Ostpreußen - Biographie einer Provinz
Ein sachliches, aber sehr emotional erzähltes Buch. »Ein großes, gelungenes Projekt. Pölking erzählt die vollständige Geschichte einer verlorenen deutschen Provinz von Anfang bis Ende.« Oldenburgische Volkszeitung
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Produktinformationen zu „Ostpreußen - Biographie einer Provinz “
Ein sachliches, aber sehr emotional erzähltes Buch. »Ein großes, gelungenes Projekt. Pölking erzählt die vollständige Geschichte einer verlorenen deutschen Provinz von Anfang bis Ende.« Oldenburgische Volkszeitung
Lese-Probe zu „Ostpreußen - Biographie einer Provinz “
Ostpreußen von Hermann PölkingPanorama einer Provinz
Die Menschen und die Verhältnisse
Ein Land, das ferne leuchtet
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„Ich schiebe den Vorhang beiseite, und wir sehen ein kleines ostpreussisches Städtchen. Kleine Lerchen gehen geschäftig ihrem Werkeltag nach; sie glauben, dass der liebe Gott das ganze Weltall expreß für sie allein gemacht hat."2 Der hier den Blick auf die Bühne seines Lebens gewährt, ist ein kräftiger, sinnenfroher Mann, geboren im Jahr 1858 in Tapiau im nördlichen Ostpreußen. Er malt das Wesentliche. „Ich erhielt den Namen: Franz Heinrich Louis Corinth. Mein Vater war Bürger von Tapiau und meine Mutter eine geborene Buttcher, verwitwete Opitz. Meine Paten waren außer den Geschwistern meines Vaters der Kaufmann William Bauer, welcher an der Deime eine Dampferstation nebst einem Kolonialwarenladen inne hatte"3, erinnert sich Lovis Corinth 1924 in seiner Autobiographie Meine frühen Jahre. Ostpreußen konnte seine Menschen prägen, stellt Corinths Frau Charlotte nach dem Tod des Malers fest, denn „im Grunde war sein Wesen ernst." Und weiter: „Seine Heimaterde gab ihm Melancholie und Schwerblütigkeit. Aber sie gab ihm auch eine gewaltige Kraft, sein Lebenswerk auszuführen, das hohe Ziel zu erreichen, welches er seinen Gaben gesetzt hatte: dass aus dem kleinen ostpreußischen Gerbermeisterssohn ein großer deutscher Maler werde. Auch strotzende Sinneskraft gab ihm die Heimaterde."4 Durch die Heimaterde von Corinths Geburtsort fließen Deime und Pregel, die Deime zweigt in Tapiau vom Pregel ab. Der Pregel mündet hinter Königsberg ins Frische Haff, die Deime ins Kurische Haff, sie hat über den Großen Friedrichsgraben auch eine Kanalverbindung zur Memel. Tapiau ist ein Ort, an dem Dampfer Station machen können. Hier beginnt unser Panorama eines in die Geschichte entschwundenen Landes. Impressionistisch erinnert sich der Schriftsteller Siegfried Lenz an seine masurische Heimat: „Keine leuchtende Wachsamkeit, kein heller Traum liegen in diesen Bildern, die Heiterkeit wirkt nicht nutzlos, und das Licht enthält keine Herausforderung: Genügsamkeit, Bescheidung, Ergebenheit, fragloses Einverständnis geben sich überall zu erkennen."5 Nicht die satte Agrarlandschaft um Tapiau hat der in Lyck im kärglichen masurischen Süden Ostpreußens geborene Lenz vor Augen. „Ich denke an tief an den Boden geduckte Strohkaten, an die viel erwähnte Unberührtheit der Seeufer. Ich denke an eingeschneite Höfe inmitten terroristischer Winter, an den zögernden Wuchs genügsamer Kiefern, an lautlose Heide und an unentmutigende Armut auf sandigen Feldern. Rauchfahnen von kleinen, altmodischen Schleppern stehen in der Luft, behäbige Fahrzeuge, die große Flöße über die Seen manövrieren. Treidelfischer wuchten mit harten Rufen die Leinen des Hauptnetzes unter der Eisdecke entlang. Die Stille schilfbestandener Buchten, das flimmernde Geheimnis der Moore, der quietschende Treck der Pferdewagen zu den Märkten, das trübselige Schweigen zahlreicher Kriegerdenkmäler: all dies gehört zur Landschaft Masurens. (...) Und es gehören zu ihr Bilder einer gern photografierten Schwermut des Feierabends: wehende, zerrissene Netze vor armseligen Fischerhütten, alte, reglose Männer auf schiefen Holzbänken, Kinder in dürftigen Kitteln, die sich mit lebendigem Spielzeug begnügen müssen, mit Hahnche, Huhnche und Ferkelchen, sowie kahle, holprige Marktplätze, niedergebrannte Holzfeuer der Flößer und die unvermeidlichen Erntewagen."6 Es muss etwas Besonderes gewesen sein an den ostpreußischen Landschaften. Noch inmitten des Krieges schreibt eine 22-Jährige, die es als Lehrfräulein in die östlichste Provinz verschlagen hat: „Hier in Ostpreußen habe ich das Gefühl, freier atmen zu können."7 Noch ist die Provinz eine Idylle. „Das Land ist still, schön, weit - die Städte haben große Marktplätze und kleine Häuser und meistens sehenswerte alte Backsteinkirchen."8 Im Mai 1942 schreibt Marianne Günther an ihre Eltern in Köln aus dem kleinen Ort, in dem sie ihre erste Lehrerstelle angetreten hat: „Von meinem Fenster habe ich einen wunderbaren Blick. Durch die sattgrünen Wiesen schlängelt sich die Nehne, und am Horizont hebt sich der Wald scharf und dunkel in den Himmel. Seit ein paar Tagen ist die Wiese übrigens übersät von Sumpfdotterblumen und sieht von weitem wie ein gelbes Meer aus. Dazu ertönt den ganzen Tag das ‚Kuckuck-Kuckuck' aus dem Wald."9 Am Abend zeigt sich ihr das Land von einer dunklen Seite: „Soeben kam ich nach Haus. Der Sturm heult. Der Mond steht im ersten Viertel, da war es nicht ganz so dunkel. Die Wolken jagten dahin, und sehr geheimnisvoll hob sich der schwarze Wald vom etwas helleren Himmel ab. Wie ich so dahinradelte, fühlte ich mich recht glücklich."10 Alt Gertlauken, der Ort dieser Idylle im Landkreis Labiau, hat zu dieser Zeit etwa 800 Einwohner. Die Ehefrau des Freiherrn Guido von Kaschnitz-Weinberg nennt sich als Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz. Auf sonntäglichen Fahrten und Fußwanderungen entdeckt die Tochter eines Offiziers, die in Berlin und Potsdam aufgewachsen ist, in ihren fünf Königsberger Jahren „die kargste Gegend". Sie kennt Italien, Griechenland, den Orient und Nordafrika. In ihren im Jahr 1973 erscheinenden „Aufzeichnungen" mit dem Titel Orte denkt Marie Luise Kaschnitz noch einmal an Ostpreußen zurück: „Ein Land ohne Wein, ohne Nußbäume, Kastanien und Platanen, dafür betrachtet man einen Halm Strandhafer mit ebenso gespannter Aufmerksamkeit wie die treibenden Wolken über dem Feld. Das blendende Märzlicht, die schmelzenden tropfenden Eiszapfen zwischen Winter und Winter, von denen man sieben zählte zwischen Oktober und Mai. Dann der kurze heftige Sommer, Jasmin, Flieder, Kastanien, Tulpen und Rosen, alles auf einmal in Blüte und schon der Frucht zutreibend, die Johannisbeeren schon rot und schwarz. Die Rohrdommeln, die fetten weißen Maiglöckchen, die großen Raubvögel niederstoßend, die jungen Pferde auf den Koppeln, und hinter den Buchenwäldern der lange weiße menschenleere Strand."11 In der Großstadt Königsberg geboren und aufgewachsen ist Immanuel Birnbaum. In den 1920er und 1930er Jahren lebt und arbeitet er als Journalist in Warschau. Birnbaum ist Jude und Sozialdemokrat, bei Kriegsbeginn 1939 flieht er aus Polen nach Schweden. Der Schüler Birnbaum kommt zur damaligen Kaiserzeit aus seiner Heimatprovinz nur einmal heraus, ins benachbarte Westpreußen, und entdeckt nicht das östliche Land der sattgrünen Felder, der dunklen Nadelwälder und kristallenen Seen, sondern ein anderes: „Immerhin unternahm ich eine einsame Fußwanderung am Frischen Haff entlang bis nach dem westpreußischen Danzig, das ein so ganz anderes, von bürgerlichen Bauherren geprägtes Stadtbild bot als das vom alten Herzogsschloß beherrschte Königsberg. Schon auf dem Weg durch das katholische Ermland mit seinen Kruzifixen am Straßenrand und seinen Domkirchen in den Bischofsstädten Braunsberg und Frauenburg traten mir völlig neue Eindrücke entgegen. Auch die Natur veränderte sich in der Landschaft zwischen Braunsberg und Elbing. Statt der Kiefernwälder und der Birken, statt der Sanddünen und Steilküsten sah ich auf dieser Wanderung zum ersten Mal Buchenwald ohne Unterholz und mit hohem Laubdach, das mir vorkam wie eine Kirchenwölbung."12 Birnbaum leitet von 1953 bis 1972 das Ressort Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung. Zur Zeit der Ostpolitik Willy Brandts ist er stellvertretender Chefredakteur, ein Vordenker der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hält es ihn ebenso wenig in der Heimat wie Lovis Corinth. Der ist als 22-Jähriger von der Kunstakademie Königsberg nach München an die dortige Akademie gewechselt. Birnbaum geht zum Jurastudium in die bayerische Residenz. „Die Schule war ich mit der Reifeprüfung los. Nun wollte ich mich auch des Elternhauses mit seinen - letzten Endes religiösen - Spannungen entziehen und schließlich aus dem deutschen Kolonialgebiet, als das ich die ostpreußische Heimat mit ihrer Ordensromantik und ihren Grenzlandproblemen immer empfand, endlich einmal hinaus ‚ins Reich' kommen, wo Romanik und Gotik ihre Bauten nicht aus Ziegeln, sondern aus Stein gewölbt hatten."13 Der Redakteur und Schriftsteller Paul Fechter stammt aus dem westpreußischen Elbing. Die Stadt am Frischen Haff gehört wegen ihrer rein deutschsprachigen Einwohnerschaft von 1920 bis 1939 zu Ostpreußen, nachdem als Folge der Verträge von Versailles der größte Teil der Provinz Westpreußen polnisch geworden ist oder zur Freien Stadt Danzig gehört. Von 1937 bis 1939 ist Fechter Redakteur des Berliner Tageblatts, 1933 bis 1942 gibt er die literarische und wissenschaftliche Zeitschrift Deutsche Rundschau mit heraus. In seiner Literaturgeschichte aus dem Jahre 1941 äußert er sich opportunistisch-emphatisch zu Hitlers Mein Kampf, nach 1945 schreibt er für das Feuilleton der Zeit. Für Fechter ist die Heimat strahlend schön und geschichtslos: „Das Land zwischen Weichsel und Memel lag so herrlich gegenwartsnah, so völlig auf zeitloses Sein gestellt unter den großen Himmeln des Ostens, dass die Vergangenheit machtlos blieb neben dem Glanz und der strahlenden Sonne der Gegenwart. Vielleicht sprach auch eine Art von Raumgefühl mit: auch die Geschichte war für uns im Westen lokalisiert. Alles Wesentliche, was wir auf der Schule lernen mussten, von Karl dem Großen bis zu den Stauferkaisern, von Luther bis zu Schiller und Goethe, hatte sich weit jenseits der Weichsel abgespielt, auf dem Boden des Reichs, das für unser schlummerndes Denken eben im Westen lag. Bei uns war's schön; Geschichte geschah woanders."14 Viele müssen so empfunden haben, Künstler, Publizisten, Architekten, Wissenschaftler. Käthe Kollwitz, Lovis Corinth, Hermann Sudermann, die Brüder James und Arthur Hobrecht, Bruno und Max Taut sowie Erich Mendelsohn, Hannah Arendt und viele andere in Ostpreußen Geborene machen sich auf zu einer Karriere im „Reich". „Wenn wir Ostpreußen nach Berlin reisten, hieß es: ‚Wir fahren ins Reich.' Im Gegensatz zum Reich lebten wir ‚in der Provinz'"15, erinnert sich Marion Gräfin Dönhoff. Der auf Gut Neucken im Landkreis Preußisch Eylau geborene Magnus Freiherr von Braun, 1932/33 Minister in den konservativ-reaktionären Kabinetten von von Papen und Schleicher und Vater des Raketenpioniers Wernher Freiherr von Braun, im Rückblick: „Gewohnheitsmäßig sagte man in meiner Jugend noch, wenn man an eine westliche Universität ging: Ich studiere ‚im Reich'."16 Ein Lübecker aus München gibt im August 1929 in einem Gespräch mit der Königsberger Allgemeinen Zeitung seine Sicht der Ostpreußen wieder. 1929 ist der Autor der Buddenbrooks von Rauschen im Samland mit dem Dampfer auf die Kurischen Nehrung nach Nidden gereist, einige Wochen später bekommt er den Literaturnobelpreis verliehen. 1930 baut er sich von diesem Geld ein Sommerhaus in Nidden. Thomas Mann: „Der Ostpreuße ist so anders, so einmalig in seiner Art. Vielleicht, dass unbewusst in diesen Herzen und Hirnen ein fremder großer Mythos lebt."17 Im Urlaub an der Samlandküste, dem Haff und auf der Nehrung stellt er fest: „... hier finde ich die Brücke zum slawischen Kulturkreis. Ich muß immer an Tolstoi denken."18 Der Ostpreuße hat häufig nicht reichsdeutsch klingende Namen. In den Suleyken-Geschichten von Siegfried Lenz heißt der immer lesende Großvater Hamilkar Schaß. Ein „magerer, aufgescheuchter Mensch (...), der Zeit seines Lebens nicht mehr gezeigt hatte als zwei große rosa Ohren" ist der Adolf Abromeit. Es treten in So zärtlich war Suleyken noch auf die beiden etwas tumben Vettern Urmoneit, der wagemutige Schneider Edmund Vorz, der gemütliche Gendarm Schneppat und mit seinen drei Söhnen von drei Frauen der leicht kriminelle Binnenschiffer Alec Puch. Solche Menschen machen keine große Geschichte, ihnen wird mitgespielt. In der Nachbemerkung zu den 1955 erschienenen Geschichten aus dem fiktiven masurischen Dorf Suleyken spricht Lenz seinem erdachten Personal die Eigenschaften seiner Landsleute zu: „Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluß auf neue Kartoffeln, vom Borkenkäfer oder von der Liebe. Und doch besaßen sie etwas durchaus Originales - ein Psychiater nannte es einmal die ‚unterschwellige Intelligenz'."19 Die Bürger des Deutschen Reichs denken bei Ostpreußen weniger wie Thomas Mann an Tolstoi als an Sibirien. Fast 50 Jahre lang reicht hinter der Stadt Memel, 22 km längs der Reichsstraße Nr. 132, das Bismarck-Reich als schmaler Streifen nordöstlich auslaufend bis an das Kurhaus des Kaufmanns und Hoteliers Willy Karnowsky (Spezialität: Krebsgerichte!)20: „In Nimmersatt, wo das Deutsche Reich sein Ende hat", weiß der Volksmund. Am Schlagbaum zwischen Nimmersatt und Polangen im russischen Kurland stehen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Kosaken des Zaren und schützen Russland vor germanischen Einfällen. Geht es Thomas Mann in Ostpreußen um geistige Nahrung, bei Willy Karnowsky in Nimmersatt um feine Krebsspeisen, assoziiert der ungebildete Kenner mit der Landschaft jenseits der Weichsel gerne Getränke. „Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd, in Pillkallen ist es umgekehrt", wird über Stadt und Land im äußersten Nordosten der Provinz gedichtet: Ostpreußen, ein Trakehner- und Trinker-Land! Der aus Frankfurt stammende letzte Feuilletonchef der Königsberger Hartungschen Zeitung, Erich Pfeiffer-Belli, gestattet diese Verallgemeinerung: „Der Reim paßte endlich auf jede ostpreußische Stadt, man war weit fort von allem, von Berlin zumal, lebte in Isolation, die in manchem Punkt splendid, in vielen anderen Punkten das Gegenteil davon war."21 Pfeiffer-Belli sieht in ostpreußischer Trunksucht einen metaphysischen Ausgleich für die Strenge des Lebens dort: „Die Ostpreußen lebten ihr Leben viel intensiver, viel hingegebener an Tag und Stunde. Sie wußten viel stärker von dem widerrufbaren Geschenk des Daseins, weil ihr Kampf um dieses Dasein viel härter war als anderswo. Sie genossen darum auch anders, feierten tollere Feste, gingen mit dem Alkohol recht großzügig um, und ihre Mahlzeiten waren ausgedehnt."22 Rudolf Nadolny, der in Groß Stürlack im masurischen Kreis Lötzen geboren ist, in Lötzen und Rastenburg zur Schule geht, gewinnt als Diplomat auf Botschafterposten beim Völkerbund, in Schweden, der Türkei und der Sowjetunion Weltsicht. Er hat eine Erklärung für die einmalige Art der Menschen, die nicht nur aus der Andersartigkeit der Landschaft und des Klimas kommt. „Ostpreußen ist ungefähr ebenso Siedlungsland wie Amerika. Seine Einwohnerschaft stammt in derselben Weise von Einwanderern aus vielen Ländern, die im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert dem Ruf des Deutschen Ritterordens folgten oder auch noch später einwanderten oder dort angesiedelt wurden. Nur dass die noch im Lande verbliebenen alten Preußen keine Rothäute waren, sondern als ein baltischer Stamm ebenso Indoeuropäer wie die Einwanderer, dass sie sich, soweit sie den Prozess der Unterwerfung und Bekehrung überstanden, entweder mit den Einwanderern vermischten oder auch bis heute als altpreußische Familien erhalten haben."23 Auch Nadolny hat Ostpreußen den Rücken gekehrt, für den Juristen ist hier im Jahr 1902 keine Karriere zu machen. Er steigt in Berlin für kurze Zeit zum Leiter des Büros des Reichspräsidenten Friedrich Ebert auf. Der 1905 geborene Königsberger Max Fürst, der es vom Schreiner zum Schriftsteller bringen wird, durchstreift zu Beginn der Zwanzigerjahre als Leiter einer bündischen jüdischen Jugendgruppe fast die gesamte ostpreußische Heimat. 1925 zieht es ihn nach Berlin; 1935 muss er nach Palästina emigrieren. Im dazwischen liegenden Jahrzehnt besucht er immer wieder die Provinz. „Dann begann mein Herz doch schneller zu schlagen, als der Zug in Dirschau über die lange Weichselbrücke donnerte. Ich brauchte nicht aus dem Fenster zu sehen, die Namen der aufgerufenen Stationen und der kleineren Orte, an denen der Zug nicht hielt, wusste ich auswendig und sah auch die Landschaft im Dunkeln." Er passiert im Zug die Marienburg, die Stadt Elbing mit der Schichau-Werft, die Besitzungen des Fürsten Dohna in Schlobitten, endlich Braunsberg und Heiligenbeil. Dann sieht der Heimkehrer erstmals das Frische Haff. „Es ist doch seltsam, wie das Herz schlägt, wenn man der Heimat näher kommt. Man kennt schon jeden Baum, jeden Pfad, Ponarth mit neuen Fabriken, Gärtnereien und der Brauerei. Jetzt schnell alles zusammenpacken, und dann stand ich alleine auf dem Bahnhof in Königsberg."24 Dem Literaten Fechter aus Elbing, dem Diplomaten Nadolny aus Masuren, dem kurzzeitigen Reichsminister von Braun, dem sozialdemokratischen Journalisten Birnbaum und zwei Millionen anderer einst heimischer Ostpreußen bleiben die Erinnerungen. Sie haben überlebt. Aber heimatlos zu werden ist ein schweres Schicksal. Der Schriftsteller Peter Härtling schreibt im Januar 2004 über eine Erfahrung seines da schon verstorbenen jüdischen Freundes Max Fürst, der 1978 fern von Königsberg, in Stuttgart, gestorben ist: „Er hat lernen müssen, wie leicht ein Land aus einem Leben verloren geht."25 Und er zitiert Fürst: „Es ist leicht, über Ostpreußen zu schreiben, ich sehe es klar vor mir, es ist mein Orplid, versunken in Geschichtslosigkeit."26 Max Fürst aus Königsberg hat es schmerzhaft erleben müssen: „Auch heute noch kann es geschehen, dass ein Land aus den Schlagzeilen verschwindet und keine Versammlung der Heimatvertriebenen es in die Aktualität zurückholen kann."27 Auch dieses Buch kann das nicht. Dieser Rückblick ist nicht sentimental, es will wenig Bekanntes und Vergessenes in der Geschichte verorten, durch Nachrichten, aus Zeugnissen und Erinnerungen - damit Ostpreußen unvergessener Teil der deutschen Geschichte bleibt.
Eine preußische Provinz
Was meint Ostpreußen? Was ist Ostpreußen bis zu seinem Ende im Jahr 1945? Eine Landschaft? Ein deutsches Land? Eine deutsche Provinz? Eine Landschaft ist es nicht. Dafür ist das Land von der samländischen Steilküste zu den masurischen Seen, von den Wüstendünen der Kurischen Nehrung über die Kiefernwälder der Johannisburger Heide bis zu den satten Wiesen der Elbinger Niederung zu vielgestaltig. Ostpreußen ist auch nie ein deutsches Land wie etwa Bayern, Sachsen oder Anhalt. Und es ist auch keine „deutsche", sondern eine Provinz Preußens. Im Jahr 1837 zählt das Gebiet der Provinz Ostpreußen neben zwei Dritteln deutschsprachigen Einwohnern ein Drittel polnisch- und litauischsprachige Einwohner. 28 Vom Zweiten Thorner Frieden 1466 bis zum Vertrag von Wehlau im Jahr 1657 bzw. dem Vertrag zu Oliva im Jahr 1660 untersteht das Gebiet des einstigen Ordensstaates und ab 1525 eines weltlichen „Herzogtums Preußen" der Oberhoheit eines polnischen bzw. eines polnisch-litauischen Staates. Bis zum Zusammenschluss deutscher Staaten zum Norddeutschen Bund im August 1866 ist Ostpreußen auch nie Teil eines Deutschen Bundesstaates. Zu „Deutschland" als Staat gehört es erst seit der Kaiserproklamation in Versailles 1871. Mit ihr entsteht das von Bismarck geschaffene zweite Deutsche Reich. Aber es ist auch keine „Provinz" dieses Deutschlands. Ostpreußen ist das, was sein Name sagt: der Osten des Staates Preußen. Zu ihm gehört es als Provinz. Preußen ist ein Staat, seit 1701 regiert von einem König. Bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation um 1803/1806 gehören viele „Seiner Majestät Staaten" zu diesem „Reich Deutscher Nation". Aber nicht alle. Und nie die „Provinz Preußen". Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt Ostpreußen als fernes Land. „Litauische Geschichten", Romane und Theaterstücke verfasst der „Richter und Dichter" Ernst Wichert. Der in Insterburg geborene, in Pillau und Königsberg aufgewachsene Autor, im Hauptberuf Jurist, erinnert sich in seinen 1899 erschienenen Memoiren an die Gründe: „Denn über die erste Hälfte dieses Jahrhunderts hinaus blieb die östliche Provinz von dem Körper der Monarchie entlegen, nicht nur politisch in besonderer Stellung, sondern auch wirtschaftlich auf sich selbst gewiesen, vielleicht in regerem Verkehr mit dem Auslande - über See -, als mit dem Westen Preussens. Brauchte man doch, bevor die Eisenbahn Mitte der fünfziger Jahre eröffnet wurde, zur Reise von Königsberg bis Berlin in der Schnellpost drei Tage und zwei Nächte, und von Litauen oder Masuren aus auf schlechten Wegen erst Königsberg zu erreichen, war auch nicht zu jeder Jahreszeit leicht. So wars nur ein kleiner Teil der Bewohner, der über die Weichsel hinauskam."29 Ein Ostpreußen gibt es dem Namen nach seit 1773. König Friedrich II. („der Große") erhält mit der ersten Polnischen Teilung Gebiete, die bis 1466 zum Staat des Deutschen Ordens gehörten und seitdem als „Königliches Preußen" dem polnischen König unterstanden. Seine Beamten nennen die neu gewonnen Territorien „ Neu-Preußen". Friedrich verordnet am 31. Januar 1773 per Kabinettsordre ein neues Namensverzeichnis: „Übrigens finde Ich die Benennung Meiner aquirirter dortigen Provinzen unter dem Namen von Neu-Preußen, da das Wort ‚Neu' nur vor neu aufgefundenen Ländern gebraucht zu werden pfleget, garnicht schicklich und dahero, daß ins künftige Meine alte preußische Provinzen Ost-Preußen und die aquirirte West-Preußen genannt werden sollen."30 Noch setzt sich Ostpreußen im Sprachgebrauch nicht durch. Bis 1824 spricht man allgemein von der „Provinz Preußen", wenn im Sinne Friedrichs „Ost-Preußen" gemeint ist. Der Name Ostpreußen tritt im Jahre 1815 als geographische Bezeichnung in neuer Verwendung auf. In der am 30. April 1815 erfolgten Verordnung über die verbesserte Einrichtung der Provinzialbehörden werden in der bisherigen Provinz „Preußen" wie auch in „Westpreußen" zwei Regierungsbezirke gebildet. In (Ost-)Preußen sind es der Bezirk „Litauen" mit der Hauptstadt Gumbinnen und ein Bezirk „Ostpreußen" mit der Hauptstadt Königsberg. Im Jahre 1824 werden die Provinzen Preußen und Westpreußen zu einer Provinz mit dem Namen „Preußen" vereinigt. Bei der erneuten Teilung 1877 wird nicht mehr nur ein Regierungsbezirk, sondern gleich der ganze östliche Teil der Provinz „Ostpreußen" genannt. In ihr existieren fortan die Regierungsbezirke Königsberg und Gumbinnen. 1905 geben diese Regierungsbezirke Kreise an einen neuen Bezirk Allenstein ab.31 Von 1806 bis 1866 ist Preußen als „Königreich" völlig souverän, denn der Deutsche Bund, dem es angehört, ist ein Staatenbund und „Westpreußen", „Posen" und die „Provinz Preußen" sind nicht Teil des Deutschen Bundes. Von 1866 bis 1871 dann ist das Königreich Preußen ein Teilstaat des Norddeutschen Bundes, seit 1871 des Deutschen Kaiserreichs. Jetzt hat es zwar noch Staatlichkeit (wie heute die Länder der Bundesrepublik Deutschland), aber keine Souveränität mehr. Noch bis 1937 wird eine „Preußische Staatsbürgerschaft" in den Pässen, die die deutschen Länder ausstellen, ausgewiesen. Mit ihr ist man ab 1871 automatisch auch „Deutscher". Allerdings kann der vorbestrafte Tilsiter Wilhelm Voigt, später bekannter als Hauptmann von Köpenick, noch 1906 aus dem mecklenburgischen Wismar „als ein für die öffentliche Sicherheit und Moralität" gefährlicher „Ausländer" in den Staat abgeschoben werden, dessen Staatsbürger er allein ist: Preußen. Der Verlust der Souveränität kann den Herrschenden in Preußen egal sein, denn Preußen ist die dominierende Macht im deutschen Kaiserreich. Der Reichskanzler ist - mit einer kurzen Ausnahme - immer zugleich preußischer Ministerpräsident. Auch zu Zeiten der Weimarer Republik nennt sich der Staat, zu dem Preußen jetzt als „Freistaat Preußen" gehört, noch Deutsches Reich. Als sich die Demokratie zur Einparteien-Diktatur unter einem „Führer" wandelt und dieser das „Dritte Reich" proklamiert, wird Preußen nicht aufgelöst. Von 1933 bis 1945 übt formal der Reichskanzler Adolf Hitler selbst die Geschäfte eines „Reichsstatthalters" in Preußen aus, den er nach dem „Führerprinzip" in den deutschen Ländern an die Stelle der Parlamente gesetzt hat. Die Befugnisse des Reichsstatthalters in Preußen hat er auf Hermann Göring übertragen. Der ist in der Nazi-Diktatur vieles; neben dem Reichsluftfahrtminister und Präsident des gleichgeschalteten Reichstags auch noch preußischer Ministerpräsident. Christopher Clarks monumentales 800-Seiten-Werk Preußen - Aufstieg und Niedergang beginnt mit dem Satz „Am Anfang war Brandenburg." Damit stellt Clark klar, dass das karge, „des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse" Brandenburg der staatliche Kern des Staates Preußen ist und nicht das ehemalige Ordensland und Herzogtum zwischen Weichsel und Memel. In dessen Besitz kommen die Brandenburger Hohenzollern erst 1618, mehr als zwei Jahrhunderte nach ihrer Belehnung mit der Mark Brandenburg durch den Deutschen Kaiser im Jahr 1415. Das Preußenland überträgt dem Staat, der aus den verstreuten einzelnen Territorien der Dynastie der Hohenzollern entsteht, im Jahr 1701 lediglich den Namen. Es ist nicht seine Keimzelle. In der Folge eines hohenzollernschen Zentralismus wird Preußen dann immer mehr vom eigenständigen Herzogtum zur Provinz. Ostpreußen gibt es nur bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945, den Staat Preußen immerhin noch bis zum 25. Februar 1947. An diesem Tag stellt der Alliierte Kontrollrat mit dem Gesetz Nr. 46 fest: „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst. Staats- und Verwaltungsfunktionen sowie Vermögen und Verbindlichkeiten des früheren Staates Preußen sollen auf die Länder übertragen werden." Der australische Historiker Clark, der an der Universität Cambridge lehrt, kann sein Werk deshalb mit dem Satz „Am Ende war nur noch Brandenburg" beenden. Tatsächlich ist Ostpreußen im Februar 1947 gänzlich von der Landkarte gelöscht. Von der Provinz Pommern bleibt Deutschland immerhin der vordere Teil, von Schlesien noch ein Zipfelchen um Görlitz. Ostpreußen aber entschwindet 1945 gänzlich in die Geschichte.
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„Ich schiebe den Vorhang beiseite, und wir sehen ein kleines ostpreussisches Städtchen. Kleine Lerchen gehen geschäftig ihrem Werkeltag nach; sie glauben, dass der liebe Gott das ganze Weltall expreß für sie allein gemacht hat."2 Der hier den Blick auf die Bühne seines Lebens gewährt, ist ein kräftiger, sinnenfroher Mann, geboren im Jahr 1858 in Tapiau im nördlichen Ostpreußen. Er malt das Wesentliche. „Ich erhielt den Namen: Franz Heinrich Louis Corinth. Mein Vater war Bürger von Tapiau und meine Mutter eine geborene Buttcher, verwitwete Opitz. Meine Paten waren außer den Geschwistern meines Vaters der Kaufmann William Bauer, welcher an der Deime eine Dampferstation nebst einem Kolonialwarenladen inne hatte"3, erinnert sich Lovis Corinth 1924 in seiner Autobiographie Meine frühen Jahre. Ostpreußen konnte seine Menschen prägen, stellt Corinths Frau Charlotte nach dem Tod des Malers fest, denn „im Grunde war sein Wesen ernst." Und weiter: „Seine Heimaterde gab ihm Melancholie und Schwerblütigkeit. Aber sie gab ihm auch eine gewaltige Kraft, sein Lebenswerk auszuführen, das hohe Ziel zu erreichen, welches er seinen Gaben gesetzt hatte: dass aus dem kleinen ostpreußischen Gerbermeisterssohn ein großer deutscher Maler werde. Auch strotzende Sinneskraft gab ihm die Heimaterde."4 Durch die Heimaterde von Corinths Geburtsort fließen Deime und Pregel, die Deime zweigt in Tapiau vom Pregel ab. Der Pregel mündet hinter Königsberg ins Frische Haff, die Deime ins Kurische Haff, sie hat über den Großen Friedrichsgraben auch eine Kanalverbindung zur Memel. Tapiau ist ein Ort, an dem Dampfer Station machen können. Hier beginnt unser Panorama eines in die Geschichte entschwundenen Landes. Impressionistisch erinnert sich der Schriftsteller Siegfried Lenz an seine masurische Heimat: „Keine leuchtende Wachsamkeit, kein heller Traum liegen in diesen Bildern, die Heiterkeit wirkt nicht nutzlos, und das Licht enthält keine Herausforderung: Genügsamkeit, Bescheidung, Ergebenheit, fragloses Einverständnis geben sich überall zu erkennen."5 Nicht die satte Agrarlandschaft um Tapiau hat der in Lyck im kärglichen masurischen Süden Ostpreußens geborene Lenz vor Augen. „Ich denke an tief an den Boden geduckte Strohkaten, an die viel erwähnte Unberührtheit der Seeufer. Ich denke an eingeschneite Höfe inmitten terroristischer Winter, an den zögernden Wuchs genügsamer Kiefern, an lautlose Heide und an unentmutigende Armut auf sandigen Feldern. Rauchfahnen von kleinen, altmodischen Schleppern stehen in der Luft, behäbige Fahrzeuge, die große Flöße über die Seen manövrieren. Treidelfischer wuchten mit harten Rufen die Leinen des Hauptnetzes unter der Eisdecke entlang. Die Stille schilfbestandener Buchten, das flimmernde Geheimnis der Moore, der quietschende Treck der Pferdewagen zu den Märkten, das trübselige Schweigen zahlreicher Kriegerdenkmäler: all dies gehört zur Landschaft Masurens. (...) Und es gehören zu ihr Bilder einer gern photografierten Schwermut des Feierabends: wehende, zerrissene Netze vor armseligen Fischerhütten, alte, reglose Männer auf schiefen Holzbänken, Kinder in dürftigen Kitteln, die sich mit lebendigem Spielzeug begnügen müssen, mit Hahnche, Huhnche und Ferkelchen, sowie kahle, holprige Marktplätze, niedergebrannte Holzfeuer der Flößer und die unvermeidlichen Erntewagen."6 Es muss etwas Besonderes gewesen sein an den ostpreußischen Landschaften. Noch inmitten des Krieges schreibt eine 22-Jährige, die es als Lehrfräulein in die östlichste Provinz verschlagen hat: „Hier in Ostpreußen habe ich das Gefühl, freier atmen zu können."7 Noch ist die Provinz eine Idylle. „Das Land ist still, schön, weit - die Städte haben große Marktplätze und kleine Häuser und meistens sehenswerte alte Backsteinkirchen."8 Im Mai 1942 schreibt Marianne Günther an ihre Eltern in Köln aus dem kleinen Ort, in dem sie ihre erste Lehrerstelle angetreten hat: „Von meinem Fenster habe ich einen wunderbaren Blick. Durch die sattgrünen Wiesen schlängelt sich die Nehne, und am Horizont hebt sich der Wald scharf und dunkel in den Himmel. Seit ein paar Tagen ist die Wiese übrigens übersät von Sumpfdotterblumen und sieht von weitem wie ein gelbes Meer aus. Dazu ertönt den ganzen Tag das ‚Kuckuck-Kuckuck' aus dem Wald."9 Am Abend zeigt sich ihr das Land von einer dunklen Seite: „Soeben kam ich nach Haus. Der Sturm heult. Der Mond steht im ersten Viertel, da war es nicht ganz so dunkel. Die Wolken jagten dahin, und sehr geheimnisvoll hob sich der schwarze Wald vom etwas helleren Himmel ab. Wie ich so dahinradelte, fühlte ich mich recht glücklich."10 Alt Gertlauken, der Ort dieser Idylle im Landkreis Labiau, hat zu dieser Zeit etwa 800 Einwohner. Die Ehefrau des Freiherrn Guido von Kaschnitz-Weinberg nennt sich als Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz. Auf sonntäglichen Fahrten und Fußwanderungen entdeckt die Tochter eines Offiziers, die in Berlin und Potsdam aufgewachsen ist, in ihren fünf Königsberger Jahren „die kargste Gegend". Sie kennt Italien, Griechenland, den Orient und Nordafrika. In ihren im Jahr 1973 erscheinenden „Aufzeichnungen" mit dem Titel Orte denkt Marie Luise Kaschnitz noch einmal an Ostpreußen zurück: „Ein Land ohne Wein, ohne Nußbäume, Kastanien und Platanen, dafür betrachtet man einen Halm Strandhafer mit ebenso gespannter Aufmerksamkeit wie die treibenden Wolken über dem Feld. Das blendende Märzlicht, die schmelzenden tropfenden Eiszapfen zwischen Winter und Winter, von denen man sieben zählte zwischen Oktober und Mai. Dann der kurze heftige Sommer, Jasmin, Flieder, Kastanien, Tulpen und Rosen, alles auf einmal in Blüte und schon der Frucht zutreibend, die Johannisbeeren schon rot und schwarz. Die Rohrdommeln, die fetten weißen Maiglöckchen, die großen Raubvögel niederstoßend, die jungen Pferde auf den Koppeln, und hinter den Buchenwäldern der lange weiße menschenleere Strand."11 In der Großstadt Königsberg geboren und aufgewachsen ist Immanuel Birnbaum. In den 1920er und 1930er Jahren lebt und arbeitet er als Journalist in Warschau. Birnbaum ist Jude und Sozialdemokrat, bei Kriegsbeginn 1939 flieht er aus Polen nach Schweden. Der Schüler Birnbaum kommt zur damaligen Kaiserzeit aus seiner Heimatprovinz nur einmal heraus, ins benachbarte Westpreußen, und entdeckt nicht das östliche Land der sattgrünen Felder, der dunklen Nadelwälder und kristallenen Seen, sondern ein anderes: „Immerhin unternahm ich eine einsame Fußwanderung am Frischen Haff entlang bis nach dem westpreußischen Danzig, das ein so ganz anderes, von bürgerlichen Bauherren geprägtes Stadtbild bot als das vom alten Herzogsschloß beherrschte Königsberg. Schon auf dem Weg durch das katholische Ermland mit seinen Kruzifixen am Straßenrand und seinen Domkirchen in den Bischofsstädten Braunsberg und Frauenburg traten mir völlig neue Eindrücke entgegen. Auch die Natur veränderte sich in der Landschaft zwischen Braunsberg und Elbing. Statt der Kiefernwälder und der Birken, statt der Sanddünen und Steilküsten sah ich auf dieser Wanderung zum ersten Mal Buchenwald ohne Unterholz und mit hohem Laubdach, das mir vorkam wie eine Kirchenwölbung."12 Birnbaum leitet von 1953 bis 1972 das Ressort Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung. Zur Zeit der Ostpolitik Willy Brandts ist er stellvertretender Chefredakteur, ein Vordenker der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hält es ihn ebenso wenig in der Heimat wie Lovis Corinth. Der ist als 22-Jähriger von der Kunstakademie Königsberg nach München an die dortige Akademie gewechselt. Birnbaum geht zum Jurastudium in die bayerische Residenz. „Die Schule war ich mit der Reifeprüfung los. Nun wollte ich mich auch des Elternhauses mit seinen - letzten Endes religiösen - Spannungen entziehen und schließlich aus dem deutschen Kolonialgebiet, als das ich die ostpreußische Heimat mit ihrer Ordensromantik und ihren Grenzlandproblemen immer empfand, endlich einmal hinaus ‚ins Reich' kommen, wo Romanik und Gotik ihre Bauten nicht aus Ziegeln, sondern aus Stein gewölbt hatten."13 Der Redakteur und Schriftsteller Paul Fechter stammt aus dem westpreußischen Elbing. Die Stadt am Frischen Haff gehört wegen ihrer rein deutschsprachigen Einwohnerschaft von 1920 bis 1939 zu Ostpreußen, nachdem als Folge der Verträge von Versailles der größte Teil der Provinz Westpreußen polnisch geworden ist oder zur Freien Stadt Danzig gehört. Von 1937 bis 1939 ist Fechter Redakteur des Berliner Tageblatts, 1933 bis 1942 gibt er die literarische und wissenschaftliche Zeitschrift Deutsche Rundschau mit heraus. In seiner Literaturgeschichte aus dem Jahre 1941 äußert er sich opportunistisch-emphatisch zu Hitlers Mein Kampf, nach 1945 schreibt er für das Feuilleton der Zeit. Für Fechter ist die Heimat strahlend schön und geschichtslos: „Das Land zwischen Weichsel und Memel lag so herrlich gegenwartsnah, so völlig auf zeitloses Sein gestellt unter den großen Himmeln des Ostens, dass die Vergangenheit machtlos blieb neben dem Glanz und der strahlenden Sonne der Gegenwart. Vielleicht sprach auch eine Art von Raumgefühl mit: auch die Geschichte war für uns im Westen lokalisiert. Alles Wesentliche, was wir auf der Schule lernen mussten, von Karl dem Großen bis zu den Stauferkaisern, von Luther bis zu Schiller und Goethe, hatte sich weit jenseits der Weichsel abgespielt, auf dem Boden des Reichs, das für unser schlummerndes Denken eben im Westen lag. Bei uns war's schön; Geschichte geschah woanders."14 Viele müssen so empfunden haben, Künstler, Publizisten, Architekten, Wissenschaftler. Käthe Kollwitz, Lovis Corinth, Hermann Sudermann, die Brüder James und Arthur Hobrecht, Bruno und Max Taut sowie Erich Mendelsohn, Hannah Arendt und viele andere in Ostpreußen Geborene machen sich auf zu einer Karriere im „Reich". „Wenn wir Ostpreußen nach Berlin reisten, hieß es: ‚Wir fahren ins Reich.' Im Gegensatz zum Reich lebten wir ‚in der Provinz'"15, erinnert sich Marion Gräfin Dönhoff. Der auf Gut Neucken im Landkreis Preußisch Eylau geborene Magnus Freiherr von Braun, 1932/33 Minister in den konservativ-reaktionären Kabinetten von von Papen und Schleicher und Vater des Raketenpioniers Wernher Freiherr von Braun, im Rückblick: „Gewohnheitsmäßig sagte man in meiner Jugend noch, wenn man an eine westliche Universität ging: Ich studiere ‚im Reich'."16 Ein Lübecker aus München gibt im August 1929 in einem Gespräch mit der Königsberger Allgemeinen Zeitung seine Sicht der Ostpreußen wieder. 1929 ist der Autor der Buddenbrooks von Rauschen im Samland mit dem Dampfer auf die Kurischen Nehrung nach Nidden gereist, einige Wochen später bekommt er den Literaturnobelpreis verliehen. 1930 baut er sich von diesem Geld ein Sommerhaus in Nidden. Thomas Mann: „Der Ostpreuße ist so anders, so einmalig in seiner Art. Vielleicht, dass unbewusst in diesen Herzen und Hirnen ein fremder großer Mythos lebt."17 Im Urlaub an der Samlandküste, dem Haff und auf der Nehrung stellt er fest: „... hier finde ich die Brücke zum slawischen Kulturkreis. Ich muß immer an Tolstoi denken."18 Der Ostpreuße hat häufig nicht reichsdeutsch klingende Namen. In den Suleyken-Geschichten von Siegfried Lenz heißt der immer lesende Großvater Hamilkar Schaß. Ein „magerer, aufgescheuchter Mensch (...), der Zeit seines Lebens nicht mehr gezeigt hatte als zwei große rosa Ohren" ist der Adolf Abromeit. Es treten in So zärtlich war Suleyken noch auf die beiden etwas tumben Vettern Urmoneit, der wagemutige Schneider Edmund Vorz, der gemütliche Gendarm Schneppat und mit seinen drei Söhnen von drei Frauen der leicht kriminelle Binnenschiffer Alec Puch. Solche Menschen machen keine große Geschichte, ihnen wird mitgespielt. In der Nachbemerkung zu den 1955 erschienenen Geschichten aus dem fiktiven masurischen Dorf Suleyken spricht Lenz seinem erdachten Personal die Eigenschaften seiner Landsleute zu: „Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluß auf neue Kartoffeln, vom Borkenkäfer oder von der Liebe. Und doch besaßen sie etwas durchaus Originales - ein Psychiater nannte es einmal die ‚unterschwellige Intelligenz'."19 Die Bürger des Deutschen Reichs denken bei Ostpreußen weniger wie Thomas Mann an Tolstoi als an Sibirien. Fast 50 Jahre lang reicht hinter der Stadt Memel, 22 km längs der Reichsstraße Nr. 132, das Bismarck-Reich als schmaler Streifen nordöstlich auslaufend bis an das Kurhaus des Kaufmanns und Hoteliers Willy Karnowsky (Spezialität: Krebsgerichte!)20: „In Nimmersatt, wo das Deutsche Reich sein Ende hat", weiß der Volksmund. Am Schlagbaum zwischen Nimmersatt und Polangen im russischen Kurland stehen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Kosaken des Zaren und schützen Russland vor germanischen Einfällen. Geht es Thomas Mann in Ostpreußen um geistige Nahrung, bei Willy Karnowsky in Nimmersatt um feine Krebsspeisen, assoziiert der ungebildete Kenner mit der Landschaft jenseits der Weichsel gerne Getränke. „Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd, in Pillkallen ist es umgekehrt", wird über Stadt und Land im äußersten Nordosten der Provinz gedichtet: Ostpreußen, ein Trakehner- und Trinker-Land! Der aus Frankfurt stammende letzte Feuilletonchef der Königsberger Hartungschen Zeitung, Erich Pfeiffer-Belli, gestattet diese Verallgemeinerung: „Der Reim paßte endlich auf jede ostpreußische Stadt, man war weit fort von allem, von Berlin zumal, lebte in Isolation, die in manchem Punkt splendid, in vielen anderen Punkten das Gegenteil davon war."21 Pfeiffer-Belli sieht in ostpreußischer Trunksucht einen metaphysischen Ausgleich für die Strenge des Lebens dort: „Die Ostpreußen lebten ihr Leben viel intensiver, viel hingegebener an Tag und Stunde. Sie wußten viel stärker von dem widerrufbaren Geschenk des Daseins, weil ihr Kampf um dieses Dasein viel härter war als anderswo. Sie genossen darum auch anders, feierten tollere Feste, gingen mit dem Alkohol recht großzügig um, und ihre Mahlzeiten waren ausgedehnt."22 Rudolf Nadolny, der in Groß Stürlack im masurischen Kreis Lötzen geboren ist, in Lötzen und Rastenburg zur Schule geht, gewinnt als Diplomat auf Botschafterposten beim Völkerbund, in Schweden, der Türkei und der Sowjetunion Weltsicht. Er hat eine Erklärung für die einmalige Art der Menschen, die nicht nur aus der Andersartigkeit der Landschaft und des Klimas kommt. „Ostpreußen ist ungefähr ebenso Siedlungsland wie Amerika. Seine Einwohnerschaft stammt in derselben Weise von Einwanderern aus vielen Ländern, die im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert dem Ruf des Deutschen Ritterordens folgten oder auch noch später einwanderten oder dort angesiedelt wurden. Nur dass die noch im Lande verbliebenen alten Preußen keine Rothäute waren, sondern als ein baltischer Stamm ebenso Indoeuropäer wie die Einwanderer, dass sie sich, soweit sie den Prozess der Unterwerfung und Bekehrung überstanden, entweder mit den Einwanderern vermischten oder auch bis heute als altpreußische Familien erhalten haben."23 Auch Nadolny hat Ostpreußen den Rücken gekehrt, für den Juristen ist hier im Jahr 1902 keine Karriere zu machen. Er steigt in Berlin für kurze Zeit zum Leiter des Büros des Reichspräsidenten Friedrich Ebert auf. Der 1905 geborene Königsberger Max Fürst, der es vom Schreiner zum Schriftsteller bringen wird, durchstreift zu Beginn der Zwanzigerjahre als Leiter einer bündischen jüdischen Jugendgruppe fast die gesamte ostpreußische Heimat. 1925 zieht es ihn nach Berlin; 1935 muss er nach Palästina emigrieren. Im dazwischen liegenden Jahrzehnt besucht er immer wieder die Provinz. „Dann begann mein Herz doch schneller zu schlagen, als der Zug in Dirschau über die lange Weichselbrücke donnerte. Ich brauchte nicht aus dem Fenster zu sehen, die Namen der aufgerufenen Stationen und der kleineren Orte, an denen der Zug nicht hielt, wusste ich auswendig und sah auch die Landschaft im Dunkeln." Er passiert im Zug die Marienburg, die Stadt Elbing mit der Schichau-Werft, die Besitzungen des Fürsten Dohna in Schlobitten, endlich Braunsberg und Heiligenbeil. Dann sieht der Heimkehrer erstmals das Frische Haff. „Es ist doch seltsam, wie das Herz schlägt, wenn man der Heimat näher kommt. Man kennt schon jeden Baum, jeden Pfad, Ponarth mit neuen Fabriken, Gärtnereien und der Brauerei. Jetzt schnell alles zusammenpacken, und dann stand ich alleine auf dem Bahnhof in Königsberg."24 Dem Literaten Fechter aus Elbing, dem Diplomaten Nadolny aus Masuren, dem kurzzeitigen Reichsminister von Braun, dem sozialdemokratischen Journalisten Birnbaum und zwei Millionen anderer einst heimischer Ostpreußen bleiben die Erinnerungen. Sie haben überlebt. Aber heimatlos zu werden ist ein schweres Schicksal. Der Schriftsteller Peter Härtling schreibt im Januar 2004 über eine Erfahrung seines da schon verstorbenen jüdischen Freundes Max Fürst, der 1978 fern von Königsberg, in Stuttgart, gestorben ist: „Er hat lernen müssen, wie leicht ein Land aus einem Leben verloren geht."25 Und er zitiert Fürst: „Es ist leicht, über Ostpreußen zu schreiben, ich sehe es klar vor mir, es ist mein Orplid, versunken in Geschichtslosigkeit."26 Max Fürst aus Königsberg hat es schmerzhaft erleben müssen: „Auch heute noch kann es geschehen, dass ein Land aus den Schlagzeilen verschwindet und keine Versammlung der Heimatvertriebenen es in die Aktualität zurückholen kann."27 Auch dieses Buch kann das nicht. Dieser Rückblick ist nicht sentimental, es will wenig Bekanntes und Vergessenes in der Geschichte verorten, durch Nachrichten, aus Zeugnissen und Erinnerungen - damit Ostpreußen unvergessener Teil der deutschen Geschichte bleibt.
Eine preußische Provinz
Was meint Ostpreußen? Was ist Ostpreußen bis zu seinem Ende im Jahr 1945? Eine Landschaft? Ein deutsches Land? Eine deutsche Provinz? Eine Landschaft ist es nicht. Dafür ist das Land von der samländischen Steilküste zu den masurischen Seen, von den Wüstendünen der Kurischen Nehrung über die Kiefernwälder der Johannisburger Heide bis zu den satten Wiesen der Elbinger Niederung zu vielgestaltig. Ostpreußen ist auch nie ein deutsches Land wie etwa Bayern, Sachsen oder Anhalt. Und es ist auch keine „deutsche", sondern eine Provinz Preußens. Im Jahr 1837 zählt das Gebiet der Provinz Ostpreußen neben zwei Dritteln deutschsprachigen Einwohnern ein Drittel polnisch- und litauischsprachige Einwohner. 28 Vom Zweiten Thorner Frieden 1466 bis zum Vertrag von Wehlau im Jahr 1657 bzw. dem Vertrag zu Oliva im Jahr 1660 untersteht das Gebiet des einstigen Ordensstaates und ab 1525 eines weltlichen „Herzogtums Preußen" der Oberhoheit eines polnischen bzw. eines polnisch-litauischen Staates. Bis zum Zusammenschluss deutscher Staaten zum Norddeutschen Bund im August 1866 ist Ostpreußen auch nie Teil eines Deutschen Bundesstaates. Zu „Deutschland" als Staat gehört es erst seit der Kaiserproklamation in Versailles 1871. Mit ihr entsteht das von Bismarck geschaffene zweite Deutsche Reich. Aber es ist auch keine „Provinz" dieses Deutschlands. Ostpreußen ist das, was sein Name sagt: der Osten des Staates Preußen. Zu ihm gehört es als Provinz. Preußen ist ein Staat, seit 1701 regiert von einem König. Bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation um 1803/1806 gehören viele „Seiner Majestät Staaten" zu diesem „Reich Deutscher Nation". Aber nicht alle. Und nie die „Provinz Preußen". Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt Ostpreußen als fernes Land. „Litauische Geschichten", Romane und Theaterstücke verfasst der „Richter und Dichter" Ernst Wichert. Der in Insterburg geborene, in Pillau und Königsberg aufgewachsene Autor, im Hauptberuf Jurist, erinnert sich in seinen 1899 erschienenen Memoiren an die Gründe: „Denn über die erste Hälfte dieses Jahrhunderts hinaus blieb die östliche Provinz von dem Körper der Monarchie entlegen, nicht nur politisch in besonderer Stellung, sondern auch wirtschaftlich auf sich selbst gewiesen, vielleicht in regerem Verkehr mit dem Auslande - über See -, als mit dem Westen Preussens. Brauchte man doch, bevor die Eisenbahn Mitte der fünfziger Jahre eröffnet wurde, zur Reise von Königsberg bis Berlin in der Schnellpost drei Tage und zwei Nächte, und von Litauen oder Masuren aus auf schlechten Wegen erst Königsberg zu erreichen, war auch nicht zu jeder Jahreszeit leicht. So wars nur ein kleiner Teil der Bewohner, der über die Weichsel hinauskam."29 Ein Ostpreußen gibt es dem Namen nach seit 1773. König Friedrich II. („der Große") erhält mit der ersten Polnischen Teilung Gebiete, die bis 1466 zum Staat des Deutschen Ordens gehörten und seitdem als „Königliches Preußen" dem polnischen König unterstanden. Seine Beamten nennen die neu gewonnen Territorien „ Neu-Preußen". Friedrich verordnet am 31. Januar 1773 per Kabinettsordre ein neues Namensverzeichnis: „Übrigens finde Ich die Benennung Meiner aquirirter dortigen Provinzen unter dem Namen von Neu-Preußen, da das Wort ‚Neu' nur vor neu aufgefundenen Ländern gebraucht zu werden pfleget, garnicht schicklich und dahero, daß ins künftige Meine alte preußische Provinzen Ost-Preußen und die aquirirte West-Preußen genannt werden sollen."30 Noch setzt sich Ostpreußen im Sprachgebrauch nicht durch. Bis 1824 spricht man allgemein von der „Provinz Preußen", wenn im Sinne Friedrichs „Ost-Preußen" gemeint ist. Der Name Ostpreußen tritt im Jahre 1815 als geographische Bezeichnung in neuer Verwendung auf. In der am 30. April 1815 erfolgten Verordnung über die verbesserte Einrichtung der Provinzialbehörden werden in der bisherigen Provinz „Preußen" wie auch in „Westpreußen" zwei Regierungsbezirke gebildet. In (Ost-)Preußen sind es der Bezirk „Litauen" mit der Hauptstadt Gumbinnen und ein Bezirk „Ostpreußen" mit der Hauptstadt Königsberg. Im Jahre 1824 werden die Provinzen Preußen und Westpreußen zu einer Provinz mit dem Namen „Preußen" vereinigt. Bei der erneuten Teilung 1877 wird nicht mehr nur ein Regierungsbezirk, sondern gleich der ganze östliche Teil der Provinz „Ostpreußen" genannt. In ihr existieren fortan die Regierungsbezirke Königsberg und Gumbinnen. 1905 geben diese Regierungsbezirke Kreise an einen neuen Bezirk Allenstein ab.31 Von 1806 bis 1866 ist Preußen als „Königreich" völlig souverän, denn der Deutsche Bund, dem es angehört, ist ein Staatenbund und „Westpreußen", „Posen" und die „Provinz Preußen" sind nicht Teil des Deutschen Bundes. Von 1866 bis 1871 dann ist das Königreich Preußen ein Teilstaat des Norddeutschen Bundes, seit 1871 des Deutschen Kaiserreichs. Jetzt hat es zwar noch Staatlichkeit (wie heute die Länder der Bundesrepublik Deutschland), aber keine Souveränität mehr. Noch bis 1937 wird eine „Preußische Staatsbürgerschaft" in den Pässen, die die deutschen Länder ausstellen, ausgewiesen. Mit ihr ist man ab 1871 automatisch auch „Deutscher". Allerdings kann der vorbestrafte Tilsiter Wilhelm Voigt, später bekannter als Hauptmann von Köpenick, noch 1906 aus dem mecklenburgischen Wismar „als ein für die öffentliche Sicherheit und Moralität" gefährlicher „Ausländer" in den Staat abgeschoben werden, dessen Staatsbürger er allein ist: Preußen. Der Verlust der Souveränität kann den Herrschenden in Preußen egal sein, denn Preußen ist die dominierende Macht im deutschen Kaiserreich. Der Reichskanzler ist - mit einer kurzen Ausnahme - immer zugleich preußischer Ministerpräsident. Auch zu Zeiten der Weimarer Republik nennt sich der Staat, zu dem Preußen jetzt als „Freistaat Preußen" gehört, noch Deutsches Reich. Als sich die Demokratie zur Einparteien-Diktatur unter einem „Führer" wandelt und dieser das „Dritte Reich" proklamiert, wird Preußen nicht aufgelöst. Von 1933 bis 1945 übt formal der Reichskanzler Adolf Hitler selbst die Geschäfte eines „Reichsstatthalters" in Preußen aus, den er nach dem „Führerprinzip" in den deutschen Ländern an die Stelle der Parlamente gesetzt hat. Die Befugnisse des Reichsstatthalters in Preußen hat er auf Hermann Göring übertragen. Der ist in der Nazi-Diktatur vieles; neben dem Reichsluftfahrtminister und Präsident des gleichgeschalteten Reichstags auch noch preußischer Ministerpräsident. Christopher Clarks monumentales 800-Seiten-Werk Preußen - Aufstieg und Niedergang beginnt mit dem Satz „Am Anfang war Brandenburg." Damit stellt Clark klar, dass das karge, „des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse" Brandenburg der staatliche Kern des Staates Preußen ist und nicht das ehemalige Ordensland und Herzogtum zwischen Weichsel und Memel. In dessen Besitz kommen die Brandenburger Hohenzollern erst 1618, mehr als zwei Jahrhunderte nach ihrer Belehnung mit der Mark Brandenburg durch den Deutschen Kaiser im Jahr 1415. Das Preußenland überträgt dem Staat, der aus den verstreuten einzelnen Territorien der Dynastie der Hohenzollern entsteht, im Jahr 1701 lediglich den Namen. Es ist nicht seine Keimzelle. In der Folge eines hohenzollernschen Zentralismus wird Preußen dann immer mehr vom eigenständigen Herzogtum zur Provinz. Ostpreußen gibt es nur bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945, den Staat Preußen immerhin noch bis zum 25. Februar 1947. An diesem Tag stellt der Alliierte Kontrollrat mit dem Gesetz Nr. 46 fest: „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst. Staats- und Verwaltungsfunktionen sowie Vermögen und Verbindlichkeiten des früheren Staates Preußen sollen auf die Länder übertragen werden." Der australische Historiker Clark, der an der Universität Cambridge lehrt, kann sein Werk deshalb mit dem Satz „Am Ende war nur noch Brandenburg" beenden. Tatsächlich ist Ostpreußen im Februar 1947 gänzlich von der Landkarte gelöscht. Von der Provinz Pommern bleibt Deutschland immerhin der vordere Teil, von Schlesien noch ein Zipfelchen um Görlitz. Ostpreußen aber entschwindet 1945 gänzlich in die Geschichte.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Hermann Pölking
- 1000 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828947026
- ISBN-13: 9783828947023
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