Der Reichstagsbrand
Am 27. Februar 1933 stand das Berliner Reichstagsgebäude in Flammen. Wer war der Täter? Was steckte dahinter? Dieses Buch schafft Klarheit.
Der Historiker und "Welt"-Redakteur Sven Felix Kellerhoff hat ein minutiöses,...
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Produktinformationen zu „Der Reichstagsbrand “
Am 27. Februar 1933 stand das Berliner Reichstagsgebäude in Flammen. Wer war der Täter? Was steckte dahinter? Dieses Buch schafft Klarheit.
Der Historiker und "Welt"-Redakteur Sven Felix Kellerhoff hat ein minutiöses, lebendiges Bild der dramatischen Brandnacht und ihrer weitreichenden Folgen nachgezeichnet: auf der Basis aller Quellen, einschließlich der polizeilichen Ermittlungsakten.
Lese-Probe zu „Der Reichstagsbrand “
Der Reichstagsbrand von Sven Felix Kellerhoff Vorwort
Ob es mit dem vorliegenden Buch gelingen wird, den nunmehr 75-jährigen Streit über die Entstehung des Reichstagsbrandes zu beenden, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Sven Felix Kellerhoff legt eine trotz der Komplexität des Gegenstandes gut lesbare und schlüssige Schilderung des Ereignisses und seiner bis heute anhaltenden publizistischen Nachspiele vor und gelangt zu dem Ergebnis, dass an der alleinigen Täterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe nicht gezweifelt werden kann.
Kellerhoff analysiert - auf der Grundlage einer sorgfältigen Auswertung der verfügbaren Quellen - die Brandentstehung, die Reaktion des Reichskabinetts, den politischen Nutzen, den Hitler aus dem Ereignis zog, die Unterdrückung der Linksopposition, die sofort einsetzende Gleichschaltung und die ersten Schritte Hitlers zur Diktatur. Der Autor skizziert danach die weitreichenden Folgen des Reichstagsbrandes für die Durchsetzung des NS-Systems und die sofort auftauchende Kontroverse, ob der Brand den Kommunisten oder den Nationalsozialisten anzulasten sei und ob der geständige Brandstifter van der Lubbe nur als Strohmann gedient habe. Hinter den mit großem Aufwand betriebenen Propaganda- krieg traten die nüchternen Aussagen der untersuchenden Kriminalbeamten zurück, die von der Alleintäterschaft van der Lubbes ausgingen.
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Die Reichstagsbrandkontroverse, die Kellerhoff darstellt, überlebte den Zusammenbruch des NS-Regimes und ist bis heute nicht verstummt. Nach 1945 zweifelte zunächst fast niemand daran, dass die Nationalsozialisten Urheber des Brandes gewesen waren, obwohl Hermann Göring diesen Vorwurf vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg überzeugend zurückgewiesen hatte. Die allgemeine Meinung folgte vielmehr der Aussage von Hans-Bernd Gisevius und dessen Schilderung in seinem 1946 erschienenen Erinnerungsbuch »Bis zum bitteren Ende«. Kellerhoff entlarvt beide als Legende und Machwerk eines Wichtigtuers. Sie bildeten jedoch den Ausgangspunkt aller späteren Bemühungen, den Nationalsozialisten die Schuld beizulegen.
Wie Kellerhoff weiter zeigt, wurde der festgefügte Konsens in der Reichstagsbrandfrage durch den Hobbyhistoriker Fritz Tobias gründlich durchbrochen. Auf Grund eingehender Recherchen wies er 1961 nach, dass van der Lubbe die Wahrheit gesagt und die Nationalsozialisten mit der Brandstiftung nichts zu tun hatten. Anfänglich stand Tobias mit der These der Alleintäterschaft van der Lubbes fast völlig allein. Als ich daran ging, dessen Buch »Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit« für die »Stuttgarter Zeitung« vom
5. Juli 1962 zu rezensieren, und seiner These zustimmte, erging es mir nicht viel anders. Eine breite Phalanx von Historikern und interessierten Zeitzeugen entfesselte eine regelrechte Kampagne gegen alle, die von der »Alleintäterschaft« überzeugt waren. Kellerhoff führt den Leser durch die langjährige Jobsiade einer Reihe von Unentwegten gegen die angebliche »NS-Unschuldslegende «. Den Anfang machte Karl Dietrich Bracher, der Tobias als wissenschaftlichen Dilettanten abtat. Tobias hatte ihn zunächst höflich, dann weniger verbindlich darauf aufmerksam gemacht, dass der von Bracher als NS-Opfer hingestellte Oberbranddirektor Gempp wegen Bestechung vom Berliner Kammergericht verurteilt worden war und daraufhin Selbstmord begangen hatte. Seitdem machte der Vorwurf des Dilettantismus die Runde, obwohl die Tobias-Gegner sich nicht scheuten, in der Historischen Zeitschrift und den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte Autoren zu Worte kommen zu lassen, die über keinerlei fachliche Qualifi kation verfügen.
Die gegen Tobias betriebene Kampagne bediente sich zunehmend unlauterer Mittel. So scheute sich der Berner Ordinarius Walther Hofer, der an deren Spitze trat, nicht, Tobias bei seinem Dienstherrn, dem niedersächsischen Innenminister, als »Reinwäscher« Hitlers anzuschwärzen, und es fehlte auch sonst nicht an Verleumdungen. Der kroatische Journalist Edouard Calic nützte 1968 die Konjunktur zur Gründung des Luxemburger »Europäischen Komitees zur Erforschung der Ursachen des Zweiten Weltkrieges«, für die er neben prominenten Namen die finanzielle Unterstützung des Bundespresseamtes und der Bundeszentrale für Politische Bildung einwarb. Das ermöglichte ihm, den angereisten Honoratioren satte Honorare für deren bloße Anwesenheit zu zahlen. Hofer unterstützte diese Machinationen und verstrickte sich in der Folge selbst in einem Netz von Fälschungen, die Calic fabrizierte, um die NS-Täterschaft zu belegen.
Diese später von Alexander Bahar, Wilfried Kugel und Hersch Fischler fortgeführte Strategie musste, wie das vorliegende Buch zeigt, letztendlich schmählich zusammenbrechen. Das Verdienst, das Lügengespinst, das Calic mit der Rückendeckung Hofers knüpfte, aufzudecken, lag nicht zuletzt bei Karl-Heinz Janßen, damals leitender Redakteur der »Zeit«. Allerdings haben die Verfechter der NS-Urheberschaft des Brandes den Kampf gegen die vermeintliche »NS- Unschuldslegende« noch immer nicht aufgegeben. Er ist allerdings immer mehr zum Selbstzweck geworden, während die internationale Forschung längst zur Tagesordnung übergeht und an der Alleintäterschaft van der Lubbes nicht mehr zweifelt.
Kellerhoff schildert die im Nachhinein grotesk anmutende Auseinandersetzung mit kühler Distanz und nimmt die Rundfunk- und Fernsehanstalten, die sich an der Kampagne beteiligten, von seiner kritischen Betrachtung nicht aus. Der eigentliche und bis heute noch immer nicht hinreichend wahrgenommene Skandal besteht freilich im Versagen der Fachwissenschaft in Deutschland, nicht zuletzt des Instituts für Zeitgeschichte, die sich immer wieder zum Kumpan der Fälscher-Mafia machte und sich nicht scheute, Fälscher zu decken.
Das ausschlaggebende Motiv für die extreme Emotionalisierung der Kontroverse besteht in dem von Bracher erhobenen Vorwurf einer »Verharmlosung« Hitlers und des Nationalsozialismus. Hofer legte mit der Formulierung nach, dass die Alleintäterschaft »volkspädagogisch« unerwünscht sei. Der tiefere Grund für das, wie Kellerhoff betont, extrem hohe »Aufregungspotential« der Polemik liegt in der tradierten Vorstellung von Hitler als zynisch kalkulierendem Machtpolitiker, der alle Fäden in der Hand hielt. Sie ist ein Reflex der Verkehrung des pseudoreligiös aufgeladenen Hitler- Kults in dessen nachträgliche negative Dämonisierung. Mit Recht konstatiert Kellerhoff, dass sich im Beharren auf der NS-Urheberschaft am Reichstagsbrand ein exkulpatorisches Moment verbirgt, das »die Deutschen in ihrer großen Mehrheit als Opfer eines kaltblütig durchgeführten Staatsstreichs « erscheinen lässt. Die politischen Implikationen der Reichstagsbrandkontroverse bedürfen weiter einer öffentlichen Erörterung, für die Kellerhoffs verdienstvolle Darstellung die Voraussetzungen schafft.
Hans Mommsen, Feldafing
Die Brandstiftung
Der Reichstag brennt - der Täter auf frischer Tat ertappt?
Vier bis fünf Grad unter Null zeigten die Thermometer in Berlins Innenstadt am Abend des 27. Februar 1933; ein eisiger Ostwind ließ die gefühlte Temperatur noch niedriger erscheinen. Ansonsten aber schien dieser Montag ein ganz gewöhnlicher Winterabend zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass die Ereignisse dieses Abends in die deutsche Geschichte eingehen und bis in unsere Tage Anlass zu hitzigen Debatten geben würden. Es herrschte Wahlkampf, am kommenden Sonntag sollten die Deutschen schon wieder ein neues Parlament bestimmen, obwohl seit der vorigen Wahl nicht einmal ein halbes Jahr vergangen war. Und natürlich hatte sich viel geändert, seit Adolf Hitler genau vier Wochen zuvor zum Reichskanzler ernannt worden war, als Chef einer Koalition aus NSDAP und Deutschnationalen: Mehrfach seither hatten kommunistische und sozialdemokratische Zeitungen nicht erscheinen dürfen. Tausende SA- und SS-Männer waren vom 22. Februar an zu »Hilfspolizisten« ernannt worden; viele nutzten ihren neuen Status brutal aus. Schlägereien zwischen den braun uniformierten Trupps der Nazi-Partei und Anhängern des Rotfrontkämpfer-Bundes häuften sich; mehr als ein Dutzend Menschen waren bei Ausschreitungen seit dem 30. Januar allein in der Reichshauptstadt ums Leben gekommen. Dass alle Parteien im laufenden Wahlkampf gleiche Chancen hätten, glaubte längst niemand mehr. Denn die von Hermann Göring kontrollierte preußische Polizei löste Versammlungen der Opposition bei nichtigen Anlässen auf, während die NSDAP praktisch nie auf diese Weise behindert wurde.1
Im Reichstagsgebäude war es am 27. Februar ruhig, denn Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte das Parlament unmittelbar nach Hitlers Ernennung aufgelöst. Die KPD nutzte ihre Fraktionsbüros im Reichstag als Ausweichsitz, nachdem die Polizei die reguläre Parteizentrale, das KarlLiebknecht- Haus am Bülowplatz, kurz zuvor besetzt, durchsucht und gesperrt hatte. Doch noch gaben die Hitler-Gegner nicht auf: Die SPD hatte die große Versammlung zum 50. Todestag von Karl Marx im Sportpalast vom eigentlichen Stichdatum, dem 14. März, vorgezogen auf diesen Montagabend, um möglichst viele ihrer Wähler zu mobilisieren. Allerdings löste die Polizei die Veranstaltung vorzeitig auf - deshalb musste eine ungenehmigte Demonstration aufgebrachter Sozialdemokraten durch das Regierungsviertel befürchtet werden. Doch zerstreute sich die Menge friedlich; rund um den Reichstag blieb alles ruhig.2
Allerdings nur bis gegen 21 Uhr. Um diese Zeit war der Theologie-Student Hans Flöter gerade auf dem Heimweg. Er arbeitete so oft wie möglich in der Preußischen Staatsbibliothek, und so hatte er sich auch an diesem Abend lange in den Lesesälen des Prachtbaus Unter den Linden aufgehalten. Nun ging er zügig nach Hause, in die Hindersinstraße zwischen Reichstag und Spree. Sein Weg führte ihn über den Königsplatz zwischen dem Bismarck-Nationaldenkmal und der Westseite des Reichstages, die nur mäßig beleuchtet war - der Berliner Magistrat hatte die städtischen Gaswerke angewiesen, ab dem 1. Oktober 1932 in den Laternen nur jede zweite Flamme zu betreiben. Gerade passierte Flöter den südlichen Beginn der Rampe, die hinaufführt zur Vorfahrt des Parlaments, als ihn ein scharfes Splittern aufschrecken ließ. Das Geräusch kam vom Reichstag, genauer: von einem Fenster im Hauptgeschoss direkt neben dem großen Portikus. Der Student blickte hinauf, als sich das Klirren wiederholte. Offensichtlich brach hier Glas - und das konnte kaum etwas Gutes bedeuten. Sein Eindruck bestätigte sich, als er schemenhaft eine Gestalt erkannte, die offenbar etwas Brennendes in der Hand hielt. Flöter hatte genug gesehen: Das war ein Fall für die Polizei. Weil er regelmäßig am Reichstag entlangging, wusste er, dass hier auch abends stets zwei Schupos, wie die Schutzpolizisten in Berlin meist genannt wurden, patrouillierten. Sofort lief der Student los und stieß auf der nördlichen Seite der Auffahrt tatsächlich auf einen Beamten, den Oberwachtmeister Karl Buwert. Ihm rief Flöter zu, dass sich jemand gewaltsam Zugang ins Parlament verschafft habe, doch der Schupo zögerte zunächst. Erst als der Student ihm auch sagte, dass er Feuer gesehen habe, reagierte Buwert und rannte zur anderen Seite der Rampe. Flöter fühlte seine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt und setzte seinen Heimweg fort. Zuvor aber schaute noch einmal auf seine Taschenuhr, die 21.05 Uhr zeigte.3
Unmittelbar darauf entdeckte Buwert selbst einen fl ackernden Flammenschein im Hauptgeschoss. Zu dem Polizisten waren inzwischen zwei weitere Passanten gekommen: Der 21-jährige Schriftsetzer Werner Thaler war auf dem Weg zum Lehrter Bahnhof auf der anderen Spreeseite. Als er gerade am Südportal des Reichstages vorbeikam, hörte auch er Glas splittern und meinte, auf dem Balkon vor dem Reichstagsrestaurant zwei Männer zu erkennen - vielleicht war es aber auch eine Person und ihr Schatten. Thaler suchte sofort nach jemandem, den er alarmieren konnte, und fand Buwert. Ungefähr zur gleichen Zeit war ein weiterer junger Mann dazu gestoßen. Der Oberwachtmeister hielt ihn für den Studenten Flöter, doch der war schon weiter gegangen Richtung Spree. Zu dritt starrten Buwert, Thaler und der junge Mann nun auf die Fenster des Reichstagsrestaurants; dort brannten offenbar bereits mehrere Vorhänge - nun gab es keinen Zweifel mehr, dass wenige Meter vor ihren Augen eine Brandstiftung im Parlament ablief. Thaler forderte den Oberwachtmeister auf: »Nun schießen Sie doch!« Der Polizist griff zu seiner Dienstwaffe und feuerte auf den Schemen, der sich nun durch das Erdgeschoss des Südwestflügels bewegte, allerdings ohne zu treffen. Im nächsten Moment, etwa um 21.10 Uhr, befahl Buwert dem jungen Mann: »Rennen Sie doch schnell rüber zur Brandenburger-Tor-Wache und alarmieren Sie die. Sagen Sie, dass der Reichstag brennt!« Das ließ sich der junge Mann nicht zweimal sagen: Er eilte los zum Pariser Platz. Derweil liefen zwei Ehepaare auf den Polizisten zu und meldeten, dass sie Feuer im Reichstag wahrgenommen hätten. Buwert schickte auch sie los, Alarm zu geben. Die beiden Männer und eine der Frauen suchten zunächst erfolglos einen Feuermelder, bevor sie zum »Haus der Ingenieure« an der Friedrich- Ebert-Straße gingen und dort den Portier aufforderten, per Telefon Meldung zu machen. Während Buwert weiter an der Südwestseite des Reichstages den Feuerschein hinter den Fenstern beobachtete, kamen ihm, aufgeschreckt durch den Schuss, zwei Kollegen zu Hilfe, die im Tiergarten Streife gegangen waren. Nach kurzer Beratung rannte einer von ihnen weiter zur Moltkestraße; dort stand ein fest installierter Feuermelder. Es war etwa 21.12 Uhr.4
Eine Minute später verzeichnete die Hauptwache der Berliner Feuerwehr in der Lindenstraße den Eingang des Notrufes aus dem »Haus der Ingenieure«. Sofort wurde die nächstgelegene Feuerwache in der Linienstraße 128/129 benachrichtigt und von dort raste um 21.14 Uhr ein erster Löschzug los. Nach weiteren 60 Sekunden löste der Alarm vom Feuermelder an der Moltkestraße das Ausrücken noch eines Zuges aus; diesmal vom Revier Turmstraße 22. Wohl weil die Feuermelder im Reichstagsgebäude selbst nicht ausgelöst worden waren, unterblieb die eigentlich für den Fall eines Brandes im Parlament vorgesehene Alarmierung eines Zuges. Die jeweils vier Fahrzeuge der beiden Feuerwachen fuhren Richtung Reichstag, mit Glocken und Fanfaren, aber entsprechend ihrer Dienstanweisung »so vorsichtig, dass das Fahrtziel mit Sicherheit erreicht wird«. Etwa gleichzeitig erreichte der junge Mann, den Buwert zur Polizei geschickt hatte, die Wache am Brandenburger Tor. Er meldete: »Sofort kommen! Der Reichstag brennt!« Der Offi zier vom Dienst, Polizeileutnant Emil Lateit, sprang auf und machte sich mit zwei Schutzleuten per Streifenwagen auf den Weg; weitere Männer ließ er auf einem Laster nachkommen. Ihre Abfahrt vermerkte ein zurückbleibender Beamter vorschriftsmäßig im Wachbuch des Reviers mit der genauen Zeit: 21.15 Uhr. Zwei Minuten später hatte sich Lateit vor Ort einen ersten Eindruck verschafft und erkannte, dass tatsächlich ein Notfall vorlag. Er schickte einen seiner Begleiter zur Wache zurück, um beim Polizeipräsidium Verstärkung anzufordern.
Oberwachtmeister Buwert machte dem Leutnant Meldung und teilte mit, dass die Feuerwehr bereits alarmiert sei. Lateit befahl, Großalarm zu geben, dann lief er los, um einen Eingang ins Reichstagsgebäude zu finden. Das Südportal war verschlossen, die Loge nicht besetzt - also rannte der 34-jährige Polizeioffizier die Sommerstraße an der Ostfassade des Reichstages entlang, wo es zwei weitere Eingänge gab, die er aber beide ebenfalls verschlossen fand. Lateit eilte weiter, bis er schließlich im bis 22 Uhr geöffneten Nordportal auf den Nachtpförtner Albert Wendt traf. Der hatte vom Feuer im Parlamentsgebäude gerade erst von einem anderen Polizisten erfahren - verständlich, war seine Loge doch gut hundert Meter quer durch das Gebäude vom Tatort entfernt. Wendt rief umgehend seinen Chef an, den Hausinspektor des Reichstages Alexander Scranowitz, erreichte ihn aber nicht. Im nächsten Moment schrillte Wendts Telefon, und der Portier hörte Scranowitz fragen, was los sei? Der Hausinspektor hatte in seiner Dienstwohnung am Reichstagsufer die Feuerwehr vorbeirasen gesehen. Wendt antwortete ihm, es brenne im Restaurant des Reichstages. Scranowitz fuhr seinen Untergebenen an: »Und das melden Sie mir nicht?«, schnappte sich seinen Mantel und hetzte zum Parlament hinüber. Es war ungefähr 21.20 Uhr, als der Hausinspektor beim Portal zur Spree hin eintraf; sofort ging er mit mehreren Polizisten hinein. Sie liefen durch die weiten Wandelhallen, um sich ein Bild von der Lage zu machen; dabei verloren sie sich aus den Augen. Lateit blickte zuerst in den Plenarsaal, wohl gegen
21.21 Uhr. Er sah offene Flammen am Präsidententisch und spürte große Hitze. Der Leutnant kehrte um und rannte zurück zum Portal, wobei ihm auch an anderen Stellen kleine Brandherde auffielen. Nun war er überzeugt: So viele einzelne Feuer konnten nicht gleichzeitig entstanden sein, ohne dass jemand nachgeholfen hatte. Also befahl der Polizeioffi zier seinen Kollegen: »Waffen heraus! Brandstiftung!«, dann machte er sich auf den Rückweg zur Wache, um Meldung zu machen. Derweil kamen gegen 21.23 Uhr der Hausinspektor und der Polizist Helmut Poeschel ebenfalls zum zentralen Raum des Parlaments. Scranowitz blickte »nur den Bruchteil einer Sekunde« hinein und schloss »blitzschnell« die Tür wieder. In dem einen Augenblick fiel ihm aber auf, dass die Vorhänge hinter dem hölzernen Präsidium schon hell brannten; außerdem meinte er weitere kleinere Feuer zu sehen. Noch aber war relativ wenig Rauch in dem riesigen Raum.5
In diesem Moment hatten die Löscharbeiten im Reichstag gerade begonnen. Oberbrandmeister Emil Puhle und seine Männer von der Feuerwache Linienstraße kletterten gegen 21.22 Uhr mit Steckleitern zum Hauptgeschoss empor. Mit einer Axt schlug Puhle eigenhändig ein Fenster zum Parlamentsrestaurant ein; die eingetretene Scheibe des Nachbarfensters übersah er in seiner Eile. Schnell wurden die kleineren Feuer im Restaurant gelöscht, doch die Feuerwehrmänner wussten nicht, ob es weitere Brandherde im Inneren des Reichstages gab; Puhle ging deshalb gleich weiter hinein. Etwa im selben Moment liefen Brandmeister Waldemar Klotz und seine Leute von der Feuerwache Turmstraße durch das Nordportal in den Reichstag; sie stürmten mit Eimerspritzen hinauf ins Hauptgeschoss. Beim Austreten von kleinen Feuern im Teppich einer Wandelhalle nahm Klotz einen hellen Lichtschein vor sich wahr, in Richtung Mitte des Reichstages. Daraufhin schaute er gegen 21.25 Uhr in den Plenarsaal, der jetzt mit dichtem Rauch gefüllt und dunkel war. Zwar sah er keine offenen Feuer, aber ihm schlug wie mit einem starken Luftzug außerordentliche Hitze entgegen. Instinktiv schloss Klotz die Pendeltür sofort wieder, weil er »eine Stichflamme« fürchtete. Der Brandmeister wusste, was zu tun war: Er ließ einen Schlauch herbeischaffen, um den Plenarsaal mit Wasser zu kühlen. Nur zwei Minuten später begannen Klotz und seine Leute mit ihrem Versuch, das Schlimmste noch zu verhindern - doch sie kamen zu spät.6
Denn ungefähr um 21.27 Uhr ging der Plenarsaal »ruckartig in ein Flammenmeer auf«, wie später der Branddirektor der Berliner Feuerwehr, Gustav Wagner, in einem Gutachten festhielt. Vor Ort spürte Oberbrandmeister Puhle, dass nach dem Öffnen der Tür zum Saal erst Hitze hinausschlug, sich dann jedoch der Luftzug schlagartig umkehrte; dann sah er eine Flamme, die »zur Kuppel empor« brauste. Von einem Moment auf den anderen war der Plenarsaal »ringsherum von oben bis unten und in der Mitte ein einziges Flammenmeer«, in dem eine »sehr große strahlende Hitze« herrschte. Auch Zugführer Klotz beobachtete, wie sich die Flammen blitzschnell ausweiteten: »Ich sah, wie es hinter der Milchglasscheibe, durch die ich zunächst hindurch gesehen hatte, feuerrot wurde.« Ein weiterer Feuerwehrmann, Fritz Polchow, sagte bei der Polizei aus, »derartiges von Luftzug bei einem Brande noch nicht erlebt« zu haben; er musste sich »förmlich festhalten, um nicht in die Flamme gerissen zu werden«. Sein Kollege Willy König fühlte sich an ein »angefachtes Schmiedefeuer « erinnert; auch er spürte nach dem Öffnen der Tür die plötzliche Umkehrung des Luftzuges. Unmittelbar darauf kam es zur Zündung, einem »hörbaren Puff«. Ein Feuerwehrmann hatte den Eindruck, es »wäre eine Rakete explodiert «. Sofort platzte die gläserne Staubdecke des Plenarsaals und eröffnete den auflodernden Flammen einen freien Abzug erst in den Luftraum unter der Kuppel und, als deren Glas nicht standhielt, hinaus in die kalte Februarluft. Nun konnte die hölzerne Einrichtung des Plenarsaals, begünstigt durch einen praktisch idealen Kamineffekt, zum Raub der Flammen werden.7
Hausinspektor Scranowitz und der Schupo Poeschel waren nach ihrem Blick in den Plenarsaal weiter durchs Hauptgeschoss gelaufen. Sie durchquerten mehrere Nebenräume; die dicken Teppiche verschluckten ihre schnellen Schritte. Schließlich gelangten sie in den Bismarck-Saal. Als sie gerade unter dem großen Kronleuchter standen, stolperte ihnen etwa um 21.26 Uhr aus Richtung der Klubräume um den südlichen Innenhof eine Gestalt entgegen. Als der Schemen die beiden Männer sah, stoppte er jäh und machte dann einen Schritt zurück. Doch Poeschel hatte schon seine Pistole im Anschlag und schrie: »Hände hoch!« Die Gestalt, die Brust bis auf Hosenträger nackt, hob sofort die Arme. Poeschel sah nun, dass es sich um einen ungepflegten Burschen handelte, groß und kräftig; die dunklen Haare hingen ihm wirr über die Stirn. Der Beamte durchsuchte den jungen Mann schnell, fand aber keine Waffen, sondern nur ein Taschenmesser, das er ihm abnahm. In der Gesäßtasche hatte der Halbnackte einen Pass, den Poeschel aufblätterte. Kein Zweifel: Dieser Mann gehörte nicht ins Parlament; schon gar nicht, während gerade ein Feuer gelöscht wurde. Der Polizist war sich sicher, dass er den Brandstifter gestellt hatte. Gleichzeitig brüllte der vor Wut zitternde Scranowitz den mutmaßlichen Täter an: »Warum hast Du das gemacht?« Der stieß mit hartem Akzent heraus: »Protest, Protest!« Da konnte der Hausinspektor nicht mehr an sich halten: Er schlug mit aller Kraft zu. Poeschel nahm den jungen Mann, der laut Pass Niederländer war und Marinus van der Lubbe hieß, in den Polizeigriff und schob ihn zum Ausgang. Dort warf jemand dem Verdächtigen eine Decke über; dann brachte Poeschel ihn hinüber ins Revier am Brandenburger Tor, wo er laut Wachbuch um 21.35 Uhr ankam.8
Der Brand
Löscharbeiten, Augenzeugen und erste Maßnahmen der NSDAP-Spitze
Als kurz vor halb zehn Uhr abends die bis dahin relativ kleinen Brandstellen im Plenarsaal schlagartig zu einem Großfeuer wurden, hielten sich mehr als zwei Dutzend Feuerwehrleute und Polizisten im Reichstag auf. Nach einer Schrecksekunde erkannten mehrere von ihnen den Ernst der Lage und befahlen unabhängig voneinander, eine höhere Alarmstufe auszulösen - wofür sie allerdings erst einmal einen Feuermelder oder ein Telefon finden mussten. Denn Funkgeräte hatten Feuerwehrleute seinerzeit noch nicht. Zwischen 21.31 und
21.33 Uhr trafen mehrere Anforderungen nach Verstärkung in der Hauptfeuerwache in Kreuzberg ein, die sofort weitere Reviere benachrichtigte. Anderthalb Minuten später setzten sich drei Dutzend weitere Löschfahrzeuge in Bewegung. Unmittelbar nach den Revieren unterrichtete die Zentrale Berlins Feuerwehr-Chef Walter Gempp. Ein Dienstwagen brachte ihn so schnell wie möglich an den Einsatzort, wo er gegen 21.41 Uhr eintraf; eine Minute später ordnete der Feuerwehr-Chef höchste Alarmstufe an. Noch einmal fünf Wachen schickten ihre Fahrzeuge los; außerdem dampften auf der Spree mehrere Löschboote heran. Damit war fast die gesamte Berliner Feuerwehr vor Ort, von der Wache Suarezstraße im Westen bis zur Wache Lichtenberg im Osten, von Wedding im Norden bis Steglitz im Süden. »Mit bemerkenswerter Ruhe und Übersicht«, so ein Augenzeuge, gingen die Feuerwehrleute am Reichstag »ihrem schweren Beruf nach«.9 Gegen 21.45 Uhr erreichte der Brand seinen Höhepunkt: »Zwischen den vier Seitenflügeln ragt die riesige Glaskuppel des Mittelteils als ein einziges Feuermeer in den Nachthimmel. Der Schein der Flammen, die aus dem Inneren herauslodern, beleuchtet grell die dunklen umliegenden Gebäudeteile. An der steinernen Kuppelkrönung züngeln die Flammen empor«, berichtete der Reporter des »Berliner Tageblatts«. Seine Eindrücke gab er telefonisch an die Redaktion in der Jerusalemer Straße durch, die sie kaum redigiert in die Morgenausgabe der liberalen Zeitung setzte: »Funken wirbeln durch die Luft und werden von dem heftigen Wind weithin über den Platz vor dem Reichstagsgebäude getragen. In den von der Straße aus sichtbaren unteren Stockwerken ist von dem Brand im Inneren nichts zu sehen. Lediglich an der zur Sommerstraße hin gelegenen Seite des Reichstagsgebäudes sieht man durch die riesigen bunten Fenster des Treppenhauses den glühend roten Schein der Flammen.«10
Seit die Kuppel vom Feuer hell erleuchtet war, konnte man auch im Umkreis sehen, dass im Parlamentsgebäude etwas nicht stimmte. Der Schüler Reinhold Thielitz, der mit seinen Eltern in der Hindersinstraße wohnte, erfuhr es von seiner Mutter und stürmte sofort zum Fenster: »Zu diesem Zeitpunkt war die Kuppel noch intakt und innen von den Flammen hell erleuchtet. Ich habe dann sofort bei Ullstein angerufen und den Brand gemeldet. Dafür bekam man drei oder fünf Mark. Meiner Erinnerung nach war ich der zweite. Ich bin dann sofort heruntergerannt. Es war eine kalte, dunkle, stürmische Nacht.« Wie der neugierige Schüler Thielitz reagierten viele Berliner: »Auf die erste Kunde ›Der Reichstag brennt!‹ hin eilten aus den umliegenden Straßen Menschen herbei«, berichtete die »Vossische Zeitung«. Bald waren es »viele Tausend« Neugierige, so dass Polizisten gegen 21.40 Uhr eine Absperrung um das Reichstagsgebäude legen mussten, »um die andrängenden Menschenmassen abzuwehren«.
Für die Schaulustigen gab es einiges zu sehen, wie ein zum Brandort geeilter Reporter des »Berliner Lokalanzeigers« seinen Lesern berichtete: »Riesenflammen, die bis nach Charlottenburg und dem Stadtinneren zu sehen waren, schlugen aus der Kuppel heraus.« Die »Berliner Morgenpost« schrieb: »Das Reichstagsgebäude gleicht nach allen Seiten einer belagerten Burg. Ringsum stehen in endlosen Ketten die Fahrzeuge der Feuerwehr, häufen sich die roten Schlauchleitungen und türmen sich die Leitern, die hier zunächst noch keine Hilfe bringen können, weil das Feuer mehr im Inneren und zur Spitze der Kuppel hinauf wütet. Von allen vier Fronten haben die Feuerwehrleute die Fenster des Reichstagsgebäudes durchschlagen, die Schlauchleitungen wälzen sich konzentrisch ins Innere.« Der Journalist vermerkte auch die »ungeheuren Menschenmassen« rund um den Reichstag und die Absperrung, durch die nur noch Minister und Abgeordnete durchgelassen würden, »an ihrer Spitze Reichstagspräsident Göring«.
Aber natürlich wollte auch der »Morgenpost«-Reporter ins brennende Parlament und das gelang ihm: »Das Innere des Hauses bietet beim Betreten ein Bild der Zerstörung. In den weiten Hallen schwelt und lagert der Rauch, Polizei und Feuerwehrleute eilen verstört durcheinander, jeder einzelne, dem es trotzdem gelungen ist, das Haus zu betreten, wird scharf auf Ausweise kontrolliert: die Kontrolle ist nicht ohne Grund, da Brandstiftung vorliegt. Über die roten Velourläufer der großen Treppen und der Wandelhallen ziehen sich die Schlauchleitungen hinweg; schon im Treppenhaus spürt man die ungeheure Hitze, die einem entgegenschlägt. Je näher man dem Plenarsaal kommt, desto größer wird die Hitze. Niemand, auch die Feuerwehrleute mit ihren Rauchschutzapparaten, kann in den Plenarsaal vordringen, die rote Wand der Flammen schlägt alle Angriffe zurück. Durch die Türen, durch die sonst die Abgeordneten ein- und ausgehen, kann man einen Blick in das Flammenmeer tun.« Die Feuerwehrmänner gaben ihr Möglichstes: Sie ließen aus ihren Schläuchen Tonne um Tonne Wasser in den Brandherd prasseln. Längst war ihnen klar, dass der Saal selbst nicht zu retten war; es ging nur noch darum, das Übergreifen des Feuers auf weitere Räume des Gebäudes zu verhindern, darunter vor allem auf die berühmte Reichstagsbibliothek. Außerdem bestand die Gefahr, dass die massiven Steinpfeiler, auf denen die Konstruktion der Kuppel ruhte, an Stabilität verloren. Dann wäre das ganze Gebäude gefährdet gewesen.11
André François-Poncet, Frankreichs Botschafter in Berlin, saß gerade mit einer größeren Zahl von Gästen im Speisesaal der Botschaft am Pariser Platz, unter ihnen der reaktionäre Finanzminister des Kabinetts Hitler, Lutz Schwerin von Krosigk. Plötzlich meldete ein Angestellter dem Hausherren, dass der Reichstag brenne - nach François-Poncets Erinnerung gegen neun Uhr abends, in Wirklichkeit gut eine halbe Stunde später. Der Diplomat stand auf und ging in einen benachbarten Raum, aus dessen Fenster zum Botschaftsgarten hin man die nahe gelegene Reichstagskuppel sehen konnte. In seinen Memoiren beschrieb er den Anblick: »Die Glaskuppel ist hellrot, als habe man sie von innen mit rotem bengalischem Feuer beleuchtet.« François-Poncet kehrte zu seinen Gästen zurück und informierte sie; dabei fiel ihm »Verblüffung auf allen Gesichtern« auf. Nur Schwerin von Krosigk habe mit »befremdlicher Freude« ausgerufen: »Gott sei Dank!« Wahrscheinlicher aber ist, dass sich der Franzose verhört und der Reichsfinanzminister »Mein Gott!« gesagt hatte.12
Im gegenüber der Ostfassade des Reichstages gelegenen Palais des Reichstagspräsidenten lag zur selben Zeit der Auslandspressechef der NSDAP, Ernst Hanfstaengl, mit Fieber und Schüttelfrost im Bett. Der Münchner hatte Göring um die Unterkunft im komfortablen Palais gebeten, um »Hitlers Hotelkosten« zu verringern, »und Göring kostete es wiederum keinen Pfennig«, zumal er selbst seine Dienstwohnung hier gar nicht benutzte. Hanfstaengl sagte am 27. Februar krankheitsbedingt eine Einladung in die Charlottenburger Wohnung von Joseph Goebbels ab, wo er an diesem Abend für Hitler auf dem Flügel hätte spielen sollen, und legte sich früh schlafen. Plötzlich schreckte er auf, weil sein Zimmer hell erleuchtet war. Bevor er noch ganz wach war, stürzte eine Angestellte in sein Zimmer und rief: »Herr Doktor, Herr Doktor, der Reichstag brennt lichterloh!« Augenblicklich sprang Hanfstaengl aus dem Bett heraus und ans Fenster; es dürfte wenige Minuten nach halb zehn Uhr abends gewesen sein. Er lief zum Telefon: »Ich rief Goebbels an: ›Ich muss unbedingt Herrn Hitler sprechen‹, sagte ich atemlos. Was denn los sei, meinte Goebbels, ob er es denn nicht weitermelden könne. Schließlich verlor ich die Geduld: ›Sagen Sie ihm, der Reichstag brennt!‹ - ›Hanfstaengl, soll das ein Witz sein?‹ antwortete Goebbels kurz. - ›Wenn Sie mir das zutrauen, kommen Sie doch her und sehen Sie es sich selbst an‹, erwiderte ich und hing auf.« Verärgert benachrichtigte Hanfstaengl als nächstes einige Auslandskorrespondenten und als er wieder auflegte, schrillte der Apparat. Goebbels rief zurück und wollte wissen, was wirklich los sei. Doch der Auslandspressechef, der sich ohnehin nicht gut mit dem Berliner Gauleiter verstand, ließ ihn abblitzen: »Kommen Sie gefälligst selbst her und überzeugen Sie sich, ob ich Unsinn rede oder nicht. Das ganze Gebäude steht in Flammen und die Feuerwehr ist schon da.« Wenige Stunden später notierte Goebbels ganz ähnlich in seinem Tagebuch: »Um neun Uhr kommen Hitler und Auwi [Prinz August Wilhelm von Preußen]. Musik und Palaver. Da Anruf Hanf staengl: Der Reichstag brennt; tolle Phantasie. Aber es stimmt. Gleich mit Hitler herunter gerast.« Gut acht Kilometer Weg lagen zwischen Goebbels' Wohnung am Reichskanzlerplatz und dem Reichstag, so dass der NSDAP-Chef und sein Chefpropagandist sowie ein Begleitwagen dort frühestens 20 Minuten nach dem zweiten Telefonat mit Hanfstaengl ankamen, wahrscheinlich kurz nach 22 Uhr.13
Weniger weit hatte es Hermann Göring, der in fragwürdiger Ämterhäufung gleichzeitig als Reichstagspräsident, als Minister ohne Geschäftsbereich im Reichskabinett, als kommissarischer Innenminister Preußens und als Reichskommissar für den Luftverkehr amtierte. Er verbrachte diesen Abend in seinem wichtigsten Dienstsitz, dem Preußischen Innenministerium Unter den Linden 72/73, zwischen Wilhelm- und Schadowstraße. In der letzten Woche vor den Reichstagswahlen wollte er Preußen, das größte Land des Reiches, das jeweils drei Fünftel der Fläche, der Einwohner und auch der Polizei ganz Deutschlands umfasste, »ausmisten«, wie die NS-Presse seine Tätigkeit umschrieb; Göring selbst formulierte scheinbar harmloser: »Ich erwarte und hoffe, dass alle Beamten sich mit mir eins fühlen in dem Ziel, durch die Stärkung und Zusammenfassung aller nationalen Kräfte unser Vaterland vor dem drohenden Verfall zu retten.« Zwischen 21.20 und 21.25 Uhr erreichte die Nachricht, im Reichstag brenne es, das Büro des Parlamentspräsidenten. Wann genau und durch wen ist unklar, denn später nahmen mehrere Personen in Anspruch, die Nachricht übermittelt zu haben - darunter ein Portier des Reichstagspräsidentenpalais sowie Hausinspektor Scranowitz, der seiner Frau aufgetragen hatte, den Hausherren zu informieren. Ein Adjutant platzte in Görings Besprechung mit seinem kürzlich ernannten Leiter der Polizeiabteilung Ludwig Grauert. Nach dessen Erinnerung sagte sein Chef: »Das ist ja eine Riesenschweinerei. Sofort einen Wagen, ich fahre gleich hin!« Etwa um diese Zeit kam es im Plenarsaal zur ruckartigen Ausbreitung des Brandes. Gegen 21.45 Uhr traf seine Limousine am Reichstag ein; der Minister ging hinein. Unter das Gefolge Görings hatte sich Douglas Reed gemischt, der Berliner Korrespondent der Londoner »Times« - ohne Erlaubnis: »Ich rannte über die Straße und kam zum Portal II, dem Abgeordneteneingang, als gerade eine massive Person in gewaltigem Trenchcoat und weichem Hut vor mir auftauchte und mit einigen Begleitern ins Gebäude ging. Ich schloss mich ihnen an. Im Inneren waren ein oder zwei Polizisten und Feuerwehrleute brachten gerade einen Schlauch hinein. Der energische Mann im Trenchcoat gab sich resolut und zeigte alle Anzeichen erheblichen Ärgers. In einer Telefonzelle nahe beim Eingang entdeckte er einen Mann beim Telefonieren. Er machte einen Satz auf ihn zu und herrschte ihn mit Donnern in der Stimme an, was er denn hier tue? Dieser Mann, ein Journalist, der gerade mit seiner Redaktion sprach, erlebte eine unangenehme halbe Minute, bis er seine Anwesenheit erklären konnte. Dann forderte ihn der massige Mann auf zu verschwinden.« Von welcher Zeitung der Reporter war, wurde nie bekannt; auf jeden Fall waren mindestens ein Journalist der »Berliner Morgenpost« und einer des »Lokalanzeigers« bereits vor dem nächtlichen offiziellen Pressetermin im brennenden Reichstag - möglicherweise war es einer von diesen beiden, den Göring hinauswerfen ließ. Wenig später fiel dem Reichstagspräsidenten ein unbekannter Mann in seinem Tross auf und daraufhin musste auch Douglas Reed den Reichstag umgehend verlassen. »Die Presse hat hier nichts zu suchen«, lautete die unmissverständliche Anweisung.14
Einige Minuten später erstattete Feuerwehr-Chef Gempp dem Hausherrn des brennenden Gebäudes Bericht. Dieses Gespräch fand, so Gempp, »ich schätze: eine Viertelstunde, nachdem ich selbst eingetroffen war« statt. Der Feuerwehr- Chef hatte sich zuvor natürlich ein eigenes Bild gemacht: »Ich war inzwischen im Gebäude gewesen. Der Plenarsaal brannte lichterloh. Ich habe noch am Präsidentenpult den Befehl gegeben, dass sich die Beamten mehr zurückziehen sollten, da Einsturzgefahr bestand.« In der Tat war es unter der Kuppel lebensgefährlich: »Die Löscharbeiten gestalteten sich äußerst schwierig, da die Feuerwehrleute nicht in den brennenden Sitzungssaal eindringen konnten, da fortwährend unter lautem Krachen Teile der abgebrannten Holzverkleidungen und Eisenteile in die Tiefe stürzten.« Nach seinem Rückzugsbefehl ging Gempp hinaus, um seinen Einsatzkräften Befehle zu geben. Dabei traf er auf Göring, der auf die ordnungsgemäße Meldung hin etwa antwortete: »Lassen Sie sich nicht stören. Sie haben die Verantwortung.« Es dürfte nun kurz vor 22 Uhr gewesen sein.15
Wenig später kam Hitler mit Goebbels am Reichstag an; Goebbels' erster Eindruck: »Das ganze Gebäude steht in Flammen.« Dem Reichskanzler und seiner Begleitung schloss sich, ähnlich wie es zuvor Reed bei Göring versucht hatte, ein britischer Journalist an. Der Korrespondent des »Daily Express«, Sefton Delmer, hatte in seiner Wohnung zwischen Potsdamer Platz und Landwehrkanal vom Brand erfahren; er war daraufhin die mehr als zwei Kilometer zum Reichstag geeilt, weil sein Auto weit ab in einer Garage stand und er auf dem Weg kein Taxi bekam. Er lief um das brennende Gebäude herum und sammelte erste Eindrücke, sprach mit diesem und jenem Augenzeugen, auch mit seinem Kollegen Douglas Reed, der von dem Rauswurf durch Göring berichtete. »›Mein Gott, welche Schande‹, dachte ich. ›Geschlagen von dieser langweiligen alten Postkutsche, der Times! Schrecklich!‹ « Doch dann entdeckte Delmer, wie Hitler vorfuhr und in den Reichstag eilte. Delmer fragte frech, ob er mitkommen dürfe. Er durfte und gab seinen Bericht noch in derselben Nacht an seine Redaktion weiter. Am folgenden Tag erschien der »Daily Express« mit der weltexklusiven Schlagzeile: »The Reichstag in Flames Last Night. ›Daily Express‹ Correspondent Accompanies Hitler Into Blazing Building.«
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Die Reichstagsbrandkontroverse, die Kellerhoff darstellt, überlebte den Zusammenbruch des NS-Regimes und ist bis heute nicht verstummt. Nach 1945 zweifelte zunächst fast niemand daran, dass die Nationalsozialisten Urheber des Brandes gewesen waren, obwohl Hermann Göring diesen Vorwurf vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg überzeugend zurückgewiesen hatte. Die allgemeine Meinung folgte vielmehr der Aussage von Hans-Bernd Gisevius und dessen Schilderung in seinem 1946 erschienenen Erinnerungsbuch »Bis zum bitteren Ende«. Kellerhoff entlarvt beide als Legende und Machwerk eines Wichtigtuers. Sie bildeten jedoch den Ausgangspunkt aller späteren Bemühungen, den Nationalsozialisten die Schuld beizulegen.
Wie Kellerhoff weiter zeigt, wurde der festgefügte Konsens in der Reichstagsbrandfrage durch den Hobbyhistoriker Fritz Tobias gründlich durchbrochen. Auf Grund eingehender Recherchen wies er 1961 nach, dass van der Lubbe die Wahrheit gesagt und die Nationalsozialisten mit der Brandstiftung nichts zu tun hatten. Anfänglich stand Tobias mit der These der Alleintäterschaft van der Lubbes fast völlig allein. Als ich daran ging, dessen Buch »Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit« für die »Stuttgarter Zeitung« vom
5. Juli 1962 zu rezensieren, und seiner These zustimmte, erging es mir nicht viel anders. Eine breite Phalanx von Historikern und interessierten Zeitzeugen entfesselte eine regelrechte Kampagne gegen alle, die von der »Alleintäterschaft« überzeugt waren. Kellerhoff führt den Leser durch die langjährige Jobsiade einer Reihe von Unentwegten gegen die angebliche »NS-Unschuldslegende «. Den Anfang machte Karl Dietrich Bracher, der Tobias als wissenschaftlichen Dilettanten abtat. Tobias hatte ihn zunächst höflich, dann weniger verbindlich darauf aufmerksam gemacht, dass der von Bracher als NS-Opfer hingestellte Oberbranddirektor Gempp wegen Bestechung vom Berliner Kammergericht verurteilt worden war und daraufhin Selbstmord begangen hatte. Seitdem machte der Vorwurf des Dilettantismus die Runde, obwohl die Tobias-Gegner sich nicht scheuten, in der Historischen Zeitschrift und den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte Autoren zu Worte kommen zu lassen, die über keinerlei fachliche Qualifi kation verfügen.
Die gegen Tobias betriebene Kampagne bediente sich zunehmend unlauterer Mittel. So scheute sich der Berner Ordinarius Walther Hofer, der an deren Spitze trat, nicht, Tobias bei seinem Dienstherrn, dem niedersächsischen Innenminister, als »Reinwäscher« Hitlers anzuschwärzen, und es fehlte auch sonst nicht an Verleumdungen. Der kroatische Journalist Edouard Calic nützte 1968 die Konjunktur zur Gründung des Luxemburger »Europäischen Komitees zur Erforschung der Ursachen des Zweiten Weltkrieges«, für die er neben prominenten Namen die finanzielle Unterstützung des Bundespresseamtes und der Bundeszentrale für Politische Bildung einwarb. Das ermöglichte ihm, den angereisten Honoratioren satte Honorare für deren bloße Anwesenheit zu zahlen. Hofer unterstützte diese Machinationen und verstrickte sich in der Folge selbst in einem Netz von Fälschungen, die Calic fabrizierte, um die NS-Täterschaft zu belegen.
Diese später von Alexander Bahar, Wilfried Kugel und Hersch Fischler fortgeführte Strategie musste, wie das vorliegende Buch zeigt, letztendlich schmählich zusammenbrechen. Das Verdienst, das Lügengespinst, das Calic mit der Rückendeckung Hofers knüpfte, aufzudecken, lag nicht zuletzt bei Karl-Heinz Janßen, damals leitender Redakteur der »Zeit«. Allerdings haben die Verfechter der NS-Urheberschaft des Brandes den Kampf gegen die vermeintliche »NS- Unschuldslegende« noch immer nicht aufgegeben. Er ist allerdings immer mehr zum Selbstzweck geworden, während die internationale Forschung längst zur Tagesordnung übergeht und an der Alleintäterschaft van der Lubbes nicht mehr zweifelt.
Kellerhoff schildert die im Nachhinein grotesk anmutende Auseinandersetzung mit kühler Distanz und nimmt die Rundfunk- und Fernsehanstalten, die sich an der Kampagne beteiligten, von seiner kritischen Betrachtung nicht aus. Der eigentliche und bis heute noch immer nicht hinreichend wahrgenommene Skandal besteht freilich im Versagen der Fachwissenschaft in Deutschland, nicht zuletzt des Instituts für Zeitgeschichte, die sich immer wieder zum Kumpan der Fälscher-Mafia machte und sich nicht scheute, Fälscher zu decken.
Das ausschlaggebende Motiv für die extreme Emotionalisierung der Kontroverse besteht in dem von Bracher erhobenen Vorwurf einer »Verharmlosung« Hitlers und des Nationalsozialismus. Hofer legte mit der Formulierung nach, dass die Alleintäterschaft »volkspädagogisch« unerwünscht sei. Der tiefere Grund für das, wie Kellerhoff betont, extrem hohe »Aufregungspotential« der Polemik liegt in der tradierten Vorstellung von Hitler als zynisch kalkulierendem Machtpolitiker, der alle Fäden in der Hand hielt. Sie ist ein Reflex der Verkehrung des pseudoreligiös aufgeladenen Hitler- Kults in dessen nachträgliche negative Dämonisierung. Mit Recht konstatiert Kellerhoff, dass sich im Beharren auf der NS-Urheberschaft am Reichstagsbrand ein exkulpatorisches Moment verbirgt, das »die Deutschen in ihrer großen Mehrheit als Opfer eines kaltblütig durchgeführten Staatsstreichs « erscheinen lässt. Die politischen Implikationen der Reichstagsbrandkontroverse bedürfen weiter einer öffentlichen Erörterung, für die Kellerhoffs verdienstvolle Darstellung die Voraussetzungen schafft.
Hans Mommsen, Feldafing
Die Brandstiftung
Der Reichstag brennt - der Täter auf frischer Tat ertappt?
Vier bis fünf Grad unter Null zeigten die Thermometer in Berlins Innenstadt am Abend des 27. Februar 1933; ein eisiger Ostwind ließ die gefühlte Temperatur noch niedriger erscheinen. Ansonsten aber schien dieser Montag ein ganz gewöhnlicher Winterabend zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass die Ereignisse dieses Abends in die deutsche Geschichte eingehen und bis in unsere Tage Anlass zu hitzigen Debatten geben würden. Es herrschte Wahlkampf, am kommenden Sonntag sollten die Deutschen schon wieder ein neues Parlament bestimmen, obwohl seit der vorigen Wahl nicht einmal ein halbes Jahr vergangen war. Und natürlich hatte sich viel geändert, seit Adolf Hitler genau vier Wochen zuvor zum Reichskanzler ernannt worden war, als Chef einer Koalition aus NSDAP und Deutschnationalen: Mehrfach seither hatten kommunistische und sozialdemokratische Zeitungen nicht erscheinen dürfen. Tausende SA- und SS-Männer waren vom 22. Februar an zu »Hilfspolizisten« ernannt worden; viele nutzten ihren neuen Status brutal aus. Schlägereien zwischen den braun uniformierten Trupps der Nazi-Partei und Anhängern des Rotfrontkämpfer-Bundes häuften sich; mehr als ein Dutzend Menschen waren bei Ausschreitungen seit dem 30. Januar allein in der Reichshauptstadt ums Leben gekommen. Dass alle Parteien im laufenden Wahlkampf gleiche Chancen hätten, glaubte längst niemand mehr. Denn die von Hermann Göring kontrollierte preußische Polizei löste Versammlungen der Opposition bei nichtigen Anlässen auf, während die NSDAP praktisch nie auf diese Weise behindert wurde.1
Im Reichstagsgebäude war es am 27. Februar ruhig, denn Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte das Parlament unmittelbar nach Hitlers Ernennung aufgelöst. Die KPD nutzte ihre Fraktionsbüros im Reichstag als Ausweichsitz, nachdem die Polizei die reguläre Parteizentrale, das KarlLiebknecht- Haus am Bülowplatz, kurz zuvor besetzt, durchsucht und gesperrt hatte. Doch noch gaben die Hitler-Gegner nicht auf: Die SPD hatte die große Versammlung zum 50. Todestag von Karl Marx im Sportpalast vom eigentlichen Stichdatum, dem 14. März, vorgezogen auf diesen Montagabend, um möglichst viele ihrer Wähler zu mobilisieren. Allerdings löste die Polizei die Veranstaltung vorzeitig auf - deshalb musste eine ungenehmigte Demonstration aufgebrachter Sozialdemokraten durch das Regierungsviertel befürchtet werden. Doch zerstreute sich die Menge friedlich; rund um den Reichstag blieb alles ruhig.2
Allerdings nur bis gegen 21 Uhr. Um diese Zeit war der Theologie-Student Hans Flöter gerade auf dem Heimweg. Er arbeitete so oft wie möglich in der Preußischen Staatsbibliothek, und so hatte er sich auch an diesem Abend lange in den Lesesälen des Prachtbaus Unter den Linden aufgehalten. Nun ging er zügig nach Hause, in die Hindersinstraße zwischen Reichstag und Spree. Sein Weg führte ihn über den Königsplatz zwischen dem Bismarck-Nationaldenkmal und der Westseite des Reichstages, die nur mäßig beleuchtet war - der Berliner Magistrat hatte die städtischen Gaswerke angewiesen, ab dem 1. Oktober 1932 in den Laternen nur jede zweite Flamme zu betreiben. Gerade passierte Flöter den südlichen Beginn der Rampe, die hinaufführt zur Vorfahrt des Parlaments, als ihn ein scharfes Splittern aufschrecken ließ. Das Geräusch kam vom Reichstag, genauer: von einem Fenster im Hauptgeschoss direkt neben dem großen Portikus. Der Student blickte hinauf, als sich das Klirren wiederholte. Offensichtlich brach hier Glas - und das konnte kaum etwas Gutes bedeuten. Sein Eindruck bestätigte sich, als er schemenhaft eine Gestalt erkannte, die offenbar etwas Brennendes in der Hand hielt. Flöter hatte genug gesehen: Das war ein Fall für die Polizei. Weil er regelmäßig am Reichstag entlangging, wusste er, dass hier auch abends stets zwei Schupos, wie die Schutzpolizisten in Berlin meist genannt wurden, patrouillierten. Sofort lief der Student los und stieß auf der nördlichen Seite der Auffahrt tatsächlich auf einen Beamten, den Oberwachtmeister Karl Buwert. Ihm rief Flöter zu, dass sich jemand gewaltsam Zugang ins Parlament verschafft habe, doch der Schupo zögerte zunächst. Erst als der Student ihm auch sagte, dass er Feuer gesehen habe, reagierte Buwert und rannte zur anderen Seite der Rampe. Flöter fühlte seine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt und setzte seinen Heimweg fort. Zuvor aber schaute noch einmal auf seine Taschenuhr, die 21.05 Uhr zeigte.3
Unmittelbar darauf entdeckte Buwert selbst einen fl ackernden Flammenschein im Hauptgeschoss. Zu dem Polizisten waren inzwischen zwei weitere Passanten gekommen: Der 21-jährige Schriftsetzer Werner Thaler war auf dem Weg zum Lehrter Bahnhof auf der anderen Spreeseite. Als er gerade am Südportal des Reichstages vorbeikam, hörte auch er Glas splittern und meinte, auf dem Balkon vor dem Reichstagsrestaurant zwei Männer zu erkennen - vielleicht war es aber auch eine Person und ihr Schatten. Thaler suchte sofort nach jemandem, den er alarmieren konnte, und fand Buwert. Ungefähr zur gleichen Zeit war ein weiterer junger Mann dazu gestoßen. Der Oberwachtmeister hielt ihn für den Studenten Flöter, doch der war schon weiter gegangen Richtung Spree. Zu dritt starrten Buwert, Thaler und der junge Mann nun auf die Fenster des Reichstagsrestaurants; dort brannten offenbar bereits mehrere Vorhänge - nun gab es keinen Zweifel mehr, dass wenige Meter vor ihren Augen eine Brandstiftung im Parlament ablief. Thaler forderte den Oberwachtmeister auf: »Nun schießen Sie doch!« Der Polizist griff zu seiner Dienstwaffe und feuerte auf den Schemen, der sich nun durch das Erdgeschoss des Südwestflügels bewegte, allerdings ohne zu treffen. Im nächsten Moment, etwa um 21.10 Uhr, befahl Buwert dem jungen Mann: »Rennen Sie doch schnell rüber zur Brandenburger-Tor-Wache und alarmieren Sie die. Sagen Sie, dass der Reichstag brennt!« Das ließ sich der junge Mann nicht zweimal sagen: Er eilte los zum Pariser Platz. Derweil liefen zwei Ehepaare auf den Polizisten zu und meldeten, dass sie Feuer im Reichstag wahrgenommen hätten. Buwert schickte auch sie los, Alarm zu geben. Die beiden Männer und eine der Frauen suchten zunächst erfolglos einen Feuermelder, bevor sie zum »Haus der Ingenieure« an der Friedrich- Ebert-Straße gingen und dort den Portier aufforderten, per Telefon Meldung zu machen. Während Buwert weiter an der Südwestseite des Reichstages den Feuerschein hinter den Fenstern beobachtete, kamen ihm, aufgeschreckt durch den Schuss, zwei Kollegen zu Hilfe, die im Tiergarten Streife gegangen waren. Nach kurzer Beratung rannte einer von ihnen weiter zur Moltkestraße; dort stand ein fest installierter Feuermelder. Es war etwa 21.12 Uhr.4
Eine Minute später verzeichnete die Hauptwache der Berliner Feuerwehr in der Lindenstraße den Eingang des Notrufes aus dem »Haus der Ingenieure«. Sofort wurde die nächstgelegene Feuerwache in der Linienstraße 128/129 benachrichtigt und von dort raste um 21.14 Uhr ein erster Löschzug los. Nach weiteren 60 Sekunden löste der Alarm vom Feuermelder an der Moltkestraße das Ausrücken noch eines Zuges aus; diesmal vom Revier Turmstraße 22. Wohl weil die Feuermelder im Reichstagsgebäude selbst nicht ausgelöst worden waren, unterblieb die eigentlich für den Fall eines Brandes im Parlament vorgesehene Alarmierung eines Zuges. Die jeweils vier Fahrzeuge der beiden Feuerwachen fuhren Richtung Reichstag, mit Glocken und Fanfaren, aber entsprechend ihrer Dienstanweisung »so vorsichtig, dass das Fahrtziel mit Sicherheit erreicht wird«. Etwa gleichzeitig erreichte der junge Mann, den Buwert zur Polizei geschickt hatte, die Wache am Brandenburger Tor. Er meldete: »Sofort kommen! Der Reichstag brennt!« Der Offi zier vom Dienst, Polizeileutnant Emil Lateit, sprang auf und machte sich mit zwei Schutzleuten per Streifenwagen auf den Weg; weitere Männer ließ er auf einem Laster nachkommen. Ihre Abfahrt vermerkte ein zurückbleibender Beamter vorschriftsmäßig im Wachbuch des Reviers mit der genauen Zeit: 21.15 Uhr. Zwei Minuten später hatte sich Lateit vor Ort einen ersten Eindruck verschafft und erkannte, dass tatsächlich ein Notfall vorlag. Er schickte einen seiner Begleiter zur Wache zurück, um beim Polizeipräsidium Verstärkung anzufordern.
Oberwachtmeister Buwert machte dem Leutnant Meldung und teilte mit, dass die Feuerwehr bereits alarmiert sei. Lateit befahl, Großalarm zu geben, dann lief er los, um einen Eingang ins Reichstagsgebäude zu finden. Das Südportal war verschlossen, die Loge nicht besetzt - also rannte der 34-jährige Polizeioffizier die Sommerstraße an der Ostfassade des Reichstages entlang, wo es zwei weitere Eingänge gab, die er aber beide ebenfalls verschlossen fand. Lateit eilte weiter, bis er schließlich im bis 22 Uhr geöffneten Nordportal auf den Nachtpförtner Albert Wendt traf. Der hatte vom Feuer im Parlamentsgebäude gerade erst von einem anderen Polizisten erfahren - verständlich, war seine Loge doch gut hundert Meter quer durch das Gebäude vom Tatort entfernt. Wendt rief umgehend seinen Chef an, den Hausinspektor des Reichstages Alexander Scranowitz, erreichte ihn aber nicht. Im nächsten Moment schrillte Wendts Telefon, und der Portier hörte Scranowitz fragen, was los sei? Der Hausinspektor hatte in seiner Dienstwohnung am Reichstagsufer die Feuerwehr vorbeirasen gesehen. Wendt antwortete ihm, es brenne im Restaurant des Reichstages. Scranowitz fuhr seinen Untergebenen an: »Und das melden Sie mir nicht?«, schnappte sich seinen Mantel und hetzte zum Parlament hinüber. Es war ungefähr 21.20 Uhr, als der Hausinspektor beim Portal zur Spree hin eintraf; sofort ging er mit mehreren Polizisten hinein. Sie liefen durch die weiten Wandelhallen, um sich ein Bild von der Lage zu machen; dabei verloren sie sich aus den Augen. Lateit blickte zuerst in den Plenarsaal, wohl gegen
21.21 Uhr. Er sah offene Flammen am Präsidententisch und spürte große Hitze. Der Leutnant kehrte um und rannte zurück zum Portal, wobei ihm auch an anderen Stellen kleine Brandherde auffielen. Nun war er überzeugt: So viele einzelne Feuer konnten nicht gleichzeitig entstanden sein, ohne dass jemand nachgeholfen hatte. Also befahl der Polizeioffi zier seinen Kollegen: »Waffen heraus! Brandstiftung!«, dann machte er sich auf den Rückweg zur Wache, um Meldung zu machen. Derweil kamen gegen 21.23 Uhr der Hausinspektor und der Polizist Helmut Poeschel ebenfalls zum zentralen Raum des Parlaments. Scranowitz blickte »nur den Bruchteil einer Sekunde« hinein und schloss »blitzschnell« die Tür wieder. In dem einen Augenblick fiel ihm aber auf, dass die Vorhänge hinter dem hölzernen Präsidium schon hell brannten; außerdem meinte er weitere kleinere Feuer zu sehen. Noch aber war relativ wenig Rauch in dem riesigen Raum.5
In diesem Moment hatten die Löscharbeiten im Reichstag gerade begonnen. Oberbrandmeister Emil Puhle und seine Männer von der Feuerwache Linienstraße kletterten gegen 21.22 Uhr mit Steckleitern zum Hauptgeschoss empor. Mit einer Axt schlug Puhle eigenhändig ein Fenster zum Parlamentsrestaurant ein; die eingetretene Scheibe des Nachbarfensters übersah er in seiner Eile. Schnell wurden die kleineren Feuer im Restaurant gelöscht, doch die Feuerwehrmänner wussten nicht, ob es weitere Brandherde im Inneren des Reichstages gab; Puhle ging deshalb gleich weiter hinein. Etwa im selben Moment liefen Brandmeister Waldemar Klotz und seine Leute von der Feuerwache Turmstraße durch das Nordportal in den Reichstag; sie stürmten mit Eimerspritzen hinauf ins Hauptgeschoss. Beim Austreten von kleinen Feuern im Teppich einer Wandelhalle nahm Klotz einen hellen Lichtschein vor sich wahr, in Richtung Mitte des Reichstages. Daraufhin schaute er gegen 21.25 Uhr in den Plenarsaal, der jetzt mit dichtem Rauch gefüllt und dunkel war. Zwar sah er keine offenen Feuer, aber ihm schlug wie mit einem starken Luftzug außerordentliche Hitze entgegen. Instinktiv schloss Klotz die Pendeltür sofort wieder, weil er »eine Stichflamme« fürchtete. Der Brandmeister wusste, was zu tun war: Er ließ einen Schlauch herbeischaffen, um den Plenarsaal mit Wasser zu kühlen. Nur zwei Minuten später begannen Klotz und seine Leute mit ihrem Versuch, das Schlimmste noch zu verhindern - doch sie kamen zu spät.6
Denn ungefähr um 21.27 Uhr ging der Plenarsaal »ruckartig in ein Flammenmeer auf«, wie später der Branddirektor der Berliner Feuerwehr, Gustav Wagner, in einem Gutachten festhielt. Vor Ort spürte Oberbrandmeister Puhle, dass nach dem Öffnen der Tür zum Saal erst Hitze hinausschlug, sich dann jedoch der Luftzug schlagartig umkehrte; dann sah er eine Flamme, die »zur Kuppel empor« brauste. Von einem Moment auf den anderen war der Plenarsaal »ringsherum von oben bis unten und in der Mitte ein einziges Flammenmeer«, in dem eine »sehr große strahlende Hitze« herrschte. Auch Zugführer Klotz beobachtete, wie sich die Flammen blitzschnell ausweiteten: »Ich sah, wie es hinter der Milchglasscheibe, durch die ich zunächst hindurch gesehen hatte, feuerrot wurde.« Ein weiterer Feuerwehrmann, Fritz Polchow, sagte bei der Polizei aus, »derartiges von Luftzug bei einem Brande noch nicht erlebt« zu haben; er musste sich »förmlich festhalten, um nicht in die Flamme gerissen zu werden«. Sein Kollege Willy König fühlte sich an ein »angefachtes Schmiedefeuer « erinnert; auch er spürte nach dem Öffnen der Tür die plötzliche Umkehrung des Luftzuges. Unmittelbar darauf kam es zur Zündung, einem »hörbaren Puff«. Ein Feuerwehrmann hatte den Eindruck, es »wäre eine Rakete explodiert «. Sofort platzte die gläserne Staubdecke des Plenarsaals und eröffnete den auflodernden Flammen einen freien Abzug erst in den Luftraum unter der Kuppel und, als deren Glas nicht standhielt, hinaus in die kalte Februarluft. Nun konnte die hölzerne Einrichtung des Plenarsaals, begünstigt durch einen praktisch idealen Kamineffekt, zum Raub der Flammen werden.7
Hausinspektor Scranowitz und der Schupo Poeschel waren nach ihrem Blick in den Plenarsaal weiter durchs Hauptgeschoss gelaufen. Sie durchquerten mehrere Nebenräume; die dicken Teppiche verschluckten ihre schnellen Schritte. Schließlich gelangten sie in den Bismarck-Saal. Als sie gerade unter dem großen Kronleuchter standen, stolperte ihnen etwa um 21.26 Uhr aus Richtung der Klubräume um den südlichen Innenhof eine Gestalt entgegen. Als der Schemen die beiden Männer sah, stoppte er jäh und machte dann einen Schritt zurück. Doch Poeschel hatte schon seine Pistole im Anschlag und schrie: »Hände hoch!« Die Gestalt, die Brust bis auf Hosenträger nackt, hob sofort die Arme. Poeschel sah nun, dass es sich um einen ungepflegten Burschen handelte, groß und kräftig; die dunklen Haare hingen ihm wirr über die Stirn. Der Beamte durchsuchte den jungen Mann schnell, fand aber keine Waffen, sondern nur ein Taschenmesser, das er ihm abnahm. In der Gesäßtasche hatte der Halbnackte einen Pass, den Poeschel aufblätterte. Kein Zweifel: Dieser Mann gehörte nicht ins Parlament; schon gar nicht, während gerade ein Feuer gelöscht wurde. Der Polizist war sich sicher, dass er den Brandstifter gestellt hatte. Gleichzeitig brüllte der vor Wut zitternde Scranowitz den mutmaßlichen Täter an: »Warum hast Du das gemacht?« Der stieß mit hartem Akzent heraus: »Protest, Protest!« Da konnte der Hausinspektor nicht mehr an sich halten: Er schlug mit aller Kraft zu. Poeschel nahm den jungen Mann, der laut Pass Niederländer war und Marinus van der Lubbe hieß, in den Polizeigriff und schob ihn zum Ausgang. Dort warf jemand dem Verdächtigen eine Decke über; dann brachte Poeschel ihn hinüber ins Revier am Brandenburger Tor, wo er laut Wachbuch um 21.35 Uhr ankam.8
Der Brand
Löscharbeiten, Augenzeugen und erste Maßnahmen der NSDAP-Spitze
Als kurz vor halb zehn Uhr abends die bis dahin relativ kleinen Brandstellen im Plenarsaal schlagartig zu einem Großfeuer wurden, hielten sich mehr als zwei Dutzend Feuerwehrleute und Polizisten im Reichstag auf. Nach einer Schrecksekunde erkannten mehrere von ihnen den Ernst der Lage und befahlen unabhängig voneinander, eine höhere Alarmstufe auszulösen - wofür sie allerdings erst einmal einen Feuermelder oder ein Telefon finden mussten. Denn Funkgeräte hatten Feuerwehrleute seinerzeit noch nicht. Zwischen 21.31 und
21.33 Uhr trafen mehrere Anforderungen nach Verstärkung in der Hauptfeuerwache in Kreuzberg ein, die sofort weitere Reviere benachrichtigte. Anderthalb Minuten später setzten sich drei Dutzend weitere Löschfahrzeuge in Bewegung. Unmittelbar nach den Revieren unterrichtete die Zentrale Berlins Feuerwehr-Chef Walter Gempp. Ein Dienstwagen brachte ihn so schnell wie möglich an den Einsatzort, wo er gegen 21.41 Uhr eintraf; eine Minute später ordnete der Feuerwehr-Chef höchste Alarmstufe an. Noch einmal fünf Wachen schickten ihre Fahrzeuge los; außerdem dampften auf der Spree mehrere Löschboote heran. Damit war fast die gesamte Berliner Feuerwehr vor Ort, von der Wache Suarezstraße im Westen bis zur Wache Lichtenberg im Osten, von Wedding im Norden bis Steglitz im Süden. »Mit bemerkenswerter Ruhe und Übersicht«, so ein Augenzeuge, gingen die Feuerwehrleute am Reichstag »ihrem schweren Beruf nach«.9 Gegen 21.45 Uhr erreichte der Brand seinen Höhepunkt: »Zwischen den vier Seitenflügeln ragt die riesige Glaskuppel des Mittelteils als ein einziges Feuermeer in den Nachthimmel. Der Schein der Flammen, die aus dem Inneren herauslodern, beleuchtet grell die dunklen umliegenden Gebäudeteile. An der steinernen Kuppelkrönung züngeln die Flammen empor«, berichtete der Reporter des »Berliner Tageblatts«. Seine Eindrücke gab er telefonisch an die Redaktion in der Jerusalemer Straße durch, die sie kaum redigiert in die Morgenausgabe der liberalen Zeitung setzte: »Funken wirbeln durch die Luft und werden von dem heftigen Wind weithin über den Platz vor dem Reichstagsgebäude getragen. In den von der Straße aus sichtbaren unteren Stockwerken ist von dem Brand im Inneren nichts zu sehen. Lediglich an der zur Sommerstraße hin gelegenen Seite des Reichstagsgebäudes sieht man durch die riesigen bunten Fenster des Treppenhauses den glühend roten Schein der Flammen.«10
Seit die Kuppel vom Feuer hell erleuchtet war, konnte man auch im Umkreis sehen, dass im Parlamentsgebäude etwas nicht stimmte. Der Schüler Reinhold Thielitz, der mit seinen Eltern in der Hindersinstraße wohnte, erfuhr es von seiner Mutter und stürmte sofort zum Fenster: »Zu diesem Zeitpunkt war die Kuppel noch intakt und innen von den Flammen hell erleuchtet. Ich habe dann sofort bei Ullstein angerufen und den Brand gemeldet. Dafür bekam man drei oder fünf Mark. Meiner Erinnerung nach war ich der zweite. Ich bin dann sofort heruntergerannt. Es war eine kalte, dunkle, stürmische Nacht.« Wie der neugierige Schüler Thielitz reagierten viele Berliner: »Auf die erste Kunde ›Der Reichstag brennt!‹ hin eilten aus den umliegenden Straßen Menschen herbei«, berichtete die »Vossische Zeitung«. Bald waren es »viele Tausend« Neugierige, so dass Polizisten gegen 21.40 Uhr eine Absperrung um das Reichstagsgebäude legen mussten, »um die andrängenden Menschenmassen abzuwehren«.
Für die Schaulustigen gab es einiges zu sehen, wie ein zum Brandort geeilter Reporter des »Berliner Lokalanzeigers« seinen Lesern berichtete: »Riesenflammen, die bis nach Charlottenburg und dem Stadtinneren zu sehen waren, schlugen aus der Kuppel heraus.« Die »Berliner Morgenpost« schrieb: »Das Reichstagsgebäude gleicht nach allen Seiten einer belagerten Burg. Ringsum stehen in endlosen Ketten die Fahrzeuge der Feuerwehr, häufen sich die roten Schlauchleitungen und türmen sich die Leitern, die hier zunächst noch keine Hilfe bringen können, weil das Feuer mehr im Inneren und zur Spitze der Kuppel hinauf wütet. Von allen vier Fronten haben die Feuerwehrleute die Fenster des Reichstagsgebäudes durchschlagen, die Schlauchleitungen wälzen sich konzentrisch ins Innere.« Der Journalist vermerkte auch die »ungeheuren Menschenmassen« rund um den Reichstag und die Absperrung, durch die nur noch Minister und Abgeordnete durchgelassen würden, »an ihrer Spitze Reichstagspräsident Göring«.
Aber natürlich wollte auch der »Morgenpost«-Reporter ins brennende Parlament und das gelang ihm: »Das Innere des Hauses bietet beim Betreten ein Bild der Zerstörung. In den weiten Hallen schwelt und lagert der Rauch, Polizei und Feuerwehrleute eilen verstört durcheinander, jeder einzelne, dem es trotzdem gelungen ist, das Haus zu betreten, wird scharf auf Ausweise kontrolliert: die Kontrolle ist nicht ohne Grund, da Brandstiftung vorliegt. Über die roten Velourläufer der großen Treppen und der Wandelhallen ziehen sich die Schlauchleitungen hinweg; schon im Treppenhaus spürt man die ungeheure Hitze, die einem entgegenschlägt. Je näher man dem Plenarsaal kommt, desto größer wird die Hitze. Niemand, auch die Feuerwehrleute mit ihren Rauchschutzapparaten, kann in den Plenarsaal vordringen, die rote Wand der Flammen schlägt alle Angriffe zurück. Durch die Türen, durch die sonst die Abgeordneten ein- und ausgehen, kann man einen Blick in das Flammenmeer tun.« Die Feuerwehrmänner gaben ihr Möglichstes: Sie ließen aus ihren Schläuchen Tonne um Tonne Wasser in den Brandherd prasseln. Längst war ihnen klar, dass der Saal selbst nicht zu retten war; es ging nur noch darum, das Übergreifen des Feuers auf weitere Räume des Gebäudes zu verhindern, darunter vor allem auf die berühmte Reichstagsbibliothek. Außerdem bestand die Gefahr, dass die massiven Steinpfeiler, auf denen die Konstruktion der Kuppel ruhte, an Stabilität verloren. Dann wäre das ganze Gebäude gefährdet gewesen.11
André François-Poncet, Frankreichs Botschafter in Berlin, saß gerade mit einer größeren Zahl von Gästen im Speisesaal der Botschaft am Pariser Platz, unter ihnen der reaktionäre Finanzminister des Kabinetts Hitler, Lutz Schwerin von Krosigk. Plötzlich meldete ein Angestellter dem Hausherren, dass der Reichstag brenne - nach François-Poncets Erinnerung gegen neun Uhr abends, in Wirklichkeit gut eine halbe Stunde später. Der Diplomat stand auf und ging in einen benachbarten Raum, aus dessen Fenster zum Botschaftsgarten hin man die nahe gelegene Reichstagskuppel sehen konnte. In seinen Memoiren beschrieb er den Anblick: »Die Glaskuppel ist hellrot, als habe man sie von innen mit rotem bengalischem Feuer beleuchtet.« François-Poncet kehrte zu seinen Gästen zurück und informierte sie; dabei fiel ihm »Verblüffung auf allen Gesichtern« auf. Nur Schwerin von Krosigk habe mit »befremdlicher Freude« ausgerufen: »Gott sei Dank!« Wahrscheinlicher aber ist, dass sich der Franzose verhört und der Reichsfinanzminister »Mein Gott!« gesagt hatte.12
Im gegenüber der Ostfassade des Reichstages gelegenen Palais des Reichstagspräsidenten lag zur selben Zeit der Auslandspressechef der NSDAP, Ernst Hanfstaengl, mit Fieber und Schüttelfrost im Bett. Der Münchner hatte Göring um die Unterkunft im komfortablen Palais gebeten, um »Hitlers Hotelkosten« zu verringern, »und Göring kostete es wiederum keinen Pfennig«, zumal er selbst seine Dienstwohnung hier gar nicht benutzte. Hanfstaengl sagte am 27. Februar krankheitsbedingt eine Einladung in die Charlottenburger Wohnung von Joseph Goebbels ab, wo er an diesem Abend für Hitler auf dem Flügel hätte spielen sollen, und legte sich früh schlafen. Plötzlich schreckte er auf, weil sein Zimmer hell erleuchtet war. Bevor er noch ganz wach war, stürzte eine Angestellte in sein Zimmer und rief: »Herr Doktor, Herr Doktor, der Reichstag brennt lichterloh!« Augenblicklich sprang Hanfstaengl aus dem Bett heraus und ans Fenster; es dürfte wenige Minuten nach halb zehn Uhr abends gewesen sein. Er lief zum Telefon: »Ich rief Goebbels an: ›Ich muss unbedingt Herrn Hitler sprechen‹, sagte ich atemlos. Was denn los sei, meinte Goebbels, ob er es denn nicht weitermelden könne. Schließlich verlor ich die Geduld: ›Sagen Sie ihm, der Reichstag brennt!‹ - ›Hanfstaengl, soll das ein Witz sein?‹ antwortete Goebbels kurz. - ›Wenn Sie mir das zutrauen, kommen Sie doch her und sehen Sie es sich selbst an‹, erwiderte ich und hing auf.« Verärgert benachrichtigte Hanfstaengl als nächstes einige Auslandskorrespondenten und als er wieder auflegte, schrillte der Apparat. Goebbels rief zurück und wollte wissen, was wirklich los sei. Doch der Auslandspressechef, der sich ohnehin nicht gut mit dem Berliner Gauleiter verstand, ließ ihn abblitzen: »Kommen Sie gefälligst selbst her und überzeugen Sie sich, ob ich Unsinn rede oder nicht. Das ganze Gebäude steht in Flammen und die Feuerwehr ist schon da.« Wenige Stunden später notierte Goebbels ganz ähnlich in seinem Tagebuch: »Um neun Uhr kommen Hitler und Auwi [Prinz August Wilhelm von Preußen]. Musik und Palaver. Da Anruf Hanf staengl: Der Reichstag brennt; tolle Phantasie. Aber es stimmt. Gleich mit Hitler herunter gerast.« Gut acht Kilometer Weg lagen zwischen Goebbels' Wohnung am Reichskanzlerplatz und dem Reichstag, so dass der NSDAP-Chef und sein Chefpropagandist sowie ein Begleitwagen dort frühestens 20 Minuten nach dem zweiten Telefonat mit Hanfstaengl ankamen, wahrscheinlich kurz nach 22 Uhr.13
Weniger weit hatte es Hermann Göring, der in fragwürdiger Ämterhäufung gleichzeitig als Reichstagspräsident, als Minister ohne Geschäftsbereich im Reichskabinett, als kommissarischer Innenminister Preußens und als Reichskommissar für den Luftverkehr amtierte. Er verbrachte diesen Abend in seinem wichtigsten Dienstsitz, dem Preußischen Innenministerium Unter den Linden 72/73, zwischen Wilhelm- und Schadowstraße. In der letzten Woche vor den Reichstagswahlen wollte er Preußen, das größte Land des Reiches, das jeweils drei Fünftel der Fläche, der Einwohner und auch der Polizei ganz Deutschlands umfasste, »ausmisten«, wie die NS-Presse seine Tätigkeit umschrieb; Göring selbst formulierte scheinbar harmloser: »Ich erwarte und hoffe, dass alle Beamten sich mit mir eins fühlen in dem Ziel, durch die Stärkung und Zusammenfassung aller nationalen Kräfte unser Vaterland vor dem drohenden Verfall zu retten.« Zwischen 21.20 und 21.25 Uhr erreichte die Nachricht, im Reichstag brenne es, das Büro des Parlamentspräsidenten. Wann genau und durch wen ist unklar, denn später nahmen mehrere Personen in Anspruch, die Nachricht übermittelt zu haben - darunter ein Portier des Reichstagspräsidentenpalais sowie Hausinspektor Scranowitz, der seiner Frau aufgetragen hatte, den Hausherren zu informieren. Ein Adjutant platzte in Görings Besprechung mit seinem kürzlich ernannten Leiter der Polizeiabteilung Ludwig Grauert. Nach dessen Erinnerung sagte sein Chef: »Das ist ja eine Riesenschweinerei. Sofort einen Wagen, ich fahre gleich hin!« Etwa um diese Zeit kam es im Plenarsaal zur ruckartigen Ausbreitung des Brandes. Gegen 21.45 Uhr traf seine Limousine am Reichstag ein; der Minister ging hinein. Unter das Gefolge Görings hatte sich Douglas Reed gemischt, der Berliner Korrespondent der Londoner »Times« - ohne Erlaubnis: »Ich rannte über die Straße und kam zum Portal II, dem Abgeordneteneingang, als gerade eine massive Person in gewaltigem Trenchcoat und weichem Hut vor mir auftauchte und mit einigen Begleitern ins Gebäude ging. Ich schloss mich ihnen an. Im Inneren waren ein oder zwei Polizisten und Feuerwehrleute brachten gerade einen Schlauch hinein. Der energische Mann im Trenchcoat gab sich resolut und zeigte alle Anzeichen erheblichen Ärgers. In einer Telefonzelle nahe beim Eingang entdeckte er einen Mann beim Telefonieren. Er machte einen Satz auf ihn zu und herrschte ihn mit Donnern in der Stimme an, was er denn hier tue? Dieser Mann, ein Journalist, der gerade mit seiner Redaktion sprach, erlebte eine unangenehme halbe Minute, bis er seine Anwesenheit erklären konnte. Dann forderte ihn der massige Mann auf zu verschwinden.« Von welcher Zeitung der Reporter war, wurde nie bekannt; auf jeden Fall waren mindestens ein Journalist der »Berliner Morgenpost« und einer des »Lokalanzeigers« bereits vor dem nächtlichen offiziellen Pressetermin im brennenden Reichstag - möglicherweise war es einer von diesen beiden, den Göring hinauswerfen ließ. Wenig später fiel dem Reichstagspräsidenten ein unbekannter Mann in seinem Tross auf und daraufhin musste auch Douglas Reed den Reichstag umgehend verlassen. »Die Presse hat hier nichts zu suchen«, lautete die unmissverständliche Anweisung.14
Einige Minuten später erstattete Feuerwehr-Chef Gempp dem Hausherrn des brennenden Gebäudes Bericht. Dieses Gespräch fand, so Gempp, »ich schätze: eine Viertelstunde, nachdem ich selbst eingetroffen war« statt. Der Feuerwehr- Chef hatte sich zuvor natürlich ein eigenes Bild gemacht: »Ich war inzwischen im Gebäude gewesen. Der Plenarsaal brannte lichterloh. Ich habe noch am Präsidentenpult den Befehl gegeben, dass sich die Beamten mehr zurückziehen sollten, da Einsturzgefahr bestand.« In der Tat war es unter der Kuppel lebensgefährlich: »Die Löscharbeiten gestalteten sich äußerst schwierig, da die Feuerwehrleute nicht in den brennenden Sitzungssaal eindringen konnten, da fortwährend unter lautem Krachen Teile der abgebrannten Holzverkleidungen und Eisenteile in die Tiefe stürzten.« Nach seinem Rückzugsbefehl ging Gempp hinaus, um seinen Einsatzkräften Befehle zu geben. Dabei traf er auf Göring, der auf die ordnungsgemäße Meldung hin etwa antwortete: »Lassen Sie sich nicht stören. Sie haben die Verantwortung.« Es dürfte nun kurz vor 22 Uhr gewesen sein.15
Wenig später kam Hitler mit Goebbels am Reichstag an; Goebbels' erster Eindruck: »Das ganze Gebäude steht in Flammen.« Dem Reichskanzler und seiner Begleitung schloss sich, ähnlich wie es zuvor Reed bei Göring versucht hatte, ein britischer Journalist an. Der Korrespondent des »Daily Express«, Sefton Delmer, hatte in seiner Wohnung zwischen Potsdamer Platz und Landwehrkanal vom Brand erfahren; er war daraufhin die mehr als zwei Kilometer zum Reichstag geeilt, weil sein Auto weit ab in einer Garage stand und er auf dem Weg kein Taxi bekam. Er lief um das brennende Gebäude herum und sammelte erste Eindrücke, sprach mit diesem und jenem Augenzeugen, auch mit seinem Kollegen Douglas Reed, der von dem Rauswurf durch Göring berichtete. »›Mein Gott, welche Schande‹, dachte ich. ›Geschlagen von dieser langweiligen alten Postkutsche, der Times! Schrecklich!‹ « Doch dann entdeckte Delmer, wie Hitler vorfuhr und in den Reichstag eilte. Delmer fragte frech, ob er mitkommen dürfe. Er durfte und gab seinen Bericht noch in derselben Nacht an seine Redaktion weiter. Am folgenden Tag erschien der »Daily Express« mit der weltexklusiven Schlagzeile: »The Reichstag in Flames Last Night. ›Daily Express‹ Correspondent Accompanies Hitler Into Blazing Building.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sven Felix Kellerhoff
- 160 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,1 x 22 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 382894700X
- ISBN-13: 9783828947009
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