu Menschen gehörten, die auf dem nassen Boden des Kahns lagen. Eine Frau und ein Mann - beide tot. Die Frau war jung, vielleicht Ende zwanzig. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, vage war dezent aufgetragener bläulicher Lidschatten zu erkennen. In brutalem Kontrast: das Loch in ihrer Stirn.
Das Alter des Mannes konnte man möglicherweise an dem weißen Haarkranz bestimmen, nicht aber am Gesicht. Dessen rechte Hälfte fehlte bis zu den Wangen. Ich warf einen Blick zu Liebermann hinüber. Seine Augen richteten sich verwirrt auf mich, so, als ob es an mir wäre, das Rätsel zu lösen. Ein Rätsel, das keine gute Lösung versprach. Ich neigte den Kopf und schloss die Augen. Ein plötzlich auftauchender stechender Schmerz in meiner Brust drohte, mich zu zerreißen. Er zog bis an die Kehle hinauf. Mein Körper reagierte auf ein Gefühl der Panik, als sei ich zu dicht an einen Abgrund geraten. Erst kurz zuvor war ich in dieses Rosenheimer Land gezogen. Weil ich im Ruhestand meine Ruhe haben wollte und weil ich nie mehr im Leben einen menschlichen Kadaver sehen wollte. Jahre um Jahre in der Münchener Mordkommission zu ermitteln, Stunden um Stunden in der Pathologie zu verbringen, das zehrt auf Dauer an den Nerven. Und jetzt das. Ich holte so heftig Luft, dass Liebermann, der ein paar Meter halb links hinter mir stand, es bemerkt haben musste und besorgt mit einem Tuch zu mir herüberwinkte. Sein Gesicht war weiß und um die Nase grünlich. Einen kurzen Moment lang glaubte ich, er werde ohnmächtig. Er wischte sich mit dem Tuch über die Stirn. Doch als er das Tuch sorgfältig gefaltet und über den Arm gelegt hatte, hatte er sich wieder im Griff. Mit der für ihn typischen Art versuchte er, sein Entsetzen zu überspielen: »Eine einzige Vergnüchung für Sie bei uns hier am Chiemsee, nich?«, rief er mir in einem Anflug von tapferer Ironie vom Ufer her zu.
Ein lautloses, hechelndes Lachen stieg in mir hoch. Der Krampf in meiner Brust war weg. Ich zerrte vorsichtig an dem Geäst wie an einem Vorhang, um mir ein Blickfeld zu verschaffen. Beide Körper waren nackt. Der Mann umklammerte mit der Rechten eine Pistole. Die Waffe zog meinen Blick an. Sie war selten und ungewöhnlich. Ich kannte das Modell, ein Irrtum war ausgeschlossen: Der Tote hielt eine Neun- Millimeter-SIG-Sauer-P-226 in der Hand. Sechzehnschüssig, fast ein Kilo schwer im ungeladenen Zustand. Es dauerte ein paar Momente, bis ich meine Augen von der Waffe lösen konnte. Die Frau hatte eine zerbrechlich wirkende Figur und bildete einen herben Kontrast zu dem bauchlastigen, schwammigen Altmännergebilde neben ihr. Sie ruhte auf der rechten Seite, an die Schulter des Mannes geschmiegt, als ob sie friere. Ihre toten Augen starrten blicklos in den Himmel, die blutleeren Lippen wie im Traum geöffnet. Der linke Arm lag über ihrem Oberkörper und berührte den rechten Ellbogen. Dazwischen kleine Brüste, deren halbdunkle Nacktheit die verschämte Haltung noch mehr betonte, mit der sie sich unter die Zweige verkrochen zu haben schien. »Mein Gott«, rief Liebermann, »dat sind ja Rosen. Rosen. « Tatsächlich hielt die Frau eine rote Rose in der rechten Hand, deren Rücken den Oberschenkel des Mannes oberhalb des Knies berührte. Weitere Rosen waren unregelmäßig über den nackten Körper verstreut. »Princess Alexandra of Kent. Eine Rose von David Austin «, sagte ich versonnen.
David-Austin-Rosen kannte ich gut. Sie wuchsen in meinem Garten. Eine seltsame Regung überkam mich. Da war diese äußerst seltene Pistole und daneben die Rosen, die mir so vertraut waren. Es war wie ein Zeichen. Ein geheimes Zeichen, das nur ich verstehen konnte. Sehr behutsam, um für die Spurensicherung nichts zu verändern, ließ ich die Zweige wieder zurückgleiten. Mittlerweile hatte sich eine aufgeregte Traube von Menschen hinter Liebermann gebildet. Ihre Stimmen pflanzten sich bis zu den hintersten Tischen fort. »Ja mei«, sagte Liebermann und deutete zum Boot. Seine Gesichtsfarbe war wieder ins übliche Rot übergegangen »Dat is ja Geschäftsschädichung. Wollen die mich ruinieren?« Ich musste zugeben, sein Sarkasmus hatte etwas Cooles. »Bestimmt liegen die nicht da drin, weil sie zu laut im Kirchenchor gesungen haben«, gab ich zwischen den Zähnen zurück. Und dann deutlicher: »Lassen Sie die KPI Rosenheim verständigen.« Im Zurückwaten rief ich ihm die Nummer zu, Liebermann zückte Block und Stift und notierte. Seit München besaß ich selbst kein Handy mehr. Ich fand, ich war auch so erreichbar genug. »Was ist das, KPE?«, fragte der Mann mit Handy, dem Liebermann den Block in die Hand drückte. »KPI«, verbesserte ich. »Das ist die Einsatzzentrale der Kriminalpolizeiinspektion. Machen Sie schon.« Ungern verscheuchte ich den tropfnassen Hund, aber es musste sein. Ich trat neben das Boot, das ich mit dem Bug auf den Strand gezogen hatte. Ich lugte durch die Zweige, ohne sie zu berühren, und sah mir die Waffe aus der Nähe an. Ich las die Aufschrift »P 226« auf der geriffelten Griffschale. Wo zum Teufel war ich diesem Pistolentyp zum letzten Mal begegnet? Liebermann legte ein paar aufgespannte Sonnenschirme auf den Kiesboden, mit der Breitseite zum Publikum, Absperrung und Sichtschutz zugleich. Ich nickte ihm anerkennend zu. Mein Weißbier stand noch auf dem Tisch. Der schwarze Wuschelhund hatte sich daruntergelegt. Seine großen braunen Augen spähten mir entgegen. Ich griff nach dem Bier über ihm und machte einen so tiefen Zug, dass ich mich verschluckte. Aus dem aktiven Dienst hatte ich mich mit zwei klaren Vorsätzen verabschiedet. Der erste war: Nie wieder Mord! Und jetzt stolperte ich allem Anschein nach über Selbstmord und Mord gleichzeitig. Einfach so, beim Relaxen und Weißbiertrinken, ich konnte es nicht fassen! Wer hatte mir das eingebrockt? Der andere Vorsatz: Falls mir dennoch jemals wieder ein Mord vor die Füße fallen sollte, wollte ich ihn einfach ignorieren. Mich überhaupt nicht darum kümmern. Wozu gab es die jüngeren Kollegen von der lokalen Kripo? Auf einen alten Sack wie mich würden die sowieso nicht hören. Also Finger weg von diesem Fall, Joe Ottakring! Nachdem ich ausgehustet hatte, geschah etwas, was mir zuvor noch nie passiert war. Ich ging zu Liebermann, legte ihm mit gestreckten Armen beide Hände auf die Schultern, sah in sein ungläubiges Gesicht, ließ den Kopf hängen und stieß einen geflüsterten, gehauchten Schrei in Richtung Kiesboden aus: »Neiiiiiiin!« Der Ermittlungstrupp aus Rosenheim war nach dreiundzwanzig Minuten da. Es waren zwei Männer und Chili Toledo in einem Zivilfahrzeug mit Rosenheimer Nummer, dem Tatortkombi. Darin war alles, was man zur Spurensicherung braucht. Unter anderem der große Alukoffer mit Fotoapparaten, Instrumenten und Chemikalien. Nummerntäfelchen, Absperr- und Messbänder, Behälter mit chemischen Pulvern, Wattestäbchen und Reagenzgläser zur DNA-Abnahme. Chili Toledo war achtundzwanzig Jahre alt, hatte einen Hang zu Ehrgeiz und Perfektion und einen eigenen Sinn für Humor. Sie war Kommissarin im K3, der Abteilung Erkennungsdienst. Die EDler trafen immer zuerst am Tatort ein. »Hi, Onkel Josef«, sagte sie. Sie kaute an einer Chilischote herum. Jeden anderen hätte ich auf der Stelle in den See getaucht, wenn er mich Onkel Josef genannt hätte. Nicht aber die Tochter meines Freundes Torsten Toledo. »Grüß dich«, sagte ich. »Grüß dich, Chili.« Chili lebte seit gut zwei Jahren in Bayern. Davor hatte sie von ihrer Geburt an sechsundzwanzig Jahre in Schleswig- Holstein verbracht. Inzwischen sprach sie ein charmantes Touristenbayerisch. Nur an ihrem s-pitzen S-tein blieb sie zwischendurch immer wieder hängen. Sie trug ihr terrakottabraunes Haar lang und offen, was die weiche Linie des Halses und die sanfte Schwellung ihres Busens über dem Rand des schwarzen Tops gut zur Geltung brachte. Ich musterte Chili mit Stolz und Wohlgefallen, und dabei begegnete mir der Blick ihrer dunklen Mandelaugen. Einen Moment zu lange zögerte ich, bevor ich ihre ausgestreckte Hand zum Gruß ergriff. Es war kurz vor acht Uhr abends, die Eichen warfen lange Schatten. Ein aggressives Knirschen im Kies des Parkplatzes riss uns aus der gerade beginnenden Verlegenheit. Mit Blaulicht stürmte der grün-weiße BMW der Priener Kollegen aufs Areal. Mit einem weiteren BMW, zivil dunkelblau, traf Chilis Chef ein und kurz darauf in einem schwarzen Audi Sebastian Scholl vom K1, Tötungsdelikte. Die Staatsanwältin vom Rosenheimer Amtsgericht würde auch bald anrauschen, und ich nahm an, dass der Jourdienst in der KPI die Rechtsmedizin in München benachrichtigt hatte. Dort kannte ich jeden. Hierher in die Provinz würden sie den Jüngsten schicken, den mit der intelligenten Rundbrille. Der würde nach Kontusionsringen, den Quetschungen um die Einschusswunde, suchen. Er würde den Schusskanal feststellen, nach Druckstellen an den Leichen forschen, nach Blutunterlaufungen, Kratzern, Schmutz. Er würde an den Opfern deren eigene und mögliche fremde DNA-Proben sichern und den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen, dem Kl-Chef und der Staatsanwältin gegenüber eine erste Einschätzung abgeben. Die lokale Feuerwehr würde für Beleuchtung sorgen, die Bestatter schließlich die Leichen nach München in die Frauenlobstraße schaffen, wo vermutlich noch heute Nacht die Obduktion stattfinden würde. Die Gedankenkette spulte sich in meinem Kopf ab, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Zu oft hatte ich das Ritual in all den Jahren selbst durchexerziert. Neun Jahre Chef der Münchener Mordkommission, davor zweiundzwanzig lange Jahre Ermittler - das prägt.
Ich schüttelte mich innerlich, versuchte, die Gedanken abzustreifen, blickte auf den See hinaus, hinüber zur Kampenwand. Deren Flanken wurden vom Abendlicht in ein von dunklem Lila überhauchtes Schwarz getaucht. Wieder musste ich an die SIG Sauer in der Hand des Toten denken. Ich wusste, dass die Bundespolizei in den USA, das FBI, damit ausgerüstet war. Auch in der Schweiz war sie verbreitet, und in Jerry-Cotton-Romanen spielte sie eine Rolle. Bei uns war sie so selten wie der Biss eines Skorpions am Chiemseestrand. Da war noch etwas in meinem Hinterkopf. Ein Detail von Bedeutung. Aber jetzt spielten plötzlich meine grauen Zellen nicht mehr richtig mit. Die Hitze! Temperaturen über dem Gefrierpunkt verbunden mit einer Luftfeuchtigkeit nahe der Regengrenze waren für mich unmenschlich. Die Arktis wäre vermutlich eher mein Revier gewesen. Ich ließ die Kollegen ihre Arbeit machen und stellte mich zu Liebermann an die Bar im Inneren des Lokals. Weiter drüben nippte eine große Blonde an ihrem Pils. Schweigend sah ich mich um. Gemälde von Künstlern der Region hingen an weiß gekalkten Wänden, an der Decke Holzvertäfelung mit sparsam bemalten Kassetten. Mein schwarzer Hundefreund und eine Katze streunten zwischen den Tischen umher. Die Gäste saßen da, tranken ihr Bier, wischten sich mit schweißnassen Taschentüchern die Stirn trocken. Gedämpftes Gemurmel lastete im Raum wie zuvor die Schwüle des Nachmittags. Das Geschehen draußen schien bereits in die Gehirne der Menschen vorgedrungen zu sein. Sie wollten sich ablenken. Mit einem Mal raffte einer der vier Männer an einem Tisch in der Ecke die verstreut liegenden Spielkarten zusammen, formte sie zum Stapel und stieß ihn auf der Ahornplatte des Tisches glatt. »Wer gibt jetzt?«, fragte er in die scharfen, kurzen Knaller hinein. »Immer der, der fragt«, war die Antwort des bärtigen Basses ihm gegenüber. Der Schafkopf nahm seinen Fortgang. Das war das Signal gewesen. In der ganzen Wirtsstube hob wieder Stimmengewirr an. Zögerlich mischte sich Lachen in den Lärm. Mit gleichzeitig einsetzendem Geschirrgeklapper wehte auch der Duft von gekochtem Fisch und gebratenem Schnitzel aus der Küche herüber. »Wie lang wird das wohl dauern?«, fragte mich Liebermann. Ich war so benommen von der herrschenden Stimmung, dass ich eine Weile brauchte, bis ich antwortete. »Bis wir vernommen werden? Wenn wir halt dran sind.« Doch dann fiel mir etwas ein. »Heut ist doch Sonntag? Mann, da hab ich noch was vor. Um zwanzig nach elf kommt ›Herrenhaus‹ im Fernsehen.« Ich sah Liebermann an, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. »›Herrenhaus‹«, wiederholte ich, »kennen Sie nicht?« »Nee. Sollte ich?« »Ach geh weiter, kennst du nicht?«, sagte die kühle Blonde ungefragt aus dem Hintergrund und wickelte sich eine Locke um den Finger. »Diese Talkshow im Bayerischen. Kommt sonntags um dreiundzwanzig Uhr zwanzig. Supersendung, ›Herrenhaus‹.« Sie schaute auf die Uhr. »Heut ist Sonntag«, sagte sie wie überrascht und rief nach einem Mann mit grauem struppigen Haar, der allein am übernächsten Tisch saß. »Luggi, komm, wir gehen.« Kurz darauf vernahm mich der Kollege Scholl vom K1 als Zeuge. Die Routinefragen: Zeitpunkt, Wahrnehmungen, Details, mögliche Auffälligkeiten. Zum Abschluss fragte er: »Und was ist Ihre Meinung dazu?« »Ach Scholl«, sagte ich, »das fragen Sie doch nur höflichkeitshalber. Sie wollen meine Meinung doch gar nicht wissen. Sie haben ja eine eigene.« Mit großen Augen sah er mich an. »Ihnen bedeutet die Sache anscheinend nicht sehr viel?«, fragte er. »Sie wissen doch, wie wichtig jedes Krümelchen ist. Vielleicht haben Sie etwas bemerkt, was uns weiterbringen kann. Sie mit Ihrer Münchener Erfahrung. Wär doch schön, wenn Sie uns ein bisschen helfen würden, Herrschaftszeiten.« Das letzte Wort hatte er laut gesprochen. Doch gleich dämpfte er die Stimme wieder und hielt mir die Hand hin: »Oder?« Ich nahm die Hand. Ich merkte, dass ich zu weit gegangen war. Natürlich hatte ich draußen am Fundort vieles gesehen, was nach einer Deutung verlangte. Etliches, was ich noch nicht verstand, ebenso wenig wie Scholl. Die Art, wie die Leichen dalagen. Und irgendetwas war mit den Rosen. Einer, der jemanden tötet, dekoriert die Leiche mit Rosen. Warum macht er sich die Mühe? Er will etwas sagen. Aber was - und wem? Vorerst wollte ich diese Gedanken jedoch für mich behalten. Sie waren noch zu unausgegoren. Nicht klar genug, um sie dem Kollegen anzuvertrauen. Und - hatte ich mir nicht vorgenommen, jeden Mord zu ignorieren, der mir vor die Füße fiel? Also gemach, gemach, Ottakring! Nichtssagend antwortete ich: »Absolut. Wenn mir was einfällt, sag ich's Ihnen.« Scholls Blick durchbohrte mich. Eine Weile überlegte er. »Wie Sie wollen«, sagte er schließlich und entließ mich. Die Enttäuschung war ihm anzumerken. Ich aber wollte »Herrenhaus« nicht verpassen. Tatsächlich kam ich gerade heim, als die Livesendung begann. Lola hatte sich Charles Bardot vorgenommen, den für seine provokante Art berüchtigten Schauspieler. Lolas brauner Pagenschnitt glänzte im Scheinwerferlicht, sie trug ein blaues Kleid mit schmalen Trägern, das ich noch nicht kannte, meine Rosenkette aus Strass um den Hals und sah über die Maßen gut aus. Und sie war auch gut. Bardot versuchte, sie herauszufordern, doch sie kam fabelhaft mit ihm zurecht. Ich war stolz darauf, dass diese Frau meine Partnerin war. In einer früheren Sendung hatte sie einmal das Kürzel LAG für unsere Verbindung verwendet. »Was bedeutet das?«, hatte ich sie danach am Telefon gefragt. »Kennst du nicht?« Sie lachte spitzbübisch. »Lebensabschnittsgefährte. Weiß doch heutzutage jedes Kind.« Wieder mal hinterm Mond gewesen. Ich weiß genau, mit mir hat man's nicht leicht. Doch ich hab mich nicht auf diese Welt bestellt. Ich hab mich einfach vorgefunden und mich auch erst im Lauf der Jahre an mich gewöhnen müssen.
Jedenfalls sahen wir uns in der weiteren Entwicklung immer seltener, Lola und ich. Doch jedes Mal landeten wir im Bett. Ein Glöckchen klingelte, und wir stürzten uns aufeinander. Die Lust aneinander hielt uns zusammen. Wir stritten heftig, doch dann fanden wir uns schwitzend und keuchend auf dem Rücken liegend wieder. Uns war klar, obwohl wir nie darüber redeten: Wir schafften es nicht, auseinanderzugehen. Also blieben wir zusammen. In diesem Augenblick, als sie mich aus dem Bildschirm heraus anlächelte, war ich wieder einmal von ihr fasziniert. Ich liebte Lola sehr. Ich war nie der Typ gewesen, der mit Charme um sich wirft oder quer durch den Saal flirtet. Lola Herrenhaus und ich haben uns vor vier Jahren sehr unspektakulär in der Münchener Stadtbibliothek im Gasteig kennengelernt, als Lola fünfunddreißig war. Sie war beim Aufstehen mit der Stirn gegen einen Lampenschirm gestoßen. Ich ergriff die Chance und stillte die Blutung. In jener Zeit arbeitete sie für die Süddeutsche Zeitung, bekam dann kurz darauf eine Stelle als Radiomoderatorin im Bayerischen Rundfunk. Seit zwei Jahren moderierte sie nun ihre eigene Personality- Show im Fernsehen. »Wie unsere Beziehung ist?«, hatte sie mich einmal gefragt. Und gleich die Antwort gegeben. »Ein Glas, das zerbricht, wenn man es zu unsicher oder zu fest anfasst.« Ja. Sie war eine intelligente Frau, meine Lola.
Zwei Das traditionsreiche Neubeuern war einmal »Schönstes Dorf Deutschlands« gewesen. An klaren Tagen konnte ich von meiner Wohnung aus über die Dächer hinweg den Fernsehturm auf dem Gipfel des Wendelsteins sehen. Hier zu leben hatte nach der Enge in der Großstadt München etwas Sanftes und Beruhigendes. Das Dorf liegt zwischen zwei alten Stadttoren auf einem bewaldeten Hügel unterhalb des Schlosses. Die Fassaden der Häuser sind reich bemalt. Es gibt einen Schmied, eine Apotheke, den Dorfkramer, einen kleinen Buchladen und kaum Parkplätze. Um die Kirche herum eine gute Handvoll Wirtshäuser, die das Leben erträglich machen. Ein bisschen Tratsch überall, keine Hektik, kein Schickimicki-Getue, jeder kennt hier jeden, und bald kannten alle mich. »Grüß Gott, Herr Ottelfing.« Frau Steiner, die Nachbarin, stand auf ihrem Balkon schräg über meinem Garten, eine Gießkanne in der Hand. Ich grüßte zurück. Sprühte aber weiter verdünntes Gift über meine kranken Rosen. Frisch gepflanzt und schon Mehltau. »Ihr Garten wird bestimmt schön«, rief Frau Steiner herunter. Ein Auge zuckte in unregelmäßigen Abständen. »Sie gehen aber auch mit so viel Ellan herran.« Die Worte purzelten abgehackt aus ihrem Mund. Als ob sie sich beeilen müsse beim Sprechen. »Der Harry wird Ihnen schon wieder helfen, wenn's für Ihr Kreuz zu schwer wird.« Ich nickte dankbar zu ihr hinauf. Harry, ihr Sohn, war mir tatsächlich schon öfters zur Hand gegangen. Die Steinerin und ihren Sohn musste ich mir warmhalten. Meine Mietwohnung lag links unten in einem Vierfamilienhaus jenseits des Stadttors. Ich bewohnte drei geräumige Zimmer, zwei Terrassen und einen Rasengarten, in dem ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Gleich nach dem Einzug hatte ich die David-Austin-Rosen gepflanzt. Außerdem Bougainvilleas, kleine Kirsch- und Zitronenbäume, Fuchsienstämmchen und Kapmargeriten in Kübeln ausgesetzt. Alles blühte oder war kurz davor. Ein Flirren, ein Zwitschern, ein Traum. Abends roch es göttlich. Wahrscheinlich hätte ich noch tanzende Nymphen und eine beleuchtete Grotte in mein Reich gesetzt oder Gnomen und Pilze aus Ton auf dem Rasen verstreut, hätte nicht Lola über den guten Geschmack gewacht. Frau Steiners Auge zuckte wieder. »Die Schoff war gut mit der Frau Herrenhaus gestern Abend, wollt ich Ihnen nur sagen. Rrichten Sie ihr bitte schöne Grüße aus?« »Ja, mach ich gern, Frau Steiner«, sagte ich. »Übrigens, mögen Sie Hunde?« »Hunde sind neurottisch, Pieselmonster und verewigen sich in jedem Garten.« Sie deutete vom Balkon herunter eine Verbeugung an. »Mit Verlaub«, sagte sie, wandte sich um und ging hinein. Das goldene Licht der aufgehenden Sonne hatte mich heute früh irgendwann nach fünf Uhr geweckt. Seither ging mir der Hund in Liebermanns Biergarten nicht mehr aus dem Kopf. Der nächste Gedanke hatte den Leichen aus dem Boot gegolten. Sie waren gewiss in der Nacht aufgeschnitten worden. Ich war gespannt, ob es einen Abklatsch von den Schüssen an den Händen des Mannes gab. Sebastian Scholl würde eine Soko bilden, der Chili als EDlerin gewiss angehören würde. Sie war die Beste im Erkennungsdienst. Ungefähr zu der Zeit, als ich unter der Dusche gestanden hatte, war vermutlich die Uferregion am Chiemsee abgesucht und nach der Herkunft des Kahns geforscht worden. Ich stellte mir vor, dass auch die Waffentechniker des LKA ihr Tagewerk am Boot begannen. Bestimmt suchten sie nach Projektilen und Hülsen. Erschwert wurde der Fall sicherlich, weil Tatort nicht gleich Fundort war. Wenn eine Leiche vom Tatort weggebracht und an anderer Stelle abgelegt wird, gestaltet sich die Aufklärung erheblich schwieriger. Das ist wie ein Gesetz. Ich neigte den Kopf zurück und schloss die Augen. Mensch, Ottakring, du machst dir schon wieder Gedanken über einen Fall! Begreif doch endlich: Du bist ein verdammter Ruheständler, den diese Sache überhaupt nichts angeht. Auch hat man dich nicht gerufen, und wo bleibt eigentlich dein so fester Grundsatz? Nie, nie, nie mehr wolltest du je wieder etwas mit irgendwelchen Kadavern zu tun haben. Und jetzt? Woran denkst du ständig? Wahrscheinlich wäre ich mit dem Kopf gegen die Mauer gerannt, um mich zu bestrafen, wäre da nicht meine geliebte Frau Steiner noch einmal angetrabt gekommen. Diesmal mit Sohn. Harry Steiner hatte ein vernarbtes Gesicht, was von falsch behandelten Pickeln in seiner Jugendzeit herrühren mochte. Meistens trug er weite, bestickte Trachtenhemden und weite, knöchellange Hosen aus Hirschleder. Diese Landhausmode war im Grunde ebenso untypisch für Bayern wie DJ Ötzi für die Volksmusik. Doch im Rosenheimer Land war sie der Renner, vor allem zur Zeit des Herbstfests. »Ein Mensch ist ein Mensch«, sagte Harry ungefragt. »Aber ein Hund ist nur eine Sache, rein rechtlich gesehen, wissen Sie. Nur wenn er jemanden beißt, zum Beispiel meine Mutter, dann fällt das unter Gefährdungshaftung, und Sie müssen für den Schaden aufkommen. Im Staatsdienst weiß man so was.« Das wollte ich alles nicht wissen, die Rechtslage eines Hundehalters war mir geläufig. Harry war immer freundlich und hilfsbereit zu mir gewesen, doch er war schwer einzuschätzen. Seine Mutter hatte mir einmal voller Stolz berichtet, dass ihr Sohn »im Staatsdienst« sei. Ich wollte nicht nachfragen, was er denn genau beruflich machte, es interessierte mich zu diesem Zeitpunkt auch nicht. Morgens fuhr er regelmäßig mit seinem Opel Astra weg. Abends kam er wieder heim, meistens eher spät. Jedenfalls würde es schwer werden, in dieser Nachbarschaft einen Hund zu halten. Doch mein Wunsch war stärker. Einfach mal schauen. Um Punkt halb zehn klingelte ich am Tor des Rosenheimer Tierheims. Der Tag versprach heiß zu werden. Ich hatte den Leiter des Tierheims vorher angerufen. Er wusste schon, dass ich ein ähnliches Tier haben wollte wie den schwarzen Wuschelhund in Liebermanns Biergarten. Ich hatte etliche Knäste für verurteilte Menschen von innen gesehen. Dies war mein erstes Tierheim. Neben zwei Rhesusaffen, einem Lama und einem diabetischen Kaiman gab es nur Hunde, fast ohne Ausnahme Mischlinge. Hier etwas vom Schäfer, dort so etwas wie ein Pudel, ein bisschen was weiß-schwarz Gepunktetes im Zwinger neben zwei rötlichen Afghanen-Verschnitten, eine Art Basset mit durchhängendem Bauch, ein Rudel goldiger Chihuahuas, ein riesiger Neufundländer mit zerkautem Sportschuh im Maul, der mich anwinselte, als er mich sah. Scholl würde sich in diesen Stunden darum kümmern, ob die Leichen als vermisst gemeldet waren. Fürs Erste würde er eine Anfrage an die Vermisstenstelle des LKA und Fahndungsschreiben an die örtlichen PIs richten. »Ich bin kein Optimist«, hatte Scholl gesagt, »es gehört immer ein bisschen Glück dazu.« Wie wahr. Mein Hund kauerte im vorletzten Zwinger. Er besaß alle Merkmale eines Berner Sennenhunds, nur war er kurzhaarig. Weiße Maske, weiße Schuhe, weiße Schwanzspitze. Dunkelbraune Augen, die mich an Lola erinnerten, wenn sie mich manchmal fragend ansah. Er hatte den Kopf auf die gekreuzten Pfoten gelegt. Der Hund war vier Jahre alt und hieß Hotzenplotz. Ich nahm ihn mit. Kurz vor der Autobahn hielt ich an. Ich hatte überlegt, ob ich ihm den Namen lassen sollte, aber »Hotzenplotz« war mir zu lang und zu kindisch. »Mozart« war zu süßlich. Lola hätte vielleicht an »Hindemith« gedacht. Ich holte mein Aftershave aus dem Handschuhfach, träufelte ein paar Tropfen auf seinen glänzend schwarzen Scheitel und taufte ihn »Herr Huber«. Herr Huber saß auf dem zerknautschten Ledersitz neben mir, als ich in die A8 Richtung Salzburg einfuhr. Um heim nach Neubeuern zu kommen, hätte ich bald wieder abbiegen müssen. Doch ich war so in Gedanken, dass ich erst kurz vor dem Chiemsee aufwachte. Nein! Ich wollte mich nicht um diese Toten im Kahn kümmern. Meilenweit wollte ich mich fernhalten von ihnen. Der Hund würde mich genügend beschäftigen. Und die garantiert fällige Diskussion mit den Anwohnern. Aber wenn ich schon einmal in der Nähe war. Vier Minuten später knirschten die Reifen meines alten Porsche über den Kiesparkplatz von Liebermanns Biergarten. »Noch in der Nacht haben sie die Leichen wechgebracht«, sagte Liebermann. Er war wieder in seiner Jägerkluft. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals in einem anderen Anzug gesehen zu haben. Wir gingen durchs Lokal auf die Seeseite. Im Biergarten war alles picobello aufgeräumt. Es stellte sich heraus, dass der schwarze Hund, der zwischen den Tischen herumstrich, Liebermann selbst gehörte und so hieß, wie er aussah, nämlich Wuschel. Herr Huber freundete sich sofort mit ihm an. Beim Hinausgehen überließ er Wuschel sogar den Vortritt. Was will man mehr von einem neuen Hund als gute Manieren? Ich sah ihn schon mit Frau Steiner spielen. Ein rot-weißes Absperrband an dünnen Metallspießen begrenzte den Fundort um das Boot im Abstand von etwa sechs bis acht Metern. Die Waffentechniker arbeiteten noch am Objekt. An Haltung, Gesten und der Art, wie sie miteinander redeten, erkannte ich, dass sie nichts Wesentliches gefunden hatten. »Droben in der Hirschauer Bucht suchen sie das Ufer ab«, sagte Liebermann. »Und auf den Inseln sind sie auch zugange, das weiß ich von den Wirtskollegen drüben.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Haben Sie eine Ahnung, wer eigentlich die Toten sind? Die Herren Beamten rücken nichts raus.« Ich grinste in mich hinein. Gestern wäre Liebermann fast ohnmächtig geworden beim Anblick der Toten, und nun machte er auf abgebrüht. Wir hielten uns im leeren Biergarten auf, die Stühle waren aufrecht gegen die Tische gelehnt. Eigentlich hätte es rammelvoll sein müssen um diese Tageszeit. »Hat die Leere hier was mit der Polizei zu tun?«, fragte ich Liebermann. »Bleiben die Gäste weg?« »Nee«, sagte er, »Montach ist Ruhetach. Haben Sie denn keinen Ruhetach?« »Doch«, hörte ich mich sagen, »jeden Tach.« Ich drehte mich um und blickte hinaus auf blau schimmerndes Wasser, auf die beiden Inseln Herren- und Frauenchiemsee und die vielen weißen Tupfer der Segelboote. Durch das seichte Wasser am Strand konnte man die Kiesel sehen, eine kleine Mole ragte in den See, und weiter rechts, nach Norden, lag die Anlage der Wasserwacht auf einer Landzunge. Die Spitzen der Voralpen im Süden stachen durch eine Haube von opalisierendem Dunst. Wenn man an etwas vollkommen anderes denkt, kommt einem manches, an das man sich vorher nicht erinnern konnte, wieder in den Sinn. Gerade als der Anblick der Berge mir so etwas wie Urlaubsgefühl vermittelte und ich mich frei und entspannt fühlte, fiel mir der Name ein. Doch weiter kam ich nicht. Meine Überlegungen wurden unterbrochen. Ich hatte gerade einen Gartenstuhl in die Waagrechte gekippt und eine Ferse darauf abgelegt, da hörte ich Chilis Stimme. »Hi, Joe.« Sie kam vom Parkplatz her ums Haus, ein Fotoapparat mit Tele hing über ihrer Schulter. Chili sah bezaubernd aus in ihrem weißen Top mit Perlmuttknöpfen und ihren pastellblauen Seglerhosen. Eine leichte Brise blähte ihr Haar über der Stirn auf. »Die anderen sind vorn am Tatortkombi. « Sie schob die unvermeidliche Chilischote in den anderen Mundwinkel und wies mit dem Daumen über die Schulter. Es hörte sich an, als müsse sie sich dafür entschuldigen, dass sie allein vor uns stand. Liebermann nickte zustimmend. »Willst du's hören, Joe?«, fragte Chili mich. Sie rückte einen Stuhl zur Seite und packte die Ausrüstung auf den Tisch. Die Chilischote spuckte sie in den Kies. Im Umdrehen runzelte sie die Stirn, hob die Schote wieder auf und legte sie in einen Aschenbecher. Was mich irritierte, waren das unruhige Flattern ihrer Hände und die Falten über der Nasenwurzel. Zuerst setzte ich eine fragende Miene auf. Dann antwortete ich: »Nein.« Offenbar gab sie nichts drauf. Sie sagte: »Erster Eindruck: ein klassisches Liebesdrama, dieser Meinung sind bisher alle, auch Scholl. Älterer Herr stellt junger Geliebter nach. Er erschießt zuerst sie und dann sich. Mord und Suizid also. Wenn sich dieser Tatbestand als unwiderlegbar erweisen sollte, sobald wir wissen, wer die beiden sind, würden wir die Ermittlungen einstellen.« »Einstellen müssen«, murmelte ich. Und fügte fast unhörbar, um mein Gedächtnis zu prüfen, hinzu: »Paragraf 170, Absatz 2, StPO.« Chili nickte. »In beiden Fällen handelte es sich um einen aufgesetzten Schuss, haben die in der Frauenlobstraße festgestellt. Was wir haben, ist die Waffe, eine Neun-Millimeter- SIG-Sauer. Seltsam.« Erst in diesem Moment schien sie zu bemerken, dass Liebermann neben uns stand und aufmerksam zuhörte. »Entschuldigen Sie uns kurz«, sagte sie. Sie nahm meinen Arm und führte mich ans Wasser, vorbei an der abgesperrten Fläche rund um den Kahn. Mit gedämpfter Stimme sprach sie weiter. »Weder Verletzungen an den Händen der Frau noch Blutspuren oder Hautpartikel unter ihren Fingernägeln. Es hat also keinen Kampf gegeben. Zwei Löcher in der oberen Außenhaut des Kahns, knapp unterhalb vom Dollbord. Sie stammen von den Einschüssen in Höhe der Köpfe. Was fehlt, sind Projektile. Keins in den Körpern, keins im Boot. Am Ufer natürlich auch nicht. Aber weißt du, was uns am meisten zu schaffen macht?« Sie war stehen geblieben und sah mich unverwandt an. Ich glaube, ich nahm in diesem Moment zum ersten Mal wahr, dass ihre Augen von einem durchscheinenden Dunkelgrün waren. Was die Ermittler am meisten beschäftigte, konnte ich mir denken. Es war die Identifizierung der Leichen. Sie fragten sich, wer der Mann war, der die Frau erschossen hatte. Sie würden verzweifeln, weil sie die Kleider der Toten nicht finden konnten. Ich schöpfte aus meiner Erfahrung. Ich begann, mir eine vorläufige Meinung zu bilden. Doch ich sagte nichts zu Chili. Es gibt kaum etwas Unangenehmeres als Menschen, die alles wissen oder können und so tun, als seien sie immer einen Schritt voraus. Ich löste mich von Chilis Augenfarbe, legte die Arme auf den Rücken und blickte auf den See hinaus. Der Kompass meines Handelns zeigte nach Norden. Ich hatte mir von Beginn an fest vorgenommen, mich aus dieser Sache herauszuhalten. Dass ich hier unmittelbar in einen Ermittlungsfall hineingeraten war, war reiner Zufall. Die beiden Toten waren direkt vor mich hingetrieben worden. Ich hatte sie entdeckt. Das war alles. Doch dadurch war ich verdammt noch mal nichts als ein ganz einfacher lausiger Zeuge. Kein Ermittler. Kein Reserve-Ermittler. Kein Oberschlauer, der am Rand mitmischt. Hier war ein anderer der Boss. Wenn der mich bitten würde ... Nein, nicht einmal dann wollte ich mich einschalten. Meine Gesundheit, der Hund, Lola, mein Garten, die Berge ... das hatten die Prioritäten eines Pensionisten zu sein. In dieser Reihenfolge. Zögernd drehte ich mich um und blickte zu Chili hinüber. Sie erwiderte meinen Blick, gut drei Meter von mir entfernt. Ihre Mandelaugen gaben mir Rätsel auf. Schon öffnete ich den Mund. Doch das, was ich sagen wollte, kam mir nicht über die Lippen. Chili. Tochter meines Freundes Torsten. Gut aussehend, immer fröhlich, sportlich, sinnlich. Vorbild in unserem Beruf. Ich sollte nach dem Willen ihres Vaters den Aufpasser für sie spielen. Das tat ich auch, so gut es ging. Mein Puls schlug allerdings in diesem Moment Alarm. So wie fast immer, wenn ich dieser Frau begegnete. Ich durfte mir nichts vormachen: Ich hatte Mühe, mich nicht in sie zu verlieben. Was hatte sie in meinem Leben zu suchen? Ich schnaufte tief durch. Es gab in unserer Gesellschaft Mauern und Zäune, die eine ungebremste Beziehung zwischen Männern und Frauen verhinderten. Dass Chili so etwas wie mein Patenkind war, war solch ein Hindernis. Bevor ich über die anderen Dinge, die ich in mir spürte, zu sinnieren begann, zuckte ich mit den Schultern und wiederholte ihre Frage. »Was euch in diesem Fall am meisten zu schaffen macht?«, sagte ich. Meine Stimme klang brüchig und leicht belegt. »Ihr wisst nicht, wer die beiden sind.« »Das auch, ja«, sagte Chili. »Es gibt keine Vermisstenmeldungen in dieser Richtung. Klar haben wir Fahndungsschreiben an die Dienststellen rausgegeben, bisher ohne Ergebnis. Wir lassen vorerst eine Isotopenanalyse von Zähnen und Knochen durchführen, um wenigstens ihren Lebensmittelpunkt einzukreisen. Kennst du ja. Scholl fürchtet schon, wir werden es riskieren müssen, sie öffentlich zu suchen.« Na ja. »Noch irgendwas?«, fragte ich. »In den Lungen des Mannes ist Wasser. Als hätte er unter Wasser gelegen, bevor er die Schüsse abgegeben hat. Noch ist es uns ein Rätsel.« Etwas rannte über den Kies. Fast holte es mich von den Beinen, als Herr Huber hinter Wuschel her ins Wasser schoss. Dabei spannte sich die Leine, ich stolperte und fing mich gerade noch. Chili lachte auf. »Hopperla«, sagte sie und wischte sich ein paar Wasserspritzer von der Wange. »Was sagt denn dein erprobter Ermittlerinstinkt, Herr Kriminalrat? Wer sind die beiden?« Ich musste ein Grinsen unterdrücken. »Der eine gehört zum Wirtshaus. Der andere zu mir. Das ist Herr Huber«, sagte ich. Sie tat es mit einer Handbewegung ab. »Die Vermissten, meine ich. Wer sind sie? Womit würdest du loslegen?« Ich rief Herrn Huber zurück und nahm die Leine kurz. Er schüttelte sich, dass Chili und ich bis zur Hüfte nass wurden. Liebermann, der oben im Biergarten geblieben war, schickte Wuschel ins Haus. »Chili, Mädchen«, sagte ich. »Du kennst doch meine Meinung. Ich bin ein ausrangierter Mördersucher und will nix mehr damit zu tun haben. Eure Soko macht das schon. Du bist doch hoffentlich mit in der Truppe?« Sie straffte ihren Körper, stemmte die Hände in die Hüfte. Dann bückte sie sich abrupt, fuhr Herrn Huber mit der Hand über den Kopf. »Klaro«, sagte sie. »Sag mal, weiß eigentlich Lola schon davon, dass du dir diesen Hund angeschafft hast?« Ich schüttelte den Kopf. »Die wird sich wundern«, sagte sie. Über unseren Köpfen schrie eine Möwe, stieg und ließ sich in den Aufwind fallen. Sanft wurde sie ins helle Blau über dem See gehoben.
Als ich gegen zehn Uhr abends nach Hause kam, war zweierlei neu. Der Hund war neu. Und die Wohnung hatte sich verändert. Ein anderer Geruch lag in der Luft. Die Vorhänge kamen mir anders, die Möbel heller vor. In der Küche stand kein schmutziges Geschirr herum, an meinem und an Lolas Waschbecken lagen zwei teure Stücke Seife, frische Handtücher hingen über den Stangen. Die grüne Schaumstoffmatte für meine Abendgymnastik lag bereit. Herr Huber suchte mit wedelndem Schwanz alles ab, aber bei ihm war der Grund für Neugier und Staunen klar: Für ihn war jeder einzelne Eindruck frisch. Ich aber roch sofort, dass Lola in der Wohnung war. Im Schlafzimmer fand ich sie, wo sie gerade das Bett bezog. Ich ging hinein und schloss die Tür. »Ich hab aufgeräumt«, sagte sie, »und ein bisschen sauber gemacht.« »Ja«, sagte ich. »Das ist nicht zu übersehen.« »Wieso?«, sagte sie. »Wie kommst du darauf?« »Ganz leicht«, sagte ich. »Der Klodeckel ist runtergeklappt. « Einen Augenaufschlag lang sah sie mich an, als hätte einer der Kandidaten in ihrer Show etwas Blödsinniges gesagt. Dann warf sie den Kopf nach hinten und lachte laut. Ihre Stimme. Sie war kehlig und trotzdem weich, selbst wenn sie lachte. Obwohl sie lange Jahre als Journalistin unter Männern gearbeitet hatte und sich auch beim Fernsehen zwischen zotigen Kollegen und begehrlichen Blicken behaupten musste, hatte Lola sich eine weibliche Spontaneität und sogar eine gewisse Naivität bewahrt. Doch nie durfte man sie unterschätzen. Sie konnte auch zur Wölfin werden. Ich nahm eine Strähne ihrer braunen Pagenfrisur zwischen Daumen und Zeigefinger und spürte eine tiefe Zärtlichkeit in mir aufsteigen. »Du siehst aus, als wolltest du sofort auf die Matte«, sagte sie und deutete zu der ausgerollten Gymnastikmatte hin. Ich ließ ein Knurren hören. »Absolut«, sagte ich. »Aber nicht auf diese.« Ich sog ihren Duft ein. Er erregte mich noch mehr. Ich streckte die Arme aus und nahm ihre beiden kleinen Hände. Sie fühlten sich warm und weich an. Ein kleiner Muskel ihres Mundwinkels zog sich zusammen, wodurch ihr Lachen ein wenig schief wurde. »Wann willst du mich heiraten, Joe?«, fragte Lola. »Was machst du mit mir? Warum bringst du das jetzt? Du lässt nicht locker, was?« »Nein. Immer dranbleiben, meine Devise, kennst du doch«, sagte sie. Über ihre Schulter hinweg sah ich, wie sich die Klinke nach unten bewegte. Die Tür ging ruckartig auf. Herr Huber setzte extrem vorsichtig eine weiß beschuhte Pfote vor die andere. Seine Augen baten um Verzeihung. Doch er bewegte sich im Zeitlupentempo weiter. Hatte Lola die Tür gehört oder seine Krallen, die leise über den Parkettboden klickten, oder spürte sie den Wolfshauch in ihrem Rücken - jedenfalls ließ sie meine Hände los und fuhr herum. Ihr Mund öffnete sich, dann schloss er sich wieder. »Vergiss es«, sagte sie. Sie brachte die Zähne kaum auseinander.
»Was?« »Das mit der Matte.« Damit hatte ich bereits gerechnet. Aber es kam noch dicker. »Und das mit dem Heiraten. Du bist ja schon verheiratet. « Der Hund beäugte sie misstrauisch, maulte ein bisschen und gähnte laut vor Verlegenheit. Dann wedelte er zurückhaltend mit dem Schwanz, drehte sich um und trollte sich. Ich schluckte. Wenn Lola bei mir war, war ich von einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit, ja von Glück erfüllt. Alles, was dieses Glück störte, war mein Feind. Doch wie war das mit Herrn Huber? Ich hatte es geahnt.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Hannsdieter Loy
Hannsdieter Loy war Amateurboxer und Volleyballtrainer, Jetpilot, Kommandeur in einem Kampfgeschwader und Direktor in der Industrieversicherung, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Nach Kurzgeschichten, Biografien, TV-Drehbüchern und phantastischer Literatur veröffentlichte er einen Hunderoman und einen München-Thriller. Er lebt in Oberbayern und in Spanien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hannsdieter Loy
- 2013, 1, 960 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653017
- ISBN-13: 9783863653019
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