Die Schicksalsgabe
Fluch oder Segen?
Ihre geheimnisvolle Gabe führt die junge Ulrika bis an die Grenzen der Welt.
Sie ist anders. Sie hat Visionen. Sie muss sie verheimlichen. Doch dann folgt die junge Römerin Ulrika dem...
Ihre geheimnisvolle Gabe führt die junge Ulrika bis an die Grenzen der Welt.
Sie ist anders. Sie hat Visionen. Sie muss sie verheimlichen. Doch dann folgt die junge Römerin Ulrika dem...
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Produktinformationen zu „Die Schicksalsgabe “
Fluch oder Segen?
Ihre geheimnisvolle Gabe führt die junge Ulrika bis an die Grenzen der Welt.
Sie ist anders. Sie hat Visionen. Sie muss sie verheimlichen. Doch dann folgt die junge Römerin Ulrika dem Ruf ihrer geheimnisvollen Gabe. Mit dem Handelsherren Sebastianus bricht sie auf zu einer abenteuerlichen Suche, die sie von Germanien nach Babylon und China führt. Um ihre Bestimmung zu finden, muss sie alles riskieren - auch ihr Leben ...
Der neue Bestseller von Barbara Wood: leidenschaftlich, lebensvoll, Lesegenuss pur!
Ihre geheimnisvolle Gabe führt die junge Ulrika bis an die Grenzen der Welt.
Sie ist anders. Sie hat Visionen. Sie muss sie verheimlichen. Doch dann folgt die junge Römerin Ulrika dem Ruf ihrer geheimnisvollen Gabe. Mit dem Handelsherren Sebastianus bricht sie auf zu einer abenteuerlichen Suche, die sie von Germanien nach Babylon und China führt. Um ihre Bestimmung zu finden, muss sie alles riskieren - auch ihr Leben ...
Der neue Bestseller von Barbara Wood: leidenschaftlich, lebensvoll, Lesegenuss pur!
Klappentext zu „Die Schicksalsgabe “
Folgen Sie Ulrika auf ihrer abenteuerlichen Reise bis an den Ort, an dem dereinst der Jakobsweg beginnen wird.Sie weiß, dass sie anders ist als ihre römischen Freundinnen: Seit der Kindheit hat Ulrika Visionen, die sie vor allen verheimlicht. Aber dann erscheint ihr das Bild ihres Vaters, den sie nie gekannt hat. Sie bricht auf, um ihn zu warnen. Allein und schutzlos gerät sie in den Wäldern Germaniens in große Gefahr. Es ist der römische Handelsherr Sebastianus, der sie rettet. Mit ihm bricht sie auf zu einer wechselvollen Reise: Der ehrgeizige Sebastianus will als erster Römer eine Handelskarawane bis nach China führen, Ulrika sucht nach dem Geheimnis ihrer spirituellen Gabe. Ihr Weg führt sie tief ins Herz der Finsternis und bis an die Grenzen der bekannten Welt. Als Sebastianus bei Kaiser Nero in Ungnade fällt, eilt Ulrika zu ihm nach Rom. Darf sie ihre Schicksalsgabe einsetzen, um den Mann zu retten, den sie liebt?
Lese-Probe zu „Die Schicksalsgabe “
Die Schicksalsgabe von Barbara WoodSie war auf der Suche nach Antworten.
Am Morgen war die neunzehnjährige Ulrika mit dem Gefühl aufgewacht, dass irgendetwas nicht stimmte. Während sie gebadet und sich angekleidet hatte und ihre Sklaven ihr anschließend das Haar hochgesteckt und die Sandalen geschnürt hatten, um dann das Frühstück, bestehend aus Weizenkleie und Ziegenmilch, aufzutragen, hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt. Das rätselhafte Unbehagen verging nicht, im Gegenteil, es wurde immer stärker und drängender. Also beschloss sie, die Straße der Wahrsager aufzusuchen, wo Seher und Mystiker, Astrologen und Zukunftsdeuter allerlei Lösungen für die Geheimnisse des Lebens versprachen.
Als sie jetzt, von einem Vorhang abgeschirmt, in einer Sänfte durch die lärmenden Straßen Roms getragen wurde, grübelte sie darüber nach, woher dieses Unbehagen rühren mochte. Gestern noch war alles in Ordnung gewesen. Sie hatte Freundinnen besucht, war durch die Läden geschlendert, die Pergamente und Schriftrollen feilboten, hatte eine Zeitlang an ihrem Webstuhl verbracht - das typische Tagesprogramm eines jungen Mädchens ihrer Gesellschaftsschicht und Abstammung. Aber dann hatte sie dieser seltsame Traum heimgesucht ...
... mehr
Kurz nach Mitternacht, so Ulrikas Traum, war sie aus dem Bett aufgestanden und ans Fenster getreten. Dann kletterte sie hinaus und landete barfuß im Schnee. Statt Obstbäumen, wie sie hinter der Villa wuchsen, umgaben sie in ihrem Traum hohe Föhren, ein richtiger Wald, und Wolkenfetzen trieben über einen winterlichen Mond. Sie entdeckte Spuren im Schnee - Abdrücke von mächtigen Tatzen, die in den Wald hinein führten. Ulrika folgte ihnen, spürte das Mondlicht auf ihren nackten Schultern, und dann stand sie auf einmal vor einem ausgewachsenen zottelhaarigen Wolf mit goldgelben Augen. Ruhig setzte sie sich in den Schnee, worauf das Tier sich neben ihr niederließ und den Kopf in ihren Schoß legte. Die Nacht war klar, so klar wie die Augen des Wolfs, der zu ihr aufblickte. Unter dem Fell konnte sie seinen gleichmäßigen Herzschlag spüren. Die goldgelben Augen blinzelten und ihr war, als läge darin ein Ausdruck von Vertrauen, von Liebe, ja, von Zuhause.
Verwirrt war Ulrika aufgewacht. Warum habe ich von einem Wolf geträumt?, hatte sie überlegt. Was für einen Grund mag es dafür geben? Hängt das womöglich mit meinem Vater zusammen, der vor langer Zeit im fernen Persien gestorben ist und dessen Name Wulf war?
Hatte der Traum etwas zu bedeuten? Wenn ja, was?
Ihre Sklaven setzten die Sänfte ab, und Ulrika stieg aus. Sie war ein hochgewachsenes junges Mädchen. Über ihrer langen Tunika aus blassrosa Seide lag die farblich darauf abgestimmte Palla über Kopf und Schultern, das hellbraune Haar und den schlanken Hals verbarg sie in jungfräulicher Zurückhaltung. Ihre selbstbewusste Haltung und ihr sicheres Auftreten ließen nichts von der inneren Unruhe erkennen, die sie belastete.
Die Straße der Wahrsager war eine schmale Gasse im Schatten dicht besiedelter Wohnhäuser. Die Zelte und Buden der Spiritisten, Schlangenbeschwörer, Seher und Zukunftsdeuter, eins bunter bemalt als das nächste und mit glitzernden Objekten verziert, sahen vielversprechend aus. Das Geschäft der Lieferanten von Glücksanhängern, magischen Reliquien und Amuletten blühte.
Als Ulrika die Gasse betrat, um jemanden zu finden, der ihren Traum von dem Wolf deuten konnte, machten fahrende Händler aus Zelten und Buden lauthals auf sich aufmerksam, gaben sich als »echte Chaldäer« aus, mit direkter Verbindung zur Zukunft und im Besitz des Dritten Auges. Als Erstes begab sie sich zu einem Vogeldeuter, der für ein paar Münzen aus den Innereien seiner in Verschläge gepferchten Tauben weissagte. Seine Hände waren blutverkrustet. Er versicherte Ulrika, dass sie noch vor Ende des Jahres einen Ehemann finden würde. Der Rauchdeuter, den Ulrika als Nächsten an seinem Stand aufsuchte, verkündete, dass der Weihrauch ihr fünf gesunde Kinder verhieß.
Ungeduldig ging sie weiter, bis sie ganz hinten in der Gasse auf eine armselig wirkende Gestalt traf, die weder einen Stand noch ein Zelt ihr eigen nannte, sich nicht einmal eines schattigen Plätzchens erfreuen konnte. Mit überkreuzten Beinen hockte sie auf einer zerfransten Matte am Straßenrand. Ihr langes weißes Gewand hatte seine besten Tage hinter sich, ihre knöchernen langgliedrigen Hände ruhten auf mageren Knien. Da die Frau den Kopf gesenkt hielt, sah man nur ihr Haar, das ihr, schwärzer als Pech und in der Mitte gescheitelt, über Schultern und Rücken fiel. Ulrika konnte sich nicht erklären, warum es sie ausgerechnet zu dieser armseligen Wahrsagerin zog - vielleicht war sie ja mehr um Ehrlichkeit bemüht denn auf Geld aus? -, jedenfalls blieb sie vor ihr stehen und wartete ab.
Nach kurzer Zeit hob die Wahrsagerin den Kopf, und Ulrika war verblüfft über das ungewöhnliche Gesicht, das ihr entgegenblickte: Es war lang und schmal, knochig und von gelblichem Teint, umrahmt von dem nachtdunklen Haar. Traurige schwarze Augen unter gewölbten Brauen blickten Ulrika an. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte die Frau, und sie schien alterslos zu sein. War sie zwanzig oder achtzig? Neben ihr hatte sich eine braunschwarz gefleckte Katze zusammengerollt. Ulrika erkannte in ihr eine Ägyptische Mau, die dem Vernehmen nach älteste Katzenrasse, möglicherweise sogar die Urmutter aller Katzen.
Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf die glänzenden schwarzen Augen, aus denen Traurigkeit und Weisheit sprachen.
»Du hast eine Frage«, eröffnete die Wahrsagerin in perfektem Lateinisch das Gespräch und starrte Ulrika unverwandt an.
Der Lärm in der Gasse verebbte. Ulrika fühlte sich wie gebannt von schwarzen ägyptischen Augen, die braune Katze döste vor sich hin.
»Du willst mich wegen eines Wolfs befragen«, sagte die Ägypterin mit einer Stimme, die älter zu sein schien als der Nil.
»Ich habe ihn im Traum gesehen, Weise Frau. War das ein Zeichen? «
»Ein Zeichen wofür? Stell deine Frage.«
»Ich weiß nicht, wohin ich gehöre, Weise Frau. Meine Mutter ist Römerin, mein Vater Germane. Ich wurde in Persien geboren und war fast mein ganzes Leben lang mit meiner Mutter auf Wanderschaft. Denn sie folgte einer Bestimmung. Wo immer wir hinkamen, fühlte ich mich als Außenseiterin. Es bedrückt mich, Weise Frau, dass ich, wenn ich nicht weiß, wohin ich gehöre, niemals wissen werde, wer ich bin. War der Traum von dem Wolf ein Hinweis, dass ich in das Land am Rhein gehöre, zu dem Volk meines Vaters? Ist es für mich an der Zeit, Rom zu verlassen?«
»Überall um dich herum gibt es Zeichen, Tochter. Die Götter geleiten uns, wohin auch immer wir gehen.«
»Du sprichst in Rätseln, Weise Frau. Kannst du mir wenigstens meine Zukunft vorhersagen?«
»Da wird ein Mann sein«, kam es von der Wahrsagerin, »der dir einen Schlüssel anbietet. Nimm ihn.«
»Einen Schlüssel? Wofür?«
»Das wirst du verstehen, wenn die Zeit kommt ...«
Als Ulrika den Garten hinter der hohen Mauer auf dem Esquilin, einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut ist, betrat, presste sie die Hand an die Brust, bis sie unter dem Seidengewebe ihres Gewandes das Kreuz Odins spürte, das beschützende Amulett, das sie von klein auf begleitete. Sie betastete seine vertrauten Umrisse, die sich an ihren Busen drückten, und versuchte sich einzureden, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber das Unbehagen, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war, hatte sie den ganzen Tag über begleitet, so dass sie jetzt, da eine orangerote Sonne nach und nach hinter Roms Marmorgebäuden verschwand, kaum atmen konnte. Wie wünschte sie sich, alles wäre wieder so wie immer! Selbst Themen, die sie noch tags zuvor verärgert hatten, wären ihr jetzt, an diesem späten Nachmittag, als Ablenkung willkommen. Zum Beispiel die Frage, ob sie, wie es alle erwarteten, Drusus Fidelius heiraten wollte.
Es lag Ulrika fern, ungehorsam zu sein. Rom erzog seine Töchter zu Ehefrauen und Müttern. Alle ihre Freundinnen waren entweder verheiratet oder versprochen (ausgenommen die zu ihrem Leidwesen durch eine Hasenscharte entstellte Cassia, was eine Garantie für lebenslange Jungfernschaft war). Andere Zukunftspläne gab es auch gar nicht. Eine alleinstehende junge Frau ohne den Schutz eines Mannes war eine Seltenheit. Sogar Witwen kamen bei männlichen Verwandten unter. Ulrika hatte ihrer besten Freundin anvertraut, nicht heiraten zu wollen, weder Drusus Fidelius noch sonst irgendeinen Mann. Worauf die Freundin ausgerufen hatte: »Aber kein junges Mädchen will freiwillig unverheiratet bleiben! Ulrika, was willst du denn sonst mit deinem Leben anfangen?« Auf diese Frage hatte Ulrika keine andere Antwort gehabt als die, dass sie seit jeher das unbestimmte Gefühl habe, sie sei zu etwas anderem berufen. Was das war, wusste sie allerdings nicht zu sagen. Ihre Mutter hatte sie zwar in den Grundlagen der Heilkunst unterrichtet, in der Herstellung und dem Gebrauch von Medizinen, in Anatomie und wie man Krankheiten diagnostizierte, aber Ulrika wollte nicht in die Fußstapfen der Mutter treten, keine Heilkundige werden.
Vom Garten aus verfolgte sie, wie nach und nach die für den Abend geladenen Gäste eintrafen, und konnte einmal mehr beobachten, wie die römischen Männer ihre weiblichen Anverwandten mit einem Wangenkuss begrüßten. Nicht unbedingt aus Zuneigung, sondern um zu prüfen, ob ihre Schwestern oder Töchter nach Alkohol rochen. Ständig übten Männer irgendeine Kontrolle aus. Die Frauen in Germanien dagegen wurden, wie Ulrika gehört hatte, von ihren Männern mit weit mehr Respekt behandelt und als ebenbürtig erachtet.
Vor dem Hintergrund von Roms Villen und Straßen war Ulrika zur Frau herangereift. Sie hatte dicht bevölkerte und lärmende Städte kennengelernt und genoss jetzt ein luxuriöses Leben in einem herrschaftlichen Haus auf dem Esquilin-Hügel. Warum sehnte sie sich dann nach Gebirgen und Wäldern, die in Nebel und Geheimnis eingehüllt schienen? Seit sie lesen konnte, hatte sie alle Schriften über das Volk ihres Vaters - die Germanen - verschlungen, derer sie habhaft werden konnte, hatte deren Kultur und Bräuche, deren Überzeugungen und Geschichte aufgesogen. Sogar ihre Sprache hatte sie sich angeeignet - heimlich. Denn wann immer sie Freundinnen von ihrem Interesse an den Germanen erzählt hatte, war sie auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen.
Welchen Sinn hatte das alles?, fragte sie sich jetzt, als sie die Gäste erkannte, die im Hof von Tante Paulinas Haus eintrafen, die Damen in fließenden Tuniken, die Herren in langen, kleidsamen Togen. Diente das alles zur Vorbereitung auf die Reise in das Land, in das sie, Ulrika, wirklich gehörte? Es würde keine leichte Reise werden. Wulf, ihr Vater, war noch vor ihrer Geburt gestorben. Und sollte es noch Verwandte von ihm geben, dürfte es für Ulrika ein Ding der Unmöglichkeit sein, dies in Erfahrung zu bringen, geschweige denn, diese Verwandten ausfindig zu machen. Sie wusste nur, dass Wulf ein Fürstensohn und ein Held seines in den Wäldern lebenden Volks gewesen war und dass er ihr eine Blutlinie von rheinländischen Stammesfürsten und mystischen Seherinnen vererbt hatte.
Eine frische Brise wehte durch den Garten, rührte spielerisch an Ästen und dem feinem Gewebe von Ulrikas langem Gewand. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet, die mehrere Schichten Stoff vorschrieb, was durch ein knielanges Überkleid sowie Schals in jeweils verschiedenen Längen und Blautönen - von dunklem Azur bis zur Färbung des morgendlichen Himmels - erreicht wurde. Ihr langes Haar, das geflochten und am Hinterkopf zu einem Knoten frisiert war, verbarg ein weicher safrangelber Schleier, die Palla, die auch die Arme bedeckte und unterhalb der Taille endete. Goldene Ohrringe und Armreife vervollständigten ihre Garderobe.
Sie fröstelte. Wenn es mir bestimmt ist, von hier wegzugehen, wie soll ich das dann tun?
»Da bist du ja, Liebes.«
Ihre Mutter kam auf sie zu. Mit ihren vierzig Jahren bewegte sich Selene anmutig und graziös; feine Leinenstoffe in Rot- und Orangetönen umhüllten die schlanke Gestalt. Ihr dunkelbraunes Haar war am Hinterkopf zu einem schlichten Knoten geschlungen und mit einem scharlachroten Schleier bedeckt.
»Paulina sagte mir, du seist hier draußen.« Mit ausgebreiteten Armen ging Selene auf ihre Tochter zu.
Paulina war eine verwitwete Patrizierin, und dies war ihr Haus. Als beste Freundin ihrer Mutter nannte Ulrika sie Tante Paulina. Da Paulina in Roms höchsten Kreisen verkehrte, lud sie dementsprechend nur die Elite der Bürger der Stadt zu sich ein. Zu diesem Kreis gehörte auch Selene, Ulrikas Mutter, als Heilkundige und enge Freundin von Kaiser Claudius.
Als sich Ulrika und ihre Mutter Arm in Arm dem Haus näherten, kamen sie an drei Männern in militärischer Haltung vorbei, die über Angriffsstrategien debattierten. Sie trugen lange weiße Tuniken und darüber purpurfarben gesäumte Togen. Kaum dass sie der beiden Frauen ansichtig wurden, unterbrachen sie ihr Gespräch, um sie zu grüßen und sich vorzustellen. In dem Moment, da der eine, ein gut aussehender Mann mit gebräuntem Gesicht und schneeweißen Zähnen, sich als Gaius Vatinius zu erkennen gab, merkte Ulrika, wie sich die Schultern ihrer Mutter versteiften. »Befehlshaber Vatinius?«, sagte Selene. »Müsste ich schon von dir gehört haben?«
Einer der anderen Männer lachte. »Wenn nicht, Verehrteste, wäre er am Boden zerstört! Vatinius wäre erschüttert, wenn er erkennen müsste, dass es in Rom auch nur eine schöne Frau gibt, die nicht weiß, wer er ist.«
Ulrika, der die gepresste Stimme der Mutter nicht entgangen war, musterte eingehend den Mann, den Selene mit »Befehlshaber « angesprochen hatte. Er war hochgewachsen, Anfang vierzig, mit tiefliegenden Augen und einer langen, geraden Nase. Wie aus Marmor gemeißelt wirkte er. Der Anflug eines gekünstelten Lächelns, das seine Lippen umspielte, zeugte von Arroganz.
»Bist du vielleicht«, hörte Ulrika die Mutter stockend fragen, »jener Gaius Vatinius, der vor einigen Jahren am Rhein kämpfte?«
Sein Lächeln vertiefte sich. »Du hast also doch von mir gehört.«
Gaius Vatinius wandte sich Ulrika zu, musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß. Im nächsten Augenblick meldete ein Sklave, dass das Mahl aufgetragen sei, worauf sich die drei Männer mit einer kurzen Entschuldigung in Richtung Haus begaben.
Ulrika sah, dass ihre Mutter kreidebleich geworden war. »Gaius Vatinius hat dich erschreckt, Mutter. Wer ist er?«
»Er befehligte einst die Legionen am Rhein«, antwortete Selene, wobei sie dem Blick ihrer Tochter auswich. »Aber das war lange vor deiner Geburt. Lass uns hineingehen.«
Vier Tische standen im Speisesaal, jeder auf drei Seiten von Ruhebetten flankiert. Die Platzierung der Gäste folgte einem strengen Protokoll, demzufolge die Ehrengäste jeweils auf dem Ruhebett an der linken Seite des Tisches lagerten. Die vierte Seite des Tisches blieb frei, damit die Sklaven ungehindert Speisen und Getränke auftragen konnten. Gebratene Fasanen im Federkleid prangten in der Mitte der Tafel, um sie herum Platten und Schalen mit verschiedenen Speisen, von denen die Gäste sich selbst bedienen konnten. Die Stimmen von mehr als dreißig Personen schwirrten durch den Raum, drohten schier die Klänge der Panflöte zu übertönen, die ein Musikant spielte.
Ulrika wollte sich gerade auf ihren Platz neben einem Rechtsgelehrten namens Maximus niederlassen, als sie kurz einen Blick hinüber zu Gaius Vatinius warf. Sie mochte kaum ihren Augen trauen.
Auf dem Fußboden neben dem Befehlshaber saß ein riesiger Hund.
Ulrika runzelte die Stirn. Wie kam ein Gast auf die Idee, seinen Hund zu einer Essenseinladung mitzunehmen? Sie musterte die anderen Gäste, die sich ungezwungen mit Wein und Delikatessen bedienten. Empfand denn niemand sonst diesen Hund als völlig fehl am Platze?
Mit leichtgeöffneten Lippen und angehaltenem Atem sah sie wieder auf das Tier. Nein, das war kein Hund -, sondern ein Wolf! Groß und grau und zottelhaarig, mit bohrendem Blick und gespitzten Ohren, wie der Wolf in ihrem Traum. Und er starrte sie unverwandt an, derweil Gaius Vatinius mit seinen Tischnachbarn plauderte.
Ulrika konnte sich vom Anblick des mächtigen Tiers nicht losreißen.
Während sie weiterhin reglos verharrte, merkte sie, dass der Wolf langsam aus ihrem Blickfeld schwand, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Ulrika zwinkerte. Er hatte sich doch gar nicht von seinem Lager erhoben! Nicht den Speisesaal verlassen. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst, vor ihren Augen.
Es war ihr, als verlöre sie den Boden unter den Füßen. Zitternd tastete sie nach dem Ruhebett und sank darauf nieder. Die Kehle schnürte sich ihr zusammen. Jetzt begriff sie, warum sie sich den ganzen Tag über so unwohl gefühlt hatte.
Die Krankheit hatte sich wieder eingestellt.
Sie hatte geglaubt, sie wäre die geheimnisvolle Krankheit, die ihre Kindheit überschattet und über die sie mit niemandem, nicht einmal mit ihrer Mutter, gesprochen hatte, losgeworden, als sie ihr zwölftes Lebensjahr erreichte. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum ersten Mal etwas gesehen hatte, was andere nicht sahen, oder von etwas geträumt hatte, das sich noch gar nicht ereignet hatte, oder die Hand von jemandem berührt und gewusst hatte, dass dieser Mensch Seelenqualen litt. Als sie als Achtjährige mit ihrer Mutter beim Metzger war und dieser ein Hackebeil suchte, hatte Ulrika ihm zugerufen: »Es ist hinten unter einen Tisch gefallen.« Der Metzger war in einen rückwärtig gelegenen Raum gegangen und sichtbar verblüfft mit dem Hackebeil zurückgekommen.
Diesen verblüfften Gesichtsausdruck hatte Ulrika häufig genug erlebt, um zu wissen, dass das, was sie sah oder spürte, ob im Traum oder als Vision, nicht normal war. Da sie sich jedoch damals schon in jeder Stadt, in der sie und ihre Mutter für eine Weile lebten, als Außenseiterin fühlte, hatte sie gelernt, ihre Zunge zu hüten und die Leute auf eigene Faust nach verschwundenen Hackebeilen suchen zu lassen.
An einem Sommertag vor sieben Jahren schließlich, als Ulrika und ihre Mutter einen Ausflug aufs Land unternahmen, hatte Ulrika, umsummt von Bienenschwärmen und inmitten betörender Blumendüfte, um die Zeit, da die Sonne am höchsten stand, unvermittelt eine junge Frau erblickt, die aus dem Wald angerannt kam. Mit flatterndem Haar, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen, die Arme mit Blut befleckt.
»Mutter, wovor läuft diese Frau weg?«, hatte Ulrika gefragt und überlegt, ob sie ihr zu Hilfe eilen sollten. »Sie sieht so verängstigt aus, und ihre Hände sind voller Blut.«
»Welche Frau?«, hatte Selene gesagt und sich umgeschaut.
Als sich dann die verängstigte Frau vor ihren Augen in Luft auflöste, hatte Ulrika erschrocken festgestellt, dass es wieder eine ihrer geheimnisvollen Visionen gewesen war, wenngleich sie diesmal so deutlich und lebensecht erschienen war wie noch nie zuvor. »Niemand, Mutter, sie ist schon weg.«
Das war vor sieben Jahren gewesen.
Danach hatten Ulrika keine Halluzinationen mehr heimgesucht, keine seltsamen Träume oder Vorahnungen von wunderlichen Orten, da gab es keine Eingebungen, wie es um die Seelenverfassung anderer stand, keine Hinweise, wo sich Verlorenes wiederfinden ließ. Mit Beginn der Pubertät war Ulrika endlich wie alle anderen Mädchen gewesen, normal und gesund. Bis sie heute, anlässlich Tante Paulinas Gastmahl, erneut eine Vision erlebt hatte.
Die Stimme von Gaius Vatinius riss sie aus ihren Gedanken.
»Wir müssen diese Germanen zur Ordnung rufen«, erklärte er gerade seinen Tischnachbarn. »Unter Tiberius wurden Friedensverträge mit den Barbaren unterzeichnet, und jetzt brechen sie sie. Ich werde diese Aufstände ein für alle Mal beenden.«
Die Gäste in Paulinas Speisesaal lehnten sich zurück, stützten sich dabei mit dem linken Arm ab, während sie mit der rechten Hand den Speisen zusprachen. Der Ehrenplatz an Ulrikas Tisch gebührte Befehlshaber Vatinius. Ihre Mutter, die ihm als Tischdame zugedacht war, hatte ihren Platz links von ihm, Ulrika saß ihrer Mutter gegenüber. Die anderen Tischnachbarn waren ein einflussreiches Ehepaar, Maximus und Juno, der Finanzbeamte Honorius und Aurelia, eine ältere Witwe. Man erfreute sich an in Knoblauch und Zwiebeln gedünsteten Pilzen, an knusprigen Anchovis und Sperlingen, die mit Pinienkernen gefüllt waren.
Als Befehlshaber Gaius Vatinius, ein eingefleischter Junggeselle, merkte, dass Ulrika ihn anstarrte, unterbrach er das Gespräch und musterte sie seinerseits. Ihre außergewöhnliche Schönheit entging ihm keineswegs - ihre Haut schimmerte wie Elfenbein, das Haar war von der Farbe dunklen Honigs. Und dann die blauen Augen: bei Römerinnen eine Seltenheit. Ein Blick auf ihre linke Hand verriet ihm, dass sie unverheiratet war, was ihn angesichts ihres Alters überraschte.
Er bedachte sie mit einem charmanten Lächeln und sagte: »Ich langweile dich wohl mit meinen Soldatengeschichten.«
»Durchaus nicht«, versicherte Ulrika. »Und das Rheinland hat mich schon immer interessiert.«
»Warum können sie nicht Ruhe geben und sich wie zivilisierte Menschen benehmen?«, warf Aurelia verärgert ein. »Wenn man bedenkt, was wir für die Welt getan haben. Unsere Aquädukte, unsere Straßen.«
Vatinius wandte sich der Älteren zu. »Was die Barbaren so wütend macht, ist, dass Kaiser Claudius vor vier Jahren eine Siedlung am Rhein aus dem Status einer Garnison in den Rang einer Kolonie erhoben hat. Zu Ehren seiner Gattin Agrippina, die dort geboren wurde, nannte er sie Colonia Agrippinensis. Das war der Zeitpunkt, zu dem die Überfälle mit Macht einsetzten. Offenbar hat die Romanisierung eines alten germanischen Gebiets dazu geführt, dass die Barbaren sich auf ein längst überholtes Stammesbewusstsein besonnen haben und meinen, ein freies germanisches Volk sein zu wollen.« Vatinius winkte mit einer schwer beringten Hand. »Claudius hat mir die ehrenhafte Aufgabe übertragen, Colonia zu verteidigen, was immer es kostet.«
Ulrika griff nach ihrem Weinbecher, vermochte aber nicht zu trinken. Der Wolf ... und jetzt war die Rede von neuerlichen Kämpfen in Germanien.
»Die Barbaren waren lange Zeit über friedlich«, sagte Maximus, der reiche und dicke Rechtsgelehrte. Er hielt die Hand hoch, worauf sein persönlicher Sklave vortrat und ihm die fetttriefenden Finger abwischte. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, werden die Stämme von einem einzigen rebellischen Anführer aufgewiegelt. Weißt du, wer er ist?«
Ein Schatten verfinsterte Vatinius' gut geschnittenes Gesicht. »Wir wissen nicht, wer er ist, wir kennen nicht einmal seinen Namen. Wir haben ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Dem Vernehmen nach ist er aus dem Nichts aufgetaucht, und jetzt führt er die germanischen Stämme in eine neue Rebellion. Sie greifen an, wenn wir es am wenigsten erwarten, und verschwinden anschließend spurlos in den Wäldern.«
Vatinius nippte an seinem Weinbecher, ließ sich dann von einem Sklaven die Lippen abtupfen. »Ich werde diesen Anführer aufstöbern«, fuhr er fort, »und an ihm ein Exempel statuieren, das heißt, ihn öffentlich hinrichten lassen, als Warnung für alle, denen der Sinn nach Aufruhr und Rebellion steht.«
»Was macht dich so sicher, Befehlshaber Vatinius«, fragte Ulrika, »dass du Erfolg haben wirst? Soviel ich weiß, sind die Germanen listenreich. Was schwebt dir vor, um für einen klaren Sieg zu sorgen?«
»Ich habe einen Plan, der nicht misslingen kann.« Er lächelte zuversichtlich. »Weil er auf dem Element der Überraschung fußt.«
Ulrikas Herz raste. Mit zitternder Hand griff sie nach einer Olive. »Ich könnte mir vorstellen«, gab sie zu bedenken, »dass die Barbaren mittlerweile sämtliche Taktiken der Legionen kennen, selbst jene, die auf dem Überraschungsmoment basieren.«
»Mein Plan geht in eine ganz andere Richtung.«
»Inwiefern?«
Er schüttelte den Kopf. »Das würdest du nicht verstehen.«
Sie ließ nicht locker. »Soldatengeschichten langweilen mich ganz und gar nicht, Gaius. Ich habe Cäsars Bericht über den gallischen Krieg gelesen. Beabsichtigst du etwa, gegen die Barbaren Kriegsmaschinerie einzusetzen?«
Statt zu antworten, schaute er sie eine Weile sinnend an, bewunderte das honigbraune Haar, das ovale Gesicht, ihre direkte Art - das Mädchen war weder spröde noch schüchtern! - , und dann, geschmeichelt über ihr Interesse und beeindruckt von ihrem Sachverstand, kam er nicht umhin zu sagen: »Das ist genau das, was die Barbaren erwarten. Ich aber habe etwas ganz anderes vor. Diesmal werde ich sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.«
Sie sah ihn fragend an.
»Der Kaiser hat mir für diesen Feldzug völlige Handlungsfreiheit gewährt. Ich habe Vollmacht, so viele Legionäre aufzubringen, wie ich brauche, und so viel an Kriegsmaschinerie, wie ich für nötig halte. Die Barbaren werden Katapulte und bewegliche Türme, berittene Truppen und Fußsoldaten zu sehen bekommen. Alles typisch römisch. Was sie nicht zu sehen bekommen«, sagte er und nahm einen Schluck Wein, »sind die Kampfeinheiten, die von Barbaren ausgebildet und angeführt überall in den Wäldern hinter ihnen verteilt sein werden.«
Ulrika starrte Gaius Vatinius an. Eine kalte Faust schien ihr das Herz zu zerquetschen. Er hatte tatsächlich vor, die Germanen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Sie senkte den Blick auf ihre Hände, spürte, wie ihr Puls in den Fingerspitzen pochte. Und sie dachte: Es wird ein schreckliches Gemetzel geben.
Ulrika fand keinen Schlaf.
Unruhig warf sie sich ihren wollenen Umhang über das Nachthemd und verließ das Schlafzimmer. Obwohl es im Haus dunkel und still war, wusste sie, dass ihre Mutter bestimmt noch nicht zu Bett gegangen war. Selene nutzte diese ruhige Zeit für Eintragungen in ihr Tagebuch und um medizinische Texte zu studieren, Medizinen zu brauen. Sie war keineswegs überrascht, als Ulrika bei ihr anklopfte. »Ich dachte mir schon, dass du kommst«, sagte sie und schloss die Tür, sobald ihre Tochter eingetreten war. Eine Kohlenpfanne verbreitete Wärme, unweit davon standen zwei Sessel mit Fußschemeln.
So bestürzt und verstört Ulrika Tante Paulinas Festmahl auch verlassen hatte, so fühlte sie sich jetzt in diesem kleinen Raum, in dem ihre Mutter heilbringende Tränke, Elixiere, Puder und Salben zusammenmischte, auf einmal besänftigt. Schriftrollen reihten sich neben alten Texten und Papyri - allesamt enthielten sie Zaubersprüche und Gebete und Beschwörungsformeln zum Heilen von Krankheiten. Denn genau das war es, wozu sich Ulrikas Mutter berufen fühlte - kranke Menschen gesund zu machen.
Sosehr es Ulrika auch drängte, ihrer Mutter endlich einmal von den Visionen und Träumen und Vorahnungen aus Kindertagen und auch von der Vision von dem Wolf beim Festmahl am heutigen Abend zu berichten und sie zu fragen, was das alles zu bedeuten habe und wie denn ihre Krankheit zu heilen sei, sagte sie stattdessen, nachdem sie Platz genommen hatte: »Mutter, heute Abend hast du kaum etwas gegessen. Du warst blass und ungewöhnlich schweigsam. Und wie du Befehlshaber Vatinius angestarrt hast - warum erschreckt er dich so?«
Selene setzte sich der Tochter gegenüber, griff zu einem langen Schüreisen und stocherte damit in der Kohlenpfanne herum. »Es war Gaius Vatinius, der vor vielen Jahren das Dorf deines Vaters niedergebrannt und deinen Vater in Ketten abgeführt hat. In den Jahren unseres Zusammenseins hat Wulf oft davon gesprochen, dass er nach Germanien zurückkehren und an Gaius Vatinius Rache nehmen wollte.«
Selene seufzte tief. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hatte sich davor gefürchtet. Und jetzt, da es so weit war, merkte sie, wie ihr der Mut schwand. Sie dachte zurück an den Tag, als die damals neunjährige Ulrika weinend ins Haus gestürmt war, weil ein Junge aus der Nachbarschaft sie einen Bastard genannt hatte. »Er sagt, ein Bastard ist ein Kind, das keinen Vater hat. Und weil ich keinen Vater habe, bin ich ein Bastard.« Selene hatte sie beschwichtigt. »Hör nicht auf das, was andere sagen. Sie wissen nichts. Natürlich hast du einen Vater. Aber er ist gestorben, und jetzt weilt er bei der Göttin.«
Natürlich hatte Ulrika die Mutter mit Fragen bestürmt, und Selene hatte ihr daraufhin alles berichtet, was sie über Wulfs Volk wusste. Sie hatte ihr von der Weltesche erzählt, vom Land der Eisriesen und von Mittelerde, wo Odin wohnte. Ulrika hatte erfahren, dass sie nach ihrer germanischen Großmutter genannt worden war, der Seherin des Stammes, deren Name, wie Wulf gesagt hatte, Ulrika lautete, was so viel wie »Wolfsmacht« bedeutete. Auch dass ihr Vater ein Fürstensohn seines Stammes war, ein Kind des als Held verehrten Arminius, hatte Selene Ulrika erzählt. Nur dass Wulf ein Kind der Liebe war, ein unehelicher Sohn von Arminius, hatte sie der Tochter verschwiegen. Dieses Geheimnis bewahrte Selene. Genug war genug.
Aus all dem hatte sich Ulrika einen imaginären Vater erschaffen. Bei ihren Spielen bildeten Holzlöffel einen Föhrenwald, und ein mit Wasser gefüllter Graben wurde zum Rhein erklärt. Sie hatte sich Geschichten vom Fürstensohn Wulf ausgedacht, in denen er nach vielen Abenteuern und Schlachten und Romanzen immer den Sieg davontrug. »Mama, erzähl mir doch noch mal«, pflegte Ulrika die Mutter zu drängeln, »wie mein Vater aussah«, und dann beschrieb Selene Wulf als Krieger mit langem blonden Haar und muskulösem Körperbau. Mit zwölf Jahren ließ Ulrika von Puppen und auch von Spielen, die sie sich ausdachte, ab und verlegte sich auf das Lesen von Schriften jeglicher Art, verschlang alles, was ihr über Germanien in die Hände fiel, um die Wahrheit und die Zusammenhänge über das Volk ihres Vaters und ihr Land zu erfahren.
Jetzt blickte sie forschend in das Gesicht der Mutter, das von der Kohlenglut bernsteinfarben beleuchtet wurde. »Da gibt es doch noch etwas, ist es nicht so, Mutter? Etwas, das du mir verschweigst? «
Selene sah ihre Tochter, dieses Kind, das seit dem Augenblick seiner Zeugung im fernen Persien von Magie und Geheimnis umgeben war, freimütig an. Sie dachte an die Gabe, die Ulrika möglicherweise von ihrer germanischen Blutlinie vererbt bekommen hatte - eine hellseherische Fähigkeit, die Selene bei ihrer Tochter bereits im Kindesalter beobachtet hatte. Die kleine Ulrika konnte damals sagen, wo verloren gegangene Sachen zu finden waren, und unerwartete Ereignisse nahm sie so gelassen hin, als wäre sie darauf vorbereitet. Sie erkannte, wenn jemand bekümmert war, noch ehe Selene selbst diese seelische Notlage bemerkt hatte. Die Mutter respektierte, dass Ulrika annahm, diese Fähigkeit für sich behalten zu haben, schon weil sie sich sicher war, dass ihre Tochter eines Tages kommen und eine Erklärung für diese absonderlichen Wahrnehmungen von ihr erbitten würde. Der Zeitpunkt für ein solches Gespräch schien vor sieben Jahren gekommen zu sein, anlässlich eines Ausflugs aufs Land, als Ulrika behauptet hatte, eine Frau gesehen zu haben, die in panischer Angst aus dem Wald auf sie zugerannt sei. Aber da war keine Frau gewesen. Selene hatte dies als eine weitere Vision gedeutet, die Ulrika erlebt hatte. Merkwürdig war jedoch, dass der Tochter diese Fähigkeit danach abhanden gekommen zu sein schien, so als ob der Eintritt ins Erwachsenenalter die zarte, einfühlsame Gabe der Wahrnehmung überlagert und vollständig abgeschottet hätte.
Die Mutter seufzte abermals tief auf. »Es gibt etwas, was ich dir längst hätte sagen sollen. Ich hatte es auch immer vor. Aber solange du klein warst, meinte ich, du würdest es nicht verstehen, deshalb sagte ich mir immer: später, wenn Ulrika älter ist. Aber der richtige Zeitpunkt stellte sich einfach nicht ein. Ulrika, ich habe dir erzählt, dass dein Vater noch vor deiner Geburt bei einem Jagdunfall umgekommen ist, damals, als wir in Persien lebten. Aber so verhielt es sich nicht. Wulf hatte Persien längst verlassen und war nach Germanien zurückgekehrt.«
Gedämpfte Geräusche hallten in der Ferne - von ächzenden Rädern auf der ansonsten verwaisten Straße hinter der hohen Mauer der Villa, das Klapperdiklapp von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster, der einsame Ruf eines Nachtvogels.
»Er verließ Persien, weil ich darauf bestand«, fuhr Selene leise fort. »Wir waren noch nicht lange dort, als wir hörten, dass Gaius Vatinius vor uns durchgezogen und inzwischen auf dem Weg ins Rheinland war. Ich beschwor deinen Vater, ihm unverzüglich zu folgen. Ich selbst wollte in Persien bleiben.«
»Und er ging fort? Obwohl er wusste, dass du schwanger warst?«
»Das wusste er nicht. Ich habe es ihm verschwiegen, weil er sonst bei mir geblieben wäre. Dein Vater war ein ehrenhafter Mann. Sobald das Kind da gewesen wäre, hätte er uns nie wieder verlassen. Ich hatte kein Recht, mich in sein Leben zu drängen, Ulrika.«
»Kein Recht! Du warst seine Frau!«
Selene schüttelte den Kopf. »Nein, war ich nicht. Wir waren nicht verheiratet.«
Ulrika starrte die Mutter fassungslos an. »Wulf hatte bereits eine Frau«, sagte Selene und vermied es, der Tochter in die Augen zu schauen. »Er hatte in Germanien eine Frau und einen Sohn. Deinem Vater und mir war kein gemeinsames Leben bestimmt. Sein Schicksal erwartete ihn im Rheinland, und ich wollte, wie
du weißt, meiner eigenen Berufung folgen. Jeder von uns musste seinen eigenen Weg finden.«
»Er ging aus Persien fort, ohne von deiner Schwangerschaft zu wissen«, murmelte Ulrika. »Demnach hat er nichts von mir erfahren.«
»Nein.«
»Demnach weiß er auch bis heute nichts von mir!« Der Gedanke traf Ulrika wie ein Schlag. Sie konnte das alles kaum fassen. »Mein Vater hat keine Ahnung, dass es mich gibt!«
»Er ist nicht mehr am Leben, Ulrika.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Wenn dein Vater Germanien erreicht hätte, dann hätte er Gaius Vatinius aufgespürt und Rache genommen.«
»Und da Gaius Vatinius lebt, kann das deiner Meinung nach nur bedeuten, dass mein Vater tot ist«, sagte Ulrika leise.
Selene wollte nach der Hand der Tochter greifen, aber Ulrika entzog sich ihr. »Du hattest kein Recht, mir das zu verschweigen! «, rief sie. »Mein ganzes bisheriges Leben war eine Lüge!«
»Es geschah zu deinem eigenen Besten, Ulrika. Als Kind hättest du nicht verstanden, warum ich zuließ, dass dein Vater in sein Land zurückkehrte.«
»Ich bin schon lange kein Kind mehr, Mutter«, stieß Ulrika aus. »Du hättest mir schon vor Jahren die Wahrheit sagen können, anstatt sie mich auf diese Weise entdecken zu lassen.« Abrupt stand sie auf. »Du hast mir meinen Vater genommen. Und heute Abend hast du seelenruhig mit angesehen, wie ich mich mit diesem Ungeheuer unterhalten habe.«
»Ulrika ...«
Aber Ulrika war schon zur Tür hinausgestürmt.
© 2012 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Kurz nach Mitternacht, so Ulrikas Traum, war sie aus dem Bett aufgestanden und ans Fenster getreten. Dann kletterte sie hinaus und landete barfuß im Schnee. Statt Obstbäumen, wie sie hinter der Villa wuchsen, umgaben sie in ihrem Traum hohe Föhren, ein richtiger Wald, und Wolkenfetzen trieben über einen winterlichen Mond. Sie entdeckte Spuren im Schnee - Abdrücke von mächtigen Tatzen, die in den Wald hinein führten. Ulrika folgte ihnen, spürte das Mondlicht auf ihren nackten Schultern, und dann stand sie auf einmal vor einem ausgewachsenen zottelhaarigen Wolf mit goldgelben Augen. Ruhig setzte sie sich in den Schnee, worauf das Tier sich neben ihr niederließ und den Kopf in ihren Schoß legte. Die Nacht war klar, so klar wie die Augen des Wolfs, der zu ihr aufblickte. Unter dem Fell konnte sie seinen gleichmäßigen Herzschlag spüren. Die goldgelben Augen blinzelten und ihr war, als läge darin ein Ausdruck von Vertrauen, von Liebe, ja, von Zuhause.
Verwirrt war Ulrika aufgewacht. Warum habe ich von einem Wolf geträumt?, hatte sie überlegt. Was für einen Grund mag es dafür geben? Hängt das womöglich mit meinem Vater zusammen, der vor langer Zeit im fernen Persien gestorben ist und dessen Name Wulf war?
Hatte der Traum etwas zu bedeuten? Wenn ja, was?
Ihre Sklaven setzten die Sänfte ab, und Ulrika stieg aus. Sie war ein hochgewachsenes junges Mädchen. Über ihrer langen Tunika aus blassrosa Seide lag die farblich darauf abgestimmte Palla über Kopf und Schultern, das hellbraune Haar und den schlanken Hals verbarg sie in jungfräulicher Zurückhaltung. Ihre selbstbewusste Haltung und ihr sicheres Auftreten ließen nichts von der inneren Unruhe erkennen, die sie belastete.
Die Straße der Wahrsager war eine schmale Gasse im Schatten dicht besiedelter Wohnhäuser. Die Zelte und Buden der Spiritisten, Schlangenbeschwörer, Seher und Zukunftsdeuter, eins bunter bemalt als das nächste und mit glitzernden Objekten verziert, sahen vielversprechend aus. Das Geschäft der Lieferanten von Glücksanhängern, magischen Reliquien und Amuletten blühte.
Als Ulrika die Gasse betrat, um jemanden zu finden, der ihren Traum von dem Wolf deuten konnte, machten fahrende Händler aus Zelten und Buden lauthals auf sich aufmerksam, gaben sich als »echte Chaldäer« aus, mit direkter Verbindung zur Zukunft und im Besitz des Dritten Auges. Als Erstes begab sie sich zu einem Vogeldeuter, der für ein paar Münzen aus den Innereien seiner in Verschläge gepferchten Tauben weissagte. Seine Hände waren blutverkrustet. Er versicherte Ulrika, dass sie noch vor Ende des Jahres einen Ehemann finden würde. Der Rauchdeuter, den Ulrika als Nächsten an seinem Stand aufsuchte, verkündete, dass der Weihrauch ihr fünf gesunde Kinder verhieß.
Ungeduldig ging sie weiter, bis sie ganz hinten in der Gasse auf eine armselig wirkende Gestalt traf, die weder einen Stand noch ein Zelt ihr eigen nannte, sich nicht einmal eines schattigen Plätzchens erfreuen konnte. Mit überkreuzten Beinen hockte sie auf einer zerfransten Matte am Straßenrand. Ihr langes weißes Gewand hatte seine besten Tage hinter sich, ihre knöchernen langgliedrigen Hände ruhten auf mageren Knien. Da die Frau den Kopf gesenkt hielt, sah man nur ihr Haar, das ihr, schwärzer als Pech und in der Mitte gescheitelt, über Schultern und Rücken fiel. Ulrika konnte sich nicht erklären, warum es sie ausgerechnet zu dieser armseligen Wahrsagerin zog - vielleicht war sie ja mehr um Ehrlichkeit bemüht denn auf Geld aus? -, jedenfalls blieb sie vor ihr stehen und wartete ab.
Nach kurzer Zeit hob die Wahrsagerin den Kopf, und Ulrika war verblüfft über das ungewöhnliche Gesicht, das ihr entgegenblickte: Es war lang und schmal, knochig und von gelblichem Teint, umrahmt von dem nachtdunklen Haar. Traurige schwarze Augen unter gewölbten Brauen blickten Ulrika an. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte die Frau, und sie schien alterslos zu sein. War sie zwanzig oder achtzig? Neben ihr hatte sich eine braunschwarz gefleckte Katze zusammengerollt. Ulrika erkannte in ihr eine Ägyptische Mau, die dem Vernehmen nach älteste Katzenrasse, möglicherweise sogar die Urmutter aller Katzen.
Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf die glänzenden schwarzen Augen, aus denen Traurigkeit und Weisheit sprachen.
»Du hast eine Frage«, eröffnete die Wahrsagerin in perfektem Lateinisch das Gespräch und starrte Ulrika unverwandt an.
Der Lärm in der Gasse verebbte. Ulrika fühlte sich wie gebannt von schwarzen ägyptischen Augen, die braune Katze döste vor sich hin.
»Du willst mich wegen eines Wolfs befragen«, sagte die Ägypterin mit einer Stimme, die älter zu sein schien als der Nil.
»Ich habe ihn im Traum gesehen, Weise Frau. War das ein Zeichen? «
»Ein Zeichen wofür? Stell deine Frage.«
»Ich weiß nicht, wohin ich gehöre, Weise Frau. Meine Mutter ist Römerin, mein Vater Germane. Ich wurde in Persien geboren und war fast mein ganzes Leben lang mit meiner Mutter auf Wanderschaft. Denn sie folgte einer Bestimmung. Wo immer wir hinkamen, fühlte ich mich als Außenseiterin. Es bedrückt mich, Weise Frau, dass ich, wenn ich nicht weiß, wohin ich gehöre, niemals wissen werde, wer ich bin. War der Traum von dem Wolf ein Hinweis, dass ich in das Land am Rhein gehöre, zu dem Volk meines Vaters? Ist es für mich an der Zeit, Rom zu verlassen?«
»Überall um dich herum gibt es Zeichen, Tochter. Die Götter geleiten uns, wohin auch immer wir gehen.«
»Du sprichst in Rätseln, Weise Frau. Kannst du mir wenigstens meine Zukunft vorhersagen?«
»Da wird ein Mann sein«, kam es von der Wahrsagerin, »der dir einen Schlüssel anbietet. Nimm ihn.«
»Einen Schlüssel? Wofür?«
»Das wirst du verstehen, wenn die Zeit kommt ...«
Als Ulrika den Garten hinter der hohen Mauer auf dem Esquilin, einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut ist, betrat, presste sie die Hand an die Brust, bis sie unter dem Seidengewebe ihres Gewandes das Kreuz Odins spürte, das beschützende Amulett, das sie von klein auf begleitete. Sie betastete seine vertrauten Umrisse, die sich an ihren Busen drückten, und versuchte sich einzureden, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber das Unbehagen, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war, hatte sie den ganzen Tag über begleitet, so dass sie jetzt, da eine orangerote Sonne nach und nach hinter Roms Marmorgebäuden verschwand, kaum atmen konnte. Wie wünschte sie sich, alles wäre wieder so wie immer! Selbst Themen, die sie noch tags zuvor verärgert hatten, wären ihr jetzt, an diesem späten Nachmittag, als Ablenkung willkommen. Zum Beispiel die Frage, ob sie, wie es alle erwarteten, Drusus Fidelius heiraten wollte.
Es lag Ulrika fern, ungehorsam zu sein. Rom erzog seine Töchter zu Ehefrauen und Müttern. Alle ihre Freundinnen waren entweder verheiratet oder versprochen (ausgenommen die zu ihrem Leidwesen durch eine Hasenscharte entstellte Cassia, was eine Garantie für lebenslange Jungfernschaft war). Andere Zukunftspläne gab es auch gar nicht. Eine alleinstehende junge Frau ohne den Schutz eines Mannes war eine Seltenheit. Sogar Witwen kamen bei männlichen Verwandten unter. Ulrika hatte ihrer besten Freundin anvertraut, nicht heiraten zu wollen, weder Drusus Fidelius noch sonst irgendeinen Mann. Worauf die Freundin ausgerufen hatte: »Aber kein junges Mädchen will freiwillig unverheiratet bleiben! Ulrika, was willst du denn sonst mit deinem Leben anfangen?« Auf diese Frage hatte Ulrika keine andere Antwort gehabt als die, dass sie seit jeher das unbestimmte Gefühl habe, sie sei zu etwas anderem berufen. Was das war, wusste sie allerdings nicht zu sagen. Ihre Mutter hatte sie zwar in den Grundlagen der Heilkunst unterrichtet, in der Herstellung und dem Gebrauch von Medizinen, in Anatomie und wie man Krankheiten diagnostizierte, aber Ulrika wollte nicht in die Fußstapfen der Mutter treten, keine Heilkundige werden.
Vom Garten aus verfolgte sie, wie nach und nach die für den Abend geladenen Gäste eintrafen, und konnte einmal mehr beobachten, wie die römischen Männer ihre weiblichen Anverwandten mit einem Wangenkuss begrüßten. Nicht unbedingt aus Zuneigung, sondern um zu prüfen, ob ihre Schwestern oder Töchter nach Alkohol rochen. Ständig übten Männer irgendeine Kontrolle aus. Die Frauen in Germanien dagegen wurden, wie Ulrika gehört hatte, von ihren Männern mit weit mehr Respekt behandelt und als ebenbürtig erachtet.
Vor dem Hintergrund von Roms Villen und Straßen war Ulrika zur Frau herangereift. Sie hatte dicht bevölkerte und lärmende Städte kennengelernt und genoss jetzt ein luxuriöses Leben in einem herrschaftlichen Haus auf dem Esquilin-Hügel. Warum sehnte sie sich dann nach Gebirgen und Wäldern, die in Nebel und Geheimnis eingehüllt schienen? Seit sie lesen konnte, hatte sie alle Schriften über das Volk ihres Vaters - die Germanen - verschlungen, derer sie habhaft werden konnte, hatte deren Kultur und Bräuche, deren Überzeugungen und Geschichte aufgesogen. Sogar ihre Sprache hatte sie sich angeeignet - heimlich. Denn wann immer sie Freundinnen von ihrem Interesse an den Germanen erzählt hatte, war sie auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen.
Welchen Sinn hatte das alles?, fragte sie sich jetzt, als sie die Gäste erkannte, die im Hof von Tante Paulinas Haus eintrafen, die Damen in fließenden Tuniken, die Herren in langen, kleidsamen Togen. Diente das alles zur Vorbereitung auf die Reise in das Land, in das sie, Ulrika, wirklich gehörte? Es würde keine leichte Reise werden. Wulf, ihr Vater, war noch vor ihrer Geburt gestorben. Und sollte es noch Verwandte von ihm geben, dürfte es für Ulrika ein Ding der Unmöglichkeit sein, dies in Erfahrung zu bringen, geschweige denn, diese Verwandten ausfindig zu machen. Sie wusste nur, dass Wulf ein Fürstensohn und ein Held seines in den Wäldern lebenden Volks gewesen war und dass er ihr eine Blutlinie von rheinländischen Stammesfürsten und mystischen Seherinnen vererbt hatte.
Eine frische Brise wehte durch den Garten, rührte spielerisch an Ästen und dem feinem Gewebe von Ulrikas langem Gewand. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet, die mehrere Schichten Stoff vorschrieb, was durch ein knielanges Überkleid sowie Schals in jeweils verschiedenen Längen und Blautönen - von dunklem Azur bis zur Färbung des morgendlichen Himmels - erreicht wurde. Ihr langes Haar, das geflochten und am Hinterkopf zu einem Knoten frisiert war, verbarg ein weicher safrangelber Schleier, die Palla, die auch die Arme bedeckte und unterhalb der Taille endete. Goldene Ohrringe und Armreife vervollständigten ihre Garderobe.
Sie fröstelte. Wenn es mir bestimmt ist, von hier wegzugehen, wie soll ich das dann tun?
»Da bist du ja, Liebes.«
Ihre Mutter kam auf sie zu. Mit ihren vierzig Jahren bewegte sich Selene anmutig und graziös; feine Leinenstoffe in Rot- und Orangetönen umhüllten die schlanke Gestalt. Ihr dunkelbraunes Haar war am Hinterkopf zu einem schlichten Knoten geschlungen und mit einem scharlachroten Schleier bedeckt.
»Paulina sagte mir, du seist hier draußen.« Mit ausgebreiteten Armen ging Selene auf ihre Tochter zu.
Paulina war eine verwitwete Patrizierin, und dies war ihr Haus. Als beste Freundin ihrer Mutter nannte Ulrika sie Tante Paulina. Da Paulina in Roms höchsten Kreisen verkehrte, lud sie dementsprechend nur die Elite der Bürger der Stadt zu sich ein. Zu diesem Kreis gehörte auch Selene, Ulrikas Mutter, als Heilkundige und enge Freundin von Kaiser Claudius.
Als sich Ulrika und ihre Mutter Arm in Arm dem Haus näherten, kamen sie an drei Männern in militärischer Haltung vorbei, die über Angriffsstrategien debattierten. Sie trugen lange weiße Tuniken und darüber purpurfarben gesäumte Togen. Kaum dass sie der beiden Frauen ansichtig wurden, unterbrachen sie ihr Gespräch, um sie zu grüßen und sich vorzustellen. In dem Moment, da der eine, ein gut aussehender Mann mit gebräuntem Gesicht und schneeweißen Zähnen, sich als Gaius Vatinius zu erkennen gab, merkte Ulrika, wie sich die Schultern ihrer Mutter versteiften. »Befehlshaber Vatinius?«, sagte Selene. »Müsste ich schon von dir gehört haben?«
Einer der anderen Männer lachte. »Wenn nicht, Verehrteste, wäre er am Boden zerstört! Vatinius wäre erschüttert, wenn er erkennen müsste, dass es in Rom auch nur eine schöne Frau gibt, die nicht weiß, wer er ist.«
Ulrika, der die gepresste Stimme der Mutter nicht entgangen war, musterte eingehend den Mann, den Selene mit »Befehlshaber « angesprochen hatte. Er war hochgewachsen, Anfang vierzig, mit tiefliegenden Augen und einer langen, geraden Nase. Wie aus Marmor gemeißelt wirkte er. Der Anflug eines gekünstelten Lächelns, das seine Lippen umspielte, zeugte von Arroganz.
»Bist du vielleicht«, hörte Ulrika die Mutter stockend fragen, »jener Gaius Vatinius, der vor einigen Jahren am Rhein kämpfte?«
Sein Lächeln vertiefte sich. »Du hast also doch von mir gehört.«
Gaius Vatinius wandte sich Ulrika zu, musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß. Im nächsten Augenblick meldete ein Sklave, dass das Mahl aufgetragen sei, worauf sich die drei Männer mit einer kurzen Entschuldigung in Richtung Haus begaben.
Ulrika sah, dass ihre Mutter kreidebleich geworden war. »Gaius Vatinius hat dich erschreckt, Mutter. Wer ist er?«
»Er befehligte einst die Legionen am Rhein«, antwortete Selene, wobei sie dem Blick ihrer Tochter auswich. »Aber das war lange vor deiner Geburt. Lass uns hineingehen.«
Vier Tische standen im Speisesaal, jeder auf drei Seiten von Ruhebetten flankiert. Die Platzierung der Gäste folgte einem strengen Protokoll, demzufolge die Ehrengäste jeweils auf dem Ruhebett an der linken Seite des Tisches lagerten. Die vierte Seite des Tisches blieb frei, damit die Sklaven ungehindert Speisen und Getränke auftragen konnten. Gebratene Fasanen im Federkleid prangten in der Mitte der Tafel, um sie herum Platten und Schalen mit verschiedenen Speisen, von denen die Gäste sich selbst bedienen konnten. Die Stimmen von mehr als dreißig Personen schwirrten durch den Raum, drohten schier die Klänge der Panflöte zu übertönen, die ein Musikant spielte.
Ulrika wollte sich gerade auf ihren Platz neben einem Rechtsgelehrten namens Maximus niederlassen, als sie kurz einen Blick hinüber zu Gaius Vatinius warf. Sie mochte kaum ihren Augen trauen.
Auf dem Fußboden neben dem Befehlshaber saß ein riesiger Hund.
Ulrika runzelte die Stirn. Wie kam ein Gast auf die Idee, seinen Hund zu einer Essenseinladung mitzunehmen? Sie musterte die anderen Gäste, die sich ungezwungen mit Wein und Delikatessen bedienten. Empfand denn niemand sonst diesen Hund als völlig fehl am Platze?
Mit leichtgeöffneten Lippen und angehaltenem Atem sah sie wieder auf das Tier. Nein, das war kein Hund -, sondern ein Wolf! Groß und grau und zottelhaarig, mit bohrendem Blick und gespitzten Ohren, wie der Wolf in ihrem Traum. Und er starrte sie unverwandt an, derweil Gaius Vatinius mit seinen Tischnachbarn plauderte.
Ulrika konnte sich vom Anblick des mächtigen Tiers nicht losreißen.
Während sie weiterhin reglos verharrte, merkte sie, dass der Wolf langsam aus ihrem Blickfeld schwand, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Ulrika zwinkerte. Er hatte sich doch gar nicht von seinem Lager erhoben! Nicht den Speisesaal verlassen. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst, vor ihren Augen.
Es war ihr, als verlöre sie den Boden unter den Füßen. Zitternd tastete sie nach dem Ruhebett und sank darauf nieder. Die Kehle schnürte sich ihr zusammen. Jetzt begriff sie, warum sie sich den ganzen Tag über so unwohl gefühlt hatte.
Die Krankheit hatte sich wieder eingestellt.
Sie hatte geglaubt, sie wäre die geheimnisvolle Krankheit, die ihre Kindheit überschattet und über die sie mit niemandem, nicht einmal mit ihrer Mutter, gesprochen hatte, losgeworden, als sie ihr zwölftes Lebensjahr erreichte. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum ersten Mal etwas gesehen hatte, was andere nicht sahen, oder von etwas geträumt hatte, das sich noch gar nicht ereignet hatte, oder die Hand von jemandem berührt und gewusst hatte, dass dieser Mensch Seelenqualen litt. Als sie als Achtjährige mit ihrer Mutter beim Metzger war und dieser ein Hackebeil suchte, hatte Ulrika ihm zugerufen: »Es ist hinten unter einen Tisch gefallen.« Der Metzger war in einen rückwärtig gelegenen Raum gegangen und sichtbar verblüfft mit dem Hackebeil zurückgekommen.
Diesen verblüfften Gesichtsausdruck hatte Ulrika häufig genug erlebt, um zu wissen, dass das, was sie sah oder spürte, ob im Traum oder als Vision, nicht normal war. Da sie sich jedoch damals schon in jeder Stadt, in der sie und ihre Mutter für eine Weile lebten, als Außenseiterin fühlte, hatte sie gelernt, ihre Zunge zu hüten und die Leute auf eigene Faust nach verschwundenen Hackebeilen suchen zu lassen.
An einem Sommertag vor sieben Jahren schließlich, als Ulrika und ihre Mutter einen Ausflug aufs Land unternahmen, hatte Ulrika, umsummt von Bienenschwärmen und inmitten betörender Blumendüfte, um die Zeit, da die Sonne am höchsten stand, unvermittelt eine junge Frau erblickt, die aus dem Wald angerannt kam. Mit flatterndem Haar, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen, die Arme mit Blut befleckt.
»Mutter, wovor läuft diese Frau weg?«, hatte Ulrika gefragt und überlegt, ob sie ihr zu Hilfe eilen sollten. »Sie sieht so verängstigt aus, und ihre Hände sind voller Blut.«
»Welche Frau?«, hatte Selene gesagt und sich umgeschaut.
Als sich dann die verängstigte Frau vor ihren Augen in Luft auflöste, hatte Ulrika erschrocken festgestellt, dass es wieder eine ihrer geheimnisvollen Visionen gewesen war, wenngleich sie diesmal so deutlich und lebensecht erschienen war wie noch nie zuvor. »Niemand, Mutter, sie ist schon weg.«
Das war vor sieben Jahren gewesen.
Danach hatten Ulrika keine Halluzinationen mehr heimgesucht, keine seltsamen Träume oder Vorahnungen von wunderlichen Orten, da gab es keine Eingebungen, wie es um die Seelenverfassung anderer stand, keine Hinweise, wo sich Verlorenes wiederfinden ließ. Mit Beginn der Pubertät war Ulrika endlich wie alle anderen Mädchen gewesen, normal und gesund. Bis sie heute, anlässlich Tante Paulinas Gastmahl, erneut eine Vision erlebt hatte.
Die Stimme von Gaius Vatinius riss sie aus ihren Gedanken.
»Wir müssen diese Germanen zur Ordnung rufen«, erklärte er gerade seinen Tischnachbarn. »Unter Tiberius wurden Friedensverträge mit den Barbaren unterzeichnet, und jetzt brechen sie sie. Ich werde diese Aufstände ein für alle Mal beenden.«
Die Gäste in Paulinas Speisesaal lehnten sich zurück, stützten sich dabei mit dem linken Arm ab, während sie mit der rechten Hand den Speisen zusprachen. Der Ehrenplatz an Ulrikas Tisch gebührte Befehlshaber Vatinius. Ihre Mutter, die ihm als Tischdame zugedacht war, hatte ihren Platz links von ihm, Ulrika saß ihrer Mutter gegenüber. Die anderen Tischnachbarn waren ein einflussreiches Ehepaar, Maximus und Juno, der Finanzbeamte Honorius und Aurelia, eine ältere Witwe. Man erfreute sich an in Knoblauch und Zwiebeln gedünsteten Pilzen, an knusprigen Anchovis und Sperlingen, die mit Pinienkernen gefüllt waren.
Als Befehlshaber Gaius Vatinius, ein eingefleischter Junggeselle, merkte, dass Ulrika ihn anstarrte, unterbrach er das Gespräch und musterte sie seinerseits. Ihre außergewöhnliche Schönheit entging ihm keineswegs - ihre Haut schimmerte wie Elfenbein, das Haar war von der Farbe dunklen Honigs. Und dann die blauen Augen: bei Römerinnen eine Seltenheit. Ein Blick auf ihre linke Hand verriet ihm, dass sie unverheiratet war, was ihn angesichts ihres Alters überraschte.
Er bedachte sie mit einem charmanten Lächeln und sagte: »Ich langweile dich wohl mit meinen Soldatengeschichten.«
»Durchaus nicht«, versicherte Ulrika. »Und das Rheinland hat mich schon immer interessiert.«
»Warum können sie nicht Ruhe geben und sich wie zivilisierte Menschen benehmen?«, warf Aurelia verärgert ein. »Wenn man bedenkt, was wir für die Welt getan haben. Unsere Aquädukte, unsere Straßen.«
Vatinius wandte sich der Älteren zu. »Was die Barbaren so wütend macht, ist, dass Kaiser Claudius vor vier Jahren eine Siedlung am Rhein aus dem Status einer Garnison in den Rang einer Kolonie erhoben hat. Zu Ehren seiner Gattin Agrippina, die dort geboren wurde, nannte er sie Colonia Agrippinensis. Das war der Zeitpunkt, zu dem die Überfälle mit Macht einsetzten. Offenbar hat die Romanisierung eines alten germanischen Gebiets dazu geführt, dass die Barbaren sich auf ein längst überholtes Stammesbewusstsein besonnen haben und meinen, ein freies germanisches Volk sein zu wollen.« Vatinius winkte mit einer schwer beringten Hand. »Claudius hat mir die ehrenhafte Aufgabe übertragen, Colonia zu verteidigen, was immer es kostet.«
Ulrika griff nach ihrem Weinbecher, vermochte aber nicht zu trinken. Der Wolf ... und jetzt war die Rede von neuerlichen Kämpfen in Germanien.
»Die Barbaren waren lange Zeit über friedlich«, sagte Maximus, der reiche und dicke Rechtsgelehrte. Er hielt die Hand hoch, worauf sein persönlicher Sklave vortrat und ihm die fetttriefenden Finger abwischte. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, werden die Stämme von einem einzigen rebellischen Anführer aufgewiegelt. Weißt du, wer er ist?«
Ein Schatten verfinsterte Vatinius' gut geschnittenes Gesicht. »Wir wissen nicht, wer er ist, wir kennen nicht einmal seinen Namen. Wir haben ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Dem Vernehmen nach ist er aus dem Nichts aufgetaucht, und jetzt führt er die germanischen Stämme in eine neue Rebellion. Sie greifen an, wenn wir es am wenigsten erwarten, und verschwinden anschließend spurlos in den Wäldern.«
Vatinius nippte an seinem Weinbecher, ließ sich dann von einem Sklaven die Lippen abtupfen. »Ich werde diesen Anführer aufstöbern«, fuhr er fort, »und an ihm ein Exempel statuieren, das heißt, ihn öffentlich hinrichten lassen, als Warnung für alle, denen der Sinn nach Aufruhr und Rebellion steht.«
»Was macht dich so sicher, Befehlshaber Vatinius«, fragte Ulrika, »dass du Erfolg haben wirst? Soviel ich weiß, sind die Germanen listenreich. Was schwebt dir vor, um für einen klaren Sieg zu sorgen?«
»Ich habe einen Plan, der nicht misslingen kann.« Er lächelte zuversichtlich. »Weil er auf dem Element der Überraschung fußt.«
Ulrikas Herz raste. Mit zitternder Hand griff sie nach einer Olive. »Ich könnte mir vorstellen«, gab sie zu bedenken, »dass die Barbaren mittlerweile sämtliche Taktiken der Legionen kennen, selbst jene, die auf dem Überraschungsmoment basieren.«
»Mein Plan geht in eine ganz andere Richtung.«
»Inwiefern?«
Er schüttelte den Kopf. »Das würdest du nicht verstehen.«
Sie ließ nicht locker. »Soldatengeschichten langweilen mich ganz und gar nicht, Gaius. Ich habe Cäsars Bericht über den gallischen Krieg gelesen. Beabsichtigst du etwa, gegen die Barbaren Kriegsmaschinerie einzusetzen?«
Statt zu antworten, schaute er sie eine Weile sinnend an, bewunderte das honigbraune Haar, das ovale Gesicht, ihre direkte Art - das Mädchen war weder spröde noch schüchtern! - , und dann, geschmeichelt über ihr Interesse und beeindruckt von ihrem Sachverstand, kam er nicht umhin zu sagen: »Das ist genau das, was die Barbaren erwarten. Ich aber habe etwas ganz anderes vor. Diesmal werde ich sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.«
Sie sah ihn fragend an.
»Der Kaiser hat mir für diesen Feldzug völlige Handlungsfreiheit gewährt. Ich habe Vollmacht, so viele Legionäre aufzubringen, wie ich brauche, und so viel an Kriegsmaschinerie, wie ich für nötig halte. Die Barbaren werden Katapulte und bewegliche Türme, berittene Truppen und Fußsoldaten zu sehen bekommen. Alles typisch römisch. Was sie nicht zu sehen bekommen«, sagte er und nahm einen Schluck Wein, »sind die Kampfeinheiten, die von Barbaren ausgebildet und angeführt überall in den Wäldern hinter ihnen verteilt sein werden.«
Ulrika starrte Gaius Vatinius an. Eine kalte Faust schien ihr das Herz zu zerquetschen. Er hatte tatsächlich vor, die Germanen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Sie senkte den Blick auf ihre Hände, spürte, wie ihr Puls in den Fingerspitzen pochte. Und sie dachte: Es wird ein schreckliches Gemetzel geben.
Ulrika fand keinen Schlaf.
Unruhig warf sie sich ihren wollenen Umhang über das Nachthemd und verließ das Schlafzimmer. Obwohl es im Haus dunkel und still war, wusste sie, dass ihre Mutter bestimmt noch nicht zu Bett gegangen war. Selene nutzte diese ruhige Zeit für Eintragungen in ihr Tagebuch und um medizinische Texte zu studieren, Medizinen zu brauen. Sie war keineswegs überrascht, als Ulrika bei ihr anklopfte. »Ich dachte mir schon, dass du kommst«, sagte sie und schloss die Tür, sobald ihre Tochter eingetreten war. Eine Kohlenpfanne verbreitete Wärme, unweit davon standen zwei Sessel mit Fußschemeln.
So bestürzt und verstört Ulrika Tante Paulinas Festmahl auch verlassen hatte, so fühlte sie sich jetzt in diesem kleinen Raum, in dem ihre Mutter heilbringende Tränke, Elixiere, Puder und Salben zusammenmischte, auf einmal besänftigt. Schriftrollen reihten sich neben alten Texten und Papyri - allesamt enthielten sie Zaubersprüche und Gebete und Beschwörungsformeln zum Heilen von Krankheiten. Denn genau das war es, wozu sich Ulrikas Mutter berufen fühlte - kranke Menschen gesund zu machen.
Sosehr es Ulrika auch drängte, ihrer Mutter endlich einmal von den Visionen und Träumen und Vorahnungen aus Kindertagen und auch von der Vision von dem Wolf beim Festmahl am heutigen Abend zu berichten und sie zu fragen, was das alles zu bedeuten habe und wie denn ihre Krankheit zu heilen sei, sagte sie stattdessen, nachdem sie Platz genommen hatte: »Mutter, heute Abend hast du kaum etwas gegessen. Du warst blass und ungewöhnlich schweigsam. Und wie du Befehlshaber Vatinius angestarrt hast - warum erschreckt er dich so?«
Selene setzte sich der Tochter gegenüber, griff zu einem langen Schüreisen und stocherte damit in der Kohlenpfanne herum. »Es war Gaius Vatinius, der vor vielen Jahren das Dorf deines Vaters niedergebrannt und deinen Vater in Ketten abgeführt hat. In den Jahren unseres Zusammenseins hat Wulf oft davon gesprochen, dass er nach Germanien zurückkehren und an Gaius Vatinius Rache nehmen wollte.«
Selene seufzte tief. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hatte sich davor gefürchtet. Und jetzt, da es so weit war, merkte sie, wie ihr der Mut schwand. Sie dachte zurück an den Tag, als die damals neunjährige Ulrika weinend ins Haus gestürmt war, weil ein Junge aus der Nachbarschaft sie einen Bastard genannt hatte. »Er sagt, ein Bastard ist ein Kind, das keinen Vater hat. Und weil ich keinen Vater habe, bin ich ein Bastard.« Selene hatte sie beschwichtigt. »Hör nicht auf das, was andere sagen. Sie wissen nichts. Natürlich hast du einen Vater. Aber er ist gestorben, und jetzt weilt er bei der Göttin.«
Natürlich hatte Ulrika die Mutter mit Fragen bestürmt, und Selene hatte ihr daraufhin alles berichtet, was sie über Wulfs Volk wusste. Sie hatte ihr von der Weltesche erzählt, vom Land der Eisriesen und von Mittelerde, wo Odin wohnte. Ulrika hatte erfahren, dass sie nach ihrer germanischen Großmutter genannt worden war, der Seherin des Stammes, deren Name, wie Wulf gesagt hatte, Ulrika lautete, was so viel wie »Wolfsmacht« bedeutete. Auch dass ihr Vater ein Fürstensohn seines Stammes war, ein Kind des als Held verehrten Arminius, hatte Selene Ulrika erzählt. Nur dass Wulf ein Kind der Liebe war, ein unehelicher Sohn von Arminius, hatte sie der Tochter verschwiegen. Dieses Geheimnis bewahrte Selene. Genug war genug.
Aus all dem hatte sich Ulrika einen imaginären Vater erschaffen. Bei ihren Spielen bildeten Holzlöffel einen Föhrenwald, und ein mit Wasser gefüllter Graben wurde zum Rhein erklärt. Sie hatte sich Geschichten vom Fürstensohn Wulf ausgedacht, in denen er nach vielen Abenteuern und Schlachten und Romanzen immer den Sieg davontrug. »Mama, erzähl mir doch noch mal«, pflegte Ulrika die Mutter zu drängeln, »wie mein Vater aussah«, und dann beschrieb Selene Wulf als Krieger mit langem blonden Haar und muskulösem Körperbau. Mit zwölf Jahren ließ Ulrika von Puppen und auch von Spielen, die sie sich ausdachte, ab und verlegte sich auf das Lesen von Schriften jeglicher Art, verschlang alles, was ihr über Germanien in die Hände fiel, um die Wahrheit und die Zusammenhänge über das Volk ihres Vaters und ihr Land zu erfahren.
Jetzt blickte sie forschend in das Gesicht der Mutter, das von der Kohlenglut bernsteinfarben beleuchtet wurde. »Da gibt es doch noch etwas, ist es nicht so, Mutter? Etwas, das du mir verschweigst? «
Selene sah ihre Tochter, dieses Kind, das seit dem Augenblick seiner Zeugung im fernen Persien von Magie und Geheimnis umgeben war, freimütig an. Sie dachte an die Gabe, die Ulrika möglicherweise von ihrer germanischen Blutlinie vererbt bekommen hatte - eine hellseherische Fähigkeit, die Selene bei ihrer Tochter bereits im Kindesalter beobachtet hatte. Die kleine Ulrika konnte damals sagen, wo verloren gegangene Sachen zu finden waren, und unerwartete Ereignisse nahm sie so gelassen hin, als wäre sie darauf vorbereitet. Sie erkannte, wenn jemand bekümmert war, noch ehe Selene selbst diese seelische Notlage bemerkt hatte. Die Mutter respektierte, dass Ulrika annahm, diese Fähigkeit für sich behalten zu haben, schon weil sie sich sicher war, dass ihre Tochter eines Tages kommen und eine Erklärung für diese absonderlichen Wahrnehmungen von ihr erbitten würde. Der Zeitpunkt für ein solches Gespräch schien vor sieben Jahren gekommen zu sein, anlässlich eines Ausflugs aufs Land, als Ulrika behauptet hatte, eine Frau gesehen zu haben, die in panischer Angst aus dem Wald auf sie zugerannt sei. Aber da war keine Frau gewesen. Selene hatte dies als eine weitere Vision gedeutet, die Ulrika erlebt hatte. Merkwürdig war jedoch, dass der Tochter diese Fähigkeit danach abhanden gekommen zu sein schien, so als ob der Eintritt ins Erwachsenenalter die zarte, einfühlsame Gabe der Wahrnehmung überlagert und vollständig abgeschottet hätte.
Die Mutter seufzte abermals tief auf. »Es gibt etwas, was ich dir längst hätte sagen sollen. Ich hatte es auch immer vor. Aber solange du klein warst, meinte ich, du würdest es nicht verstehen, deshalb sagte ich mir immer: später, wenn Ulrika älter ist. Aber der richtige Zeitpunkt stellte sich einfach nicht ein. Ulrika, ich habe dir erzählt, dass dein Vater noch vor deiner Geburt bei einem Jagdunfall umgekommen ist, damals, als wir in Persien lebten. Aber so verhielt es sich nicht. Wulf hatte Persien längst verlassen und war nach Germanien zurückgekehrt.«
Gedämpfte Geräusche hallten in der Ferne - von ächzenden Rädern auf der ansonsten verwaisten Straße hinter der hohen Mauer der Villa, das Klapperdiklapp von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster, der einsame Ruf eines Nachtvogels.
»Er verließ Persien, weil ich darauf bestand«, fuhr Selene leise fort. »Wir waren noch nicht lange dort, als wir hörten, dass Gaius Vatinius vor uns durchgezogen und inzwischen auf dem Weg ins Rheinland war. Ich beschwor deinen Vater, ihm unverzüglich zu folgen. Ich selbst wollte in Persien bleiben.«
»Und er ging fort? Obwohl er wusste, dass du schwanger warst?«
»Das wusste er nicht. Ich habe es ihm verschwiegen, weil er sonst bei mir geblieben wäre. Dein Vater war ein ehrenhafter Mann. Sobald das Kind da gewesen wäre, hätte er uns nie wieder verlassen. Ich hatte kein Recht, mich in sein Leben zu drängen, Ulrika.«
»Kein Recht! Du warst seine Frau!«
Selene schüttelte den Kopf. »Nein, war ich nicht. Wir waren nicht verheiratet.«
Ulrika starrte die Mutter fassungslos an. »Wulf hatte bereits eine Frau«, sagte Selene und vermied es, der Tochter in die Augen zu schauen. »Er hatte in Germanien eine Frau und einen Sohn. Deinem Vater und mir war kein gemeinsames Leben bestimmt. Sein Schicksal erwartete ihn im Rheinland, und ich wollte, wie
du weißt, meiner eigenen Berufung folgen. Jeder von uns musste seinen eigenen Weg finden.«
»Er ging aus Persien fort, ohne von deiner Schwangerschaft zu wissen«, murmelte Ulrika. »Demnach hat er nichts von mir erfahren.«
»Nein.«
»Demnach weiß er auch bis heute nichts von mir!« Der Gedanke traf Ulrika wie ein Schlag. Sie konnte das alles kaum fassen. »Mein Vater hat keine Ahnung, dass es mich gibt!«
»Er ist nicht mehr am Leben, Ulrika.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Wenn dein Vater Germanien erreicht hätte, dann hätte er Gaius Vatinius aufgespürt und Rache genommen.«
»Und da Gaius Vatinius lebt, kann das deiner Meinung nach nur bedeuten, dass mein Vater tot ist«, sagte Ulrika leise.
Selene wollte nach der Hand der Tochter greifen, aber Ulrika entzog sich ihr. »Du hattest kein Recht, mir das zu verschweigen! «, rief sie. »Mein ganzes bisheriges Leben war eine Lüge!«
»Es geschah zu deinem eigenen Besten, Ulrika. Als Kind hättest du nicht verstanden, warum ich zuließ, dass dein Vater in sein Land zurückkehrte.«
»Ich bin schon lange kein Kind mehr, Mutter«, stieß Ulrika aus. »Du hättest mir schon vor Jahren die Wahrheit sagen können, anstatt sie mich auf diese Weise entdecken zu lassen.« Abrupt stand sie auf. »Du hast mir meinen Vater genommen. Und heute Abend hast du seelenruhig mit angesehen, wie ich mich mit diesem Ungeheuer unterhalten habe.«
»Ulrika ...«
Aber Ulrika war schon zur Tür hinausgestürmt.
© 2012 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Barbara Wood
Barbara Wood ist international als Bestsellerautorin bekannt. Allein im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage ihrer Romane weit über 13 Mio., mit Erfolgen wie ›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Kristall der Träume‹ und ›Dieses goldene Land‹. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet.Barbara Wood stammt aus England, lebt aber seit langem in den USA in Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Barbara Wood
- 464 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655818
- ISBN-13: 9783863655815
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