Mittelreich
Roman. Ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis 2016
Eine Seewirtschaft in Bayern, bizarre Gäste und eine Familie über drei Generationen, heillos verstrickt ins ungeliebte Erbe. Ein Epos über Krieg und Zerstörung, alte Macht und neuen Wohlstand: erdacht vom großen Theater- und Filmschauspieler Josef Bierbichler.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mittelreich “
Eine Seewirtschaft in Bayern, bizarre Gäste und eine Familie über drei Generationen, heillos verstrickt ins ungeliebte Erbe. Ein Epos über Krieg und Zerstörung, alte Macht und neuen Wohlstand: erdacht vom großen Theater- und Filmschauspieler Josef Bierbichler.
Klappentext zu „Mittelreich “
Eine Seewirtschaft in Bayern, bizarre Gäste und eine Familie über drei Generationen, heillos verstrickt ins ungeliebte Erbe. Josef Bierbichler, der große Menschendarsteller des deutschen Theaters und Films, erzählt hundert Jahre Deutschland. Ein Epos über Krieg und Zerstörung, alte Macht und neuen Wohlstand, über die vermeintlich fetten Jahre.Im Ersten Weltkrieg zerschlägt eine feindliche Kugel zuerst den Stahlhelm und dann den Schädel des ältesten Sohnes vom Seewirt. Also muss sein jüngerer Bruder Pankraz das väterliche Erbe antreten. Der überlebt zwar den zweiten großen Krieg, wäre aber trotzdem lieber Künstler als Bauer und Gastwirt geworden. Da braucht es schon einen Jahrhundertsturm, der droht, Haus und Hof in den See zu blasen, damit aus Pankraz doch noch ein brauchbarer Unternehmer und Familienvater wird.
Lese-Probe zu „Mittelreich “
Mittelreich von Josef Bierbichler Nu lass du den doch auch mal ran, murmelt der alte Mann und schlägt mit seiner Linken nach dem flatterhaften Vogel. Is nich alles für dich! Hier kriegt jeder was ab, nich nur von die Großen. Auf dem Rücken seiner rechten Hand wippt fett ein Spatz und sticht mit seinem Schnabel nach dem Krümel Brot in seiner linken. Von seinen Knien aus streckt sich ein anderer und hüpft und flattert wild nach oben. Auf seiner Schulter sitzt ein dritter da, wie unbeteiligt oder satt. Auch auf der krummen Fassung von dem alten Drahtkorb voller ausgetriebener Kartoffeln trippeln welche, und um die Schüssel mit den schon gezupften picken sie und flattern. Von Zeit zu Zeit segeln andere vom Dach herunter, um gleich furchtsam wieder abzudrehen. In drückender Hitze steht die Luft unbeweglich in der Auffahrt zwischen dem Haupthaus und den Nebengebäuden. Verfluchter Krüppel, schimpft der Mann. Ein Spatz hat sich im Sturzflug von der Regenrinne aus auf seine linke Hand geworfen und fliegt nun mit dem Krümel Brot in seinem Schnabel wieder weg. Verfluchter Krüppel! - und es klingt anerkennend. Ein Schatten jagt zwischen den seitlich stehen den Mülltonnen heraus und landet wie ein Wurfgeschoss auf dem Schoß des alten Mannes. Und wie nach einem Windstoß im Herbst das dürre Laub, so wirbelt jetzt das Spatzenvolk davon. Der Schatten ist Mandi, der Kater. Der Mann seufzt müde und fängt an, ihm mit der einen Hand den Kopf zu kraulen. Mit der anderen krault er ihm den Nacken. No! Nu sind se alle weg!, sagt er, und es ist ein Einvernehmen zwischen Mann und Tier, als sprächen beide ..., und dann liegt der gerade noch wild durchflatterte Hofschacht zwischen Straße und Hinterhof wieder in stiller vorläufiger Ruhe.
... mehr
Der Kater flegelt sich schnurrend mit geschlossenen Augen auf Viktors Schoß. Die Krallen der Vorderpfoten vergraben und öffnen sich rhythmisch im Gewebe der fettigen Cordhose. Über den Körper des Katers hinweg hat Viktor seine Arbeit wieder aufgenommen und zupft den Kartoffeln die Triebe aus. Unterm Schild der alten Wehrmachtsmütze glänzt der Schweiß auf seiner Stirn. In der Dachrinne dösen die verjagten Spatzen hinter halb geschlossenen Augenlidern vor sich hin. Die Auffahrt herunter tanzt ein junges Huhn in einem Mückenschwarm. Die feuchte heiße Luft scheint fast zu schmatzen. Sonst ist es still. Der heiße Juninachmittag verdaut den kühlen Morgen.
Viktor hebt den Kopf leicht an und dreht ihn ein wenig nach rechts - dann lauscht er. Unterm Dachgiebel der Remise hört er es leise kratzen und scharren, rutschen und schaben, dazwischen unterdrücktes Kichern und verhaltenes Flüstern von Kinderstimmen. Dann wieder Stille. Im großen Haus rauscht eine Toilettenspülung, und zischelnd füllt sich der Spülkasten. Auch danach ist es still.
Hitze. Stille. Schweiß.
Wie aus dem Nichts durchschlägt ein Kampfflugzeug den Schall, den Himmel, die Luft und den Mittag, die Ohren, das Gemüt, die Geduld und die Liebe, die Hoffnung, die Zukunft, alles ..., und verschwindet wieder mit einem minutenlang verebbenden, nicht mehr enden wollenden Maschinendonnergrollen am Himmel.
Der Kater ist mit einem Satz von Viktors Schoß herunter direkt gegen den Drahtkorb geprallt und duckt sich nun mit weit aufgerissenen Augen unter die Remisenbank. Ins Laub der umstehenden Holundersträucher haben sich die Spatzen geflüchtet und flattern und stürzen im dichten Blattwerk hilflos durcheinander. Ein orientierungslos gewordener Eichelhäher, der sich im Sturzflug auf die Stahlbetondecke der Jauchegrube geworfen hat, bleibt tot in einem kleinen Blutfleck liegen.
Es ist Ende Juni 1984.Der kalte Krieg scheint sich erwärmen zu wollen für einen heißen. Die Weltfriedensplaner rüsten für ein Nachrüsten. Industrie und amtierende Politik durchleben fette Jahre.
Unterm Dachgiebel der Remise hält der Schreck den Atem gepresst in den jungen Lungen gefangen. Am Himmelverliert sich nach und nach der tödliche Lärm. Mit einem kurz herausgestoßenen: Ohh! Das war ein Düsenjäger! Wahnsinn! nehmen auch wieder das Atmen und die Lebenserkundungen im Kinderversteck ihren Fortgang, als wäre nichts gewesen. Nichts.
Unten auf der Straße fahren ein paar Radler vorbei, junge Leute mit Badesachen auf den Gepäckträgern. Jetzt kommen sie wieder, die Titten, murmelt Viktor, und mit ihnen die Gefühle. Eine Grimasse verzieht sein Gesicht. Ich hätte müssen für meine sexuellen Bedürfnisse vorsorgen, nicht für die Rente. Geld hab ich genug. Aber fürs Sexuelle gibt's keine gesellschaftliche Solidarität. Man denkt nich an so was, solang da sind noch keine Probleme. Und niemand hat es einem beigebracht.
So dachte Viktor.
Er öffnet leise die angelehnte Tür zur Remise. Drinnen horcht er. Keuchendes Schnaufen ist von oben zu hören, hin und wieder ein Stöhnen. Sonst ist es ruhig. Aus dem herumliegenden Gerümpel von Kutschen und Holzfässern und Holzachsen mit Holzrädern und gebogenen Kufen von Langholzschlitten zieht er unter einer alten Heuhäckselmaschine eine zwei Meter lange Holzleiter heraus. Ich hätte das früher vorbereiten müssen, jetzt ist es zu spät, murmelt er und richtet die Leiter in einer Ecke des Schuppens auf, wo oben zwei lose nebeneinanderliegende Bretter, die mit anderen zusammen die Decke des Raumes bilden, ein wenig übereinandergeschoben sind und einen Spalt freigeben, so dass leicht ein Kopf hindurchgeschoben werden kann. Nur gut, dass ich mir nix mach aus Kindern, sonst möchte ich da womöglich noch kommen in eine Bredouille.
Dann steigt er Sprosse für Sprosse bedächtig hinauf.
In der Dorfkapelle beginnen die Glocken das Mittagsgeläute. Verfluchte Nonnen!, entfährt es Viktor, und durch das Loch im Bretterboden sieht er gerade noch drei Buben ihre Hosen hochziehen und geduckt unterm Dachgiebel über seinen Kopf hinweg davonlaufen. Laut scheppern die sich durchbiegenden und wieder aufschlagenden Bretter. Wie die große Trommel am Kriegerjahrtag, denkt er, und auch danach ist es wieder still.
Warum ist es immer wieder so still?
Die Glocken haben aufgehört zu läuten, von den Buben ist nichts mehr zu hören, Viktor steht immer noch unter die Holzdecke gebückt auf der Leiter. Immer so still!
Er ist 82 und sieht und hört noch alles. Zum Lesen benutzt er seit 20 Jahren eine Brille, und immer noch dieselbe, und sonst hat er keine Gebrechen. Warum ist es nur so still? Wenn wenigstens der Flieger noch mal käme. Plötzlich hat er Höhenangst. Komm nur, kleines Mäuschen, lass dich nicht so gehen, blubbert es in seinem Hirn, so dass er sich ein bisschen schämt. Er steigt die Leiter wieder hinunter, ertastet sich die Sprossen und verlässt den Schuppen.
Wie er durch das Haupthaus geht - eigentlich schlurft er ja, wie er so durchs Haupthaus geht - ist es da alles andere als still. Da ist eine Geschäftigkeit, ein lautes Reden und ein Werkeln wie in jeder anderen Saisonwirtschaft, wenn an heißen Tagen, kurz bevor die Gäste kommen, die letzten Vorbereitungen getroffen werden. Viktor durchquert die Küche und geht durch den Hausgang weiter und vorbei an der Schänke einer hoch aufgedrehten Gastwirtschaft. Und da ist nichts von einer Stille oder Ruhe, nichts von dem für ihn so Eigentümlichen und doch eigentlich Normalen, das ihn vorher so in Angst versetzt zu haben schien. Er tritt durch die Haustür hinaus auf die seeseitige Aufgangsveranda und sieht, dass der Dampfer schon angelegt hat. Fest krampfen seine Hände sich um das Geländer, lang starrt er auf das Schiff, das keine fünfzig Schritt vom Ufer weg am großen Steg verankert liegt, fast unwirklich in seiner Größe, bedrohlich nah, auf bewegtem Grund das Gegenbild der Gastwirtschaft, vor deren Eingangstüre er auf festem Boden steht - und dann entfährt es ihm ein zweites Mal: Verfluchte Nonnen!
Diesmal kommt es aus der Tiefe, es ist nicht mehr nur spontan und nur Reflex, kommt nicht mehr nur aus dem Gefühl, es kommt jetzt aus dem Boden, kommt durchs Grundwasser, kommt hervor aus alter Zeit: Verfluchte Nonnen!, dass es nur so brodelt.
Es ist mehr als nur Verwünschung. Es ist eine Lossagung von allem: Vom Pünktlichkeitsgebot, vom aufgezwungenen nachbarschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühl, von dorfgesellschaftlichen Tabus, von den Fesseln des Anstandes, der Höflichkeit und der Rücksichtnahme. Es ist das Ende der Konvention.
Semi tritt aus dem Haus und stellt sich neben Viktor.
Hast du das Schiff versäumt?
No! Was versäumt, antwortet er, nix hab ich versäumt. Die Nonnenhaben nicht geläutet. Er ist erregt und spricht jetzt Schlesisch, die Sprache der Landschaft, aus der er einst kam.
Doch, die haben geläutet, widerspricht Semi, ich hab es doch gehört.
Nu ja, natürlich, geleitet ham se schon. Drum haste was gehört. Aber sie haben nicht pünktlich geleitet. Nicht um zwelfe, dass ich mich könnte drauf verlassen. Um zwelfe ist Mittag, nich um halb eins.
Semi schaut ihn nicht mal an. Du musst ihnen die Leviten lesen, sagt er, und geht wieder hinein.
Trotz der Hektik, die mittlerweile vor dem Haus und auf der Straße eingesetzt hat, hört Viktor die Stille. Autos fahren dröhnend vor und suchen einen Parkplatz; Radfahrer klingeln sich schreiend den Weg frei; quietschende Kinder laufen zum Wasser; Bekannte begrüßen sich scheppernd und laut; der Dampfer brüllt mit bleiernem Trompetenstoß seine bevorstehende Abfahrt herbei, ohne Viktors Stegwartdienste in Anspruch genommen zu haben. Der hört alles aus der Ferne und ganz unnatürlich, wie durch Watte. Sein Bauch furzt, seine Haut juckt, sein ganzer Körper ist ihm unbequem. Aus der Haut kann er nicht heraus, also geht er.
Er schaut niemand an, als er geht, er grüßt nicht, er geht an allen vorbei, bis er sie hinter sich hat.
Semi schaut ihm hinterher. Er kennt Viktor von Geburt an. Viktor saß am selben Tisch wie er und aß die gleichen Speisen, er betete dasselbe Tischgebet, er setzte sich aufs selbe Klo und langweilte sich in derselben Kirche, er feierte Weihnachten unter demselben Christbaum. Viktor ist zwar weder Onkel noch Tante, weder Vetter noch Cousine, er ist nicht verwandt und nicht verschwägert. Absolut nicht. Aber er ist Teil der großen Seewirtsfamilie. Das Einzige, was ihm verwehrt bleibt, ist der Einblick in die Finanzen und, wenn es so weit sein wird, der Platz im Familiengrab. Semi kennt ihn also gut. Deshalb fällt ihm auf, dass Viktor heute anders ist.
Viktor ist im rückwärtigen Hausgang angelangt und schaut in den viereckigen Spiegel über dem Ausguss vor seinem Zimmer. Die silberne Folie unterm Glas ist von den Rändern her zerschlissen, so dass nur in der Mitte noch ein kleines rundes Loch frei ist, in dem er sein Gesicht gerade noch zur Hälfte spiegeln kann. Was er sieht, befördert seine Sorge: Das Gesicht ist rot über der Stirn, die nach hinten gekämmten grauen Haare sind aufgebraucht, die Augen sind fremd! Er schaut in fremde Augen. Fremde Augen schauen ihn an. Er setzt seine Brille auf, und der Eindruck wird stärker: Er hat Angst vor seinen Augen. Er hört nichts mehr. Er sieht nur noch seine fremde Angst.
Was ist das?, fragt sich Semi, der Viktor bis zum Hausgangeck gefolgt ist und ihn von da aus ungesehen überprüft. Wie kann es sein, dass so ein Teichmolch seine Spuren zieht, ohne eine Spur zu hinterlassen? Es wird Zeit, sich zu erinnern!
Im letzten Quartal des vorletzten Jahrhunderts waren die kriegerischen Kräfte des Landes erlahmt und hatten sich zurückgezogen, um sich zu erholen und zu sammeln für neue, viel mächtigere und zerstörerischere Vorhaben in der Zukunft. Das Land konzentrierte sich wieder auf sich selbst und seine inneren Widersprüche. Aus alten Manufakturen waren neue Fabriken herausgewachsen und hatten den einen Arbeit und den anderen immer mehr Wohlstand und Macht gebracht. Neue Berufe wurden gebraucht, um Wohlstand und Macht zu verwalten im Auftrag derer, die darüber verfügten. Und so war eine neue Mittelschicht herangewachsen, die für ihre strikte Loyalität gegenüber ihren Brotherren und eine klare und strenge Abgrenzung gegenüber den immer zahlreicher benötigten Arbeitskräften in den Industriezentren gut entlohnt wurde. Handlanger und Equilibristen der neuen, ganz besonderen Art wurden das, im Dienste eines neuen Reichtums, der sich, grenzenlos im Sinn des Wortes, zu entwickeln trachtete und dementsprechend einen Weg in grenzenlose Welten suchte. In diesem Reichtum war der neue Mittelstand aus Beamtenschaft und Akademikern gediehen, und es hatten sich Bedürfnisse herausgebildet, die in früheren Zeiten nur dem Adel und seiner Entourage vorbehalten waren. Freizeit wurde ein neues Wort und bekam Flügel. Wochenendvilla, Sommerurlaub, Baden, Rudern, Dampfschifffahren wurden Füllwörter, die sich zu Bedürfnissen auswuchsen in großstädtischen Etagenwohnungen, um nach und nach in die Tat umgesetzt zu werden. Dieser Mittelstand im Dienste des expandierenden Kapitals, das von immer neueren technischen Errungenschaften in einen stetig wachsenden Produktionsrausch versetzt wurde, war auch zur Quelle eines neuen Reichtums in kleinen Seegemeinden geworden. Die bis dahin brachliegende und als feindlich angesehene Naturlandschaft südlich der Großstadt bis hin zu den Alpen war von diesem neuen Mittelstand entdeckt und erobert worden. Das Land hatte auf nicht gekannte Art zu blühen begonnen. Der Boden rund um die Ausflugs-und Urlaubsorte gab nun mehr her als nur Brot und Milch, der See mehr als nur Fisch. Bares Geld kam jetzt auf die Tische der noch nur vereinzelt an den Seeuferrand hingebauten Häuser in den kleinen Bauern- und Fischerdörfern, und nur Dienstbereitschaft, sonst nichts, wurde verlangt dafür. Kleine, landwirtschaftlich nur schwer zu bearbeitende Hanggrundstücke waren für beinahe unverschämt anmutend viel Geld an vermögende Herrschaften aus der Stadt verkauft worden, und bald ragten Erkertürmchen und steil aufragende Dachgiebel neu gebauter Villenaus den dicht stehenden Laubwäldern nördlich des Mühlbachs und beherbergten ein neues Käuferpotential für die einheimischen land-und seewirtschaftlichen Produkte. Mit dem baren Geld waren die alten, oft schon baufälligen Wohn-und Stallgebäude erneuert worden, und ein bis zwei Fremdenzimmer wurden erstmalig in die meist leer stehenden Speicherräume gezwängt: oben, unters Dach, nach Westen hin, mit Blick hinaus auf den See und über diesen hinweg ins Gebirge hinein. Und gleichzeitig mit dem neu errichteten Anlegesteg direkt vorm Haus war auf das eh schon bedeutend und protzig dastehende Seewirtshaus in voller Länge und Breite noch ein ganzes Stockwerk aufgezogen worden: Ein gelbes Bauernrenaissanceschlösschen war entstanden, direkt am Seeufer, weithin leuchtend sein Beschaut-Werden fordernd und zur Einkehr ladend, ein gastronomischer Fehdehandschuh, eine wirtschaftliche Provokation, in deren Folge alle bestehenden Verhältnisse verdampften. Es gab keinen Zweifel mehr: Zur Jahrhundertwende war der Reichtum eingekehrt ins kleine Dorf und lag gut verankert am Seeuferrand und im Selbstbewusstsein seiner Bewohner.
Mit den Gästen kam ein wenig Weltblick. Sie kamen in den kleinwinkligen Häusern so nahe heran, dass man ihnen nicht mehr auskommen konnte. Man machte ihnen Platz, wo es ging. Wo es nicht ging, saß man mit ihnen zusammen und hörte zu. Und langsam sickerte die Welt hinein, wo vorher Dunst und Erde war. Unter neuen Hierarchien fand man zu neuem Auskommen. Man diente gerne und passte sich den fremden Gepflogenheiten an, den Gepflogenheiten der Gäste, der Herrschaften. Und die dankten es mit der Weitergabe ihrer Kenntnisse und Anschauungen. Bald kamen immer dieselben. Dünkel bildete sich. Man war was Besseres. Das Leben wurde sicherer. Aber die Verunsicherung wuchs.
Nur das Wetter blieb.
Der Süden begann, sich mit dem Norden zu versöhnen. Der Preuße als Schimpfwort verschwand aus dem Sprachgebrauch und wurde höchstens im Herbst und Winter aus der Versenkung geholt, wenn man unter sich war und lustige Geschichten erzählte. Die Landeshauptstadt, der Norden bis dahin schlechthin, wurde Durchgangsstation für Reisende, die noch von viel weiter her kamen und ihre Ferien am See und in den Bergen verbringen wollten. Aus großer Entfernung, bis dahin als unüberwindlich geltend, kamen sie nun und bildeten jeweils für die Sommermonate das Sein. Der Schrei verebbte, den das Dorf noch hatte, der Schrei der Freiheit und Unabhängigkeit im Kargen. Reichtum, bis dahin, war nur an Arbeit.
Trotzdem: In Milch und Honig gedieh eine Unzufriedenheit, die nur schwer zu fassen war. Nicht wenige waren davon befallen wie von einer Krankheit des Gemüts. Die kurzen Tage im Jahr vergingen freudloser als ehedem. Die langen Abende wurden länger und immer länger. Gewiss: Man saß zusammen wie immer. Aber die Freude des langen Feierabends, das Beisammensitzen und Reden wärmten nicht mehr so wie früher. Man trug einen dunklen Überdruss mit sich herum, der sich gegeneinander und gegen einen selbst richtete. Es fehlte was, was nicht benennbar war. Man wartete auf etwas, wusste aber nicht auf was. Alles war leer und langweilig. Alles war so langweilig, langweilig. Man wartete, irgendwie. Auf den Sommer. Auf die Leute. Seit man sie kannte, wartete man. Das Warten hatte mit den Leuten begonnen. Man genügte sich nicht mehr. Ohne die fremden Leute, die den Sommer füllten, war man sich selbst ganz fremd geworden für den Winter. Es war eine große Unzufriedenheit. Wahrlich. Wenn nur etwas geschähe!
Am Nachmittag des 15. August 1914 war von den Allgäuer Alpen her eine Gewitterfront heraufgestiegen, die sich bis zum Abend aber wieder verzogen hatte, ohne sich zu entladen. Der See lag ruhig da wie ein Spiegel. Beinahe widerstandslos glitten die Boote auf dem Wasser dahin. Ein Marienlied nach dem anderen wurde gesungen und dazwischen das Ave-Maria gebetet. Und wenn das Repertoire verbraucht war, wurde von vorneangefangen.
Den andern ein wenig voraus pflügte mitkräftigen Ruderschlägen der starke Dinewitzer das größte der Boote, das Postboot, durchs ruhige Wasser. Er war das Rudern gewohnt. Dreimal die Woche mindestens ruderte er zwischen Seedorf und Klosterried auf der anderen Seite des Sees hin und her, bei jedem Wetter, und brachte die Post vom Klosterrieder Bahnhof in die südlich gelegenen Ostufergemeinden herüber. Aber nicht Briefe oder Pakete beschwerten sein Boot so sehr, dass der Schiffsrand manchmal einzutauchen drohte, so nahe, wie er oft der Wasseroberfläche kam, sondern es waren 30 und 50 Liter Bierfässer für den Seewirt und andere Wirtshäuser oder anderes sperriges Frachtgut für einen Villenbesitzer, das mit der Bahn drüben angeliefert worden war, um nun herüben an den Empfänger ausgeliefert zu werden, und das der Dinewitzer quasi nebenher transportierte - denn Seedorf hatte keine Zuganbindung. Und wenn er sich gerade aufmachen und leer hinüberrudern wollte, ans andere Ufer, um sein Transportgut in Empfang zu nehmen, dann konnte es vorkommen, dass ihn der eine oder andere Kirchgruber Bauer, der seinen 20 Zentner Stier an den Münchner Schlachthof losgeschlagen hatte, weil er da ein paar Pfennig mehr dafür bekam als beim Metzger in Seetal, dass der ihn zurückhielt und mit dem Versprechen einer fleischhaltigen Brotzeit und einer Maß Bier zu überreden suchte, das Stück Vieh mitzunehmen, denn weit sei es ja wirklich nicht bis nach Klosterried hinüber und er selber, der Bauer, habe gerade sehr dahinter her zu sein, dass das Heu eingefahren werde, solang das Wetter noch halte. Sonst würde er ja selber den alten Max nach Seestadt hinuntergetrieben und ihn dort in den Viehwaggon gestellt haben. Es sei also nur ausnahmsweise, ein kleiner Gefallen, weil man sich kennt.
Ja, ja, pflegte der Dinewitzer zu antworten, ich kenn euch, um dann wortlos den nervös tänzelnden Stier beim Nasenring zu nehmen und ihn von der Seestraße weg hinunter zum Ufer zu führen. Dort band er ihn an einem Stegpfosten fest und brachte den Kahn seitwärts daneben. Aus der Bootshütte vom Seewirt, wo er für solche Fälle vorausschauend schon einen kleinen Vorrat angelegt hatte, holte er einen Kübel voll Gerstenschrot und stellte den in die Mitte des Kahns, wo der Stier sich sofort gierig über das Kraftfutter hermachte und um sich herum nichts mehr wahrnahm. Dann fesselte der Dinewitzer mit ein paar Kälberstricken dem Stier zuerst die vorderen und danach die hinteren Haxen jeweils nur so nahe aneinander, dass der, durchs Fressen abgelenkt, es noch nicht als Störung wahrnehmen konnte. Zuletzt verknotete er das eine Ende eines Zugseils mit der Fesselung der Hinterbeine und führte den langen Seilrest durch den Kälberstrick an den Vorderbeinen - und ohne Vorwarnung, mitten in die ruhigen Bewegungen der Vorbereitung hinein, duckte er sich mit einem Mal unter den schweren Leib des Bullen und wuchtete ihn mit der rechten Schulter ins leere Boot, auf dessen Boden der Stier mit dem Rücken zu liegen kam, so dass dem überheblich daneben stehenden Bauern der nackte Schreck ins blöd schauende Gesicht fuhr. Und noch ehe das Tier sich besonnen hatte und ihm die ersten Verteidigungsreflexe kamen, hatte der Postbote das lange Zugseil schon so kräftig angezogen und verknotet, dass die gefesselten Vorderhaxen des Stiers nun auch noch an die gefesselten Hinterhaxen gefesselt waren. Jetzt erst fiel dem Bauern der Unterkiefer herunter, bis ihm der Mund weit offen stand, so schnell war alles gegangen. Der Stier zuckte und ruckte während der ganzen halbstündigen Überfahrt. Aber er konnte nicht mehr aufstehen. Des Postboten Stricke hatten ihn seiner letzten Freiheit beraubt: der Bewegungsfreiheit. Ahoi, Dinewitzer! Dich hätt ich gerne noch kennengelernt. Andere eher lieber nicht.
Und während er jetzt in den Sonnenuntergang hinein und dem lauter und lauter werdenden Glockengeläute der Klosterrieder Marienkirche entgegen seinen Kahn hinüberruderte nach Klosterried zur Lichterprozession, der Dinewitzer, darin die vier Kirchgruber Gemeinderäte mit dem Bürgermeister Müller, die kein eigenes Boot besaßen, weil sie da droben in Kirchgrub gar keines brauchten, so weit weg vom See, wie sie da oben wohnten, da beugte sich mit einem Mal der Bürgermeister Müller, der vorn allein im Bug des Bootes saß, über denihm zugekehrtenRückendes ruderndenDinewitzer, brachte seinen Mund ganz nah an dessen Ohr heran und sagte, halblaut und für die andern unhörbar, die von Gesang und Ruderplätschern, Sonnenuntergang und Kirchenglockenläuten bis ins Hirn hinein beseelt und taub für alles andre waren - ich schaue lieber gar nicht hin, auf den Klosterrieder Kirchturm, sonst greif ich nur danach, so nah wie der zum Greifen scheint, sagte der im zweiten Boot ganz vorne stehende Pfarrer in sein lautes Vorbeten hinein und schloss die Augen ... -, sagte also der Bürgermeister zum Dinewitzer: Mobilmachung is! Schon seit vierzehn Tagen. Du kennst dich rundherum gut aus. Kommst morgen in die Kanzlei und sagst mir alle Namen von die Jungen bis fünfundzwanzig, die du weißt. Gell!
Schon recht, sagte der Dinewitzer mechanisch und ruderte weiter. Und allmählich ordneten sich ihm die Gedanken und schwellten sein Hirn. Sein Gesicht begann zu leuchten: Mobilmachung is! Endlich!
Überall im Land schwollen die Köpfe zu ungesunder Größe, und es leuchteten die Gesichter in einem irrlichternden Wahn. Wie eine Befreiung kam es ihnen vor, eine Erleichterung: Es passiert endlich was!
Copyright © 2013 by Suhrkamp Taschenbuch, Suhrkamp Verlag Berlin
Der Kater flegelt sich schnurrend mit geschlossenen Augen auf Viktors Schoß. Die Krallen der Vorderpfoten vergraben und öffnen sich rhythmisch im Gewebe der fettigen Cordhose. Über den Körper des Katers hinweg hat Viktor seine Arbeit wieder aufgenommen und zupft den Kartoffeln die Triebe aus. Unterm Schild der alten Wehrmachtsmütze glänzt der Schweiß auf seiner Stirn. In der Dachrinne dösen die verjagten Spatzen hinter halb geschlossenen Augenlidern vor sich hin. Die Auffahrt herunter tanzt ein junges Huhn in einem Mückenschwarm. Die feuchte heiße Luft scheint fast zu schmatzen. Sonst ist es still. Der heiße Juninachmittag verdaut den kühlen Morgen.
Viktor hebt den Kopf leicht an und dreht ihn ein wenig nach rechts - dann lauscht er. Unterm Dachgiebel der Remise hört er es leise kratzen und scharren, rutschen und schaben, dazwischen unterdrücktes Kichern und verhaltenes Flüstern von Kinderstimmen. Dann wieder Stille. Im großen Haus rauscht eine Toilettenspülung, und zischelnd füllt sich der Spülkasten. Auch danach ist es still.
Hitze. Stille. Schweiß.
Wie aus dem Nichts durchschlägt ein Kampfflugzeug den Schall, den Himmel, die Luft und den Mittag, die Ohren, das Gemüt, die Geduld und die Liebe, die Hoffnung, die Zukunft, alles ..., und verschwindet wieder mit einem minutenlang verebbenden, nicht mehr enden wollenden Maschinendonnergrollen am Himmel.
Der Kater ist mit einem Satz von Viktors Schoß herunter direkt gegen den Drahtkorb geprallt und duckt sich nun mit weit aufgerissenen Augen unter die Remisenbank. Ins Laub der umstehenden Holundersträucher haben sich die Spatzen geflüchtet und flattern und stürzen im dichten Blattwerk hilflos durcheinander. Ein orientierungslos gewordener Eichelhäher, der sich im Sturzflug auf die Stahlbetondecke der Jauchegrube geworfen hat, bleibt tot in einem kleinen Blutfleck liegen.
Es ist Ende Juni 1984.Der kalte Krieg scheint sich erwärmen zu wollen für einen heißen. Die Weltfriedensplaner rüsten für ein Nachrüsten. Industrie und amtierende Politik durchleben fette Jahre.
Unterm Dachgiebel der Remise hält der Schreck den Atem gepresst in den jungen Lungen gefangen. Am Himmelverliert sich nach und nach der tödliche Lärm. Mit einem kurz herausgestoßenen: Ohh! Das war ein Düsenjäger! Wahnsinn! nehmen auch wieder das Atmen und die Lebenserkundungen im Kinderversteck ihren Fortgang, als wäre nichts gewesen. Nichts.
Unten auf der Straße fahren ein paar Radler vorbei, junge Leute mit Badesachen auf den Gepäckträgern. Jetzt kommen sie wieder, die Titten, murmelt Viktor, und mit ihnen die Gefühle. Eine Grimasse verzieht sein Gesicht. Ich hätte müssen für meine sexuellen Bedürfnisse vorsorgen, nicht für die Rente. Geld hab ich genug. Aber fürs Sexuelle gibt's keine gesellschaftliche Solidarität. Man denkt nich an so was, solang da sind noch keine Probleme. Und niemand hat es einem beigebracht.
So dachte Viktor.
Er öffnet leise die angelehnte Tür zur Remise. Drinnen horcht er. Keuchendes Schnaufen ist von oben zu hören, hin und wieder ein Stöhnen. Sonst ist es ruhig. Aus dem herumliegenden Gerümpel von Kutschen und Holzfässern und Holzachsen mit Holzrädern und gebogenen Kufen von Langholzschlitten zieht er unter einer alten Heuhäckselmaschine eine zwei Meter lange Holzleiter heraus. Ich hätte das früher vorbereiten müssen, jetzt ist es zu spät, murmelt er und richtet die Leiter in einer Ecke des Schuppens auf, wo oben zwei lose nebeneinanderliegende Bretter, die mit anderen zusammen die Decke des Raumes bilden, ein wenig übereinandergeschoben sind und einen Spalt freigeben, so dass leicht ein Kopf hindurchgeschoben werden kann. Nur gut, dass ich mir nix mach aus Kindern, sonst möchte ich da womöglich noch kommen in eine Bredouille.
Dann steigt er Sprosse für Sprosse bedächtig hinauf.
In der Dorfkapelle beginnen die Glocken das Mittagsgeläute. Verfluchte Nonnen!, entfährt es Viktor, und durch das Loch im Bretterboden sieht er gerade noch drei Buben ihre Hosen hochziehen und geduckt unterm Dachgiebel über seinen Kopf hinweg davonlaufen. Laut scheppern die sich durchbiegenden und wieder aufschlagenden Bretter. Wie die große Trommel am Kriegerjahrtag, denkt er, und auch danach ist es wieder still.
Warum ist es immer wieder so still?
Die Glocken haben aufgehört zu läuten, von den Buben ist nichts mehr zu hören, Viktor steht immer noch unter die Holzdecke gebückt auf der Leiter. Immer so still!
Er ist 82 und sieht und hört noch alles. Zum Lesen benutzt er seit 20 Jahren eine Brille, und immer noch dieselbe, und sonst hat er keine Gebrechen. Warum ist es nur so still? Wenn wenigstens der Flieger noch mal käme. Plötzlich hat er Höhenangst. Komm nur, kleines Mäuschen, lass dich nicht so gehen, blubbert es in seinem Hirn, so dass er sich ein bisschen schämt. Er steigt die Leiter wieder hinunter, ertastet sich die Sprossen und verlässt den Schuppen.
Wie er durch das Haupthaus geht - eigentlich schlurft er ja, wie er so durchs Haupthaus geht - ist es da alles andere als still. Da ist eine Geschäftigkeit, ein lautes Reden und ein Werkeln wie in jeder anderen Saisonwirtschaft, wenn an heißen Tagen, kurz bevor die Gäste kommen, die letzten Vorbereitungen getroffen werden. Viktor durchquert die Küche und geht durch den Hausgang weiter und vorbei an der Schänke einer hoch aufgedrehten Gastwirtschaft. Und da ist nichts von einer Stille oder Ruhe, nichts von dem für ihn so Eigentümlichen und doch eigentlich Normalen, das ihn vorher so in Angst versetzt zu haben schien. Er tritt durch die Haustür hinaus auf die seeseitige Aufgangsveranda und sieht, dass der Dampfer schon angelegt hat. Fest krampfen seine Hände sich um das Geländer, lang starrt er auf das Schiff, das keine fünfzig Schritt vom Ufer weg am großen Steg verankert liegt, fast unwirklich in seiner Größe, bedrohlich nah, auf bewegtem Grund das Gegenbild der Gastwirtschaft, vor deren Eingangstüre er auf festem Boden steht - und dann entfährt es ihm ein zweites Mal: Verfluchte Nonnen!
Diesmal kommt es aus der Tiefe, es ist nicht mehr nur spontan und nur Reflex, kommt nicht mehr nur aus dem Gefühl, es kommt jetzt aus dem Boden, kommt durchs Grundwasser, kommt hervor aus alter Zeit: Verfluchte Nonnen!, dass es nur so brodelt.
Es ist mehr als nur Verwünschung. Es ist eine Lossagung von allem: Vom Pünktlichkeitsgebot, vom aufgezwungenen nachbarschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühl, von dorfgesellschaftlichen Tabus, von den Fesseln des Anstandes, der Höflichkeit und der Rücksichtnahme. Es ist das Ende der Konvention.
Semi tritt aus dem Haus und stellt sich neben Viktor.
Hast du das Schiff versäumt?
No! Was versäumt, antwortet er, nix hab ich versäumt. Die Nonnenhaben nicht geläutet. Er ist erregt und spricht jetzt Schlesisch, die Sprache der Landschaft, aus der er einst kam.
Doch, die haben geläutet, widerspricht Semi, ich hab es doch gehört.
Nu ja, natürlich, geleitet ham se schon. Drum haste was gehört. Aber sie haben nicht pünktlich geleitet. Nicht um zwelfe, dass ich mich könnte drauf verlassen. Um zwelfe ist Mittag, nich um halb eins.
Semi schaut ihn nicht mal an. Du musst ihnen die Leviten lesen, sagt er, und geht wieder hinein.
Trotz der Hektik, die mittlerweile vor dem Haus und auf der Straße eingesetzt hat, hört Viktor die Stille. Autos fahren dröhnend vor und suchen einen Parkplatz; Radfahrer klingeln sich schreiend den Weg frei; quietschende Kinder laufen zum Wasser; Bekannte begrüßen sich scheppernd und laut; der Dampfer brüllt mit bleiernem Trompetenstoß seine bevorstehende Abfahrt herbei, ohne Viktors Stegwartdienste in Anspruch genommen zu haben. Der hört alles aus der Ferne und ganz unnatürlich, wie durch Watte. Sein Bauch furzt, seine Haut juckt, sein ganzer Körper ist ihm unbequem. Aus der Haut kann er nicht heraus, also geht er.
Er schaut niemand an, als er geht, er grüßt nicht, er geht an allen vorbei, bis er sie hinter sich hat.
Semi schaut ihm hinterher. Er kennt Viktor von Geburt an. Viktor saß am selben Tisch wie er und aß die gleichen Speisen, er betete dasselbe Tischgebet, er setzte sich aufs selbe Klo und langweilte sich in derselben Kirche, er feierte Weihnachten unter demselben Christbaum. Viktor ist zwar weder Onkel noch Tante, weder Vetter noch Cousine, er ist nicht verwandt und nicht verschwägert. Absolut nicht. Aber er ist Teil der großen Seewirtsfamilie. Das Einzige, was ihm verwehrt bleibt, ist der Einblick in die Finanzen und, wenn es so weit sein wird, der Platz im Familiengrab. Semi kennt ihn also gut. Deshalb fällt ihm auf, dass Viktor heute anders ist.
Viktor ist im rückwärtigen Hausgang angelangt und schaut in den viereckigen Spiegel über dem Ausguss vor seinem Zimmer. Die silberne Folie unterm Glas ist von den Rändern her zerschlissen, so dass nur in der Mitte noch ein kleines rundes Loch frei ist, in dem er sein Gesicht gerade noch zur Hälfte spiegeln kann. Was er sieht, befördert seine Sorge: Das Gesicht ist rot über der Stirn, die nach hinten gekämmten grauen Haare sind aufgebraucht, die Augen sind fremd! Er schaut in fremde Augen. Fremde Augen schauen ihn an. Er setzt seine Brille auf, und der Eindruck wird stärker: Er hat Angst vor seinen Augen. Er hört nichts mehr. Er sieht nur noch seine fremde Angst.
Was ist das?, fragt sich Semi, der Viktor bis zum Hausgangeck gefolgt ist und ihn von da aus ungesehen überprüft. Wie kann es sein, dass so ein Teichmolch seine Spuren zieht, ohne eine Spur zu hinterlassen? Es wird Zeit, sich zu erinnern!
Im letzten Quartal des vorletzten Jahrhunderts waren die kriegerischen Kräfte des Landes erlahmt und hatten sich zurückgezogen, um sich zu erholen und zu sammeln für neue, viel mächtigere und zerstörerischere Vorhaben in der Zukunft. Das Land konzentrierte sich wieder auf sich selbst und seine inneren Widersprüche. Aus alten Manufakturen waren neue Fabriken herausgewachsen und hatten den einen Arbeit und den anderen immer mehr Wohlstand und Macht gebracht. Neue Berufe wurden gebraucht, um Wohlstand und Macht zu verwalten im Auftrag derer, die darüber verfügten. Und so war eine neue Mittelschicht herangewachsen, die für ihre strikte Loyalität gegenüber ihren Brotherren und eine klare und strenge Abgrenzung gegenüber den immer zahlreicher benötigten Arbeitskräften in den Industriezentren gut entlohnt wurde. Handlanger und Equilibristen der neuen, ganz besonderen Art wurden das, im Dienste eines neuen Reichtums, der sich, grenzenlos im Sinn des Wortes, zu entwickeln trachtete und dementsprechend einen Weg in grenzenlose Welten suchte. In diesem Reichtum war der neue Mittelstand aus Beamtenschaft und Akademikern gediehen, und es hatten sich Bedürfnisse herausgebildet, die in früheren Zeiten nur dem Adel und seiner Entourage vorbehalten waren. Freizeit wurde ein neues Wort und bekam Flügel. Wochenendvilla, Sommerurlaub, Baden, Rudern, Dampfschifffahren wurden Füllwörter, die sich zu Bedürfnissen auswuchsen in großstädtischen Etagenwohnungen, um nach und nach in die Tat umgesetzt zu werden. Dieser Mittelstand im Dienste des expandierenden Kapitals, das von immer neueren technischen Errungenschaften in einen stetig wachsenden Produktionsrausch versetzt wurde, war auch zur Quelle eines neuen Reichtums in kleinen Seegemeinden geworden. Die bis dahin brachliegende und als feindlich angesehene Naturlandschaft südlich der Großstadt bis hin zu den Alpen war von diesem neuen Mittelstand entdeckt und erobert worden. Das Land hatte auf nicht gekannte Art zu blühen begonnen. Der Boden rund um die Ausflugs-und Urlaubsorte gab nun mehr her als nur Brot und Milch, der See mehr als nur Fisch. Bares Geld kam jetzt auf die Tische der noch nur vereinzelt an den Seeuferrand hingebauten Häuser in den kleinen Bauern- und Fischerdörfern, und nur Dienstbereitschaft, sonst nichts, wurde verlangt dafür. Kleine, landwirtschaftlich nur schwer zu bearbeitende Hanggrundstücke waren für beinahe unverschämt anmutend viel Geld an vermögende Herrschaften aus der Stadt verkauft worden, und bald ragten Erkertürmchen und steil aufragende Dachgiebel neu gebauter Villenaus den dicht stehenden Laubwäldern nördlich des Mühlbachs und beherbergten ein neues Käuferpotential für die einheimischen land-und seewirtschaftlichen Produkte. Mit dem baren Geld waren die alten, oft schon baufälligen Wohn-und Stallgebäude erneuert worden, und ein bis zwei Fremdenzimmer wurden erstmalig in die meist leer stehenden Speicherräume gezwängt: oben, unters Dach, nach Westen hin, mit Blick hinaus auf den See und über diesen hinweg ins Gebirge hinein. Und gleichzeitig mit dem neu errichteten Anlegesteg direkt vorm Haus war auf das eh schon bedeutend und protzig dastehende Seewirtshaus in voller Länge und Breite noch ein ganzes Stockwerk aufgezogen worden: Ein gelbes Bauernrenaissanceschlösschen war entstanden, direkt am Seeufer, weithin leuchtend sein Beschaut-Werden fordernd und zur Einkehr ladend, ein gastronomischer Fehdehandschuh, eine wirtschaftliche Provokation, in deren Folge alle bestehenden Verhältnisse verdampften. Es gab keinen Zweifel mehr: Zur Jahrhundertwende war der Reichtum eingekehrt ins kleine Dorf und lag gut verankert am Seeuferrand und im Selbstbewusstsein seiner Bewohner.
Mit den Gästen kam ein wenig Weltblick. Sie kamen in den kleinwinkligen Häusern so nahe heran, dass man ihnen nicht mehr auskommen konnte. Man machte ihnen Platz, wo es ging. Wo es nicht ging, saß man mit ihnen zusammen und hörte zu. Und langsam sickerte die Welt hinein, wo vorher Dunst und Erde war. Unter neuen Hierarchien fand man zu neuem Auskommen. Man diente gerne und passte sich den fremden Gepflogenheiten an, den Gepflogenheiten der Gäste, der Herrschaften. Und die dankten es mit der Weitergabe ihrer Kenntnisse und Anschauungen. Bald kamen immer dieselben. Dünkel bildete sich. Man war was Besseres. Das Leben wurde sicherer. Aber die Verunsicherung wuchs.
Nur das Wetter blieb.
Der Süden begann, sich mit dem Norden zu versöhnen. Der Preuße als Schimpfwort verschwand aus dem Sprachgebrauch und wurde höchstens im Herbst und Winter aus der Versenkung geholt, wenn man unter sich war und lustige Geschichten erzählte. Die Landeshauptstadt, der Norden bis dahin schlechthin, wurde Durchgangsstation für Reisende, die noch von viel weiter her kamen und ihre Ferien am See und in den Bergen verbringen wollten. Aus großer Entfernung, bis dahin als unüberwindlich geltend, kamen sie nun und bildeten jeweils für die Sommermonate das Sein. Der Schrei verebbte, den das Dorf noch hatte, der Schrei der Freiheit und Unabhängigkeit im Kargen. Reichtum, bis dahin, war nur an Arbeit.
Trotzdem: In Milch und Honig gedieh eine Unzufriedenheit, die nur schwer zu fassen war. Nicht wenige waren davon befallen wie von einer Krankheit des Gemüts. Die kurzen Tage im Jahr vergingen freudloser als ehedem. Die langen Abende wurden länger und immer länger. Gewiss: Man saß zusammen wie immer. Aber die Freude des langen Feierabends, das Beisammensitzen und Reden wärmten nicht mehr so wie früher. Man trug einen dunklen Überdruss mit sich herum, der sich gegeneinander und gegen einen selbst richtete. Es fehlte was, was nicht benennbar war. Man wartete auf etwas, wusste aber nicht auf was. Alles war leer und langweilig. Alles war so langweilig, langweilig. Man wartete, irgendwie. Auf den Sommer. Auf die Leute. Seit man sie kannte, wartete man. Das Warten hatte mit den Leuten begonnen. Man genügte sich nicht mehr. Ohne die fremden Leute, die den Sommer füllten, war man sich selbst ganz fremd geworden für den Winter. Es war eine große Unzufriedenheit. Wahrlich. Wenn nur etwas geschähe!
Am Nachmittag des 15. August 1914 war von den Allgäuer Alpen her eine Gewitterfront heraufgestiegen, die sich bis zum Abend aber wieder verzogen hatte, ohne sich zu entladen. Der See lag ruhig da wie ein Spiegel. Beinahe widerstandslos glitten die Boote auf dem Wasser dahin. Ein Marienlied nach dem anderen wurde gesungen und dazwischen das Ave-Maria gebetet. Und wenn das Repertoire verbraucht war, wurde von vorneangefangen.
Den andern ein wenig voraus pflügte mitkräftigen Ruderschlägen der starke Dinewitzer das größte der Boote, das Postboot, durchs ruhige Wasser. Er war das Rudern gewohnt. Dreimal die Woche mindestens ruderte er zwischen Seedorf und Klosterried auf der anderen Seite des Sees hin und her, bei jedem Wetter, und brachte die Post vom Klosterrieder Bahnhof in die südlich gelegenen Ostufergemeinden herüber. Aber nicht Briefe oder Pakete beschwerten sein Boot so sehr, dass der Schiffsrand manchmal einzutauchen drohte, so nahe, wie er oft der Wasseroberfläche kam, sondern es waren 30 und 50 Liter Bierfässer für den Seewirt und andere Wirtshäuser oder anderes sperriges Frachtgut für einen Villenbesitzer, das mit der Bahn drüben angeliefert worden war, um nun herüben an den Empfänger ausgeliefert zu werden, und das der Dinewitzer quasi nebenher transportierte - denn Seedorf hatte keine Zuganbindung. Und wenn er sich gerade aufmachen und leer hinüberrudern wollte, ans andere Ufer, um sein Transportgut in Empfang zu nehmen, dann konnte es vorkommen, dass ihn der eine oder andere Kirchgruber Bauer, der seinen 20 Zentner Stier an den Münchner Schlachthof losgeschlagen hatte, weil er da ein paar Pfennig mehr dafür bekam als beim Metzger in Seetal, dass der ihn zurückhielt und mit dem Versprechen einer fleischhaltigen Brotzeit und einer Maß Bier zu überreden suchte, das Stück Vieh mitzunehmen, denn weit sei es ja wirklich nicht bis nach Klosterried hinüber und er selber, der Bauer, habe gerade sehr dahinter her zu sein, dass das Heu eingefahren werde, solang das Wetter noch halte. Sonst würde er ja selber den alten Max nach Seestadt hinuntergetrieben und ihn dort in den Viehwaggon gestellt haben. Es sei also nur ausnahmsweise, ein kleiner Gefallen, weil man sich kennt.
Ja, ja, pflegte der Dinewitzer zu antworten, ich kenn euch, um dann wortlos den nervös tänzelnden Stier beim Nasenring zu nehmen und ihn von der Seestraße weg hinunter zum Ufer zu führen. Dort band er ihn an einem Stegpfosten fest und brachte den Kahn seitwärts daneben. Aus der Bootshütte vom Seewirt, wo er für solche Fälle vorausschauend schon einen kleinen Vorrat angelegt hatte, holte er einen Kübel voll Gerstenschrot und stellte den in die Mitte des Kahns, wo der Stier sich sofort gierig über das Kraftfutter hermachte und um sich herum nichts mehr wahrnahm. Dann fesselte der Dinewitzer mit ein paar Kälberstricken dem Stier zuerst die vorderen und danach die hinteren Haxen jeweils nur so nahe aneinander, dass der, durchs Fressen abgelenkt, es noch nicht als Störung wahrnehmen konnte. Zuletzt verknotete er das eine Ende eines Zugseils mit der Fesselung der Hinterbeine und führte den langen Seilrest durch den Kälberstrick an den Vorderbeinen - und ohne Vorwarnung, mitten in die ruhigen Bewegungen der Vorbereitung hinein, duckte er sich mit einem Mal unter den schweren Leib des Bullen und wuchtete ihn mit der rechten Schulter ins leere Boot, auf dessen Boden der Stier mit dem Rücken zu liegen kam, so dass dem überheblich daneben stehenden Bauern der nackte Schreck ins blöd schauende Gesicht fuhr. Und noch ehe das Tier sich besonnen hatte und ihm die ersten Verteidigungsreflexe kamen, hatte der Postbote das lange Zugseil schon so kräftig angezogen und verknotet, dass die gefesselten Vorderhaxen des Stiers nun auch noch an die gefesselten Hinterhaxen gefesselt waren. Jetzt erst fiel dem Bauern der Unterkiefer herunter, bis ihm der Mund weit offen stand, so schnell war alles gegangen. Der Stier zuckte und ruckte während der ganzen halbstündigen Überfahrt. Aber er konnte nicht mehr aufstehen. Des Postboten Stricke hatten ihn seiner letzten Freiheit beraubt: der Bewegungsfreiheit. Ahoi, Dinewitzer! Dich hätt ich gerne noch kennengelernt. Andere eher lieber nicht.
Und während er jetzt in den Sonnenuntergang hinein und dem lauter und lauter werdenden Glockengeläute der Klosterrieder Marienkirche entgegen seinen Kahn hinüberruderte nach Klosterried zur Lichterprozession, der Dinewitzer, darin die vier Kirchgruber Gemeinderäte mit dem Bürgermeister Müller, die kein eigenes Boot besaßen, weil sie da droben in Kirchgrub gar keines brauchten, so weit weg vom See, wie sie da oben wohnten, da beugte sich mit einem Mal der Bürgermeister Müller, der vorn allein im Bug des Bootes saß, über denihm zugekehrtenRückendes ruderndenDinewitzer, brachte seinen Mund ganz nah an dessen Ohr heran und sagte, halblaut und für die andern unhörbar, die von Gesang und Ruderplätschern, Sonnenuntergang und Kirchenglockenläuten bis ins Hirn hinein beseelt und taub für alles andre waren - ich schaue lieber gar nicht hin, auf den Klosterrieder Kirchturm, sonst greif ich nur danach, so nah wie der zum Greifen scheint, sagte der im zweiten Boot ganz vorne stehende Pfarrer in sein lautes Vorbeten hinein und schloss die Augen ... -, sagte also der Bürgermeister zum Dinewitzer: Mobilmachung is! Schon seit vierzehn Tagen. Du kennst dich rundherum gut aus. Kommst morgen in die Kanzlei und sagst mir alle Namen von die Jungen bis fünfundzwanzig, die du weißt. Gell!
Schon recht, sagte der Dinewitzer mechanisch und ruderte weiter. Und allmählich ordneten sich ihm die Gedanken und schwellten sein Hirn. Sein Gesicht begann zu leuchten: Mobilmachung is! Endlich!
Überall im Land schwollen die Köpfe zu ungesunder Größe, und es leuchteten die Gesichter in einem irrlichternden Wahn. Wie eine Befreiung kam es ihnen vor, eine Erleichterung: Es passiert endlich was!
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Autoren-Porträt von Josef Bierbichler
Josef Bierbichler wurde 1948 am Starnberger See geboren. Seit Anfang der siebziger Jahre ist er als Theaterschauspieler auf allen großen Bühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz präsent. Für den Film arbeitete er mit Regisseuren wie Werner Herzog (Herz aus Glas), Herbert Achternbusch (Servus Bayern, Heilt Hitler!), Tom Tykwer (Die tödliche Maria) und Michael Haneke (Das weiße Band) zusammen. Er lebt am Starnberger See.
Bibliographische Angaben
- Autor: Josef Bierbichler
- 2013, 7. Aufl., 392 Seiten, Maße: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518464086
- ISBN-13: 9783518464083
- Erscheinungsdatum: 16.01.2013
Rezension zu „Mittelreich “
»Das ist, in kraftvoll realistischer, manchmal auch kleistisch kataraktgleicher Prosa geschrieben, ein Märchen: wie es im Leben manchmal passiert. Doch der große Theater- und Filmschauspieler Josef (Sepp) Bierbichler ... erzählt auch von der Fülle des Scheiterns. Von heillos komischen Katastrophen, von fürchtertlicher deutscher Weltgeschichte, die selbst die Dörfler am oberbayrischen See in ihren erdbraunen, blutigen Fängen hält.«
Pressezitat
»Das ist, in kraftvoll realistischer, manchmal auch kleistisch kataraktgleicher Prosa geschrieben ... Doch der große Theater- und Filmschauspieler Josef (Sepp) Bierbichler erzählt auch von der Fülle des Scheiterns. Von heillos komischen Katastrophen, von fürchterlicher deutscher Weltgeschichte, die selbst die Dörfler am oberbayrischen See in ihren erdbraunen, blutigen Fängen hält.« Peter von Becker Der Tagesspiegel 20111222
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