"Im Tal der flammenden Sonne", "Am Fluss des Schicksals", Doppelband
Zwei Australien-Romane im Doppelband: Auch Sie werden dem Zauber des fernen, wilden Kontinents erliegen…
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Produktinformationen zu „"Im Tal der flammenden Sonne", "Am Fluss des Schicksals", Doppelband “
Zwei Australien-Romane im Doppelband: Auch Sie werden dem Zauber des fernen, wilden Kontinents erliegen…
- »Im Tal der flammenden Sonne«: Australien, 1933: Arabella Fitzherbert, eine junge Engländerin, unternimmt mit ihren Eltern eine Reise durch Australien. Die Familie ist des trockenen Klimas wegen zum Roten Kontinent gereist, damit ihre einzige Tochter sich dort von ihrer langen Krankheit erholen kann. Doch durch eine Verkettung unglücklicher Umstände bleibt Arabella allein und verletzt in der Wüste zurück. Sie wäre sicherlich dem Tod geweiht, hätte nicht eine Gruppe umherziehender Aborigines sie gefunden und zur nächsten Siedlung gebracht: Marree - eine winzige Stadt im Outback. Arabella ist auf sich allein gestellt, während ihre Eltern sie tot wähnen ...
- »Am Fluss des Schicksals«: Australien 1883: Francesca kehrt Melbourne den Rücken, um nach Echuca am Murray River zu ziehen, wo ihr Vater Joe einen Raddampfer betreibt. Dieses Schiff ist ihr Zuhause gewesen, bis sie nach dem Tod ihrer Mutter auf das Internat nach Melbourne geschickt wurde. Doch sie erwartet eine böse Überraschung: Das Transportgeschäft läuft schlecht für ihren Vater; Silas Hepburn will ihn aus dem Geschäft drängen. Aber als er Joes Tochter kennen lernt, kommt ihm eine andere Idee. Zwischenzeitlich hat Francesca ihr Herz an den jungen Monty verloren. Doch zwei Menschen versuchen, ihre Verbindung zu Monty unter allen Umständen zu zerstören. Und ihr Vater verbirgt ein großes Geheimnis vor ihr ...
»Im Tal der flammenden Sonne« und »Am Fluss des Schicksals« – zwei Romane von Elizabeth Haran jetzt als günstige Weltbild-Ausgabe in einem Band!
Lese-Probe zu „"Im Tal der flammenden Sonne", "Am Fluss des Schicksals", Doppelband “
Im Tal der flammenden Sonne & Am Fluss des Schicksals von Elizabeth HaranIm Herzen Australiens, Oktober 1933 Wie eine Schlange aus der mythischen Traumzeit der Aborigines 1 Im Herzen Australiens, Oktober 1933 Wie eine Schlange aus der mythischen Traumzeit der Aborigines glitt der Ghan, wie der Afghan-Expresszug genannt wurde, durch die flirrende Hitze des Outback. Es war früh am Nachmittag. Am Horizont, der mit dem endlosen blauen Himmel zu verschmelzen schien, krochen erste Schatten über die karge Landschaft. Windhosen, die wie Derwische über der Wüste wirbelten, waren die einzige Abwechslung in dieser Einöde.
Der Zug war auf dem Weg nach Alice Springs. Neben der Lokomotive gab es einen Reisewagen, einen Speise- und einen Salonwaggon, zwei Wagen mit Schlafabteilen für Erste-Klasse- Passagiere sowie zwei Wagen für Fracht und Post. Da die Gleise sich bei Temperaturen von über 40 Grad zu verformen drohten und im Schatten fast 45 Grad Hitze herrschten, fuhr der Lokführer aus Sicherheitsgründen so langsam, dass kaum ein Lufthauch durch die geöffneten Fenster drang.
»Warum wird der Zug denn jetzt noch langsamer, Mummy?«, nörgelte Arabella Fitzherbert und verzog unwillig ihren hübschen Mund. Sie war neunzehn Jahre alt, wirkte aber jünger. Arabella saß auf ihrem Bett im Erster-Klasse-Abteil, das Gesicht von den schulterlangen honigblonden Haaren umrahmt. Der sengenden Hitze wegen hatte sie die feuchte Kleidung ausgezogen, die ihr am Körper geklebt hatte, und trug nun ein luftiges Nachthemd.
Clarice beugte sich aus dem Fenster. »Ich glaube, wir nähern uns einer kleinen Ortschaft. Scheint mir ein ziemlich hässliches und einsames Nest zu sein.«
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Bald darauf kam der Zug mit einem Ruck an einem Bahnsteig zum Stehen, der aus übereinandergeschichteten Eisenbahn- schwellen bestand, über denen sich ein Wellblechdach spannte. Auf einem Schild, das schief an einen Pfosten genagelt war, stand:
Marree - 84 Einwohner und eine Milliarde Fliegen
Clarice schüttelte den Kopf. Die Menschen hier im Outback hatten wirklich einen merkwürdigen Sinn für Humor.
Das Zischen der Lok verstummte, die Dampfwolke verflüchtigte sich und gab den Blick auf die Ortschaft frei. Obwohl sich den Fahrgästen über viele Meilen hinweg nichts Sehenswertes geboten hatte, hielt ihre Neugier sich in Grenzen. Die »Hauptstraße «, kaum mehr als ein staubiger Weg, wurde von dem zweistöckigen Sandsteingebäude des Great Northern Hotels, einem Postamt, einer Polizeiwache und drei aus Brettern und Wellblech erbauten Läden gesäumt. Durch den vom Wind aufgewirbelten roten Staub konnte man in der Ferne einige Häuser zwischen dürren Bäumen erkennen. Clarice sah, wie ein uniformierter Eisenbahnbeamter Postsäcke aus dem Zug wuchtete und neue Post entgegennahm. Dann fiel ihr Blick auf eine Gruppe von Aborigines und dunkelhäutigen Männern mit Turbanen, die sich dem Zug näherten.
»O Gott!« Clarice prallte erschrocken zurück. »Sieh dir bloß diese Bettler an, Bella! Da bekommt man es ja mit der Angst zu tun! Wir werden auf keinen Fall aussteigen, egal was dein Vater sagt.«
Als die Männer neugierig ins Innere des Abteils spähten, riss Clarice ein Bettlaken hoch und hielt es schützend vor ihre Tochter. »Zieh dir etwas über, Bella! Wer weiß, auf was für Gedanken diese Leute sonst kommen.«
Sie zog den Vorhang vors Fenster und warf einen furchtsamen Blick auf die Tür des Abteils. Ob sie vorsichtshalber abschließen sollte?
Die Luft im Abteil wurde unerträglich heiß und stickig.
»Ist das eine Hitze hier drin!«, stöhnte Arabella.
»Morgen sind wir in Alice Springs und können in unser Hotel «, tröstete Clarice sie. Auch sie träumte von einem kühlen Salon mit Ventilator und einem Drink mit viel Eis.
Arabella klappte einen chinesischen Papierfächer auf, den sie auf einer Reise gekauft hatte, und fächelte sich Luft zu. »Diese Hitze macht mich ganz fertig, Mummy«, klagte sie mit weinerlicher Stimme. »Ich hab Kopfschmerzen!«
»Sobald wir weiterfahren und ein bisschen frische Luft ins Abteil weht, wirst du dich besser fühlen.« Clarice schlug nach den Fliegen, die unter dem Vorhang hindurch ins Abteil krochen. »Übrigens, die Leute aus dem Nachbarabteil sind sehr nett. Dein Vater und ich werden nach dem Essen eine Partie Rommé mit ihnen spielen. Möchtest du nicht mitkommen, Bella?«
Arabella ließ sich in die Kissen fallen. »Nein, und essen will ich auch nichts. Ich hab Bauchweh.«
Das war nichts Neues. Arabella klagte oft über Bauchschmerzen und andere Beschwerden; deshalb war Clarice auch nicht allzu beunruhigt. Ihre Tochter neigte zur Hypochondrie und war immer schon eine schlechte Esserin gewesen, was auch der Grund für ihre eher knabenhafte Figur war.
»Das Bauchweh kommt von der Hitze, Bella«, sagte Clarice. »Wenigstens hat dein Husten sich gelegt. Wie du weißt, hofft dein Vater sehr, dass das trockene Klima dir guttut. Schließlich sind wir nur deinetwegen nach Australien gereist. Als Dr. Port- man sagte, deine Bronchitis werde sich in der feuchten, schlechten Luft Londons niemals bessern, hat dein Vater nicht gezögert, alles aufzugeben und hierherzukommen. Also tu mir den Gefallen, und reiß dich zusammen, ihm zuliebe.«
Edward Fitzherbert war ein erfolgreicher und in England sehr bekannter Theaterproduzent. Doch um seiner Tochter willen hatte er beschlossen, London für ein Jahr den Rücken zu kehren. Finanziell konnten sie es sich trotz der Weltwirtschaftskrise leisten, denn Clarice stammte aus einer wohlhabenden Adelsfamilie. Von Adelaide aus, wo sie seit ihrer Ankunft vier Wochen zuvor gewohnt hatten, waren sie zu einer dreimonatigen Reise durch den
australischen Kontinent aufgebrochen. Clarice wäre zwar lieber in Adelaide geblieben, wo es angenehm warm und die Luft sauber war und wo zahlreiche Geschäfte zum Einkaufsbummel luden, doch Edward hatte wie so oft die Abenteuerlust gepackt, und so waren sie ins glutheiße Innere Australiens aufgebrochen.
Arabella schnitt eine Grimasse. Ihre lebhaften blauen Augen wirkten fast unnatürlich groß. »Dieses ewige Schwitzen ist unerträglich «, jammerte sie.
»Ich weiß, mein Schatz.« Clarice tätschelte ihrer Tochter die Hand.
»Ich glaube, ich krieg Ausschlag.«
»Ausschlag? Wo denn?«
Arabella zeigte auf einen winzigen roten Punkt auf ihrem Oberschenkel. »Ach was, das ist bloß ein Pickel. Das ist nicht schlimm.« »Doch, ist es!«, beharrte sie. »Die Hitze ruiniert meine Haut!« Clarice hatte Mühe, nicht genervt die Augen zu verdrehen. Sie
liebte ihre einzige Tochter über alles, doch Arabellas Angewohnheit, an allem herumzumäkeln, stellte ihre Geduld manchmal auf eine harte Probe. Im Unterschied zu Arabella war Clarice ein anpassungsfähiger Mensch, was bei einem Ehemann wie Edward, mit dem Clarice vor der Geburt ihrer Tochter ganz Afrika bereist hatte, nur von Vorteil war. Dies war seit neunzehn Jahren die erste lange Reise, die sie unternahm, und wenngleich sie über eine robuste Gesundheit verfügte, musste sie sich eingestehen, dass sie die Annehmlichkeiten ihres Zuhauses ebenso vermisste wie die Gesellschaft ihrer Freunde.
Clarice wusste natürlich, dass sie an Arabellas Verhalten nicht ganz schuldlos war. Sie hatte ihre Tochter als kleines Mädchen viel zu sehr behütet und verhätschelt. Und seit Arabella immer wieder an Bronchitis erkrankte, zeigte Clarice sich ihr gegenüber viel zu nachsichtig. Sie hoffte, die Reise werde Arabella helfen, erwachsener zu werden, damit sie lernte, auf eigenen Füßen zu stehen, doch bisher deutete nichts darauf hin.
»Du wirst dich schon noch an die Hitze gewöhnen.« Clarice wusste vom Zugpersonal, dass es in der Wüstenstadt Alice Springs kaum Geschäfte und kein einziges Theater gab; deshalb hoffte sie, sie würden nicht allzu lange dort bleiben, verschwieg es aber wohlweislich. Arabella war die Reise jetzt schon leid.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und Clarice schob die Vorhänge zurück, damit Luft ins Abteil wehte. »So, ich werde jetzt in den Salonwagen gehen«, sagte sie dann.
»Kannst du nicht hierbleiben, Mummy?«, fragte Arabella kläglich. »Wer soll sich denn um mich kümmern?« »Dir fehlt doch nichts, Schatz. Komm später nach, wenn du Lust hast. Die Harris sind sehr nette Leute.« »Ist mir egal. Ich will sie nicht kennen lernen. Außerdem will ich mich bei der Hitze nicht wieder anziehen«, murrte Arabella.
»Wie du möchtest«, erwiderte Clarice geduldig. »Ich werde dir ein paar belegte Brote bringen.« Als der Zug aus der Stadt rollte, fiel ihr Blick auf einen großen Pferch auf der anderen Seite der Bahngleise, in dem sich eine Kamelherde mit mehreren Jungtieren befand. In einem Hain aus Dattelpalmen waren merkwürdige Gebäude um eine Moschee gruppiert. Anscheinend lebten hier die Männer mit Turbanen, die sie vorhin gesehen hatte. Ein Glück, dass ihr Mann keinen Rundgang durch den Ort vorgeschlagen hatte.
»Lass nur«, schmollte Arabella. »Ich hab noch ein halbes Sandwich von heute Mittag. Das Brot ist zwar trocken und der Belag ekelhaft, aber im Speisewagen gibt's sicher auch nichts Besseres, da verzichte ich lieber.«
»Wie du willst. Dann ruh dich aus, mein Schatz. Morgen werden wir in aller Frühe in Alice Springs eintreffen, hat der Zugführer gesagt.« Clarice küsste ihre Tochter auf die bleiche Wange und eilte hinaus. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Arabella allein ließ, doch sie spielte für ihr Leben gern Rommé. Außerdem würde es ihr guttun, endlich einmal etwas anderes zu hören als das Gejammer ihrer Tochter.
Als die Tür sich hinter ihrer Mutter geschlossen hatte, legte Arabella sich hin und suchte die endlose Weite des blauen Himmels nach einer Wolke ab. Müde von der Hitze und dem monotonen Rattern des Zuges, nickte sie nach kurzer Zeit ein.
Arabella fuhr aus dem Schlaf, als der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam. Sie setzte sich auf und blickte aus dem Fenster, doch es gab nur die schier endlose Wüste zu sehen, die in der unbarmherzigen Hitze lag. Arabella schob den Vorhang der Abteiltür zurück und spähte durch das Fenster auf der anderen Seite des Waggons, aber auch hier bot sich dem Auge nichts als Sand und Gänsefußsträucher. Anscheinend waren sie doch noch nicht am Ziel der Reise, wie Arabella insgeheim gehofft hatte. Als niemand kam, um ihr zu sagen, was es mit dem Halt auf sich hatte, streckte sie den Kopf neugierig zum Fenster hinaus. Im Reisezugwagen weiter vorn hatte sich ein Mann mittleren Alters ebenfalls aus dem Fenster gebeugt. Arabella hörte, wie er zu jemandem im Innern sagte: »Da liegt ein totes Tier auf den Gleisen. Es muss fortgeschafft werden. Und der Wind hat Sand auf die Schienen geweht.«
Das Tier, ein großes Kängurumännchen, das offenbar im Kampf mit einem anderen Männchen tödliche Verletzungen davongetragen hatte, wurde von den Schienen gezerrt. Doch es würde sehr viel länger dauern, den Sand von den Gleisen zu schaufeln.
Die Zeit verstrich unendlich langsam, und Arabella wurde unruhig. Die Sonne sank tiefer, die Schatten wurden länger. Wenigstens war es nicht mehr so glühend heiß. Als Arabella den Blick träge über die Landschaft schweifen ließ, fiel ihr eine ungewöhnliche Blume nur wenige Meter vom Zug entfernt auf. Die Blüte war leuchtend rot und in der Mitte tiefschwarz. Arabella liebte Blumen, und eine wie diese hatte sie nie zuvor gesehen. Inmitten
der dürren Gänsefußsträucher wirkte sie wie ein kostbares Juwel. Arabella überlegte, ob sie aussteigen und die exotische Blume pflücken sollte, verwarf den Gedanken aber. Es war zu gefährlich; schließlich konnte der Zug jeden Moment weiterfahren.
Fünfzehn lange Minuten vergingen. Allmählich senkte sich die Dämmerung herab. Noch immer zog die wunderschöne Blume Arabellas Blick wie magisch auf sich. Schließlich stand sie auf und spähte in den Korridor hinaus. Niemand war zu sehen. Sie eilte die paar Schritte bis zur Waggontür und öffnete sie. Bis zu der Blume waren es höchstens vier Meter.
Die habe ich schnell gepflückt, sagte sich Arabella. In fünf Sekunden bin ich wieder im Zug. Und falls er doch vorher anfährt, kann ich immer noch aufspringen. Da sie Pantoffeln trug, würden ihr weder die Steine im roten Wüstensand noch die kleinen Dornensträucher etwas anhaben können. Eine Hand auf dem Geländer, trat sie auf die oberste Holzstufe des Einstiegs. Als sie den Fuß auf die nächste Stufe setzen wollte, verfing sie sich in ihrem langen Nachthemd, verlor das Gleichgewicht, musste den Handlauf loslassen, um sich nicht den Arm zu verdrehen, und landete unsanft im Sand neben der Bahnstrecke. Instinktiv stützte sie sich mit einer Hand ab und fasste dabei in dorniges Gestrüpp.
»Autsch!« Ein heftiger Schmerz fuhr Arabella durch den Fußknöchel und die Hand, der ihr die Tränen in die Augen trieb. »Verflixt!«
Plötzlich stieß die Lokomotive fauchend Dampf aus, und der Zug fuhr ruckend an.
»O nein!« In Panik versuchte Arabella aufzustehen, doch der Knöchel, mit dem sie umgeknickt war, gab nach, und ihre Handfläche pochte vor Schmerz. »Halt! O Gott ... halt!«, schrie sie verzweifelt. Trotz der Schmerzen rappelte sie sich hoch und hinkte zum Zug, doch der Einstieg mit dem Handlauf war bereits zu weit weg, und es gab nichts, woran sie sich hätte festhalten können. Der Zug gewann an Fahrt, und Arabella musste hilflos mit ansehen, wie die letzten Waggons an ihr vorbeirumpelten. Da es sich um Güterwaggons handelte, gab es niemanden, der sie bemerkte oder den sie hätte auf sich aufmerksam machen können. Schlimmer noch - niemand wusste, dass sie den Zug verlassen hatte.
»Mummy! Daddy!«, rief sie entsetzt und hob die Arme. »Wartet ...!«
Arabella ließ die Arme langsam sinken. Sie stand wie versteinert da und starrte fassungslos dem Zug nach, der in der Unendlichkeit der Landschaft verschwand. Als ihr klar wurde, dass man sie mutterseelenallein in dieser lebensfeindlichen Ödnis zurückgelassen hatte, ergriff sie namenloses Entsetzen, und sie brach in Tränen aus.
So schnell würde niemand nach ihr suchen. Ihre Eltern saßen ahnungslos beim Kartenspielen. Arabella wusste, dass sie darüber oft die Zeit vergaßen und manchmal die halbe Nacht spielten. Sie würden zu Bett gehen und nicht bemerken, dass ihre Tochter verschwunden war; es würde ihnen frühestens am nächsten Morgen auffallen, wenn sie hinter den Vorhang sahen und realisierten, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Arabella stand verlassen in der Wüste, und kein Mensch wusste, wo sie war. Der Gedanke war so unfassbar, dass sie einen verzweifelten Schrei ausstieß. Ihre Stimme verlor sich in der unendlichen Weite ringsum.
Als sie den Zug vollends aus dem Blick verloren hatte, ließ sie sich in den Sand fallen, legte den Kopf auf die Knie und schluchzte. Auf einmal krabbelte etwas an ihrem Bein entlang. Kreischend vor Entsetzen sprang sie auf und stampfte mit dem Fuß in den Sand. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Knöchel und trieb ihr von neuem Tränen in die Augen. Hastig riss sie den Saum ihres Nachthemds hoch. Ein großes Insekt kroch über die Innenseite ihres Schenkels. Schaudernd vor Abscheu schlug Arabella es weg. Dann schleppte sie sich zu den Gleisen und humpelte in die Richtung, die der Zug genommen hatte.
Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Ich könnte nach Alice Springs laufen, dachte sie. Ich muss nur den Gleisen folgen, dann verirre ich mich nicht. Dann aber fiel ihr ein, dass ihre Mutter gesagt hatte, sie würden erst am nächsten Morgen in Alice Springs eintreffen. Arabella machte sich nichts vor. Eine solche Strecke würde sie niemals zu Fuß schaffen, zumal ihr schmerzender Knöchel jetzt schon geschwollen war.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, fielen die Temperaturen dramatisch. Arabella zitterte vor Kälte in ihrem dünnen Nachthemd. Hinzu kam die Angst in der undurchdringlichen Finsternis, die sich über das Land gesenkt hatte. Es war eine solch tiefe Dunkelheit, wie Arabella sie nie zuvor erlebt hatte. Sie konnte die Schwellen nicht mehr sehen und stieß sich ständig die Zehen an; ihr verstauchter Knöchel schmerzte höllisch. Schließlich verließ sie die Gleise und stolperte neben der Bahnstrecke durch den Sand.
Erst als der Mond aufging und die Sterne am tiefschwarzen Himmel funkelten, konnte Arabella etwas erkennen, doch Bäume oder Felsen, in deren Schutz sie die Nacht verbringen könnte, waren nirgends auszumachen. Von Zeit zu Zeit huschte ein Schatten vorüber, riesige Insekten und kleine nagetierähnliche Geschöpfe, und jedes Mal schrie Arabella erschrocken auf.
Bald klapperte sie mit den Zähnen vor Kälte, und sie konnte ihre Füße kaum noch spüren. Ihre Hoffnung, dass der Zug noch in dieser Nacht zurückkehren würde, schwand mit jeder Minute. Es kam ihr vor, als irrte sie bereits seit Stunden durch die Einöde. Immer wieder sagte sie sich, es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Eltern bemerkten, dass sie verschwunden war, und den Lokführer zur Umkehr drängten. Arabella musste sich an diese Hoffnung klammern, wollte sie nicht den Verstand verlieren. Doch als die Minuten sich zu Stunden dehnten, verflog ihre Zuversicht. Mit der Erschöpfung wuchs ihre Niedergeschlagenheit. Sie war inzwischen völlig durchgefroren und konnte sich nur noch mühsam auf den Beinen halten. Immer wieder stolperte sie und fiel auf die Knie, die bald zerschrammt und blutig waren. Irgendwann konnte sie vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten. Sie kam schwankend wie eine Betrunkene von der Bahnstrecke ab. Arabella war mit ihrer Kraft am Ende. Als sie das nächste Mal strauchelte und fiel, blieb sie völlig geschwächt im Sand liegen. Vergeblich kämpfte sie gegen die Müdigkeit an, und schließlich fielen ihr die Augen zu.
Als die Dunkelheit allmählich dem Tageslicht wich, lag Arabella immer noch im ohnmachtsähnlichen Schlaf der Erschöpfung da. Irgendetwas kitzelte sie, und langsam schlug sie die Augen auf. Sie schrie entsetzt: Die größte Spinne, die Arabella jemals gesehen hatte, krabbelte an ihrem Bein entlang. Vor Abscheu und voller Panik schüttelte sie ihr Bein. Die Spinne fiel herunter und flüchtete unter ein Gestrüpp. Als Arabella sich ein wenig beruhigt hatte, schaute sie sich um. Verzweiflung überkam sie, als sie nirgends die Bahnstrecke entdecken konnte. Alles sah fremd
aus. Das Land war flach und endlos weit; auf dem roten Sand kämpften dorniges Gestrüpp und unscheinbare Gänsefußsträucher ums Überleben. Arabella sah keine Landmarken, die ihr zur Orientierung hätten dienen können, weder Felsformationen noch Hügel oder Baumgruppen. Langsam stand sie auf und drehte sich im Kreis. Ihr Blick fiel auf einen einsamen Baum in der Ferne, dem einzigen weit und breit. Sie beschloss, dorthin zu gehen, in der Hoffnung, ein wenig Wasser oder vielleicht sogar essbare Früchte zu finden. Ohne Wasser hätte der Baum in dieser kargen Vegetation ja kaum überleben können.
Arabellas Knöchel war zwar noch geschwollen, tat aber nicht mehr ganz so weh. Dennoch kam sie nur langsam voran, denn ihre Glieder fühlten sich taub und steif an. Sie war durchgefroren und dankbar für die Wärme, die die aufgehende Sonne spendete. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so gefroren zu haben - und das nach der Gluthitze des vergangenen Tages. Die Temperaturschwankungen in diesem Wüstenklima waren schier unvorstellbar. Und die Nacht war nicht nur bitterkalt gewesen, sondern auch feucht. Arabella hustete. Ihr Mund war so ausgetrocknet wie die Landschaft ringsum. In ihrer Not leckte sie den Tau von den Blättern der Sträucher, an denen sie vorbeikam.
Ein merkwürdiges Geräusch ließ sie herumfahren. Fünf Emus näherten sich. Sie gaben einen bedrohlichen Trommellaut von sich. Die Schnäbel der Laufvögel waren messerscharf und ihre muskulösen Beine sehr kräftig. Die langen Krallen können einem Menschen bestimmt schreckliche Wunden schlagen, dachte Arabella. Die Tiere musterten die junge Frau aus ihren dunklen, neugierigen Augen, und sie bekam Angst. Schreiend rannte sie los, so schnell sie konnte. Sie stürzte, rappelte sich hoch, hinkte weiter, fuchtelte mit den Armen und kreischte hysterisch. Hätte sie sich umgedreht, hätte sie gesehen, dass ihr Geschrei die Emus längst vertrieben hatte.
Endlich hatte sie den Baum erreicht, ging hinter dem Stamm in Deckung und spähte vorsichtig, mit wild klopfendem Herzen, dahinter hervor. Verdutzt stellte Arabella fest, dass die Emus in weiter Ferne unbekümmert über den Sand staksten. Einen Augenblick kam sie sich schrecklich dumm vor, weil sie sich vor den Tieren gefürchtet hatte. Beinahe wünschte sie sich, die Emus wären dageblieben, damit sie nicht so allein wäre. Ihr Magen knurrte vor Hunger, und sie hob den Blick und suchte die Äste nach Früchten oder Beeren ab, doch außer einem verlassenen Vogelnest war nichts zu entdecken. Auch von Wasser gab es weit und breit keine Spur. Grenzenlose Verzweiflung überkam Arabella. Sie hockte sich hin. »Bitte komm und hol mich, Mummy«, schluchzte sie. »Lass mich nicht hier draußen sterben!«
Gegen sechs Uhr an diesem Morgen kam der Afghan-Express mit einem so heftigen Ruck zum Stehen, dass die Passagiere unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden. Edward Fitzherbert warf einen Blick aus dem Abteilfenster und sah, dass der Zug auf freier Strecke hielt. Lag schon wieder ein Tierkadaver auf den Gleisen? Edward wartete ein paar Minuten und lauschte. Dann stand er auf, um nachzusehen, was draußen los war. Clarice hatte sich noch einmal auf die andere Seite gedreht. Edward spähte hinter den Vorhang zwischen den Abteilbetten und stellte verwundert fest, dass Arabellas Bett leer war. Seltsam. Sie hatte das Abteil während der gesamten Zugfahrt nicht verlassen. Dann aber sagte er sich, dass sie vermutlich auf der Toilette war, die zum Abteil gehörte.
Als Edward sich seinen Morgenrock übergeworfen hatte und seine Pantoffeln suchte, klopfte es an der Abteiltür. Ein Schlafwagenschaffner stand draußen.
»Ich muss Sie bitten, sich anzuziehen, Sir. Alle Fahrgäste müssen den Zug verlassen. Nehmen Sie nur das Nötigste mit.«
»Was ist denn passiert?«, wollte Edward wissen.
»Der Zug kann nicht weiter. Termiten haben die Schwellen zerfressen. Auf welcher Länge, wissen wir noch nicht, aber eine Weiterfahrt wäre in jedem Fall zu riskant. Wir müssen zu Fuß weiter. Ihr Gepäck wird später abgeholt.«
»Zu Fuß? Wie weit ist es denn noch?«
»Ungefähr fünf Meilen, Sir. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss die anderen Fahrgäste informieren.« Schon eilte er davon.
»Was ist los, Schatz?«, murmelte Clarice schlaftrunken, als Edward die Tür geschlossen hatte.
»Der Zug kann nicht weiter, weil die Schwellen von Termiten zerfressen wurden. Wir müssen unseren Weg zu Fuß fortsetzen, hat der Schaffner gesagt.« Während er sprach, klopfte er leise an die Toilettentür, aber niemand antwortete.
»Seltsam«, sagte er. »Ich dachte, Arabella wäre auf der Toilette, aber sie antwortet nicht.« »Arabella? Arabella!«, rief Clarice. Keine Antwort. »Schau bitte nach, Schatz«, bat sie ihren Mann. Edward öffnete die Toilettentür. Verwundert drehte er sich zu seiner Frau um. »Leer.«
Clarice schwang die Beine aus dem Bett. »Ich ziehe mich an und packe unsere Sachen. Du siehst unterdessen nach, wo Arabella steckt.«
Kurze Zeit später kehrte Edward ins Abteil zurück. Seine Miene war besorgt.
»Hast du sie gefunden?«, fragte Clarice.
Er schüttelte den Kopf. »Niemand hat sie gesehen.«
Clarice sah ihn beunruhigt an. »Das gibt's doch nicht, sie muss doch irgendwo sein! Hast du die Harris von nebenan schon gefragt?«
»Ja, aber die haben sie auch nicht gesehen. Vielleicht hat sie sich jemandem in einem der anderen Waggons angeschlossen.« Edward bemühte sich, seine aufsteigende Panik zu unterdrücken. Arabella konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben.
Mit dem Nötigsten bepackt, eilten Edward und Clarice den Korridor entlang. Zugbegleiter halfen den Fahrgästen beim Aussteigen. Einige Passagiere gingen bereits an der Bahnstrecke entlang in Richtung Stadt. Clarice stieg aus, während Edward oben in der Tür stehen blieb und den Blick über die Fahrgäste schweifen ließ. Doch sosehr er sich den Hals verrenkte, er konnte Arabella nirgends entdecken.
Edward stieg die Stufen hinunter. Er hörte, wie Clarice, die schon vorausgegangen war, immer wieder den Namen ihrer Tochter rief, und eilte ihr nach.
»Ich kann sie nirgends finden, Edward!« Die Panik in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Das Zugpersonal trieb die Fahrgäste zur Eile an. Bald würde es unerträglich heiß werden.
»Bitte gehen Sie weiter«, drängte der Zugführer.
»Ohne unsere Tochter gehen wir nirgendwohin!«, fuhr Edward ihn an. »Sie muss noch im Zug sein. Wir gehen nicht von hier weg, bis wir sie gefunden haben!«
Eine halbe Stunde später waren auch die letzten Passagiere ausgestiegen, doch Arabella war immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Clarice' Furcht schlug in Hysterie um. Edward war erbost, weil das Zugpersonal so wenig Anteilnahme zeigte.
»Jedes Abteil muss durchsucht werden!«, verlangte er nachdrücklich.
»Beruhigen Sie sich, Sir«, sagte der Zugführer, »wir machen das schon. Wenn Ihre Tochter noch im Zug ist, werden wir sie finden.« Er vermutete, dass die Fitzherberts sich mit ihrer Tochter gestritten hatten, sodass sie sich aus Trotz jemand anderem angeschlossen hatte, ohne ihren Eltern ein Wort davon zu sagen. Andererseits hatte der Zug nur einundvierzig Fahrgäste gehabt, und auf keinen von denen, die sich zu Fuß auf den Weg nach Alice Springs gemacht hatten, traf Arabellas Beschreibung zu.
»Natürlich ist sie noch im Zug!«, ereiferte sich Edward, den so viel Gemütsruhe zur Raserei brachte. »Wo soll sie denn sonst sein?«
Zwanzig qualvolle Minuten später war der Zug bis in den letzten Winkel durchsucht worden, doch von Arabella fand sich keine Spur.
»Wo ist unsere Tochter dann?«, wollte Edward wissen, der in der Zwischenzeit noch einige Mitreisende befragt hatte. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Sir«, antwortete der Zugführer. »Was soll das heißen? Kommt es öfter vor, dass Ihnen unterwegs Fahrgäste abhanden kommen?«
»Natürlich nicht!«, rief der Zugführer gereizt.
Clarice sah ihren Mann bestürzt an. »Du denkst doch nicht etwa ... Arabella wird doch nicht ...?« Sie schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
Edward begriff nicht. »Was meinst du, Liebes?«
Clarice wandte sich dem Zugführer zu. »Könnte es sein, dass ... dass unsere Tochter aus dem Zug gefallen ist?«, fragte sie mit vor Angst schriller Stimme.
»Nun ja ... Ihr Wagen war der letzte, und falls Ihre Tochter die hintere Zugtür geöffnet hat, dann ... dann könnte es möglich sein«, erwiderte er stockend. Der Gedanke war ihm selbst auch schon gekommen, doch er hatte nicht gewagt, es laut auszusprechen, denn es käme für das Mädchen einem Todesurteil gleich. Noch nie war ein Passagier aus dem fahrenden Zug gefallen. Die Vorstellung war entsetzlich, aber welche Erklärung konnte es sonst geben?
»Mein Gott.« Alle Farbe wich aus Clarice'Gesicht. Sie schwankte, und Edward konnte sie gerade noch auffangen. Er half ihr, sich auf eines ihrer Gepäckstücke zu setzen. Sein Blick wanderte die Bahnstrecke entlang, die sich am Horizont in der Wüste verlor, und schaudernd stellte er sich vor, wie Arabella verletzt und hilflos irgendwo in der glutheißen Weite lag und auf den Tod wartete.
»Ich muss zurück und meine Tochter suchen«, sagte er entschlossen. Jetzt war es der Zugführer, der blass wurde. »Das kann ich nicht zulassen, Sir.« »Und was wollen Sie dagegen tun? Mich aufhalten?«, stieß Edward zornig hervor.
»Sir, Ihrer Tochter ist nicht geholfen, wenn Sie jetzt auf eigene Faust losgehen und vielleicht dabei umkommen. Sobald wir in Alice Springs sind, werden wir die Behörden alarmieren, damit sie eine sofortige Suche einleiten.«
Clarice klammerte sich an Edwards Arm. »Er hat Recht, Edward. Der Zug hat heute Nacht einige hundert Meilen zurückgelegt. Du kannst diese Strecke nicht zu Fuß gehen!«
Die Worte seiner Frau trafen Edward wie ein Schlag in den Magen. Die Entfernungen in diesem Land waren gewaltig. Wie sollten sie Arabella in einem Gebiet von so riesigen Ausmaßen finden?
Der Zugführer rief zwei Angestellte herbei und befahl ihnen, das Gepäck der Fitzherberts zu tragen. »Wo werden Sie in Alice Springs wohnen, Sir?«
»Im Central Hotel in der Todd Street«, antwortete Edward benommen.
»Wir werden Ihre Sachen dorthin bringen, Sir. Kümmern Sie sich um Ihre Frau. Sie braucht Sie jetzt. Sobald wir in Alice Springs sind, werde ich die Polizei informieren, damit die Suche unverzüglich eingeleitet wird. Nur so hat Ihre Tochter eine Chance, Sir.«
Arabella schlug die Augen auf und stieß einen gellenden Schrei des Entsetzens aus. Unzählige Ameisen krabbelten über ihre Beine. Sie sprang auf, stampfte mit den Füßen und streifte mit beiden Händen hektisch die wimmelnden Tiere von ihrer Haut,
die von den schmerzhaften Bissen brannte. Nie wieder würde sie sich in dieser elenden Wüste auf den Boden legen! Arabella rieb sich die Beine mit Sand ab und humpelte aus dem kärglichen Schatten des Baumes in die gleißende Sonne. Als sie an sich hinunterschaute, erschrak sie heftig. Ihre Haut war übersät mit roten, juckenden Quaddeln. Vor Schmerz und Verzweiflung brach sie in Tränen aus. Sie sehnte sich nach der Geborgenheit ihres Elternhauses in London, nach menschlicher Gesellschaft, nach der Betriebsamkeit der Stadt. Ihre elende Situation erschien ihr wie ein Albtraum. Sie begriff nicht, wie sie in eine solche Lage hatte geraten können.
Musste sie hier draußen sterben? Sie stellte sich vor, wie jemand eines Tages ihr Skelett entdeckte. Oder es würde nie gefunden, und ihre Eltern würden niemals erfahren, was geschehen war ...
Der Gedanke war ihr unerträglich.
Ringsum herrschte Totenstille. War der Zug vorbeigefahren, als sie geschlafen hatte, und sie hatte ihn nicht gehört? Arabella fragte sich, wie weit sie sich von der Bahnstrecke entfernt hatte. Suchend ließ sie den Blick über die flirrende Landschaft schweifen. Die Sonne stach unbarmherzig, und sie spürte, wie ihre Arme schmerzhaft brannten, doch unter den Baum, wo der Ameisenhaufen war und anderes Getier herumkroch, würde sie sich auf keinen Fall mehr setzen. In ihrem Kopf drehte sich alles, und der quälende Durst war kaum zu ertragen. Sie dachte an das trockene Sandwich, das sie im Zug verschmäht hatte. Jetzt hätte sie alles dafür gegeben. Und dazu ein großes Glas Wasser! Für ein Glas Wasser hätte sie dem Teufel ihre Seele verkauft.
Am frühen Nachmittag brach Arabella entkräftet zusammen. Trugbilder von vorbeifahrenden Zügen hatten ihren vor Hitze und Erschöpfung wirren Verstand genarrt. Sie verlor jeden Orientierungssinn und irrte im Kreis umher. Die Ameisenbisse an ihren Beinen juckten und brannten, und sie hatte rasende Kopfschmerzen.
Als sie in den glühend heißen Sand fiel, wusste sie, dass sie nie mehr aufstehen würde. Sie konnte nicht einmal mehr weinen. Salzige Schweißtropfen liefen ihr in die Augen, und sie senkte die Lider. Ihre Lippen waren geschwollen und rissig. Ihre Zunge fühlte sich wie ein Stück Leder an. War dies das Ende?
Plötzlich vernahm sie in der drückenden Stille, die nur vom Summen der Fliegen unterbrochen wurde, das Knacken eines Zweiges. Entsetzt dachte sie an die Wildhunde, die sie vom Zug aus gesehen hatten. Pirschten die Hunde sich heran, weil sie Beute witterten?
»Noch ... bin ich nicht ... tot«, lallte sie wirr. Sie öffnete ein Auge und blinzelte ins grelle Sonnenlicht. Ein dunkler Schatten beugte sich über sie. Erschrocken hob Arabella die Hand und schirmte ihre Augen ab, um besser sehen zu können. Sie blickte entsetzt in ein derbes, dunkelhäutiges Männergesicht mit breiter, flacher Nase und unergründlichen schwarzen Augen. Der Fremde hatte krauses Haar und eine flächige Stirn, und auf die Backenknochen waren ockerfarbene Zeichen gemalt. Arabella starrte den Mann wie versteinert an. Sie hörte Stimmen, verstand aber nicht, was sie sagten.
Einen Moment lang glaubte sie, ihr Verstand gaukle ihr etwas vor. Dann spürte sie, wie sie angestupst wurde - mit einem Stock, wie sie vermutete. Der Mann, dem der Stock gehörte, rief ihr in barschem Tonfall etwas zu. Er wirkte zornig. Angst erfasste Arabella. Mühsam richtete sie sich auf und sah, dass sie von Eingeborenen umringt war, die sie feindselig musterten. Verglichen mit diesen Fremden hatten sogar die Aborigines in Marree einen geradezu freundlichen Eindruck gemacht. Arabella schrie gellend. Die Ureinwohner fuhren erschrocken zurück und redeten dann in einer eigentümlich schnellen, völlig unverständlichen Sprache aufeinander ein. Arabella konnte nicht ahnen, dass sie sich darüber verständigten, offenbar eine Verrückte vor sich zu haben.
Mühsam rappelte Arabella sich hoch. Sie war überzeugt, dass die nächsten Augenblicke über Leben und Tod entscheiden würden. Obwohl sie Todesängste ausstand, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, sondern den Aborigines unerschrocken gegenüberzutreten. »Wagt es ja nicht ... mich anzurühren!«, herrschte Arabella sie an und hoffte, dass die Fremden das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkten. »Mein ... mein Vater wird euch erschießen lassen, wenn ihr mir ... auch nur ein Haar krümmt!«
Die Männer vom Stamm der Arrernte schauten sich verblüfft an. »Eine Verrückte«, sagte Djalu, der Stammesälteste, in seinem Dialekt. Neugierig musterte er das sonnenverbrannte Gesicht der weißen Frau. »Sie sieht aus wie ein gebratener Emu«, stellte er lachend fest.
Die anderen stimmten in sein Gelächter ein und spotteten, an der Frau sei ja kaum was dran, so mager sei sie. Arabella blickte verwirrt von einem zum anderen. Machten diese Wilden sich etwa über sie lustig?
»Was tun wir mit ihr?«, wandte sich einer an Djalu. »Hier draußen wird sie bald sterben.«
»Wo sie wohl herkommt?«, wunderte sich ein anderer. Jetzt gesellten sich auch zwei Frauen und ein Kind zu der Gruppe. Arabella konnte sie nicht sehen, weil sie ihnen den Rücken zukehrte.
»Vermutlich aus Marree«, antwortete Djalu. »Möchte bloß wissen, was sie hier verloren hat, so weit weg von der Stadt.« Ob man sie davongejagt hatte, weil sie wirr im Kopf war? Oder war sie einfach losgegangen und hatte sich verlaufen?
Arabellas Gedanken überschlugen sich. Sie blickte verstohlen an sich hinunter. Ihr dünnes Nachthemd war zerrissen, weil sie immer wieder an dornigen Sträuchern hängen geblieben war. Unwillkürlich verschränkte sie die Arme über den Brüsten. Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Eingeborenen bloß einen winzigen Lendenschurz aus Tierhaut trugen. Verlegen senkte Arabella den Blick. In diesem Moment drehte einer der Aborigines sich um. Als Arabella sein nacktes Hinterteil sah, stieß sie erneut einen gellenden Schrei aus, wirbelte herum und wollte davonrennen, blieb aber wie angewurzelt stehen. Sie sah sich zwei Frauen gegenüber.
Im ersten Moment war sie erleichtert. Die Frauen würden bestimmt Mitleid mit ihr haben. Doch dann sah sie deren nackte Brüste und war von neuem schockiert. Sie wurde rot vor Verlegenheit. Um die Hüften hatten die Frauen eine Tierhaut geknotet. Eine trug ein kleines nacktes Kind auf dem Arm, einen Jungen, der die weiße Frau aus riesengroßen braunen Augen staunend musterte. Arabella wurden die Knie weich. Offenbar waren diese Fremden äußerst primitiv. Das verhieß nichts Gutes ...
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Bald darauf kam der Zug mit einem Ruck an einem Bahnsteig zum Stehen, der aus übereinandergeschichteten Eisenbahn- schwellen bestand, über denen sich ein Wellblechdach spannte. Auf einem Schild, das schief an einen Pfosten genagelt war, stand:
Marree - 84 Einwohner und eine Milliarde Fliegen
Clarice schüttelte den Kopf. Die Menschen hier im Outback hatten wirklich einen merkwürdigen Sinn für Humor.
Das Zischen der Lok verstummte, die Dampfwolke verflüchtigte sich und gab den Blick auf die Ortschaft frei. Obwohl sich den Fahrgästen über viele Meilen hinweg nichts Sehenswertes geboten hatte, hielt ihre Neugier sich in Grenzen. Die »Hauptstraße «, kaum mehr als ein staubiger Weg, wurde von dem zweistöckigen Sandsteingebäude des Great Northern Hotels, einem Postamt, einer Polizeiwache und drei aus Brettern und Wellblech erbauten Läden gesäumt. Durch den vom Wind aufgewirbelten roten Staub konnte man in der Ferne einige Häuser zwischen dürren Bäumen erkennen. Clarice sah, wie ein uniformierter Eisenbahnbeamter Postsäcke aus dem Zug wuchtete und neue Post entgegennahm. Dann fiel ihr Blick auf eine Gruppe von Aborigines und dunkelhäutigen Männern mit Turbanen, die sich dem Zug näherten.
»O Gott!« Clarice prallte erschrocken zurück. »Sieh dir bloß diese Bettler an, Bella! Da bekommt man es ja mit der Angst zu tun! Wir werden auf keinen Fall aussteigen, egal was dein Vater sagt.«
Als die Männer neugierig ins Innere des Abteils spähten, riss Clarice ein Bettlaken hoch und hielt es schützend vor ihre Tochter. »Zieh dir etwas über, Bella! Wer weiß, auf was für Gedanken diese Leute sonst kommen.«
Sie zog den Vorhang vors Fenster und warf einen furchtsamen Blick auf die Tür des Abteils. Ob sie vorsichtshalber abschließen sollte?
Die Luft im Abteil wurde unerträglich heiß und stickig.
»Ist das eine Hitze hier drin!«, stöhnte Arabella.
»Morgen sind wir in Alice Springs und können in unser Hotel «, tröstete Clarice sie. Auch sie träumte von einem kühlen Salon mit Ventilator und einem Drink mit viel Eis.
Arabella klappte einen chinesischen Papierfächer auf, den sie auf einer Reise gekauft hatte, und fächelte sich Luft zu. »Diese Hitze macht mich ganz fertig, Mummy«, klagte sie mit weinerlicher Stimme. »Ich hab Kopfschmerzen!«
»Sobald wir weiterfahren und ein bisschen frische Luft ins Abteil weht, wirst du dich besser fühlen.« Clarice schlug nach den Fliegen, die unter dem Vorhang hindurch ins Abteil krochen. »Übrigens, die Leute aus dem Nachbarabteil sind sehr nett. Dein Vater und ich werden nach dem Essen eine Partie Rommé mit ihnen spielen. Möchtest du nicht mitkommen, Bella?«
Arabella ließ sich in die Kissen fallen. »Nein, und essen will ich auch nichts. Ich hab Bauchweh.«
Das war nichts Neues. Arabella klagte oft über Bauchschmerzen und andere Beschwerden; deshalb war Clarice auch nicht allzu beunruhigt. Ihre Tochter neigte zur Hypochondrie und war immer schon eine schlechte Esserin gewesen, was auch der Grund für ihre eher knabenhafte Figur war.
»Das Bauchweh kommt von der Hitze, Bella«, sagte Clarice. »Wenigstens hat dein Husten sich gelegt. Wie du weißt, hofft dein Vater sehr, dass das trockene Klima dir guttut. Schließlich sind wir nur deinetwegen nach Australien gereist. Als Dr. Port- man sagte, deine Bronchitis werde sich in der feuchten, schlechten Luft Londons niemals bessern, hat dein Vater nicht gezögert, alles aufzugeben und hierherzukommen. Also tu mir den Gefallen, und reiß dich zusammen, ihm zuliebe.«
Edward Fitzherbert war ein erfolgreicher und in England sehr bekannter Theaterproduzent. Doch um seiner Tochter willen hatte er beschlossen, London für ein Jahr den Rücken zu kehren. Finanziell konnten sie es sich trotz der Weltwirtschaftskrise leisten, denn Clarice stammte aus einer wohlhabenden Adelsfamilie. Von Adelaide aus, wo sie seit ihrer Ankunft vier Wochen zuvor gewohnt hatten, waren sie zu einer dreimonatigen Reise durch den
australischen Kontinent aufgebrochen. Clarice wäre zwar lieber in Adelaide geblieben, wo es angenehm warm und die Luft sauber war und wo zahlreiche Geschäfte zum Einkaufsbummel luden, doch Edward hatte wie so oft die Abenteuerlust gepackt, und so waren sie ins glutheiße Innere Australiens aufgebrochen.
Arabella schnitt eine Grimasse. Ihre lebhaften blauen Augen wirkten fast unnatürlich groß. »Dieses ewige Schwitzen ist unerträglich «, jammerte sie.
»Ich weiß, mein Schatz.« Clarice tätschelte ihrer Tochter die Hand.
»Ich glaube, ich krieg Ausschlag.«
»Ausschlag? Wo denn?«
Arabella zeigte auf einen winzigen roten Punkt auf ihrem Oberschenkel. »Ach was, das ist bloß ein Pickel. Das ist nicht schlimm.« »Doch, ist es!«, beharrte sie. »Die Hitze ruiniert meine Haut!« Clarice hatte Mühe, nicht genervt die Augen zu verdrehen. Sie
liebte ihre einzige Tochter über alles, doch Arabellas Angewohnheit, an allem herumzumäkeln, stellte ihre Geduld manchmal auf eine harte Probe. Im Unterschied zu Arabella war Clarice ein anpassungsfähiger Mensch, was bei einem Ehemann wie Edward, mit dem Clarice vor der Geburt ihrer Tochter ganz Afrika bereist hatte, nur von Vorteil war. Dies war seit neunzehn Jahren die erste lange Reise, die sie unternahm, und wenngleich sie über eine robuste Gesundheit verfügte, musste sie sich eingestehen, dass sie die Annehmlichkeiten ihres Zuhauses ebenso vermisste wie die Gesellschaft ihrer Freunde.
Clarice wusste natürlich, dass sie an Arabellas Verhalten nicht ganz schuldlos war. Sie hatte ihre Tochter als kleines Mädchen viel zu sehr behütet und verhätschelt. Und seit Arabella immer wieder an Bronchitis erkrankte, zeigte Clarice sich ihr gegenüber viel zu nachsichtig. Sie hoffte, die Reise werde Arabella helfen, erwachsener zu werden, damit sie lernte, auf eigenen Füßen zu stehen, doch bisher deutete nichts darauf hin.
»Du wirst dich schon noch an die Hitze gewöhnen.« Clarice wusste vom Zugpersonal, dass es in der Wüstenstadt Alice Springs kaum Geschäfte und kein einziges Theater gab; deshalb hoffte sie, sie würden nicht allzu lange dort bleiben, verschwieg es aber wohlweislich. Arabella war die Reise jetzt schon leid.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und Clarice schob die Vorhänge zurück, damit Luft ins Abteil wehte. »So, ich werde jetzt in den Salonwagen gehen«, sagte sie dann.
»Kannst du nicht hierbleiben, Mummy?«, fragte Arabella kläglich. »Wer soll sich denn um mich kümmern?« »Dir fehlt doch nichts, Schatz. Komm später nach, wenn du Lust hast. Die Harris sind sehr nette Leute.« »Ist mir egal. Ich will sie nicht kennen lernen. Außerdem will ich mich bei der Hitze nicht wieder anziehen«, murrte Arabella.
»Wie du möchtest«, erwiderte Clarice geduldig. »Ich werde dir ein paar belegte Brote bringen.« Als der Zug aus der Stadt rollte, fiel ihr Blick auf einen großen Pferch auf der anderen Seite der Bahngleise, in dem sich eine Kamelherde mit mehreren Jungtieren befand. In einem Hain aus Dattelpalmen waren merkwürdige Gebäude um eine Moschee gruppiert. Anscheinend lebten hier die Männer mit Turbanen, die sie vorhin gesehen hatte. Ein Glück, dass ihr Mann keinen Rundgang durch den Ort vorgeschlagen hatte.
»Lass nur«, schmollte Arabella. »Ich hab noch ein halbes Sandwich von heute Mittag. Das Brot ist zwar trocken und der Belag ekelhaft, aber im Speisewagen gibt's sicher auch nichts Besseres, da verzichte ich lieber.«
»Wie du willst. Dann ruh dich aus, mein Schatz. Morgen werden wir in aller Frühe in Alice Springs eintreffen, hat der Zugführer gesagt.« Clarice küsste ihre Tochter auf die bleiche Wange und eilte hinaus. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Arabella allein ließ, doch sie spielte für ihr Leben gern Rommé. Außerdem würde es ihr guttun, endlich einmal etwas anderes zu hören als das Gejammer ihrer Tochter.
Als die Tür sich hinter ihrer Mutter geschlossen hatte, legte Arabella sich hin und suchte die endlose Weite des blauen Himmels nach einer Wolke ab. Müde von der Hitze und dem monotonen Rattern des Zuges, nickte sie nach kurzer Zeit ein.
Arabella fuhr aus dem Schlaf, als der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam. Sie setzte sich auf und blickte aus dem Fenster, doch es gab nur die schier endlose Wüste zu sehen, die in der unbarmherzigen Hitze lag. Arabella schob den Vorhang der Abteiltür zurück und spähte durch das Fenster auf der anderen Seite des Waggons, aber auch hier bot sich dem Auge nichts als Sand und Gänsefußsträucher. Anscheinend waren sie doch noch nicht am Ziel der Reise, wie Arabella insgeheim gehofft hatte. Als niemand kam, um ihr zu sagen, was es mit dem Halt auf sich hatte, streckte sie den Kopf neugierig zum Fenster hinaus. Im Reisezugwagen weiter vorn hatte sich ein Mann mittleren Alters ebenfalls aus dem Fenster gebeugt. Arabella hörte, wie er zu jemandem im Innern sagte: »Da liegt ein totes Tier auf den Gleisen. Es muss fortgeschafft werden. Und der Wind hat Sand auf die Schienen geweht.«
Das Tier, ein großes Kängurumännchen, das offenbar im Kampf mit einem anderen Männchen tödliche Verletzungen davongetragen hatte, wurde von den Schienen gezerrt. Doch es würde sehr viel länger dauern, den Sand von den Gleisen zu schaufeln.
Die Zeit verstrich unendlich langsam, und Arabella wurde unruhig. Die Sonne sank tiefer, die Schatten wurden länger. Wenigstens war es nicht mehr so glühend heiß. Als Arabella den Blick träge über die Landschaft schweifen ließ, fiel ihr eine ungewöhnliche Blume nur wenige Meter vom Zug entfernt auf. Die Blüte war leuchtend rot und in der Mitte tiefschwarz. Arabella liebte Blumen, und eine wie diese hatte sie nie zuvor gesehen. Inmitten
der dürren Gänsefußsträucher wirkte sie wie ein kostbares Juwel. Arabella überlegte, ob sie aussteigen und die exotische Blume pflücken sollte, verwarf den Gedanken aber. Es war zu gefährlich; schließlich konnte der Zug jeden Moment weiterfahren.
Fünfzehn lange Minuten vergingen. Allmählich senkte sich die Dämmerung herab. Noch immer zog die wunderschöne Blume Arabellas Blick wie magisch auf sich. Schließlich stand sie auf und spähte in den Korridor hinaus. Niemand war zu sehen. Sie eilte die paar Schritte bis zur Waggontür und öffnete sie. Bis zu der Blume waren es höchstens vier Meter.
Die habe ich schnell gepflückt, sagte sich Arabella. In fünf Sekunden bin ich wieder im Zug. Und falls er doch vorher anfährt, kann ich immer noch aufspringen. Da sie Pantoffeln trug, würden ihr weder die Steine im roten Wüstensand noch die kleinen Dornensträucher etwas anhaben können. Eine Hand auf dem Geländer, trat sie auf die oberste Holzstufe des Einstiegs. Als sie den Fuß auf die nächste Stufe setzen wollte, verfing sie sich in ihrem langen Nachthemd, verlor das Gleichgewicht, musste den Handlauf loslassen, um sich nicht den Arm zu verdrehen, und landete unsanft im Sand neben der Bahnstrecke. Instinktiv stützte sie sich mit einer Hand ab und fasste dabei in dorniges Gestrüpp.
»Autsch!« Ein heftiger Schmerz fuhr Arabella durch den Fußknöchel und die Hand, der ihr die Tränen in die Augen trieb. »Verflixt!«
Plötzlich stieß die Lokomotive fauchend Dampf aus, und der Zug fuhr ruckend an.
»O nein!« In Panik versuchte Arabella aufzustehen, doch der Knöchel, mit dem sie umgeknickt war, gab nach, und ihre Handfläche pochte vor Schmerz. »Halt! O Gott ... halt!«, schrie sie verzweifelt. Trotz der Schmerzen rappelte sie sich hoch und hinkte zum Zug, doch der Einstieg mit dem Handlauf war bereits zu weit weg, und es gab nichts, woran sie sich hätte festhalten können. Der Zug gewann an Fahrt, und Arabella musste hilflos mit ansehen, wie die letzten Waggons an ihr vorbeirumpelten. Da es sich um Güterwaggons handelte, gab es niemanden, der sie bemerkte oder den sie hätte auf sich aufmerksam machen können. Schlimmer noch - niemand wusste, dass sie den Zug verlassen hatte.
»Mummy! Daddy!«, rief sie entsetzt und hob die Arme. »Wartet ...!«
Arabella ließ die Arme langsam sinken. Sie stand wie versteinert da und starrte fassungslos dem Zug nach, der in der Unendlichkeit der Landschaft verschwand. Als ihr klar wurde, dass man sie mutterseelenallein in dieser lebensfeindlichen Ödnis zurückgelassen hatte, ergriff sie namenloses Entsetzen, und sie brach in Tränen aus.
So schnell würde niemand nach ihr suchen. Ihre Eltern saßen ahnungslos beim Kartenspielen. Arabella wusste, dass sie darüber oft die Zeit vergaßen und manchmal die halbe Nacht spielten. Sie würden zu Bett gehen und nicht bemerken, dass ihre Tochter verschwunden war; es würde ihnen frühestens am nächsten Morgen auffallen, wenn sie hinter den Vorhang sahen und realisierten, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Arabella stand verlassen in der Wüste, und kein Mensch wusste, wo sie war. Der Gedanke war so unfassbar, dass sie einen verzweifelten Schrei ausstieß. Ihre Stimme verlor sich in der unendlichen Weite ringsum.
Als sie den Zug vollends aus dem Blick verloren hatte, ließ sie sich in den Sand fallen, legte den Kopf auf die Knie und schluchzte. Auf einmal krabbelte etwas an ihrem Bein entlang. Kreischend vor Entsetzen sprang sie auf und stampfte mit dem Fuß in den Sand. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Knöchel und trieb ihr von neuem Tränen in die Augen. Hastig riss sie den Saum ihres Nachthemds hoch. Ein großes Insekt kroch über die Innenseite ihres Schenkels. Schaudernd vor Abscheu schlug Arabella es weg. Dann schleppte sie sich zu den Gleisen und humpelte in die Richtung, die der Zug genommen hatte.
Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Ich könnte nach Alice Springs laufen, dachte sie. Ich muss nur den Gleisen folgen, dann verirre ich mich nicht. Dann aber fiel ihr ein, dass ihre Mutter gesagt hatte, sie würden erst am nächsten Morgen in Alice Springs eintreffen. Arabella machte sich nichts vor. Eine solche Strecke würde sie niemals zu Fuß schaffen, zumal ihr schmerzender Knöchel jetzt schon geschwollen war.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, fielen die Temperaturen dramatisch. Arabella zitterte vor Kälte in ihrem dünnen Nachthemd. Hinzu kam die Angst in der undurchdringlichen Finsternis, die sich über das Land gesenkt hatte. Es war eine solch tiefe Dunkelheit, wie Arabella sie nie zuvor erlebt hatte. Sie konnte die Schwellen nicht mehr sehen und stieß sich ständig die Zehen an; ihr verstauchter Knöchel schmerzte höllisch. Schließlich verließ sie die Gleise und stolperte neben der Bahnstrecke durch den Sand.
Erst als der Mond aufging und die Sterne am tiefschwarzen Himmel funkelten, konnte Arabella etwas erkennen, doch Bäume oder Felsen, in deren Schutz sie die Nacht verbringen könnte, waren nirgends auszumachen. Von Zeit zu Zeit huschte ein Schatten vorüber, riesige Insekten und kleine nagetierähnliche Geschöpfe, und jedes Mal schrie Arabella erschrocken auf.
Bald klapperte sie mit den Zähnen vor Kälte, und sie konnte ihre Füße kaum noch spüren. Ihre Hoffnung, dass der Zug noch in dieser Nacht zurückkehren würde, schwand mit jeder Minute. Es kam ihr vor, als irrte sie bereits seit Stunden durch die Einöde. Immer wieder sagte sie sich, es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Eltern bemerkten, dass sie verschwunden war, und den Lokführer zur Umkehr drängten. Arabella musste sich an diese Hoffnung klammern, wollte sie nicht den Verstand verlieren. Doch als die Minuten sich zu Stunden dehnten, verflog ihre Zuversicht. Mit der Erschöpfung wuchs ihre Niedergeschlagenheit. Sie war inzwischen völlig durchgefroren und konnte sich nur noch mühsam auf den Beinen halten. Immer wieder stolperte sie und fiel auf die Knie, die bald zerschrammt und blutig waren. Irgendwann konnte sie vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten. Sie kam schwankend wie eine Betrunkene von der Bahnstrecke ab. Arabella war mit ihrer Kraft am Ende. Als sie das nächste Mal strauchelte und fiel, blieb sie völlig geschwächt im Sand liegen. Vergeblich kämpfte sie gegen die Müdigkeit an, und schließlich fielen ihr die Augen zu.
Als die Dunkelheit allmählich dem Tageslicht wich, lag Arabella immer noch im ohnmachtsähnlichen Schlaf der Erschöpfung da. Irgendetwas kitzelte sie, und langsam schlug sie die Augen auf. Sie schrie entsetzt: Die größte Spinne, die Arabella jemals gesehen hatte, krabbelte an ihrem Bein entlang. Vor Abscheu und voller Panik schüttelte sie ihr Bein. Die Spinne fiel herunter und flüchtete unter ein Gestrüpp. Als Arabella sich ein wenig beruhigt hatte, schaute sie sich um. Verzweiflung überkam sie, als sie nirgends die Bahnstrecke entdecken konnte. Alles sah fremd
aus. Das Land war flach und endlos weit; auf dem roten Sand kämpften dorniges Gestrüpp und unscheinbare Gänsefußsträucher ums Überleben. Arabella sah keine Landmarken, die ihr zur Orientierung hätten dienen können, weder Felsformationen noch Hügel oder Baumgruppen. Langsam stand sie auf und drehte sich im Kreis. Ihr Blick fiel auf einen einsamen Baum in der Ferne, dem einzigen weit und breit. Sie beschloss, dorthin zu gehen, in der Hoffnung, ein wenig Wasser oder vielleicht sogar essbare Früchte zu finden. Ohne Wasser hätte der Baum in dieser kargen Vegetation ja kaum überleben können.
Arabellas Knöchel war zwar noch geschwollen, tat aber nicht mehr ganz so weh. Dennoch kam sie nur langsam voran, denn ihre Glieder fühlten sich taub und steif an. Sie war durchgefroren und dankbar für die Wärme, die die aufgehende Sonne spendete. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so gefroren zu haben - und das nach der Gluthitze des vergangenen Tages. Die Temperaturschwankungen in diesem Wüstenklima waren schier unvorstellbar. Und die Nacht war nicht nur bitterkalt gewesen, sondern auch feucht. Arabella hustete. Ihr Mund war so ausgetrocknet wie die Landschaft ringsum. In ihrer Not leckte sie den Tau von den Blättern der Sträucher, an denen sie vorbeikam.
Ein merkwürdiges Geräusch ließ sie herumfahren. Fünf Emus näherten sich. Sie gaben einen bedrohlichen Trommellaut von sich. Die Schnäbel der Laufvögel waren messerscharf und ihre muskulösen Beine sehr kräftig. Die langen Krallen können einem Menschen bestimmt schreckliche Wunden schlagen, dachte Arabella. Die Tiere musterten die junge Frau aus ihren dunklen, neugierigen Augen, und sie bekam Angst. Schreiend rannte sie los, so schnell sie konnte. Sie stürzte, rappelte sich hoch, hinkte weiter, fuchtelte mit den Armen und kreischte hysterisch. Hätte sie sich umgedreht, hätte sie gesehen, dass ihr Geschrei die Emus längst vertrieben hatte.
Endlich hatte sie den Baum erreicht, ging hinter dem Stamm in Deckung und spähte vorsichtig, mit wild klopfendem Herzen, dahinter hervor. Verdutzt stellte Arabella fest, dass die Emus in weiter Ferne unbekümmert über den Sand staksten. Einen Augenblick kam sie sich schrecklich dumm vor, weil sie sich vor den Tieren gefürchtet hatte. Beinahe wünschte sie sich, die Emus wären dageblieben, damit sie nicht so allein wäre. Ihr Magen knurrte vor Hunger, und sie hob den Blick und suchte die Äste nach Früchten oder Beeren ab, doch außer einem verlassenen Vogelnest war nichts zu entdecken. Auch von Wasser gab es weit und breit keine Spur. Grenzenlose Verzweiflung überkam Arabella. Sie hockte sich hin. »Bitte komm und hol mich, Mummy«, schluchzte sie. »Lass mich nicht hier draußen sterben!«
Gegen sechs Uhr an diesem Morgen kam der Afghan-Express mit einem so heftigen Ruck zum Stehen, dass die Passagiere unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden. Edward Fitzherbert warf einen Blick aus dem Abteilfenster und sah, dass der Zug auf freier Strecke hielt. Lag schon wieder ein Tierkadaver auf den Gleisen? Edward wartete ein paar Minuten und lauschte. Dann stand er auf, um nachzusehen, was draußen los war. Clarice hatte sich noch einmal auf die andere Seite gedreht. Edward spähte hinter den Vorhang zwischen den Abteilbetten und stellte verwundert fest, dass Arabellas Bett leer war. Seltsam. Sie hatte das Abteil während der gesamten Zugfahrt nicht verlassen. Dann aber sagte er sich, dass sie vermutlich auf der Toilette war, die zum Abteil gehörte.
Als Edward sich seinen Morgenrock übergeworfen hatte und seine Pantoffeln suchte, klopfte es an der Abteiltür. Ein Schlafwagenschaffner stand draußen.
»Ich muss Sie bitten, sich anzuziehen, Sir. Alle Fahrgäste müssen den Zug verlassen. Nehmen Sie nur das Nötigste mit.«
»Was ist denn passiert?«, wollte Edward wissen.
»Der Zug kann nicht weiter. Termiten haben die Schwellen zerfressen. Auf welcher Länge, wissen wir noch nicht, aber eine Weiterfahrt wäre in jedem Fall zu riskant. Wir müssen zu Fuß weiter. Ihr Gepäck wird später abgeholt.«
»Zu Fuß? Wie weit ist es denn noch?«
»Ungefähr fünf Meilen, Sir. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss die anderen Fahrgäste informieren.« Schon eilte er davon.
»Was ist los, Schatz?«, murmelte Clarice schlaftrunken, als Edward die Tür geschlossen hatte.
»Der Zug kann nicht weiter, weil die Schwellen von Termiten zerfressen wurden. Wir müssen unseren Weg zu Fuß fortsetzen, hat der Schaffner gesagt.« Während er sprach, klopfte er leise an die Toilettentür, aber niemand antwortete.
»Seltsam«, sagte er. »Ich dachte, Arabella wäre auf der Toilette, aber sie antwortet nicht.« »Arabella? Arabella!«, rief Clarice. Keine Antwort. »Schau bitte nach, Schatz«, bat sie ihren Mann. Edward öffnete die Toilettentür. Verwundert drehte er sich zu seiner Frau um. »Leer.«
Clarice schwang die Beine aus dem Bett. »Ich ziehe mich an und packe unsere Sachen. Du siehst unterdessen nach, wo Arabella steckt.«
Kurze Zeit später kehrte Edward ins Abteil zurück. Seine Miene war besorgt.
»Hast du sie gefunden?«, fragte Clarice.
Er schüttelte den Kopf. »Niemand hat sie gesehen.«
Clarice sah ihn beunruhigt an. »Das gibt's doch nicht, sie muss doch irgendwo sein! Hast du die Harris von nebenan schon gefragt?«
»Ja, aber die haben sie auch nicht gesehen. Vielleicht hat sie sich jemandem in einem der anderen Waggons angeschlossen.« Edward bemühte sich, seine aufsteigende Panik zu unterdrücken. Arabella konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben.
Mit dem Nötigsten bepackt, eilten Edward und Clarice den Korridor entlang. Zugbegleiter halfen den Fahrgästen beim Aussteigen. Einige Passagiere gingen bereits an der Bahnstrecke entlang in Richtung Stadt. Clarice stieg aus, während Edward oben in der Tür stehen blieb und den Blick über die Fahrgäste schweifen ließ. Doch sosehr er sich den Hals verrenkte, er konnte Arabella nirgends entdecken.
Edward stieg die Stufen hinunter. Er hörte, wie Clarice, die schon vorausgegangen war, immer wieder den Namen ihrer Tochter rief, und eilte ihr nach.
»Ich kann sie nirgends finden, Edward!« Die Panik in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Das Zugpersonal trieb die Fahrgäste zur Eile an. Bald würde es unerträglich heiß werden.
»Bitte gehen Sie weiter«, drängte der Zugführer.
»Ohne unsere Tochter gehen wir nirgendwohin!«, fuhr Edward ihn an. »Sie muss noch im Zug sein. Wir gehen nicht von hier weg, bis wir sie gefunden haben!«
Eine halbe Stunde später waren auch die letzten Passagiere ausgestiegen, doch Arabella war immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Clarice' Furcht schlug in Hysterie um. Edward war erbost, weil das Zugpersonal so wenig Anteilnahme zeigte.
»Jedes Abteil muss durchsucht werden!«, verlangte er nachdrücklich.
»Beruhigen Sie sich, Sir«, sagte der Zugführer, »wir machen das schon. Wenn Ihre Tochter noch im Zug ist, werden wir sie finden.« Er vermutete, dass die Fitzherberts sich mit ihrer Tochter gestritten hatten, sodass sie sich aus Trotz jemand anderem angeschlossen hatte, ohne ihren Eltern ein Wort davon zu sagen. Andererseits hatte der Zug nur einundvierzig Fahrgäste gehabt, und auf keinen von denen, die sich zu Fuß auf den Weg nach Alice Springs gemacht hatten, traf Arabellas Beschreibung zu.
»Natürlich ist sie noch im Zug!«, ereiferte sich Edward, den so viel Gemütsruhe zur Raserei brachte. »Wo soll sie denn sonst sein?«
Zwanzig qualvolle Minuten später war der Zug bis in den letzten Winkel durchsucht worden, doch von Arabella fand sich keine Spur.
»Wo ist unsere Tochter dann?«, wollte Edward wissen, der in der Zwischenzeit noch einige Mitreisende befragt hatte. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Sir«, antwortete der Zugführer. »Was soll das heißen? Kommt es öfter vor, dass Ihnen unterwegs Fahrgäste abhanden kommen?«
»Natürlich nicht!«, rief der Zugführer gereizt.
Clarice sah ihren Mann bestürzt an. »Du denkst doch nicht etwa ... Arabella wird doch nicht ...?« Sie schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
Edward begriff nicht. »Was meinst du, Liebes?«
Clarice wandte sich dem Zugführer zu. »Könnte es sein, dass ... dass unsere Tochter aus dem Zug gefallen ist?«, fragte sie mit vor Angst schriller Stimme.
»Nun ja ... Ihr Wagen war der letzte, und falls Ihre Tochter die hintere Zugtür geöffnet hat, dann ... dann könnte es möglich sein«, erwiderte er stockend. Der Gedanke war ihm selbst auch schon gekommen, doch er hatte nicht gewagt, es laut auszusprechen, denn es käme für das Mädchen einem Todesurteil gleich. Noch nie war ein Passagier aus dem fahrenden Zug gefallen. Die Vorstellung war entsetzlich, aber welche Erklärung konnte es sonst geben?
»Mein Gott.« Alle Farbe wich aus Clarice'Gesicht. Sie schwankte, und Edward konnte sie gerade noch auffangen. Er half ihr, sich auf eines ihrer Gepäckstücke zu setzen. Sein Blick wanderte die Bahnstrecke entlang, die sich am Horizont in der Wüste verlor, und schaudernd stellte er sich vor, wie Arabella verletzt und hilflos irgendwo in der glutheißen Weite lag und auf den Tod wartete.
»Ich muss zurück und meine Tochter suchen«, sagte er entschlossen. Jetzt war es der Zugführer, der blass wurde. »Das kann ich nicht zulassen, Sir.« »Und was wollen Sie dagegen tun? Mich aufhalten?«, stieß Edward zornig hervor.
»Sir, Ihrer Tochter ist nicht geholfen, wenn Sie jetzt auf eigene Faust losgehen und vielleicht dabei umkommen. Sobald wir in Alice Springs sind, werden wir die Behörden alarmieren, damit sie eine sofortige Suche einleiten.«
Clarice klammerte sich an Edwards Arm. »Er hat Recht, Edward. Der Zug hat heute Nacht einige hundert Meilen zurückgelegt. Du kannst diese Strecke nicht zu Fuß gehen!«
Die Worte seiner Frau trafen Edward wie ein Schlag in den Magen. Die Entfernungen in diesem Land waren gewaltig. Wie sollten sie Arabella in einem Gebiet von so riesigen Ausmaßen finden?
Der Zugführer rief zwei Angestellte herbei und befahl ihnen, das Gepäck der Fitzherberts zu tragen. »Wo werden Sie in Alice Springs wohnen, Sir?«
»Im Central Hotel in der Todd Street«, antwortete Edward benommen.
»Wir werden Ihre Sachen dorthin bringen, Sir. Kümmern Sie sich um Ihre Frau. Sie braucht Sie jetzt. Sobald wir in Alice Springs sind, werde ich die Polizei informieren, damit die Suche unverzüglich eingeleitet wird. Nur so hat Ihre Tochter eine Chance, Sir.«
Arabella schlug die Augen auf und stieß einen gellenden Schrei des Entsetzens aus. Unzählige Ameisen krabbelten über ihre Beine. Sie sprang auf, stampfte mit den Füßen und streifte mit beiden Händen hektisch die wimmelnden Tiere von ihrer Haut,
die von den schmerzhaften Bissen brannte. Nie wieder würde sie sich in dieser elenden Wüste auf den Boden legen! Arabella rieb sich die Beine mit Sand ab und humpelte aus dem kärglichen Schatten des Baumes in die gleißende Sonne. Als sie an sich hinunterschaute, erschrak sie heftig. Ihre Haut war übersät mit roten, juckenden Quaddeln. Vor Schmerz und Verzweiflung brach sie in Tränen aus. Sie sehnte sich nach der Geborgenheit ihres Elternhauses in London, nach menschlicher Gesellschaft, nach der Betriebsamkeit der Stadt. Ihre elende Situation erschien ihr wie ein Albtraum. Sie begriff nicht, wie sie in eine solche Lage hatte geraten können.
Musste sie hier draußen sterben? Sie stellte sich vor, wie jemand eines Tages ihr Skelett entdeckte. Oder es würde nie gefunden, und ihre Eltern würden niemals erfahren, was geschehen war ...
Der Gedanke war ihr unerträglich.
Ringsum herrschte Totenstille. War der Zug vorbeigefahren, als sie geschlafen hatte, und sie hatte ihn nicht gehört? Arabella fragte sich, wie weit sie sich von der Bahnstrecke entfernt hatte. Suchend ließ sie den Blick über die flirrende Landschaft schweifen. Die Sonne stach unbarmherzig, und sie spürte, wie ihre Arme schmerzhaft brannten, doch unter den Baum, wo der Ameisenhaufen war und anderes Getier herumkroch, würde sie sich auf keinen Fall mehr setzen. In ihrem Kopf drehte sich alles, und der quälende Durst war kaum zu ertragen. Sie dachte an das trockene Sandwich, das sie im Zug verschmäht hatte. Jetzt hätte sie alles dafür gegeben. Und dazu ein großes Glas Wasser! Für ein Glas Wasser hätte sie dem Teufel ihre Seele verkauft.
Am frühen Nachmittag brach Arabella entkräftet zusammen. Trugbilder von vorbeifahrenden Zügen hatten ihren vor Hitze und Erschöpfung wirren Verstand genarrt. Sie verlor jeden Orientierungssinn und irrte im Kreis umher. Die Ameisenbisse an ihren Beinen juckten und brannten, und sie hatte rasende Kopfschmerzen.
Als sie in den glühend heißen Sand fiel, wusste sie, dass sie nie mehr aufstehen würde. Sie konnte nicht einmal mehr weinen. Salzige Schweißtropfen liefen ihr in die Augen, und sie senkte die Lider. Ihre Lippen waren geschwollen und rissig. Ihre Zunge fühlte sich wie ein Stück Leder an. War dies das Ende?
Plötzlich vernahm sie in der drückenden Stille, die nur vom Summen der Fliegen unterbrochen wurde, das Knacken eines Zweiges. Entsetzt dachte sie an die Wildhunde, die sie vom Zug aus gesehen hatten. Pirschten die Hunde sich heran, weil sie Beute witterten?
»Noch ... bin ich nicht ... tot«, lallte sie wirr. Sie öffnete ein Auge und blinzelte ins grelle Sonnenlicht. Ein dunkler Schatten beugte sich über sie. Erschrocken hob Arabella die Hand und schirmte ihre Augen ab, um besser sehen zu können. Sie blickte entsetzt in ein derbes, dunkelhäutiges Männergesicht mit breiter, flacher Nase und unergründlichen schwarzen Augen. Der Fremde hatte krauses Haar und eine flächige Stirn, und auf die Backenknochen waren ockerfarbene Zeichen gemalt. Arabella starrte den Mann wie versteinert an. Sie hörte Stimmen, verstand aber nicht, was sie sagten.
Einen Moment lang glaubte sie, ihr Verstand gaukle ihr etwas vor. Dann spürte sie, wie sie angestupst wurde - mit einem Stock, wie sie vermutete. Der Mann, dem der Stock gehörte, rief ihr in barschem Tonfall etwas zu. Er wirkte zornig. Angst erfasste Arabella. Mühsam richtete sie sich auf und sah, dass sie von Eingeborenen umringt war, die sie feindselig musterten. Verglichen mit diesen Fremden hatten sogar die Aborigines in Marree einen geradezu freundlichen Eindruck gemacht. Arabella schrie gellend. Die Ureinwohner fuhren erschrocken zurück und redeten dann in einer eigentümlich schnellen, völlig unverständlichen Sprache aufeinander ein. Arabella konnte nicht ahnen, dass sie sich darüber verständigten, offenbar eine Verrückte vor sich zu haben.
Mühsam rappelte Arabella sich hoch. Sie war überzeugt, dass die nächsten Augenblicke über Leben und Tod entscheiden würden. Obwohl sie Todesängste ausstand, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, sondern den Aborigines unerschrocken gegenüberzutreten. »Wagt es ja nicht ... mich anzurühren!«, herrschte Arabella sie an und hoffte, dass die Fremden das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkten. »Mein ... mein Vater wird euch erschießen lassen, wenn ihr mir ... auch nur ein Haar krümmt!«
Die Männer vom Stamm der Arrernte schauten sich verblüfft an. »Eine Verrückte«, sagte Djalu, der Stammesälteste, in seinem Dialekt. Neugierig musterte er das sonnenverbrannte Gesicht der weißen Frau. »Sie sieht aus wie ein gebratener Emu«, stellte er lachend fest.
Die anderen stimmten in sein Gelächter ein und spotteten, an der Frau sei ja kaum was dran, so mager sei sie. Arabella blickte verwirrt von einem zum anderen. Machten diese Wilden sich etwa über sie lustig?
»Was tun wir mit ihr?«, wandte sich einer an Djalu. »Hier draußen wird sie bald sterben.«
»Wo sie wohl herkommt?«, wunderte sich ein anderer. Jetzt gesellten sich auch zwei Frauen und ein Kind zu der Gruppe. Arabella konnte sie nicht sehen, weil sie ihnen den Rücken zukehrte.
»Vermutlich aus Marree«, antwortete Djalu. »Möchte bloß wissen, was sie hier verloren hat, so weit weg von der Stadt.« Ob man sie davongejagt hatte, weil sie wirr im Kopf war? Oder war sie einfach losgegangen und hatte sich verlaufen?
Arabellas Gedanken überschlugen sich. Sie blickte verstohlen an sich hinunter. Ihr dünnes Nachthemd war zerrissen, weil sie immer wieder an dornigen Sträuchern hängen geblieben war. Unwillkürlich verschränkte sie die Arme über den Brüsten. Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Eingeborenen bloß einen winzigen Lendenschurz aus Tierhaut trugen. Verlegen senkte Arabella den Blick. In diesem Moment drehte einer der Aborigines sich um. Als Arabella sein nacktes Hinterteil sah, stieß sie erneut einen gellenden Schrei aus, wirbelte herum und wollte davonrennen, blieb aber wie angewurzelt stehen. Sie sah sich zwei Frauen gegenüber.
Im ersten Moment war sie erleichtert. Die Frauen würden bestimmt Mitleid mit ihr haben. Doch dann sah sie deren nackte Brüste und war von neuem schockiert. Sie wurde rot vor Verlegenheit. Um die Hüften hatten die Frauen eine Tierhaut geknotet. Eine trug ein kleines nacktes Kind auf dem Arm, einen Jungen, der die weiße Frau aus riesengroßen braunen Augen staunend musterte. Arabella wurden die Knie weich. Offenbar waren diese Fremden äußerst primitiv. Das verhieß nichts Gutes ...
© 2007 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Elizabeth Haran
Elizabeth Haran wurde in Simbabwe geboren. Später zog ihre Familie nach England und wanderte von dort nach Australien aus. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem Küstenvorort von Adelaide in Südaustralien. Sie hat zwei erwachsene Söhne. Ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte sie mit Anfang dreißig, zuvor arbeitete sie als Model, besaß eine Gärtnerei und betreute lernbehinderte Kinder.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth Haran
- 1200 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386365630X
- ISBN-13: 9783863656300
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