Tessa Dare 3er-Package
"Der Kuss der Jägerin", "Wirbelsturm der Liebe", "Leidenschaftliche Rache"
- Der Kuss der Jägerin: Lucy Waltham ist fest entschlossen, nur aus Liebe zu heiraten. Einen geeigneten Kandidaten hat sie auch schon im Visier. Leider fehlt es ihr an praktischer Erfahrung und so will sie ihre...
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Produktinformationen zu „Tessa Dare 3er-Package “
- Der Kuss der Jägerin: Lucy Waltham ist fest entschlossen, nur aus Liebe zu heiraten. Einen geeigneten Kandidaten hat sie auch schon im Visier. Leider fehlt es ihr an praktischer Erfahrung und so will sie ihre Verführungskünste erst einmal an Jeremy Trescott, dem besten Freund ihres Bruders, ausprobieren. Kann das gutgehen?
- Wirbelsturm der Liebe
- Leidenschaftliche Rache
Lese-Probe zu „Tessa Dare 3er-Package “
Der Kuss der Jägerin, Wirbelsturm der Liebe, Leidenschaftliche Rache von Tessa DareHerbst 1817
Ein Klopfen an der Tür mitten in der Nacht konnte nur Unheil bedeuten.
Jeremy zog rasch unter seinem Nachthemd ein Paar abgetragener Hosen an und stolperte zur Schlafzimmertür. Feuer vielleicht? Nein, er roch keinen Rauch. Irgendein familiärer Notfall bei den Walthams? Oder eine dringende Nachricht seines Verwalters? Über Unruhen auf Corbinsdale etwa, was keine große Überraschung wäre.
Unwillkürlich überfiel ihn eine Erinnerung, beunruhigte ihn. Das Herz klopfte wild in seiner Brust. Er verharrte einen Moment reglos, umklammerte mit einer Hand die Türklinke und verfluchte sich dafür, nach all den Jahren plötzlich wieder eine Erinnerung zuzulassen, die er sich zu vergessen bemüht hatte.
Sein Verstand gewann die Kontrolle zurück, sein rasender Puls beruhigte sich. Der schwache Schimmer glimmender Kohlen warf unheimliche Schatten, aber Jeremy zwang sich, genau hinzusehen: Nein, es war nicht jene schreckliche Nacht und er nicht mehr der kleine Junge, der durch die Wälder von Corbinsdale irrte. Das lag länger als zwanzig Jahre zurück. Jetzt befand er sich in dem vertrauten Schlafzimmer auf Waltham Manor, und was für eine Überraschung auch immer ihn auf der anderen Seite der Zimmertür erwarten mochte - es konnte ihm nichts anhaben.
Als er den rostigen Riegel zurückschob und die Tür aufriss, war Jeremy auf das Schlimmste gefasst.
»Steh still«, erklang ein geflüsterter Befehl.
... mehr
Ihm blieb nur ein kurzer Moment, um eine weibliche Gestalt zu erkennen, wilde dunkle Locken und zwei Hände, die seine Schultern packten. Dann stellte sich Lucy Waltham, die jüngere Schwester seines besten Freundes, auf die Zehenspitzen und presste ihren Mund mit solcher Heftigkeit auf seine Lippen, dass er rückwärts gegen die Tür taumelte.
Gütiger Himmel. Das Mädchen küsst mich.
Nun, überlegte er, immerhin war er auf Ärgeres gefasst gewesen, wenngleich von den vielen Küssen, die Jeremy Trescott in seinem neunundzwanzigjährigen Leben erhalten und gegeben hatte, dieser hier zweifellos der schlimmste war.
Lucy küsste mit fest geschlossenen, gespitzten Lippen und riss die Augen dabei weit auf. Allerdings glich sie das, was ihr an Raffinesse fehlte, mit schrankenloser Begeisterung aus. Ihre Hände schienen überall zu sein - in seinen Haaren, auf seinen Schultern und an seiner breiten Brust.
Genau genommen war das hier eigentlich gar kein Kuss, sondern ein Sturmangriff. Außerdem gegen alle Regeln, völlig unlogisch und auf mindestens ein Dutzend Weisen falsch.
Irgendwie fanden Jeremys Hände ihre Ellbogen, und er befreite sich aus ihrer eifrigen Umarmung. »Lucy? Was, zum Teufel, soll das werden?«
»Pst!« Sie schaute erst zur einen, dann zur anderen Seite des dunklen Korridors. Als sie ihren Blick anschließend wieder auf sein Gesicht richtete, sah sie ihn mit einer beunruhigenden Konzentration an, und Jeremy bildete sich absurderweise für einen Moment ein, dass jemand eine Zielscheibe auf sein Gesicht gemalt hatte.
»Ich übe«, flüsterte sie, und ihre Finger gruben sich fester in seine Arme. »Lass es mich nur noch einmal probieren.«
Sie nahm Anlauf zu einem weiteren Kuss, aber er duckte sich unwillkürlich, zog sie ins Zimmer und schloss hinter ihnen die Tür. In einer anderen, weniger irrwitzigen Situation hätte er das vermutlich unterlassen, denn ungehöriger, als die Schwester seines Gastgebers auf dem dunklen Korridor zu küssen, war es zweifellos, sie in sein Schlafzimmer zu zerren. Aber Jeremys Fähigkeit zu vernünftigem Denken schien sich vorübergehend verabschiedet zu haben.
Lucy hatte ihn buchstäblich um den Verstand geküsst.
»Funktioniert es?«
Er starrte sie in stummer Verblüffung an. Was sollte funktionieren? Im Moment kam es ihm vor, als funktioniere überhaupt nichts, am allerwenigsten sein Hirn. Seine Gliedmaßen waren wie gelähmt, und er konnte seine Lippen nicht bewegen, um ihr zu antworten.
Sie machte einen Schritt nach hinten, verschränkte die Arme über ihrem scharlachroten Morgenrock und musterte auffordernd seinen Körper. Als ihr Blick an ihm hinabglitt, wurde sich Jeremy mit einem Mal seines merkwürdigen Aufzugs bewusst - in Nachthemd, abgetragenen Hosen und mit bloßen Füßen.
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Es muss funktioniert haben. Du hast mich schließlich in dein Schlafzimmer gezerrt.« Sie packte den Türgriff. »Gut, Jemmy. Ich denke, damit habe ich erst einmal genug geübt. Wir sehen uns dann beim Frühstück.«
Sie öffnete die Tür einen Spalt, wollte hindurchschlüpfen, doch Jeremy schlug sie wieder zu.
Mit einem bösen Blick fasste sie die Klinke mit beiden Händen und zog daran. »Verzeihung, aber ich muss jetzt gehen.«
»Nein, das musst du nicht.« Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Lucy war es vielleicht gewöhnt, die halbherzigen Versuche ihres Bruders und Vormunds, sich bei ihr Respekt zu verschaffen, fröhlich zu ignorieren, aber Jeremy war um einiges größer und wesentlich kräftiger als Henry Waltham, von seinem eisernen Willen ganz zu schweigen. Lucy würde nicht so einfach davonkommen.
Er schlug seinen herrischsten Tonfall an, der zum Titel des Earl of Kendall passte. »Du gehst jetzt nirgendwohin. Du wirst dich hinsetzen und mir alles haargenau erklären.« Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen. Er packte sie am Ellbogen und schob sie zu einem Stuhl. »Aber zuerst«, verkündete er, »werde ich etwas trinken.«
Sie hörte auf, sich zu wehren, und ließ sich wenig anmutig auf den Sitz fallen. »Ein Drink«, sagte sie. »Warum bin ich nicht selbst draufgekommen? Ein Drink wäre jetzt genau das Richtige, danke.«
Kopfschüttelnd ging Jeremy zu dem Tischchen mit den Karaffen und goss sich ein Glas Whisky ein. Er leerte es mit einem Schluck zur Hälfte, schloss die Augen und genoss das Brennen in seinem Hals. Als er sie wieder öffnete, schaute er sich um, als wolle er sich vergewissern, dass er sich immer noch auf Waltham Manor befand, wo er seit seiner Zeit in Cambridge jeden Herbst zu Besuch weilte. Grob behauene Balken durchzogen die schräge Decke, verblichene Gobelins zierten die Wände, und ein ausgefranster, abgenutzter Teppich lag auf dem Boden unter seinen Füßen. Das Zimmer hatte sich in den vergangenen acht Jahren nicht verändert, vermutlich genauso wenig wie in den hundert Jahren zuvor.
Waltham Manor mit seinem Ambiente, der es umgebenden Landschaft und dem Quartett der Freunde, die sich hier zur Jagd trafen, war zu einer Konstante in Jeremys Leben geworden, einem Ort der Sicherheit. Bis zu diesem Jahr, das alles ändern würde.
»Warum konnte nicht einfach alles so weitergehen wie immer? « Lucy stocherte mit dem Feuerhaken in den Flammen, sodass die Funken wild aufstoben. »Warum musste Felix unbedingt heiraten? Er hat alles verdorben.«
Statt zu antworten, trank Jeremy seinen Whisky aus. Er würde es nie zugeben, aber im Grunde genommen dachte er genau wie sie.
»Es war ja noch in Ordnung mit Henrys Heirat«, fuhr sie fort. »Marianne hat so viel mit den Kindern zu tun, dass sie nicht weiter stört. Aber die Schreckschraube, die jetzt die Frau von Felix ist, wird erwarten, dass immer jemand für ihre Unterhaltung sorgt. Und zu allem Überfluss hat sie noch ihre Schwester mit hergeschleppt, diese Sophia.«
»Mrs. Crowley-Cumberbatch und Miss Hathaway sollen, was man so hört, ganz reizende junge Damen sein. Warum freust du dich nicht über ihre Gesellschaft?«
Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu.
»Warum denn.« Um bei der Wahrheit zu bleiben, war Jeremy auch nicht gerade begeistert über ihre Anwesenheit, obwohl gegen Felix' Frau Kitty eigentlich nichts einzuwenden war und gegen ihre Schwester schon gar nicht. Ganz im Gegenteil, Sophia Hathaway war das Bild einer unaufdringlichen und wohl erzogenen Schönheit aus der guten Gesellschaft. Ein bisschen wie ein Baiser, zu süß und ein wenig substanzlos, aber nett und hübsch, wenn man diesen Typ mochte. Wie es bei Toby der Fall zu sein schien.
Jeremy gönnte sich noch einen Schluck Whisky und verzog das Gesicht: Welche Ironie des Schicksals. Henry und Felix verheiratet und Toby so gut wie ..., das ungezwungene ehemalige Refugium der Junggesellen war jetzt eine Hausgesellschaft mit Regeln und Konventionen. Nun, wenn seine Freunde auch entschlossen waren, sich in Ehefesseln legen zu lassen, so schwebte immerhin er selbst nicht in dieser Gefahr. Alle infrage kommenden jungen Damen auf Waltham Manor waren vergeben.
Das Geräusch von Fingern, die ungeduldig auf Holz klopften, unterbrach seine Gedanken. »Willst du die ganze Flasche alleine trinken?«
Es sei denn, man zählte Lucy dazu.
Aber das tat er nicht. Sie stand weder zur Diskussion, noch sah er sie als junge Dame. Sie war Henrys deutlich jüngere Schwester, zudem sein Mündel, und wie sie stellte Jeremy sich eine biblische Plage vor. Sie hatte Jahre damit verbracht, ihn zu nerven. Und jetzt war sie in sein Schlafzimmer gestürmt und ... wollte üben!
Sosehr er sich auch wünschte, den Kuss aus seinem Gedächtnis zu tilgen - er schaffte es nicht.
Ihren Wunsch nach einem Drink jedoch beachtete er nicht, füllte bloß sein eigenes Glas aufs Neue und trug es zum Kamin, wo er sich auf dem Stuhl ihr gegenüber niederließ. Bedächtig fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar, atmete langsam aus. »Ich möchte das eigentlich nicht fragen, weil mir vor deiner Antwort graut, aber für was genau übst du?«
»Nicht für was«, erwiderte sie, »sondern für wen.«
Großer Gott, es wurde noch schlimmer als befürchtet. »Also gut, für wen übst du? Einen Jungen aus der Gegend? Den Sohn des Vikars?«
»Für Toby natürlich.«
Er lachte trocken. »Für Toby? Warum solltest du Toby küssen? Er ist so gut wie verlobt mit Miss Hathaway.«
Sie schlang die Arme um die angezogenen Beine, sodass sie fast wie ein Knäuel aus rotem Samt und kastanienbraunen Locken aussah. In dem mächtigen Stuhl wirkte sie kleiner, als sie in Wirklichkeit war, und in ihren grünen Augen stand unverhohlener Schmerz. »Dann stimmt es also.«
Verdammt. Plötzlich ergab dieser seltsame nächtliche Besuch Sinn. Jeremy umklammerte die Lehnen seines Stuhles fester. Etwas Dümmeres hätte er nicht sagen können.
»Meine Zofe hat erzählt, sie habe es von Tobys Kammerdiener gehört. Ich wollte ihr nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Aber es stimmt wohl wirklich.«
Jeremy musste wegschauen. Das hier war eine Sache des Selbstschutzes. Lucys herzförmiges Gesicht wies elfenhafte Züge auf - Züge, wie dazu gemacht, jede Regung in ihrem Innern unverfälscht widerzuspiegeln. Man konnte sie nicht ansehen, ohne zu wissen, was sie fühlte, aber Jeremy wollte es nicht wissen.
»Wie konnte er nur?«, fragte sie anklagend und mit brechender Stimme.
Jeremy zuckte zusammen. Lucy schniefte laut, und er nahm einen weiteren Schluck Whisky. Sie durfte nicht weinen, daran hätte er sie am liebsten erinnert - diese Regel hatte Henry aufgestellt, als er dem Mädchen erlaubte, ihn und seine Freunde jeden Herbst auf ihren Streifzügen zu begleiten. Sie konnte ihn um den kleinen Finger wickeln, er nahm sie mit auf die Jagd und zum Angeln, ließ sie sogar von ihren Flaschen nippen - aber unter einer Bedingung: Lucy durfte nicht weinen. In den acht Jahren, die er sie kannte, hatte er sie keine einzige Träne vergießen sehen. Er hoffte inständig, dass sie nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen wollte. Wenn es etwas gab, das er nicht ertrug, dann war es eine weinende Frau.
Er musterte sie verstohlen. Verflucht, ihr Kinn bebte. »Du wirst doch nicht etwa zu weinen anfangen?«
»Nein«, sagte sie, doch ihre Stimme zitterte.
Jeremy legte neue Holzscheite in den Kamin, versuchte Zeit zu gewinnen.
Zur Hölle mit Toby. Das hier war alles seine Schuld. Er hatte immer so viel Aufhebens um die Kleine gemacht, sie nach Strich und Faden verwöhnt. Jeden Herbst war sie Toby wie ein anhängliches Hündchen nachgelaufen. Er hatte ihr Köder auf die Angelhaken gesteckt und ihr anzügliche lateinische Gedichte beigebracht, ihr Blumen gekauft und ihr Kronen aus Efeu geflochten, die sie sich sogleich ins Haar setzte. Seine Diana hatte Toby sie immer genannt, die Göttin der Jagd.
So mochte er sie zwar bezeichnet haben, aber der Gegenstand der Verehrung war er selbst, denn Lucy vergötterte ihn. Die harmlose Vernarrtheit eines jungen Mädchens, dachten die Freunde, denn etwas anderes konnte es in ihren Augen nicht sein. Offenbar hatte es jedoch für Lucy mehr bedeutet, viel mehr. Und jetzt schien die Aufgabe, ihr diese romantischen Flausen auszutreiben, irgendwie bei ihm, Jeremy, gelandet zu sein. Mit so was hatte er immer Glück! Typisch und irgendwie bezeichnend, dachte er voller Sarkasmus, denn er selbst hielt von solchen Schwärmereien nichts - das passte nicht zu ihm.
Er klopfte sich den Staub von den Händen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. In begütigendem Ton begann er: »Also, Lucy, du musst begreifen ...«
»Nicht, Jemmy. Wag es nicht, mit mir zu sprechen, als sei ich ein Kind. Ich hätte schon vorvorletzte Saison in die Gesellschaft eingeführt werden sollen, wenn Marianne nicht ständig in anderen Umständen gewesen wäre. Vielleicht bin ich keine vornehme junge Dame wie Sophia Hathaway, aber ich bin auch kein kleines Mädchen mehr.«
Sie streckte einen ihrer bloßen Füße zum Feuer und drehte ihn geistesabwesend hin und her. Die Anmut dieser Bewegung zog Jeremys Blick an und fesselte ihn so sehr, dass er nicht aufhören konnte, sie zu beobachten. Unverwandt starrte er auf ihren kreisenden Fuß, auf die Haut, die im Schein des Feuers golden schimmerte. Seine Augen glitten nach oben, folgten der Kurve ihrer Schenkel bis dorthin, wo sie unter dem Morgenrock verschwanden.
Plötzlich rührte Lucy sich, schlug die Beine übereinander. Roter Samt fiel wie ein Theatervorhang, der jäh die Vorstellung beendet. Ein Stich der Enttäuschung durchfuhr seine Brust, erfasste seinen ganzen Körper und verschmolz mit dem vertrauten Schmerz unerfüllten Verlangens. Himmel, diese Nacht war wahrhaft voller Überraschungen.
»Nein, ein Kind bist du wirklich nicht«, sagte er und riss, sich innerlich einen Ruck gebend, seinen Blick von ihr los. »Nun gut, lass uns wie Erwachsene miteinander reden. Du kannst gleich damit anfangen, auf diesen albernen Spitznamen zu verzichten und mich vernünftig anzusprechen.«
»Mit deinem Titel etwa? Ich weiß nicht einmal mehr deinen alten, von dem neuen ganz zu schweigen.« Sie schaute hoch zur Decke. »Du kannst nicht allen Ernstes erwarten, dass ich dich ›Mylord‹ nenne, Jemmy!«
Jeremy seufzte und kam ohne weiteres Vorgeplänkel zur Sache. »Dann lass mich dir ganz offen sagen: Toby wird Miss Hathaway heiraten.«
»Das kann er nicht. Das ist nicht fair.«
Er verdrehte die Augen. »Du sprichst wie ein kleines Mädchen, Lucy.«
Sie beachtete ihn nicht weiter. »Aber für mich war es schon immer klar, dass ich eines Tages Toby Aldridge heiraten werde - das weiß ich, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.«
»Das ist doch albern. Als du ihn kennenlerntest, warst du gerade zwölf!«
»Elf.«
»Dann eben elf. Und Toby hat außerdem damals auf dich geschossen! Hast du das etwa vergessen?«
»Ach nein, er hat nicht auf mich gezielt, sondern auf das Rebhuhn, das ich versehentlich aufgescheucht hatte. Er wusste nicht, dass ich da war, weil ...«
»Weil du uns heimlich gefolgt bist, obwohl Henry es dir verboten hatte«, beendete Jeremy ungeduldig ihre Erklärung. »Ja, ja. Ich weiß das noch ganz genau.«
Zu genau, fügte er im Stillen hinzu. Er erinnerte sich an alles, was an jenem Tag geschehen war, in allen schrecklichen Einzelheiten. An die grelle Nachmittagssonne, den scharfen Geruch von Schwarzpulver, aber besonders klar waren die Geräusche in seinem Gedächtnis geblieben. Wie könnte er sie je vergessen? Heftiges Flügelschlagen, der Schuss aus Tobys Gewehr, der schrille Schrei. Die entsetzliche Stille, als sie alle vier durch das kniehohe Brombeergestrüpp gestürmt waren, um am Ende Lucy heil und völlig ungerührt auf einer Lichtung sitzend zu finden.
Die folgenden Jahre hatten gezeigt, dass solch knappes Entkommen sich wie ein roter Faden durch Lucy Walthams Existenz zog. Sie schien ständig am Rand irgendeiner Katastrophe entlangzuschlittern, und daher war Jeremy ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Er wollte nicht in der Nähe sein, sondern in sicherer Entfernung, wenn das unausweichliche Geschick sie irgendwann ereilte.
Lucy zog die Nase hoch, streckte die Hand aus und nahm ihm seinen Whisky weg, wobei sie mit den Fingerspitzen sein Handgelenk streifte. Unter sicherer Entfernung verstand Jeremy etwas anderes.
Sie stützte das Kinn auf ein Knie und starrte verdrießlich in die bernsteinfarbene Flüssigkeit. »Was hat Sophia Hathaway nur, das ich nicht habe?«
»Du meinst, einmal abgesehen von einer hervorragenden Erziehung, zahlreichen nützlichen Fertigkeiten und einer Mitgift von zwanzigtausend Pfund?« Er streckte die Hand aus, um seinen Drink zurückzufordern.
Sie nahm noch einen großzügigen Schluck, ehe sie ihm das Glas wieder überließ. »Sie liebt ihn nicht.«
»Noch mehr mädchenhafte Fantasien. Es geht um Ehe. Liebe ist dazu nicht unbedingt erforderlich. Sie kommen recht gut miteinander aus, und ihre Familien werden ihre Heirat gutheißen. Sie hat Vermögen, aber keinen Titel, und er ist ein Baronet. Es ist für sie beide eine vorteilhafte Verbindung.«
»Vorteilhaft?« Sie kniff die Augen zusammen. »Nur du würdest von einer Ehe wie von einem sorgfältig angebahnten Geschäft reden.«
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich stehe da nicht allein. Die ganze Gesellschaft denkt so. Liebesehen wie die deines Bruders sind die Ausnahmen, nicht die Regel. Damen, die auf Romantik beharren, werden am Ende enttäuscht. Du würdest erkennen, dass ich recht habe, wenn du nur ...«
»Wenn ich nur was? Wenn ich nur kalt und abgestumpft wäre wie du?«
Jeremy presste die Lippen aufeinander. »Wenn du nur wenigstens ein bisschen auf eine deiner Gouvernanten gehört hättest. Oder wenn da ein richtiges Vorbild gewesen wäre, nicht nur deine überlastete Schwägerin und deine senile Tante, und zumindest ein Quäntchen Vernunft.«
»Wenn ich nur wie Sophia Hathaway wäre!«
»Das hast du gesagt, nicht ich.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun, es ist mir egal, was du sagst oder was die Gesellschaft meint. Ich werde aus Liebe heiraten, und das bedeutet, dass es niemand außer Toby sein kann. Ich weigere mich zu glauben, dass er eine andere als mich zur Frau nehmen könnte. Er liebt mich. Das weiß ich, auch wenn er vielleicht selbst noch nichts davon ahnt.«
»Lucy, die Sache ist so gut wie sicher. Ich rechne fest damit, dass er ihr in den nächsten Tagen einen Antrag macht.«
»Dann muss ich eben heute Nacht handeln.« Sie stand auf und begann auf und ab zu laufen. Die Stirn in Falten gelegt spielte sie geistesabwesend mit einer Haarsträhne, kaute darauf herum. Es war ein Warnsignal, das zu beachten er gelernt hatte. Lucy tat das immer, wenn sie über etwas nachdachte - etwas Verrücktes natürlich.
Gewöhnlich trug sie ihre Locken hochgesteckt - weil sie es bequemer fand, nicht aus modischen Erwägungen etwa. Aber die Nadeln oder die Kopfbedeckung, die ihre Haarpracht zu zähmen vermochten, waren noch nicht erfunden. Irgendein Löckchen befreite sich immer aus der Frisur oder stahl sich unter dem Hut hervor. Jetzt fiel ihr Haar in schweren Wellen hinunter bis zur Taille, schimmerte wie ein dichter, seidiger Pelz. Sie beendete ihr Auf-und Abgehen, wirbelte herum und kam zurück zu ihm, die verlockenden Konturen ihres Körpers gut erkennbar unter dem leichten Morgenrock.
Kurven waren das! Gütiger Himmel. Wann hatte Lucy solche Kurven entwickelt? Sie war bislang kaum mehr als Haut und Knochen gewesen, die scheinbar einzig durch eiserne Willenskraft zusammengehalten wurden. Jetzt war die ganze Entschlossenheit dieser kleinen Person in weiche, üppig weibliche Rundungen verpackt. Und sie und ihre Kurven marschierten nur spärlich bekleidet durch sein Schlafzimmer. Zudem zu einer absolut gottlosen Stunde - er blickte verstohlen zur Uhr auf dem Kaminsims, die zwei Uhr in der Nacht anzeigte. Die Ungehörigkeit der ganzen Situation traf ihn mit einem Mal wie ein Schlag.
»Du solltest nicht hier sein. Es ist spät, und du bist ... aufgeregt. Geh zurück in dein Zimmer und schlaf. Wir können uns morgen weiter darüber unterhalten.«
»Morgen könnte es zu spät sein«, sagte sie. »Das Risiko darf ich nicht eingehen. Ich werde es heute Nacht tun müssen.«
»Was wirst du heute Nacht tun müssen?«
»Ihn verführen, natürlich.«
Jeremy starrte sie verblüfft an. Ein Holzscheit im Kamin verrutschte krachend, und rote Funken stoben auf.
Lucy blieb vor dem Spiegel stehen. Sie öffnete die Schleife ihres Morgenmantels, schlug ihn zurück und betrachtete unzufrieden das einfache weiße Leinennachthemd, das sie darunter trug. »Seide und Spitze wären besser, nehme ich an, aber ich habe nichts Schöneres.« Sie machte eine Vierteldrehung und schielte auf ihr Profil. Dann drückte sie die Schultern nach hinten und strich ihr Nachthemd glatt, sodass es sich eng an ihren Oberkörper schmiegte, bis jede Rundung, jede Erhebung klar zu erkennen war.
Jeremy sprang so jäh auf, dass er den Rest seines Whiskys auf dem Teppich verschüttete. Mit zwei Schritten durchquerte er das Zimmer und stellte sich zwischen Lucy und ihr aufreizendes Spiegelbild, fasste die Aufschläge ihres Morgenmantels und zog ihn fest zu. Der dritte Knopf ihres Nachthemds war nicht geschlossen, der dünne Stoff klaffte auseinander und gab den Blick frei auf eine Sichel goldüberhauchter Haut. Er zwang seinen Blick nach oben zu ihrem Gesicht. »Sag nicht, dass ..., dass es das ist, was du übst.«
Sie nickte. Die kühle Eindringlichkeit ihrer Augen verriet Jeremy, dass Lucy - egal, wie aberwitzig er die Idee fand - Verführung für einen völlig vernünftigen Plan hielt. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und versuchte, seiner Stimme Autorität zu verleihen. »Lucy, Toby liebt dich nicht.«
»Doch, Jemmy, das tut er.«
»Was macht dich so sicher? Hat er dir Anlass zur Hoffnung gegeben?«
»Entschuldigung, aber mir war nicht bewusst, dass Hoffnung einen Grund braucht, denn das tut sie nicht, ebenso wenig wie Liebe. Für den Fall, dass du es vergessen hast - ich habe kein Talent fürs Hoffen. Ich weiß, ich glaube, ich erwarte. Ich weiß, dass Toby mich liebt. Ich glaube, dass wir beide zusammengehören.« Sie stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. »Und ich erwarte, dass du das verstehst.«
Jeremy stöhnte. Wie sollte er mit einem Mädchen - nein, einer jungen Frau, verbesserte er sich - vernünftig reden, die nicht viel auf Vernunft gab? »Lucy, Toby hat dich sehr gerne.«
Er merkte, dass er sie immer noch an den Schultern hielt; daher trat er einen Schritt nach hinten und nahm seine Hände herunter. »Aber gernhaben ist nicht Liebe. Und außerdem, was weißt du schon von Verführung?«
»Oh, ich habe ein Buch.«
»Ein Buch?« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Gütiger Himmel, Lucy! Ich werde dich nicht fragen, woher du so ein Buch haben könntest oder welche Weisheiten es enthält.« Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er hob abwehrend eine Hand. »Genau genommen bitte ich dich sogar, es mir nicht zu verraten. Es reicht, wenn ich dir rate, den Empfehlungen eines Schundromans, der dir irgendwie in die Hände gefallen ist, keine Beachtung zu schenken.«
»Ich muss zugeben, dass das Lernen nach einem Buch gewisse Grenzen hat.« Sie musterte ihn mit unergründlicher Miene, suchte seinen Blick.
»So kann man es auch ausdrücken.«
Sie rückte näher. »Lesen ist jedenfalls kein Ersatz für Ausprobieren und praktische Erfahrung.« Sie kam noch dichter an ihn heran.
»Aber ... warte ..., Lucy, du kannst unmöglich ...« Und dann platzte er mit einer Frage heraus, die mehr an den Himmel gerichtet war als an Lucy selbst. »Warum ich?«
»Du meinst, abgesehen von der simplen Tatsache, dass es keinen anderen außer dir gibt? Du bist so anständig, Jemmy, aber auch so kalt. Es gibt bestimmt Eisberge im Meer, die weniger frostig sind. Wenn ich dich auftauen kann, dann habe ich bestimmt keine Probleme, Toby zu verführen.«
»Ich versichere dir, du könntest mich nicht ›auftauen‹, selbst wenn ich aufgetaut werden wollte. Was nicht der Fall ist.« Er machte erst einen Schritt zurück, dann einen zweiten.
»Versuch nur, mir zu widerstehen. Ich schätze die Herausforderung. « Sie trat vor ihn hin, und ihre Augen funkelten übermütig. »Ich habe gelernt, Moorhühner zu fangen und Forellen zu fischen. Unterscheidet sich das wirklich so sehr davon, einen Ehemann zu angeln?«
Ja, hätte Jeremy am liebsten geantwortet, aber irgendwie bewegte sich sein Kinn nur stumm auf und ab, fast wie das Maul einer Forelle im Wasser.
Und dann fasste sie ihn am Hemd und zog ihn zu sich heran, fing ihn in ihrem Netz aus kastanienfarbenen Locken und küsste ihn, dass ihm Hören und Sehen verging. Ihre Lippen bearbeiteten seine mit eiserner Entschlossenheit. Als sie ihm aber die Arme um den Hals schlang und sich an ihn schmiegte, spürte er, dass der Rest von ihr ganz weich und nachgiebig war. Seidige Strähnen ihres Haares glitten über seinen Unterarm. Üppige Rundungen pressten sich an seine Brust.
Ehe er sich so weit gefasst hatte, um protestieren zu können, löste sie sich plötzlich wieder von ihm und betrachtete sein Gesicht.
»Und? Funktioniert es?«
Eigentlich eine einfache Frage. Und während Jeremys Verstand noch die Gründe für ein entschiedenes Nein zusammentrug, sagten andere Teile seines Körpers unmissverständlich Ja. Gütiger Himmel, er war doch auch bloß ein Mann. Ein Mann, der - so schien es - die vergangenen Monate vergeudet hatte und dessen Körper ganz offenbar nur auf eine Gelegenheit wartete, das selbst auferlegte Mönchtum zu beenden. Er schüttelte entschlossen den Kopf, hoffte, sie würde seinen unregelmäßigen Atem nicht bemerken, der seine Worte Lügen strafte.
Lucy war nicht entmutigt. Sie wollte einen weiteren Versuch unternehmen, aber Jeremy nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Ihre Wangen waren weich und warm.
»Bist du eigentlich verrückt geworden? Das hier wird nicht geschehen. Es kann nicht geschehen.«
»Nun, freilich kann es nicht geschehen.« Ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, und in ihren Wangen erschienen unter dem Druck seiner Daumen zwei Grübchen. Jeremy verspürte den unverzeihlichen Drang, diese kleinen Dellen mit Fingern und Lippen zu erkunden.
»Hab keine Angst, Jemmy. Ich habe nicht vor, es so weit kommen zu lassen. Dann müsstest du mich ja heiraten, und das wäre nicht gut.«
»Das wäre gar nicht gut, richtig.« Er musterte das Gesicht, das er zwischen seinen Händen hielt. Ihre Haut schien den Feuerschein aufzusaugen und schimmerte wie vergoldet. In ihren Augen flackerte der Widerschein der Flammen, lockte ihn, genauer hinzusehen, näher zu kommen. Wer war diese Frau - und was war mit dem Mädchen Lucy geschehen? Der weibliche Körper vor ihm erinnerte in nichts an die kleine Freundin, fühlte sich vielmehr fremd an, und das war gefährlich. Eine Fremde war Freiwild, eine Fremde durfte er küssen ... und mehr.
Jeremy suchte rasch eine Liste von Gründen zusammen, weshalb Lucy ganz und gar nicht Freiwild sein konnte.
Punkt eins: Sie war die Schwester seines ältesten Freundes.
Punkt zwei: Henry war ein ausgezeichneter Schütze.
Weiter kam er nicht. »Hör mir gut zu«, sagte er und schüttelte sie ein wenig. »Wenn du Fragen hast bezüglich ..., na, du weißt schon, solltest du mit Marianne sprechen. Oder auf deine Hochzeitsnacht warten, wenn dein Ehemann - der keinesfalls Toby sein wird - dich in alles einweiht. Übungsstunden, um Ehemänner zu angeln oder um Männer in die Falle zu locken, sind völlig überflüssig.«
Sie lächelte. Es war ein selbstzufriedenes kleines Lächeln, das ihn schier verrückt machte und das er ihr am liebsten aus dem Gesicht geschüttelt hätte.
»Verstehst du mich?«, fragte er drängend.
»Ja.« Sie presste kurz die Lippen zusammen, öffnete sie aber gleich darauf zu einem Lachen.
»Warum, verdammt, lachst du dann?«
»Weil ich glaube, dass es funktioniert hat.«
Da war es schon wieder, dieses verflixte übermütige Lächeln. Aber dieses Mal sah er nicht das Lächeln, sondern das, was es hervorbrachte.
Lippen.
Volle, süß geschwungene Lippen, tiefrot vom Küssen und Lachen. Lippen, die darum flehten, von seinen bedeckt zu werden.
Er schloss die Augen vor der Versuchung, krallte seine Hände in ihr Haar, als könnte er sie zur Vernunft bringen, indem er ihre Locken bändigte. Sich selbst wieder in den Griff bekommen. Aber - grundgütiger Himmel - es war, als würde er seine Hände in flüssige Seide tauchen, und er fühlte ein köstliches Streicheln auf seiner Haut, Zoll für Zoll.
Er riss die Augen auf. Voller Verzweiflung blickte er nach unten, aber das machte nichts besser, denn der dritte Knopf ihres Nachthemds stand immer noch offen.
Zum Teufel, dachte er.
Sie lachte leise, lenkte seinen Blick zurück zu ihrem Mund, der sich nun im perfekten Winkel befand, um seinen Kuss zu empfangen. Diese Lippen, schemenhaft war ihre feuchte rosa Zunge zu erkennen - Lucys Mund war unübersehbar eine einzige Verlockung und Einladung. Sie schien nur darauf zu warten, dass er sie mit seinen Lippen zum Schweigen brachte, dass er sie meisterte und zähmte. Jeremys Vernunft geriet endgültig ins Wanken. Eine dunkle Stimme meldete sich in ihm, redete ihm ein, es gebe nur einen Weg, Lucy endlich zur Besinnung zu bringen.
Sie zu küssen, bis sie keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte.
Sie nach Strich und Faden zu küssen.
Sein Mund senkte sich auf ihren, und er spürte, wie sich ihre Lippen unter seinen bewegten. Und als sie ihm willig und eifrig den Mund öffnete, dankte Jeremy insgeheim dem Himmel für die Existenz von Schundromanen.
Er fuhr mit seiner Zunge in ihren heißen, vom Whisky mutig gewordenen Mund, erforschte sie fordernd. Sie stöhnte, und er stieß seine Zunge tiefer, nahm mehr, entschlossen, ihre Süße zu trinken, bis er den bitteren Geschmack von Furcht wahrnahm. Wenn sie eine Lektion wollte, würde er sie ihr erteilen. Das würde sie ein für alle Mal lehren, dass Leidenschaft kein Spiel war, sondern eine gefährliche Sache. Er wollte sie so weit treiben, bis er sie vertrieben hatte - bis sie in ihr Zimmer zurücklief und sich zitternd unter ihre weißen Bettdecken verkroch, sich in ihrem hochgeschlossenen, jungfräulichen Nachthemd zusammenrollte. Und den verdammten Knopf schloss.
Doch plötzlich strich sie mit ihrer Zunge über seine, zunächst vorsichtig, prüfend. Dann erneut und voller Hingabe. Sie lockte ihn tiefer, animierte ihn weiterzumachen, fachte das Feuer in seinen Lenden mit jeder Berührung an. Er antwortete instinktiv, küsste sie heftiger. Und die Erkenntnis traf ihn mit dem köstlichen Stich erwiderten Verlangens.
Dieser Kuss war eine Herausforderung.
Und in den acht Jahren, die er das Mädchen kannte, war Lucy Waltham noch nie vor irgendetwas zurückgewichen.
Sie drückte sich fester an ihn, fasste seine Schultern und schob ihm eine Hand in den Nacken. Er schnurrte leise, als sie mit den Fingernägeln leicht über seine Haut kratzte. Lucy spielte eindeutig mit dem Feuer - und er tat nichts, um das zu verhindern.
Vielmehr löste er seine Hände aus ihrem Haar, legte sie auf ihren Rücken und zog sie an sich, presste ihren weichen Leib gegen seine harten Lenden. Unbändige Lust traf ihn mit voller Wucht. Herrlich. Aber es war nicht genug.
Sicherlich würde sie sich jetzt aus seiner Umarmung zu winden versuchen, dachte er, vielleicht sogar schreien.
Aber nein. Sie bewegte sich - Himmel, wie sie sich bewegte. Sie drängte sich ihm entgegen, rieb sich an ihm und stöhnte leise. Seine Fingerspitzen glitten über kühlen Samt, seine Zunge über heißen. Gefährliche Bilder überfluteten seine Sinne. Ein karmesinroter Morgenmantel landete auf dem Boden. Knöpfe flogen in alle Richtungen. Er war viel zu tief in den Kuss versunken, und - Grundgütiger - er sehnte sich danach, noch tiefer bei ihr zu sein. Es war alles furchtbar schiefgelaufen.
Das hier war völlig ... falsch.
Jeremy kämpfte sich durch den Nebel des Verlangens, fasste ihre Haare und zog ihren Kopf nach hinten. Ein klein wenig nur, damit er in ihr Gesicht schauen konnte - sie hielt die Augen geschlossen.
»Lucy«, flüsterte er heiser.
Ihre Lider hoben sich flatternd, gaben den Blick frei auf ein geheimnisvolles Grün, gesprenkelt mit goldenen Flecken, in dem eine dunkle, wilde Leidenschaft loderte. Er löste die eine Hand aus ihren Locken, die andere von ihrer Taille und trat einen Schritt zurück, versuchte nachzudenken. Sein Atem ging viel zu heftig, sein Puls raste, und Blut floss überallhin, nur nicht in sein Hirn. »Lucy«, versuchte er es erneut, »das war ...«
»Das war Üben«, unterbrach sie ihn. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ein sehr gutes Üben.« Sie verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß, sodass sich ihre Hüfte unter dem Nachthemd abzeichnete und ihr Busen sich einladend hob - eine Geste unbewusster Sinnlichkeit.
Und unglaublich verführerisch.
Jeremy fluchte innerlich. Was hatte er getan? Einer ungeschickten und ahnungslosen Jungfrau die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, die er jetzt, eine halbe Stunde später, als Verführerin entließ. Es war, als hätte man ihm eine ungeladene Pistole in die Hand gedrückt, die er mit Schwarzpulver und Schrot vollgestopft und deren Abzug er um ein Haar betätigt hatte. Vor wenigen Minuten noch war sie harmlos gewesen. Jetzt aber ...
Jetzt war Lucy eine Gefahr für sich.
Und wenn sie noch einen Augenblick länger so stehen blieb, ihn mit ihren glitzernden Augen, den vollen roten Lippen, dem unwiderstehlich zarten Hals in Versuchung führte, dann würde Jeremy für sie zur Gefahr werden.
Was hatte er sich nur gedacht? Hatte sich wie ein Grobian auf sie gestürzt - wenngleich sie zuerst über ihn hergefallen war. Doch er musste sich wie ein Gentleman benehmen, denn schließlich war sie - wenigstens der Abstammung, wenn schon nicht dem Benehmen nach - eine junge Dame. Dazu die Schwester seines besten Freundes. Er sah sich schon im Morgengrauen mit Pistolen von Henry zum Duell gefordert oder, schlimmer noch, vor einem Geistlichen mit Lucy am Traualtar stehen.
Sie musste die Schuldgefühle in seinen Augen gesehen haben. »Um Himmels willen, Jeremy. Henry wird nie etwas davon erfahren, es sei denn, du erzählst es ihm.« Lächelnd band sie die Schleife ihres Morgenmantels zu. »Und davon rate ich dir dringend ab. Das würdest du nicht überleben.«
»Du«, erklärte er fest, fasste sie am Ellbogen und schob sie entschlossen zur Tür, »gehörst längst ins Bett.« Vorsichtig spähte er in den Flur, führte sie dann aus seinem Zimmer. Sie wollte sich nach links wenden, hin zu Tobys Schlafzimmer, doch er drehte sie resolut in die andere Richtung.
»Geh in dein Zimmer, Lucy«, flüsterte er streng. »Ich werde meine Tür die ganze Nacht angelehnt lassen - wenn du versuchst, zu Toby zu gelangen, wirst du erst an mir vorbeimüssen. «
Sie warf ihm einen provozierenden Blick zu, den er in einem Ballsaal als schamloses Flirten gewertet hätte. Sie lernte wirklich schnell, zu schnell. »Willst du etwa andeuten, dass das schwierig ist?«
Er biss die Zähne zusammen. »Der Himmel sei mein Zeuge, ich bringe dich unverzüglich zu Henrys Zimmer, wenn ...«
»Pst!« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, schaute rasch über ihre Schulter. »Nun gut, Jemmy«, wisperte sie. »Ich nehme an, Toby wird Sophia erst einmal ihre Koffer auspacken lassen, ehe er vor ihr auf die Knie fällt. Ich kann es mir leisten, noch eine Nacht länger zu warten.«
Jeremy lauschte auf ihre sich entfernenden Schritte, strengte die Ohren an, bis er hörte, wie ein Riegel einrastete. Dann sackte er gegen die Wand.
Es war tröstlich zu wissen, dass Lucy hinter einer versperrten Tür schlief. Allerdings wäre es seinem Seelenfrieden bei weitem zuträglicher gewesen, wenn der Riegel sich außen an der Tür befunden hätte.
© 2010 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Ihm blieb nur ein kurzer Moment, um eine weibliche Gestalt zu erkennen, wilde dunkle Locken und zwei Hände, die seine Schultern packten. Dann stellte sich Lucy Waltham, die jüngere Schwester seines besten Freundes, auf die Zehenspitzen und presste ihren Mund mit solcher Heftigkeit auf seine Lippen, dass er rückwärts gegen die Tür taumelte.
Gütiger Himmel. Das Mädchen küsst mich.
Nun, überlegte er, immerhin war er auf Ärgeres gefasst gewesen, wenngleich von den vielen Küssen, die Jeremy Trescott in seinem neunundzwanzigjährigen Leben erhalten und gegeben hatte, dieser hier zweifellos der schlimmste war.
Lucy küsste mit fest geschlossenen, gespitzten Lippen und riss die Augen dabei weit auf. Allerdings glich sie das, was ihr an Raffinesse fehlte, mit schrankenloser Begeisterung aus. Ihre Hände schienen überall zu sein - in seinen Haaren, auf seinen Schultern und an seiner breiten Brust.
Genau genommen war das hier eigentlich gar kein Kuss, sondern ein Sturmangriff. Außerdem gegen alle Regeln, völlig unlogisch und auf mindestens ein Dutzend Weisen falsch.
Irgendwie fanden Jeremys Hände ihre Ellbogen, und er befreite sich aus ihrer eifrigen Umarmung. »Lucy? Was, zum Teufel, soll das werden?«
»Pst!« Sie schaute erst zur einen, dann zur anderen Seite des dunklen Korridors. Als sie ihren Blick anschließend wieder auf sein Gesicht richtete, sah sie ihn mit einer beunruhigenden Konzentration an, und Jeremy bildete sich absurderweise für einen Moment ein, dass jemand eine Zielscheibe auf sein Gesicht gemalt hatte.
»Ich übe«, flüsterte sie, und ihre Finger gruben sich fester in seine Arme. »Lass es mich nur noch einmal probieren.«
Sie nahm Anlauf zu einem weiteren Kuss, aber er duckte sich unwillkürlich, zog sie ins Zimmer und schloss hinter ihnen die Tür. In einer anderen, weniger irrwitzigen Situation hätte er das vermutlich unterlassen, denn ungehöriger, als die Schwester seines Gastgebers auf dem dunklen Korridor zu küssen, war es zweifellos, sie in sein Schlafzimmer zu zerren. Aber Jeremys Fähigkeit zu vernünftigem Denken schien sich vorübergehend verabschiedet zu haben.
Lucy hatte ihn buchstäblich um den Verstand geküsst.
»Funktioniert es?«
Er starrte sie in stummer Verblüffung an. Was sollte funktionieren? Im Moment kam es ihm vor, als funktioniere überhaupt nichts, am allerwenigsten sein Hirn. Seine Gliedmaßen waren wie gelähmt, und er konnte seine Lippen nicht bewegen, um ihr zu antworten.
Sie machte einen Schritt nach hinten, verschränkte die Arme über ihrem scharlachroten Morgenrock und musterte auffordernd seinen Körper. Als ihr Blick an ihm hinabglitt, wurde sich Jeremy mit einem Mal seines merkwürdigen Aufzugs bewusst - in Nachthemd, abgetragenen Hosen und mit bloßen Füßen.
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Es muss funktioniert haben. Du hast mich schließlich in dein Schlafzimmer gezerrt.« Sie packte den Türgriff. »Gut, Jemmy. Ich denke, damit habe ich erst einmal genug geübt. Wir sehen uns dann beim Frühstück.«
Sie öffnete die Tür einen Spalt, wollte hindurchschlüpfen, doch Jeremy schlug sie wieder zu.
Mit einem bösen Blick fasste sie die Klinke mit beiden Händen und zog daran. »Verzeihung, aber ich muss jetzt gehen.«
»Nein, das musst du nicht.« Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Lucy war es vielleicht gewöhnt, die halbherzigen Versuche ihres Bruders und Vormunds, sich bei ihr Respekt zu verschaffen, fröhlich zu ignorieren, aber Jeremy war um einiges größer und wesentlich kräftiger als Henry Waltham, von seinem eisernen Willen ganz zu schweigen. Lucy würde nicht so einfach davonkommen.
Er schlug seinen herrischsten Tonfall an, der zum Titel des Earl of Kendall passte. »Du gehst jetzt nirgendwohin. Du wirst dich hinsetzen und mir alles haargenau erklären.« Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen. Er packte sie am Ellbogen und schob sie zu einem Stuhl. »Aber zuerst«, verkündete er, »werde ich etwas trinken.«
Sie hörte auf, sich zu wehren, und ließ sich wenig anmutig auf den Sitz fallen. »Ein Drink«, sagte sie. »Warum bin ich nicht selbst draufgekommen? Ein Drink wäre jetzt genau das Richtige, danke.«
Kopfschüttelnd ging Jeremy zu dem Tischchen mit den Karaffen und goss sich ein Glas Whisky ein. Er leerte es mit einem Schluck zur Hälfte, schloss die Augen und genoss das Brennen in seinem Hals. Als er sie wieder öffnete, schaute er sich um, als wolle er sich vergewissern, dass er sich immer noch auf Waltham Manor befand, wo er seit seiner Zeit in Cambridge jeden Herbst zu Besuch weilte. Grob behauene Balken durchzogen die schräge Decke, verblichene Gobelins zierten die Wände, und ein ausgefranster, abgenutzter Teppich lag auf dem Boden unter seinen Füßen. Das Zimmer hatte sich in den vergangenen acht Jahren nicht verändert, vermutlich genauso wenig wie in den hundert Jahren zuvor.
Waltham Manor mit seinem Ambiente, der es umgebenden Landschaft und dem Quartett der Freunde, die sich hier zur Jagd trafen, war zu einer Konstante in Jeremys Leben geworden, einem Ort der Sicherheit. Bis zu diesem Jahr, das alles ändern würde.
»Warum konnte nicht einfach alles so weitergehen wie immer? « Lucy stocherte mit dem Feuerhaken in den Flammen, sodass die Funken wild aufstoben. »Warum musste Felix unbedingt heiraten? Er hat alles verdorben.«
Statt zu antworten, trank Jeremy seinen Whisky aus. Er würde es nie zugeben, aber im Grunde genommen dachte er genau wie sie.
»Es war ja noch in Ordnung mit Henrys Heirat«, fuhr sie fort. »Marianne hat so viel mit den Kindern zu tun, dass sie nicht weiter stört. Aber die Schreckschraube, die jetzt die Frau von Felix ist, wird erwarten, dass immer jemand für ihre Unterhaltung sorgt. Und zu allem Überfluss hat sie noch ihre Schwester mit hergeschleppt, diese Sophia.«
»Mrs. Crowley-Cumberbatch und Miss Hathaway sollen, was man so hört, ganz reizende junge Damen sein. Warum freust du dich nicht über ihre Gesellschaft?«
Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu.
»Warum denn.« Um bei der Wahrheit zu bleiben, war Jeremy auch nicht gerade begeistert über ihre Anwesenheit, obwohl gegen Felix' Frau Kitty eigentlich nichts einzuwenden war und gegen ihre Schwester schon gar nicht. Ganz im Gegenteil, Sophia Hathaway war das Bild einer unaufdringlichen und wohl erzogenen Schönheit aus der guten Gesellschaft. Ein bisschen wie ein Baiser, zu süß und ein wenig substanzlos, aber nett und hübsch, wenn man diesen Typ mochte. Wie es bei Toby der Fall zu sein schien.
Jeremy gönnte sich noch einen Schluck Whisky und verzog das Gesicht: Welche Ironie des Schicksals. Henry und Felix verheiratet und Toby so gut wie ..., das ungezwungene ehemalige Refugium der Junggesellen war jetzt eine Hausgesellschaft mit Regeln und Konventionen. Nun, wenn seine Freunde auch entschlossen waren, sich in Ehefesseln legen zu lassen, so schwebte immerhin er selbst nicht in dieser Gefahr. Alle infrage kommenden jungen Damen auf Waltham Manor waren vergeben.
Das Geräusch von Fingern, die ungeduldig auf Holz klopften, unterbrach seine Gedanken. »Willst du die ganze Flasche alleine trinken?«
Es sei denn, man zählte Lucy dazu.
Aber das tat er nicht. Sie stand weder zur Diskussion, noch sah er sie als junge Dame. Sie war Henrys deutlich jüngere Schwester, zudem sein Mündel, und wie sie stellte Jeremy sich eine biblische Plage vor. Sie hatte Jahre damit verbracht, ihn zu nerven. Und jetzt war sie in sein Schlafzimmer gestürmt und ... wollte üben!
Sosehr er sich auch wünschte, den Kuss aus seinem Gedächtnis zu tilgen - er schaffte es nicht.
Ihren Wunsch nach einem Drink jedoch beachtete er nicht, füllte bloß sein eigenes Glas aufs Neue und trug es zum Kamin, wo er sich auf dem Stuhl ihr gegenüber niederließ. Bedächtig fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar, atmete langsam aus. »Ich möchte das eigentlich nicht fragen, weil mir vor deiner Antwort graut, aber für was genau übst du?«
»Nicht für was«, erwiderte sie, »sondern für wen.«
Großer Gott, es wurde noch schlimmer als befürchtet. »Also gut, für wen übst du? Einen Jungen aus der Gegend? Den Sohn des Vikars?«
»Für Toby natürlich.«
Er lachte trocken. »Für Toby? Warum solltest du Toby küssen? Er ist so gut wie verlobt mit Miss Hathaway.«
Sie schlang die Arme um die angezogenen Beine, sodass sie fast wie ein Knäuel aus rotem Samt und kastanienbraunen Locken aussah. In dem mächtigen Stuhl wirkte sie kleiner, als sie in Wirklichkeit war, und in ihren grünen Augen stand unverhohlener Schmerz. »Dann stimmt es also.«
Verdammt. Plötzlich ergab dieser seltsame nächtliche Besuch Sinn. Jeremy umklammerte die Lehnen seines Stuhles fester. Etwas Dümmeres hätte er nicht sagen können.
»Meine Zofe hat erzählt, sie habe es von Tobys Kammerdiener gehört. Ich wollte ihr nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Aber es stimmt wohl wirklich.«
Jeremy musste wegschauen. Das hier war eine Sache des Selbstschutzes. Lucys herzförmiges Gesicht wies elfenhafte Züge auf - Züge, wie dazu gemacht, jede Regung in ihrem Innern unverfälscht widerzuspiegeln. Man konnte sie nicht ansehen, ohne zu wissen, was sie fühlte, aber Jeremy wollte es nicht wissen.
»Wie konnte er nur?«, fragte sie anklagend und mit brechender Stimme.
Jeremy zuckte zusammen. Lucy schniefte laut, und er nahm einen weiteren Schluck Whisky. Sie durfte nicht weinen, daran hätte er sie am liebsten erinnert - diese Regel hatte Henry aufgestellt, als er dem Mädchen erlaubte, ihn und seine Freunde jeden Herbst auf ihren Streifzügen zu begleiten. Sie konnte ihn um den kleinen Finger wickeln, er nahm sie mit auf die Jagd und zum Angeln, ließ sie sogar von ihren Flaschen nippen - aber unter einer Bedingung: Lucy durfte nicht weinen. In den acht Jahren, die er sie kannte, hatte er sie keine einzige Träne vergießen sehen. Er hoffte inständig, dass sie nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen wollte. Wenn es etwas gab, das er nicht ertrug, dann war es eine weinende Frau.
Er musterte sie verstohlen. Verflucht, ihr Kinn bebte. »Du wirst doch nicht etwa zu weinen anfangen?«
»Nein«, sagte sie, doch ihre Stimme zitterte.
Jeremy legte neue Holzscheite in den Kamin, versuchte Zeit zu gewinnen.
Zur Hölle mit Toby. Das hier war alles seine Schuld. Er hatte immer so viel Aufhebens um die Kleine gemacht, sie nach Strich und Faden verwöhnt. Jeden Herbst war sie Toby wie ein anhängliches Hündchen nachgelaufen. Er hatte ihr Köder auf die Angelhaken gesteckt und ihr anzügliche lateinische Gedichte beigebracht, ihr Blumen gekauft und ihr Kronen aus Efeu geflochten, die sie sich sogleich ins Haar setzte. Seine Diana hatte Toby sie immer genannt, die Göttin der Jagd.
So mochte er sie zwar bezeichnet haben, aber der Gegenstand der Verehrung war er selbst, denn Lucy vergötterte ihn. Die harmlose Vernarrtheit eines jungen Mädchens, dachten die Freunde, denn etwas anderes konnte es in ihren Augen nicht sein. Offenbar hatte es jedoch für Lucy mehr bedeutet, viel mehr. Und jetzt schien die Aufgabe, ihr diese romantischen Flausen auszutreiben, irgendwie bei ihm, Jeremy, gelandet zu sein. Mit so was hatte er immer Glück! Typisch und irgendwie bezeichnend, dachte er voller Sarkasmus, denn er selbst hielt von solchen Schwärmereien nichts - das passte nicht zu ihm.
Er klopfte sich den Staub von den Händen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. In begütigendem Ton begann er: »Also, Lucy, du musst begreifen ...«
»Nicht, Jemmy. Wag es nicht, mit mir zu sprechen, als sei ich ein Kind. Ich hätte schon vorvorletzte Saison in die Gesellschaft eingeführt werden sollen, wenn Marianne nicht ständig in anderen Umständen gewesen wäre. Vielleicht bin ich keine vornehme junge Dame wie Sophia Hathaway, aber ich bin auch kein kleines Mädchen mehr.«
Sie streckte einen ihrer bloßen Füße zum Feuer und drehte ihn geistesabwesend hin und her. Die Anmut dieser Bewegung zog Jeremys Blick an und fesselte ihn so sehr, dass er nicht aufhören konnte, sie zu beobachten. Unverwandt starrte er auf ihren kreisenden Fuß, auf die Haut, die im Schein des Feuers golden schimmerte. Seine Augen glitten nach oben, folgten der Kurve ihrer Schenkel bis dorthin, wo sie unter dem Morgenrock verschwanden.
Plötzlich rührte Lucy sich, schlug die Beine übereinander. Roter Samt fiel wie ein Theatervorhang, der jäh die Vorstellung beendet. Ein Stich der Enttäuschung durchfuhr seine Brust, erfasste seinen ganzen Körper und verschmolz mit dem vertrauten Schmerz unerfüllten Verlangens. Himmel, diese Nacht war wahrhaft voller Überraschungen.
»Nein, ein Kind bist du wirklich nicht«, sagte er und riss, sich innerlich einen Ruck gebend, seinen Blick von ihr los. »Nun gut, lass uns wie Erwachsene miteinander reden. Du kannst gleich damit anfangen, auf diesen albernen Spitznamen zu verzichten und mich vernünftig anzusprechen.«
»Mit deinem Titel etwa? Ich weiß nicht einmal mehr deinen alten, von dem neuen ganz zu schweigen.« Sie schaute hoch zur Decke. »Du kannst nicht allen Ernstes erwarten, dass ich dich ›Mylord‹ nenne, Jemmy!«
Jeremy seufzte und kam ohne weiteres Vorgeplänkel zur Sache. »Dann lass mich dir ganz offen sagen: Toby wird Miss Hathaway heiraten.«
»Das kann er nicht. Das ist nicht fair.«
Er verdrehte die Augen. »Du sprichst wie ein kleines Mädchen, Lucy.«
Sie beachtete ihn nicht weiter. »Aber für mich war es schon immer klar, dass ich eines Tages Toby Aldridge heiraten werde - das weiß ich, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.«
»Das ist doch albern. Als du ihn kennenlerntest, warst du gerade zwölf!«
»Elf.«
»Dann eben elf. Und Toby hat außerdem damals auf dich geschossen! Hast du das etwa vergessen?«
»Ach nein, er hat nicht auf mich gezielt, sondern auf das Rebhuhn, das ich versehentlich aufgescheucht hatte. Er wusste nicht, dass ich da war, weil ...«
»Weil du uns heimlich gefolgt bist, obwohl Henry es dir verboten hatte«, beendete Jeremy ungeduldig ihre Erklärung. »Ja, ja. Ich weiß das noch ganz genau.«
Zu genau, fügte er im Stillen hinzu. Er erinnerte sich an alles, was an jenem Tag geschehen war, in allen schrecklichen Einzelheiten. An die grelle Nachmittagssonne, den scharfen Geruch von Schwarzpulver, aber besonders klar waren die Geräusche in seinem Gedächtnis geblieben. Wie könnte er sie je vergessen? Heftiges Flügelschlagen, der Schuss aus Tobys Gewehr, der schrille Schrei. Die entsetzliche Stille, als sie alle vier durch das kniehohe Brombeergestrüpp gestürmt waren, um am Ende Lucy heil und völlig ungerührt auf einer Lichtung sitzend zu finden.
Die folgenden Jahre hatten gezeigt, dass solch knappes Entkommen sich wie ein roter Faden durch Lucy Walthams Existenz zog. Sie schien ständig am Rand irgendeiner Katastrophe entlangzuschlittern, und daher war Jeremy ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Er wollte nicht in der Nähe sein, sondern in sicherer Entfernung, wenn das unausweichliche Geschick sie irgendwann ereilte.
Lucy zog die Nase hoch, streckte die Hand aus und nahm ihm seinen Whisky weg, wobei sie mit den Fingerspitzen sein Handgelenk streifte. Unter sicherer Entfernung verstand Jeremy etwas anderes.
Sie stützte das Kinn auf ein Knie und starrte verdrießlich in die bernsteinfarbene Flüssigkeit. »Was hat Sophia Hathaway nur, das ich nicht habe?«
»Du meinst, einmal abgesehen von einer hervorragenden Erziehung, zahlreichen nützlichen Fertigkeiten und einer Mitgift von zwanzigtausend Pfund?« Er streckte die Hand aus, um seinen Drink zurückzufordern.
Sie nahm noch einen großzügigen Schluck, ehe sie ihm das Glas wieder überließ. »Sie liebt ihn nicht.«
»Noch mehr mädchenhafte Fantasien. Es geht um Ehe. Liebe ist dazu nicht unbedingt erforderlich. Sie kommen recht gut miteinander aus, und ihre Familien werden ihre Heirat gutheißen. Sie hat Vermögen, aber keinen Titel, und er ist ein Baronet. Es ist für sie beide eine vorteilhafte Verbindung.«
»Vorteilhaft?« Sie kniff die Augen zusammen. »Nur du würdest von einer Ehe wie von einem sorgfältig angebahnten Geschäft reden.«
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich stehe da nicht allein. Die ganze Gesellschaft denkt so. Liebesehen wie die deines Bruders sind die Ausnahmen, nicht die Regel. Damen, die auf Romantik beharren, werden am Ende enttäuscht. Du würdest erkennen, dass ich recht habe, wenn du nur ...«
»Wenn ich nur was? Wenn ich nur kalt und abgestumpft wäre wie du?«
Jeremy presste die Lippen aufeinander. »Wenn du nur wenigstens ein bisschen auf eine deiner Gouvernanten gehört hättest. Oder wenn da ein richtiges Vorbild gewesen wäre, nicht nur deine überlastete Schwägerin und deine senile Tante, und zumindest ein Quäntchen Vernunft.«
»Wenn ich nur wie Sophia Hathaway wäre!«
»Das hast du gesagt, nicht ich.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun, es ist mir egal, was du sagst oder was die Gesellschaft meint. Ich werde aus Liebe heiraten, und das bedeutet, dass es niemand außer Toby sein kann. Ich weigere mich zu glauben, dass er eine andere als mich zur Frau nehmen könnte. Er liebt mich. Das weiß ich, auch wenn er vielleicht selbst noch nichts davon ahnt.«
»Lucy, die Sache ist so gut wie sicher. Ich rechne fest damit, dass er ihr in den nächsten Tagen einen Antrag macht.«
»Dann muss ich eben heute Nacht handeln.« Sie stand auf und begann auf und ab zu laufen. Die Stirn in Falten gelegt spielte sie geistesabwesend mit einer Haarsträhne, kaute darauf herum. Es war ein Warnsignal, das zu beachten er gelernt hatte. Lucy tat das immer, wenn sie über etwas nachdachte - etwas Verrücktes natürlich.
Gewöhnlich trug sie ihre Locken hochgesteckt - weil sie es bequemer fand, nicht aus modischen Erwägungen etwa. Aber die Nadeln oder die Kopfbedeckung, die ihre Haarpracht zu zähmen vermochten, waren noch nicht erfunden. Irgendein Löckchen befreite sich immer aus der Frisur oder stahl sich unter dem Hut hervor. Jetzt fiel ihr Haar in schweren Wellen hinunter bis zur Taille, schimmerte wie ein dichter, seidiger Pelz. Sie beendete ihr Auf-und Abgehen, wirbelte herum und kam zurück zu ihm, die verlockenden Konturen ihres Körpers gut erkennbar unter dem leichten Morgenrock.
Kurven waren das! Gütiger Himmel. Wann hatte Lucy solche Kurven entwickelt? Sie war bislang kaum mehr als Haut und Knochen gewesen, die scheinbar einzig durch eiserne Willenskraft zusammengehalten wurden. Jetzt war die ganze Entschlossenheit dieser kleinen Person in weiche, üppig weibliche Rundungen verpackt. Und sie und ihre Kurven marschierten nur spärlich bekleidet durch sein Schlafzimmer. Zudem zu einer absolut gottlosen Stunde - er blickte verstohlen zur Uhr auf dem Kaminsims, die zwei Uhr in der Nacht anzeigte. Die Ungehörigkeit der ganzen Situation traf ihn mit einem Mal wie ein Schlag.
»Du solltest nicht hier sein. Es ist spät, und du bist ... aufgeregt. Geh zurück in dein Zimmer und schlaf. Wir können uns morgen weiter darüber unterhalten.«
»Morgen könnte es zu spät sein«, sagte sie. »Das Risiko darf ich nicht eingehen. Ich werde es heute Nacht tun müssen.«
»Was wirst du heute Nacht tun müssen?«
»Ihn verführen, natürlich.«
Jeremy starrte sie verblüfft an. Ein Holzscheit im Kamin verrutschte krachend, und rote Funken stoben auf.
Lucy blieb vor dem Spiegel stehen. Sie öffnete die Schleife ihres Morgenmantels, schlug ihn zurück und betrachtete unzufrieden das einfache weiße Leinennachthemd, das sie darunter trug. »Seide und Spitze wären besser, nehme ich an, aber ich habe nichts Schöneres.« Sie machte eine Vierteldrehung und schielte auf ihr Profil. Dann drückte sie die Schultern nach hinten und strich ihr Nachthemd glatt, sodass es sich eng an ihren Oberkörper schmiegte, bis jede Rundung, jede Erhebung klar zu erkennen war.
Jeremy sprang so jäh auf, dass er den Rest seines Whiskys auf dem Teppich verschüttete. Mit zwei Schritten durchquerte er das Zimmer und stellte sich zwischen Lucy und ihr aufreizendes Spiegelbild, fasste die Aufschläge ihres Morgenmantels und zog ihn fest zu. Der dritte Knopf ihres Nachthemds war nicht geschlossen, der dünne Stoff klaffte auseinander und gab den Blick frei auf eine Sichel goldüberhauchter Haut. Er zwang seinen Blick nach oben zu ihrem Gesicht. »Sag nicht, dass ..., dass es das ist, was du übst.«
Sie nickte. Die kühle Eindringlichkeit ihrer Augen verriet Jeremy, dass Lucy - egal, wie aberwitzig er die Idee fand - Verführung für einen völlig vernünftigen Plan hielt. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und versuchte, seiner Stimme Autorität zu verleihen. »Lucy, Toby liebt dich nicht.«
»Doch, Jemmy, das tut er.«
»Was macht dich so sicher? Hat er dir Anlass zur Hoffnung gegeben?«
»Entschuldigung, aber mir war nicht bewusst, dass Hoffnung einen Grund braucht, denn das tut sie nicht, ebenso wenig wie Liebe. Für den Fall, dass du es vergessen hast - ich habe kein Talent fürs Hoffen. Ich weiß, ich glaube, ich erwarte. Ich weiß, dass Toby mich liebt. Ich glaube, dass wir beide zusammengehören.« Sie stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. »Und ich erwarte, dass du das verstehst.«
Jeremy stöhnte. Wie sollte er mit einem Mädchen - nein, einer jungen Frau, verbesserte er sich - vernünftig reden, die nicht viel auf Vernunft gab? »Lucy, Toby hat dich sehr gerne.«
Er merkte, dass er sie immer noch an den Schultern hielt; daher trat er einen Schritt nach hinten und nahm seine Hände herunter. »Aber gernhaben ist nicht Liebe. Und außerdem, was weißt du schon von Verführung?«
»Oh, ich habe ein Buch.«
»Ein Buch?« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Gütiger Himmel, Lucy! Ich werde dich nicht fragen, woher du so ein Buch haben könntest oder welche Weisheiten es enthält.« Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er hob abwehrend eine Hand. »Genau genommen bitte ich dich sogar, es mir nicht zu verraten. Es reicht, wenn ich dir rate, den Empfehlungen eines Schundromans, der dir irgendwie in die Hände gefallen ist, keine Beachtung zu schenken.«
»Ich muss zugeben, dass das Lernen nach einem Buch gewisse Grenzen hat.« Sie musterte ihn mit unergründlicher Miene, suchte seinen Blick.
»So kann man es auch ausdrücken.«
Sie rückte näher. »Lesen ist jedenfalls kein Ersatz für Ausprobieren und praktische Erfahrung.« Sie kam noch dichter an ihn heran.
»Aber ... warte ..., Lucy, du kannst unmöglich ...« Und dann platzte er mit einer Frage heraus, die mehr an den Himmel gerichtet war als an Lucy selbst. »Warum ich?«
»Du meinst, abgesehen von der simplen Tatsache, dass es keinen anderen außer dir gibt? Du bist so anständig, Jemmy, aber auch so kalt. Es gibt bestimmt Eisberge im Meer, die weniger frostig sind. Wenn ich dich auftauen kann, dann habe ich bestimmt keine Probleme, Toby zu verführen.«
»Ich versichere dir, du könntest mich nicht ›auftauen‹, selbst wenn ich aufgetaut werden wollte. Was nicht der Fall ist.« Er machte erst einen Schritt zurück, dann einen zweiten.
»Versuch nur, mir zu widerstehen. Ich schätze die Herausforderung. « Sie trat vor ihn hin, und ihre Augen funkelten übermütig. »Ich habe gelernt, Moorhühner zu fangen und Forellen zu fischen. Unterscheidet sich das wirklich so sehr davon, einen Ehemann zu angeln?«
Ja, hätte Jeremy am liebsten geantwortet, aber irgendwie bewegte sich sein Kinn nur stumm auf und ab, fast wie das Maul einer Forelle im Wasser.
Und dann fasste sie ihn am Hemd und zog ihn zu sich heran, fing ihn in ihrem Netz aus kastanienfarbenen Locken und küsste ihn, dass ihm Hören und Sehen verging. Ihre Lippen bearbeiteten seine mit eiserner Entschlossenheit. Als sie ihm aber die Arme um den Hals schlang und sich an ihn schmiegte, spürte er, dass der Rest von ihr ganz weich und nachgiebig war. Seidige Strähnen ihres Haares glitten über seinen Unterarm. Üppige Rundungen pressten sich an seine Brust.
Ehe er sich so weit gefasst hatte, um protestieren zu können, löste sie sich plötzlich wieder von ihm und betrachtete sein Gesicht.
»Und? Funktioniert es?«
Eigentlich eine einfache Frage. Und während Jeremys Verstand noch die Gründe für ein entschiedenes Nein zusammentrug, sagten andere Teile seines Körpers unmissverständlich Ja. Gütiger Himmel, er war doch auch bloß ein Mann. Ein Mann, der - so schien es - die vergangenen Monate vergeudet hatte und dessen Körper ganz offenbar nur auf eine Gelegenheit wartete, das selbst auferlegte Mönchtum zu beenden. Er schüttelte entschlossen den Kopf, hoffte, sie würde seinen unregelmäßigen Atem nicht bemerken, der seine Worte Lügen strafte.
Lucy war nicht entmutigt. Sie wollte einen weiteren Versuch unternehmen, aber Jeremy nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Ihre Wangen waren weich und warm.
»Bist du eigentlich verrückt geworden? Das hier wird nicht geschehen. Es kann nicht geschehen.«
»Nun, freilich kann es nicht geschehen.« Ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, und in ihren Wangen erschienen unter dem Druck seiner Daumen zwei Grübchen. Jeremy verspürte den unverzeihlichen Drang, diese kleinen Dellen mit Fingern und Lippen zu erkunden.
»Hab keine Angst, Jemmy. Ich habe nicht vor, es so weit kommen zu lassen. Dann müsstest du mich ja heiraten, und das wäre nicht gut.«
»Das wäre gar nicht gut, richtig.« Er musterte das Gesicht, das er zwischen seinen Händen hielt. Ihre Haut schien den Feuerschein aufzusaugen und schimmerte wie vergoldet. In ihren Augen flackerte der Widerschein der Flammen, lockte ihn, genauer hinzusehen, näher zu kommen. Wer war diese Frau - und was war mit dem Mädchen Lucy geschehen? Der weibliche Körper vor ihm erinnerte in nichts an die kleine Freundin, fühlte sich vielmehr fremd an, und das war gefährlich. Eine Fremde war Freiwild, eine Fremde durfte er küssen ... und mehr.
Jeremy suchte rasch eine Liste von Gründen zusammen, weshalb Lucy ganz und gar nicht Freiwild sein konnte.
Punkt eins: Sie war die Schwester seines ältesten Freundes.
Punkt zwei: Henry war ein ausgezeichneter Schütze.
Weiter kam er nicht. »Hör mir gut zu«, sagte er und schüttelte sie ein wenig. »Wenn du Fragen hast bezüglich ..., na, du weißt schon, solltest du mit Marianne sprechen. Oder auf deine Hochzeitsnacht warten, wenn dein Ehemann - der keinesfalls Toby sein wird - dich in alles einweiht. Übungsstunden, um Ehemänner zu angeln oder um Männer in die Falle zu locken, sind völlig überflüssig.«
Sie lächelte. Es war ein selbstzufriedenes kleines Lächeln, das ihn schier verrückt machte und das er ihr am liebsten aus dem Gesicht geschüttelt hätte.
»Verstehst du mich?«, fragte er drängend.
»Ja.« Sie presste kurz die Lippen zusammen, öffnete sie aber gleich darauf zu einem Lachen.
»Warum, verdammt, lachst du dann?«
»Weil ich glaube, dass es funktioniert hat.«
Da war es schon wieder, dieses verflixte übermütige Lächeln. Aber dieses Mal sah er nicht das Lächeln, sondern das, was es hervorbrachte.
Lippen.
Volle, süß geschwungene Lippen, tiefrot vom Küssen und Lachen. Lippen, die darum flehten, von seinen bedeckt zu werden.
Er schloss die Augen vor der Versuchung, krallte seine Hände in ihr Haar, als könnte er sie zur Vernunft bringen, indem er ihre Locken bändigte. Sich selbst wieder in den Griff bekommen. Aber - grundgütiger Himmel - es war, als würde er seine Hände in flüssige Seide tauchen, und er fühlte ein köstliches Streicheln auf seiner Haut, Zoll für Zoll.
Er riss die Augen auf. Voller Verzweiflung blickte er nach unten, aber das machte nichts besser, denn der dritte Knopf ihres Nachthemds stand immer noch offen.
Zum Teufel, dachte er.
Sie lachte leise, lenkte seinen Blick zurück zu ihrem Mund, der sich nun im perfekten Winkel befand, um seinen Kuss zu empfangen. Diese Lippen, schemenhaft war ihre feuchte rosa Zunge zu erkennen - Lucys Mund war unübersehbar eine einzige Verlockung und Einladung. Sie schien nur darauf zu warten, dass er sie mit seinen Lippen zum Schweigen brachte, dass er sie meisterte und zähmte. Jeremys Vernunft geriet endgültig ins Wanken. Eine dunkle Stimme meldete sich in ihm, redete ihm ein, es gebe nur einen Weg, Lucy endlich zur Besinnung zu bringen.
Sie zu küssen, bis sie keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte.
Sie nach Strich und Faden zu küssen.
Sein Mund senkte sich auf ihren, und er spürte, wie sich ihre Lippen unter seinen bewegten. Und als sie ihm willig und eifrig den Mund öffnete, dankte Jeremy insgeheim dem Himmel für die Existenz von Schundromanen.
Er fuhr mit seiner Zunge in ihren heißen, vom Whisky mutig gewordenen Mund, erforschte sie fordernd. Sie stöhnte, und er stieß seine Zunge tiefer, nahm mehr, entschlossen, ihre Süße zu trinken, bis er den bitteren Geschmack von Furcht wahrnahm. Wenn sie eine Lektion wollte, würde er sie ihr erteilen. Das würde sie ein für alle Mal lehren, dass Leidenschaft kein Spiel war, sondern eine gefährliche Sache. Er wollte sie so weit treiben, bis er sie vertrieben hatte - bis sie in ihr Zimmer zurücklief und sich zitternd unter ihre weißen Bettdecken verkroch, sich in ihrem hochgeschlossenen, jungfräulichen Nachthemd zusammenrollte. Und den verdammten Knopf schloss.
Doch plötzlich strich sie mit ihrer Zunge über seine, zunächst vorsichtig, prüfend. Dann erneut und voller Hingabe. Sie lockte ihn tiefer, animierte ihn weiterzumachen, fachte das Feuer in seinen Lenden mit jeder Berührung an. Er antwortete instinktiv, küsste sie heftiger. Und die Erkenntnis traf ihn mit dem köstlichen Stich erwiderten Verlangens.
Dieser Kuss war eine Herausforderung.
Und in den acht Jahren, die er das Mädchen kannte, war Lucy Waltham noch nie vor irgendetwas zurückgewichen.
Sie drückte sich fester an ihn, fasste seine Schultern und schob ihm eine Hand in den Nacken. Er schnurrte leise, als sie mit den Fingernägeln leicht über seine Haut kratzte. Lucy spielte eindeutig mit dem Feuer - und er tat nichts, um das zu verhindern.
Vielmehr löste er seine Hände aus ihrem Haar, legte sie auf ihren Rücken und zog sie an sich, presste ihren weichen Leib gegen seine harten Lenden. Unbändige Lust traf ihn mit voller Wucht. Herrlich. Aber es war nicht genug.
Sicherlich würde sie sich jetzt aus seiner Umarmung zu winden versuchen, dachte er, vielleicht sogar schreien.
Aber nein. Sie bewegte sich - Himmel, wie sie sich bewegte. Sie drängte sich ihm entgegen, rieb sich an ihm und stöhnte leise. Seine Fingerspitzen glitten über kühlen Samt, seine Zunge über heißen. Gefährliche Bilder überfluteten seine Sinne. Ein karmesinroter Morgenmantel landete auf dem Boden. Knöpfe flogen in alle Richtungen. Er war viel zu tief in den Kuss versunken, und - Grundgütiger - er sehnte sich danach, noch tiefer bei ihr zu sein. Es war alles furchtbar schiefgelaufen.
Das hier war völlig ... falsch.
Jeremy kämpfte sich durch den Nebel des Verlangens, fasste ihre Haare und zog ihren Kopf nach hinten. Ein klein wenig nur, damit er in ihr Gesicht schauen konnte - sie hielt die Augen geschlossen.
»Lucy«, flüsterte er heiser.
Ihre Lider hoben sich flatternd, gaben den Blick frei auf ein geheimnisvolles Grün, gesprenkelt mit goldenen Flecken, in dem eine dunkle, wilde Leidenschaft loderte. Er löste die eine Hand aus ihren Locken, die andere von ihrer Taille und trat einen Schritt zurück, versuchte nachzudenken. Sein Atem ging viel zu heftig, sein Puls raste, und Blut floss überallhin, nur nicht in sein Hirn. »Lucy«, versuchte er es erneut, »das war ...«
»Das war Üben«, unterbrach sie ihn. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ein sehr gutes Üben.« Sie verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß, sodass sich ihre Hüfte unter dem Nachthemd abzeichnete und ihr Busen sich einladend hob - eine Geste unbewusster Sinnlichkeit.
Und unglaublich verführerisch.
Jeremy fluchte innerlich. Was hatte er getan? Einer ungeschickten und ahnungslosen Jungfrau die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, die er jetzt, eine halbe Stunde später, als Verführerin entließ. Es war, als hätte man ihm eine ungeladene Pistole in die Hand gedrückt, die er mit Schwarzpulver und Schrot vollgestopft und deren Abzug er um ein Haar betätigt hatte. Vor wenigen Minuten noch war sie harmlos gewesen. Jetzt aber ...
Jetzt war Lucy eine Gefahr für sich.
Und wenn sie noch einen Augenblick länger so stehen blieb, ihn mit ihren glitzernden Augen, den vollen roten Lippen, dem unwiderstehlich zarten Hals in Versuchung führte, dann würde Jeremy für sie zur Gefahr werden.
Was hatte er sich nur gedacht? Hatte sich wie ein Grobian auf sie gestürzt - wenngleich sie zuerst über ihn hergefallen war. Doch er musste sich wie ein Gentleman benehmen, denn schließlich war sie - wenigstens der Abstammung, wenn schon nicht dem Benehmen nach - eine junge Dame. Dazu die Schwester seines besten Freundes. Er sah sich schon im Morgengrauen mit Pistolen von Henry zum Duell gefordert oder, schlimmer noch, vor einem Geistlichen mit Lucy am Traualtar stehen.
Sie musste die Schuldgefühle in seinen Augen gesehen haben. »Um Himmels willen, Jeremy. Henry wird nie etwas davon erfahren, es sei denn, du erzählst es ihm.« Lächelnd band sie die Schleife ihres Morgenmantels zu. »Und davon rate ich dir dringend ab. Das würdest du nicht überleben.«
»Du«, erklärte er fest, fasste sie am Ellbogen und schob sie entschlossen zur Tür, »gehörst längst ins Bett.« Vorsichtig spähte er in den Flur, führte sie dann aus seinem Zimmer. Sie wollte sich nach links wenden, hin zu Tobys Schlafzimmer, doch er drehte sie resolut in die andere Richtung.
»Geh in dein Zimmer, Lucy«, flüsterte er streng. »Ich werde meine Tür die ganze Nacht angelehnt lassen - wenn du versuchst, zu Toby zu gelangen, wirst du erst an mir vorbeimüssen. «
Sie warf ihm einen provozierenden Blick zu, den er in einem Ballsaal als schamloses Flirten gewertet hätte. Sie lernte wirklich schnell, zu schnell. »Willst du etwa andeuten, dass das schwierig ist?«
Er biss die Zähne zusammen. »Der Himmel sei mein Zeuge, ich bringe dich unverzüglich zu Henrys Zimmer, wenn ...«
»Pst!« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, schaute rasch über ihre Schulter. »Nun gut, Jemmy«, wisperte sie. »Ich nehme an, Toby wird Sophia erst einmal ihre Koffer auspacken lassen, ehe er vor ihr auf die Knie fällt. Ich kann es mir leisten, noch eine Nacht länger zu warten.«
Jeremy lauschte auf ihre sich entfernenden Schritte, strengte die Ohren an, bis er hörte, wie ein Riegel einrastete. Dann sackte er gegen die Wand.
Es war tröstlich zu wissen, dass Lucy hinter einer versperrten Tür schlief. Allerdings wäre es seinem Seelenfrieden bei weitem zuträglicher gewesen, wenn der Riegel sich außen an der Tür befunden hätte.
© 2010 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Tessa Dare
Tessa Dare ist halbtags Buchhändlerin und ganztags Mutter. Wenn sie sich nicht um ihre Kinder oder ihre Bücher kümmert, schreibt sie Romane. Als Kind ist sie ständig umgezogen und hat schnell gelernt: Egal wie oft sie den Wohnort wechselt, eine bestimmte Sorte von Freunden bleibt ihr immer: die Helden aus den Romanen, die sie gelesen hat. Aus diesem Grund entschied sie eines Tages, sich selbst ihre eigenen Freunde zu schaffen und Romane zu schreiben. Sie lebt zurzeit mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und ihrem Hund in Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tessa Dare
- 2013, 1, 1344 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655486
- ISBN-13: 9783863655488
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