Schiffbruch mit Tiger
Roman. Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2002 und dem Deutschen Bücherpreis, Kategorie Internationale Belletristik 2004 oman.
Millionen Leser auf der ganzen Welt sind begeistert von Yann Martells Bestseller - ausgezeichnet mit dem Booker Prize und dem Deutschen Bücherpreis.
Pi Patel, Sohn eines indischen Zoobesitzers und praktizierender Hindu, Christ...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schiffbruch mit Tiger “
Millionen Leser auf der ganzen Welt sind begeistert von Yann Martells Bestseller - ausgezeichnet mit dem Booker Prize und dem Deutschen Bücherpreis.
Pi Patel, Sohn eines indischen Zoobesitzers und praktizierender Hindu, Christ und Muslim, erleidet mit einer Hyäne, einem Orang-Utan, einem verletzten Zebra und einem 450 Pfund schweren bengalischen Tiger namens Richard Parker Schiffbruch. Bald hat der Tiger alle erledigt - alle, außer Pi. Allein treiben er und Richard Parker auf einem Rettungsboot im Ozean. Eine wundersame, abenteuerliche Reise beginnt.
"Schnell und rasant und voller Witz und Seele."
DIE WELT
Klappentext zu „Schiffbruch mit Tiger “
"Schiffbruch mit Tiger", das Buch, das alle Herzen im Sturm eroberte, der Weltbestseller - jetzt im Kino!Yann Martels Roman, der 2002 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, erzählt eine unerhört weise und komische Geschichte, die Millionen Leser auf der ganzen Welt fand: Pi Patel, der Sohn eines indischen Zoobesitzers und praktizierender Hinduist, Christ und Muslim erleidet mit einer Hyäne, einem Orang-Utan, einem verletzten Zebra und einem 450 Pfund schweren bengalischen Tiger namens Richard Parker Schiffbruch. Bald hat der Tiger alle erledigt - alle, außer Pi. Allein treiben sie auf einem Rettungsboot auf dem Ozean. Eine wundersame, abenteuerliche Odyssee beginnt.
Von Oscar-Preisträger Ang Lee in 3D verfilmt.
Lese-Probe zu „Schiffbruch mit Tiger “
Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel... mehr
Kapitel 1
Ich hatte so viel gelitten, ich war ein finsterer und trauriger Mensch geworden.
Wissenschaftliche Arbeit und der Trost der Religion brachten mich allmählich ins Leben zurück. Meinem Glauben, so abwegig er manch einem auch vorkommen mag, bin ich treu geblieben. Nach einem Jahr auf der High School ging ich an die Universität von Toronto und schrieb mich für einen Bachelor-Studiengang mit zwei Hauptfächern ein. Die beiden Fächer waren Religionswissenschaften und Zoologie. Im ersten widmete ich meinen Examensessay gewissen Aspekten der Kosmogonie Isaak Lurias, des großen Kabbalisten, der im 16. Jahrhundert in Safed tätig war. Als Abschlussarbeit in Zoologie schrieb ich eine Funktionsanalyse der Schilddrüse des Dreifingerfaultiers. Ich wählte das Faultier, weil es mit seinem Lebenswandel - ruhig, still, in sich gekehrt - meinem zerrütteten Ich ein wenig Trost bot.
Es gibt Zweifingerfaultiere und es gibt Dreifingerfaultiere, wobei das Unterscheidungsmerkmal die Vorderbeine sind, denn an den Hinterbeinen haben alle Faultiere drei Finger. Ich hatte das große Glück, dass ich einen Sommer lang das Dreifingerfaultier in den Dschungeln von Äquatorialbrasilien in situ studieren konnte. Es ist ein äußerst faszinierendes Geschöpf. Im Grunde ist die Trägheit sein einziger Wesenszug. Es schläft oder ruht im Durchschnitt zwanzig Stunden am Tag. Unser Team untersuchte die Schlafgewohnheiten von fünf wild lebenden Dreifingerfaultieren, indem wir ihnen am frühen Abend, wenn sie eingeschlafen waren, leuchtend rote, mit Wasser gefüllte Plastikschälchen auf die Köpfe stellten. Wir konnten sehen, dass sie am nächsten Morgen, wenn sich im Wasser schon die Insekten tummelten, noch immer an Ort und Stelle waren. Am regsten ist das Faultier bei Sonnenuntergang, wobei das Wort rege hier mit größtmöglicher Relativität zu verstehen ist. Das Tier bewegt sich in seiner charakteristischen hängenden Haltung mit einer Geschwindigkeit von etwa 400 Metern die Stunde den Ast eines Baumes entlang. Am Boden kriecht es, wenn es motiviert ist, mit einem Tempo von 250 Metern die Stunde zu seinem nächsten Baum, das heißt 440-mal langsamer als ein motivierter Gepard. Unmotiviert legt es vier bis fünf Meter die Stunde zurück.
Über die Außenwelt erfährt das Dreifingerfaultier nicht viel. Auf einer Skala von 2 bis 10, bei der die 2 für außerordentliche Dumpfheit und 10 für extreme Wachheit steht, stufte Beebe (1926) den Tast-, Geschmacks- und Gesichtssinn und das Gehör des Faultiers mit 2 ein, den Geruchssinn mit 3. Trifft man auf freier Wildbahn auf ein schlafendes Dreifingerfaultier, so genügt es in der Regel, es zwei- oder dreimal anzustoßen, um es zu wecken. Es wird sich dann schläfrig in jede erdenkliche Richtung umsehen, nur nicht in die, aus der der Stoß kam. Warum es sich umsieht, weiß man allerdings nicht, denn das Faultier sieht wie Mr Magoo alles nur durch einen Nebel. Was das Gehör angeht, ist ein Faultier nicht wirklich taub; es interessiert sich nur nicht für Geräusche. Beebe berichtet, dass er neben schlafenden oder fressenden Faultieren Gewehre abfeuerte und kaum eine Reaktion damit hervorrief. Und den etwas höher entwickelten Geruchssinn eines Faultiers sollte man auch nicht überschätzen. Es heißt, sie könnten abgestorbene Äste riechen und dann meiden, doch Bullock (1968)berichtet, dass Faultiere »häufig« zu Boden fallen, weil sie sich an abgestorbenen Ästen festhalten.
Man fragt sich, wie ein solches Tier überleben kann.
Es überlebt, weil es so langsam ist. Trägheit und Schläfrigkeit schützen es vor allen Gefahren, sie sorgen dafür, dass ein Jaguar oder Ozelot, dass Harpyien und Anakondas das Faultier überhaupt nicht wahrnehmen. Im Pelz des Faultiers gedeiht eine Algenart, die in der Trockenzeit braun und in der Regenzeit grün ist, und so fügt sich das Tier stets in das Moos und Blattwerk seiner Umgebung ein und wirkt wie ein Ameisen-oder Eichhörnchennest oder einfach nur wie ein Teil des Baumes.
Das Dreifingerfaultier lebt ein friedliches Vegetarierleben in vollkommenem Einklang mit seiner Umgebung. »Stets hat es ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen«, schreibt Tirler (1966). Es ist ein Lächeln, das ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich bin keiner, der leichtfertig menschliche Charakterzüge oder Gefühlsregungen auf Tiere projiziert, doch viele Male, wenn ich in jenem Monat in Brasilien ein ruhendes Faultier betrachtete, hatte ich den Eindruck, dass ich in der Gegenwart eines an den Füßen hängenden, tief in seine Meditation versenkten Jogis war oder eines ganz dem Gebet ergebenen Eremiten, in der Gegenwart von Wesen großer Weisheit, deren inneres Leben jenseits all meiner wissenschaftlichen Forschungen lag.
Manchmal gerieten mir meine beiden Studienfächer durcheinander. Manche meiner Kommilitonen bei den Religionswissenschaftlern - wirrköpfige Agnostiker, die nicht wussten, welche Seite oben war, allesamt der Vernunft ergeben, jenem Katzengold der Intelligenz - erinnerten mich an das Dreifingerfaultier; und das Dreifingerfaultier, ein so perfektes Beispiel für das Wunder des Lebens, erinnerte mich an Gott.
Mit meinen Naturkundekollegen war das Leben leicht. Naturwissenschaftler sind ein freundliches, gottloses, hart arbeitendes, biertrinkendes Volk, dessen Verstand mit Sex, Schach und Baseball beschäftigt ist, wenn er einmal nicht an Wissenschaft denkt.
Ich war, wenn ich mich selbst loben darf, ein ausgezeichneter Student. Vier Jahre hintereinander war ich der Beste am St. Michael's College. Ich errang jede Auszeichnung, die das Zoologische Seminar zu vergeben hatte. Und wenn ich bei den Religionswissenschaftlern keins bekam, dann lag das schlicht und einfach daran, dass dort keine vergeben wurden (jeder weiß, dass der Lohn für solche Studien nicht in irdischer Hand liegt). Ich hätte die Medaille des Generalgouverneurs bekommen, die höchste Ehre, die von der Universität Toronto an Undergraduates vergeben wird - nicht wenige angesehene Kanadier haben sie erhalten -, wäre da nicht ein rotgesichtiger Rindfleischesser mit einem Hals wie ein Baumstamm und einer unerträglich guten Laune gewesen.
Noch heute tut es ein wenig weh, dass ich übergangen wurde. Wenn man viel im Leben gelitten hat, dann ist jeder neue Schmerz entsetzlich und belanglos zugleich. Mein Leben ist wie ein Vanitasstillleben eines alten Niederländers: Ich habe stets einen grinsenden Totenschädel zur Hand, der mich an die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens gemahnt. Ich verspotte diesen Schädel. Ich sehe ihn an und sage: »Da bist du an den Falschen geraten. Du glaubst vielleicht nicht an das Leben, aber ich glaube nicht an den Tod. Mach, dass du weiterkommst.« Der Schädel lacht gehässig und rückt noch ein Stückchen näher, aber das wundert mich nicht. Es ist ja nicht die biologische Notwendigkeit, die den Tod immer die Nähe des Lebens suchen lässt - es ist der Neid. Das Leben ist so schön, dass der Tod sich in es verliebt hat, ein eifersüchtiger, gieriger Liebhaber, der an sich rafft, was er zu fassen bekommt. Aber das Leben macht mühelos den Sprung über das Vergessen, verliert ein Eckchen oder zwei, nichts Wichtiges, und Düsternis ist nichts als der flüchtige Schatten einer Wolke. Der Rotgesichtige bekam auch das Rhodes-Stipendium. Ich trage es ihm nicht nach und ich hoffe, dass er in Oxford glücklich und weise geworden ist.
Sollte Lakshmi, die Göttin des Reichtums, mir jemals wohlgesonnen sein, dann ist Oxford die fünfte auf der Liste der Städte, die ich noch besuchen möchte, bevor meine Tage vorüber sind, nach Mekka, Varanasi, Jerusalem und Paris.
Zu meinem Arbeitsleben weiß ich nichts zu sagen, nur dass eine Krawatte eine Schlinge ist, und auch wenn man sie falsch herum um den Hals hat, kann sie einen Mann erwürgen, wenn er nicht Acht gibt.
Kanada liebe ich. Mir fehlen die indische Hitze, das Essen, die Eidechsen an den Wänden, die Musicals im Kino, die Kühe, die durch die Straßen ziehen, das Krächzen der Krähen, sogar die Diskussionen über Cricket - aber Kanada liebe ich. Es ist ein wunderbares Land, wenn auch nach allen vernünftigen Maßstäben viel zu kalt, ein Land bewohnt von aufrechten, klugen Menschen, die alle dringend einen besseren Friseur bräuchten. Und in Pondicherry habe ich nichts, wohin ich zurückkehren könnte.
Richard Parker ist bei mir geblieben. Ich habe ihn nie vergessen. Darf ich sagen, dass ich ihn vermisse? Ich vermisse ihn. In meinen Träumen erscheint er mir noch. Eigentlich sind es Alpträume, aber Alpträume voller Liebe. So etwas gibt es, so seltsam ist das menschliche Herz. Bis heute verstehe ich nicht, wie er mich einfach so verlassen konnte, ohne einen Abschiedsgruß, ja ohne einen Blick zurück. Das ist ein Schmerz wie ein Axthieb nach meinem Herzen.
Die Ärzte und Schwestern im Hospital in Mexiko waren unendlich freundlich zu mir. Auch die anderen Patienten. Krebskranke, Unfallopfer, sobald sie meine Geschichte hörten, kamen auf Krücken und in Rollstühlen herüber, sie wollten mich sehen, mit ihren ganzen Familien, obwohl kein Einziger von ihnen Englisch sprach, und ich sprach kein Spanisch. Sie lächelten mich an, schüttelten mir die Hand, streichelten mir den Kopf, ließen Essen und Kleider als Geschenke auf meinem Bett zurück. Sie rührten mich so sehr, ich lachte und weinte in einem fort, ich konnte nicht anders.
Schon binnen ein paar Tagen konnte ich stehen, sogar ein, zwei Schritte gehen, trotz Schwindel und Übelkeit und meiner großen Erschöpfung. Bluttests ergaben, dass ich anämisch war, mit sehr hohem Natrium-und niedrigem Kaliumgehalt im Blut. Wasser sammelte sich in meinem Körper, und die Beine schwollen entsetzlich an. Es sah aus, als hätte mich jemand auf ein Paar Elefantenbeine gestellt. Mein Urin war ein tiefdunkles Gelb, fast schon Braun. Nach einer guten Woche konnte ich schon wieder einigermaßen gehen und konnte Schuhe anziehen, wenn ich sie nicht zuband. Meine Haut wurde heil, auch wenn ich heute noch Narben auf Schultern und Rücken habe.
Das erste Mal, als ich einen Wasserhahn aufdrehte, war das laute, entsetzlich verschwenderische Gurgeln und Sprudeln ein solcher Schock, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und mir in den Armen einer Krankenschwester die Sinne schwanden.
Als ich zum erste Mal in Kanada in ein indisches Restaurant ging, aß ich mit den Fingern. Der Kellner sah mich kritisch an, dann sagte er: »Na, frisch vom Boot, was?« Ich erbleichte. Meine Finger, noch in der Sekunde zuvor Geschmacksknospen, die das Essen ein paar Augenblicke früher genossen als die Zunge, wurden schmutzig unter seinen Augen. Sie erstarrten wie Gauner auf frischer Tat ertappt. Ich wagte nicht sie abzulecken. Verstohlen wischte ich sie an meiner Serviette ab. Er wusste nicht, wie tief diese Worte mich verletzten. Wie Nägel, die mir ins Fleisch getrieben wurden. Ich griff zu Messer und Gabel. Ich hatte solche Werkzeuge kaum je benutzt. Mir zitterten die Hände. Mein Sambar schmeckte nach gar nichts mehr.
Kapitel 2
Er wohnt in Scarborough. Ein schmaler, kleiner Mann - höchstens eins fünfundsechzig groß. Dunkles Haar, dunkle Augen. An den Schläfen erstes Grau. Älter als vierzig kann er nicht sein. Angenehm kaffeebraune Farbe. Trotz des milden Herbstwetters zieht er für den Weg zum Lokal einen dicken Winterparka mit Pelzkapuze an. Ausdrucksvolles Gesicht. Spricht schnell, Hände ständig in Bewegung. Kein Smalltalk. Immer gleich zur Sache.
Kapitel 3
Meinen Namen habe ich nach einem Schwimmbad. Sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, wie wasserscheu meine Eltern waren. Einer der ersten Geschäftspartner meines Vaters war Francis Adirubasamy. Er wurde ein guter Freund der Familie. Ich habe ihn immer Mamaji genannt - mama ist das tamilische Wort für Onkel und ji ist die Nachsilbe, mit der man in Indien Respekt und Zuneigung ausdrückt. Als junger Mann, lange bevor ich zur Welt kam, war Mamaji ein erfolgreicher Wettkampfschwimmer gewesen, der Champion von ganz Südindien. Und so sah er sein Leben lang aus. Mein Bruder Ravi hat mir einmal erzählt, dass Mamaji bei seiner Geburt nicht aufhören wollte, Wasser zu atmen, und der Arzt musste ihn, damit er nicht erstickte, an den Füßen packen und über seinem Kopf kreisen lassen, immer und immer im Kreis herum.
»Das hat ihn gerettet!«, sagte Ravi und machte über seinem eigenen Kopf wilde Handbewegungen. »Er musste husten, das Wasser kam raus, und von da an hat er Luft geatmet; aber sein ganzes Fleisch und Blut ist dabei in den Oberkörper gegangen. Deshalb ist seine Brust so kräftig und die Beine sind so dünn.«
Ich glaubte es ihm. (Ravi hat mich immer geärgert. Das erste Mal, dass er Mamaji in meiner Gegenwart »Mr Fish« nannte, habe ich ihm eine Bananenschale ins Bett gesteckt.) Selbst als er schon über sechzig war und ein wenig gebeugt ging, als die Schwerkraft eines ganzen Lebens die bei der Geburt nach oben geschleuderten Muskeln wieder erdwärts gezogen hatte, schwamm Mamaji noch jeden Morgen im Pool des Aurobindo-Aschrams seine dreißig Bahnen.
Er mühte sich, meinen Eltern das Schwimmen beizubringen, aber das Äußerste, was er erreichte, war, dass sie am Strand bis zu den Knien ins Wasser gingen und groteske Ruderbewegungen mit den Armen machten; wenn sie das Brustschwimmen übten, wirkten sie, als kämpften sie sich durch den Dschungel und teilten mit den Armen das hohe Gras, und wenn sie kraulten, sahen sie aus, als liefen sie einen Berg hinunter und versuchten mit den Armen die Balance zu halten. Ravi legte ähnliches Geschick an den Tag.
Erst als ich auf den Plan trat, fand Mamaji einen willigen Schüler. Am Tag, an dem ich ins schwimmfähige Alter kam - und das, erklärte Mamaji zum Entsetzen meiner Mutter, sei mit sieben Jahren -, ging er mit mir hinunter an den Strand, breitete die Arme zum Meer und rief: »Das ist mein Geschenk für dich!« »Und dann hätte er dich beinahe ersäuft«, sagte Mutter.
Ich hielt meinem Schwimmguru die Treue. Unter seinem aufmerksamen Blick strampelte ich mit den Beinen, wühlte mit den Händen den Sand auf und drehte mit jedem Zug den Kopf, um Luft zu holen. Ich muss ausgesehen haben wie ein Kind, das in Zeitlupe einen Wutanfall bekommt. Dann ging es ins Wasser, er hielt mich an der Oberfläche, und ich tat mein Bestes, um zu schwimmen. Es war weit schwieriger als an Land. Aber Mamaji war geduldig und machte mir Mut.
Als ich die Grundbegriffe zu seiner Zufriedenheit erlernt hatte, ließen wir das Lachen und das Kreischen hinter uns, das Durcheinander, das Platschen, die blaugrünen Wellen und die tosende Brandung, und nun kam das ordentliche Rechteck, die gleichmäßige Tiefe (und das Eintrittsgeld) des Schwimmbeckens im Aschram.
Meine ganze Kindheit lang ging ich mit ihm dreimal die Woche dorthin, ein frühmorgendliches Ritual jeden Montag, Mittwoch und Freitag, so gleichmäßig im Takt wie die Bewegungen eines guten Brustschwimmers. Ich sehe es noch vor mir, wie dieser würdige alte Herr neben mir seine Kleider auszog, wie mit jedem sorgfältig abgelegten Stück mehr von seinem Körper zum Vorschein kam, wobei stets der Anstand gewahrt blieb und er sich ganz zum Schluss ein wenig abwandte und dann eine prachtvolle ausländische Profibadehose überstreifte. Er streckte sich, dann war er bereit. Alles war von epischer Schlichtheit. Der Unterricht und später die Übungen waren hart, aber es war eine große Befriedigung, wenn man eine Technik immer schneller und besser beherrschen lernte, immer und immer wieder, fast zur Hypnose, und das Wasser wandelte sich vom geschmolzenen Blei zum flüssigen Licht.
Ans Meer kehrte ich allein zurück, ein heimliches Vergnügen, zu dem mich die mächtigen Wogen lockten, die ihre kleinen Ausläufer in Wellen auf den Strand schickten, sanfte Lassos, mit denen sie ihren willigen indischen Indianerjungen fingen.
Einmal, ich muss ungefähr dreizehn gewesen sein, schenkte ich Mamaji zum Geburtstag meine zwei ersten Bahnen Schmetterlingsstil. Nach der zweiten war ich so erschöpft, dass ich ihm kaum noch zuwinken konnte.
Es wurde nicht nur geschwommen, es wurde auch vom Schwimmen geredet. Das Reden war der Teil, den Vater mochte. Je standhafter er sich weigerte, tatsächlich ins Wasser zu gehen, desto glühender malte er es sich aus. Das Fachsimpeln unter Schwimmern war seine Erholung nach alldem, was täglich bei der Arbeit im Zoo zu bereden war. Wasser ohne ein Flusspferd drin war so viel leichter zu beherrschen als Wasser mit.
Mamaji hatte dank der Großzügigkeit der Kolonialverwaltung zwei Jahre lang in Paris studiert. Das war Anfang der dreißiger Jahre, als die Franzosen noch alles daransetzten, Pondicherry so französisch zu machen, wie die Briten den Rest von Indien britisch machen wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was Mamaji dort studiert hat. Sicher etwas, das mit Wirtschaft zu tun hatte. Er konnte wunderbar Geschichten erzählen, aber auf seine Erlebnisse am Eiffelturm oder im Louvre oder in den Cafés der Champs-Élysées wartete man vergebens. Alle seine Geschichten hatten mit Schwimmbädern und Schwimmwettbewerben zu tun. Da gab es zum Beispiel die Piscine Deligny, das älteste Schwimmbad der Stadt, dessen Anfänge bis ins Jahr 1796 zurückreichten; es war ein offenes Boot, am Quai d'Orsay festgemacht, und im Jahr 1900 der Austragungsort für die Schwimmwettkämpfe der Olympischen Spiele. Doch keine der Zeiten wurde vom Internationalen Schwimmverband anerkannt, denn das Becken war sechs Meter zu lang. Das Wasser in diesem Becken kam direkt aus der Seine, ungeklärt und ungeheizt. »Es war kalt und schmutzig«, sagte Mamaji. »Das Wasser war schon durch ganz Paris geflossen, und so sah es auch aus. Und die Leute, die drin badeten, haben dafür gesorgt, dass es noch ekliger wurde.« Vertraulich flüsternd, mit schockierenden Beispielen, mit denen er seine These untermauerte, versicherte er uns, dass der Standard der Körperhygiene bei den Franzosen ausgesprochen niedrig war. »Deligny war schon schlimm, aber noch schlimmer war das Bain Royal, auch so eine Latrine an der Seine. Im Deligny haben sie wenigstens die toten Fische rausgeholt.« Aber trotz allem war und blieb es ein Olympiabecken, und das machte es unsterblich. Mochte es auch noch so eine Jauchegrube sein, Mamaji sprach von Deligny stets mit einem seligen Lächeln.
Besser war man in den Piscines Château-Landon, Rouvet oder Boulevard de la Gare dran. Das waren Hallenbäder, die rund ums Jahr geöffnet hatten. Sie wurden gespeist vom Kondenswasser der Dampfmaschinen der umliegenden Fabriken, das sauberer und wärmer war. Doch auch diese Bäder waren ein wenig unappetitlich und oft überfüllt. »Da war so viel Schleim und Auswurf im Wasser, dass man das Gefühl hatte, man schwimmt zwischen Quallen«, lachte Mamaji.
Die Piscines Hébert, Ledru-Rollin und Butte-aux-Cailles waren helle, moderne, geräumige Bäder, die ihr Wasser aus eigenen Brunnen bezogen. Sie waren der Maßstab, an dem andere städtische Schwimmbäder gemessen wurden. Außerdem gab es natürlich die Piscine des Tourelles, das andere Olympiabad der Stadt, eröffnet 1924, als die Spiele zum zweiten Mal in Paris ausgetragen wurden. Und es gab weitere, viele weitere.
Doch kein anderes Bad konnte es in Mamajis Augen mit dem Glanz der Piscine Molitor aufnehmen. Das war das Nonplusultra der Badekultur von Paris, ja der gesamten zivilisierten Welt.
»Es war ein Schwimmbad für die Götter. Der Schwimmclub des Molitor war der beste in ganz Paris. Es hatte zwei Becken, ein offenes und ein überdachtes. Beide waren so groß wie zwei kleine Ozeane. Beim Innenbecken waren immer zwei Bahnen reserviert, damit Wettkampfschwimmer üben konnten. Das Wasser war so klar und rein, man hätte seinen Kaffee damit kochen können. Rund um das Becken standen hölzerne Umkleidekabinen, blau und weiß auf zwei Etagen. Von oben konnte man hinuntersehen und alles beobachten. Es gab Angestellte, die die Kabinen mit Kreide markierten, zum Zeichen, dass sie besetzt waren, hinkende alte Männer, freundlich auf ihre bärbeißige Art. Selbst das größte Gebrüll, das lauteste Palaver machte ihnen nichts aus. Die Duschen spendeten wunderbar wohl tuendes heißes Wasser. Es gab ein Dampfbad und eine Turnhalle. Im Winter wurde das Außenbecken zur Eisbahn. Es gab eine Bar, eine Cafeteria, eine große Sonnenterrasse, sogar zwei kleine Strände mit echtem Sand. Alles war Messing, Kacheln und Holz, alles blitzblank. Es war - es war ...«
Es war das einzige Schwimmbad, bei dem Mamaji die Worte fehlten, das einzige, wo er in Gedanken so viele Runden schwamm, dass er sie nicht mehr beschreiben konnte.
Mamaji hatte seine Erinnerungen, Vater seine Träume.
So kam ich zu meinem Namen, als ich drei Jahre nach Ravi als letzter, willkommener Spross meiner Familie das Licht der Welt erblickte: Piscine Molitor Patel.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Kapitel 1
Ich hatte so viel gelitten, ich war ein finsterer und trauriger Mensch geworden.
Wissenschaftliche Arbeit und der Trost der Religion brachten mich allmählich ins Leben zurück. Meinem Glauben, so abwegig er manch einem auch vorkommen mag, bin ich treu geblieben. Nach einem Jahr auf der High School ging ich an die Universität von Toronto und schrieb mich für einen Bachelor-Studiengang mit zwei Hauptfächern ein. Die beiden Fächer waren Religionswissenschaften und Zoologie. Im ersten widmete ich meinen Examensessay gewissen Aspekten der Kosmogonie Isaak Lurias, des großen Kabbalisten, der im 16. Jahrhundert in Safed tätig war. Als Abschlussarbeit in Zoologie schrieb ich eine Funktionsanalyse der Schilddrüse des Dreifingerfaultiers. Ich wählte das Faultier, weil es mit seinem Lebenswandel - ruhig, still, in sich gekehrt - meinem zerrütteten Ich ein wenig Trost bot.
Es gibt Zweifingerfaultiere und es gibt Dreifingerfaultiere, wobei das Unterscheidungsmerkmal die Vorderbeine sind, denn an den Hinterbeinen haben alle Faultiere drei Finger. Ich hatte das große Glück, dass ich einen Sommer lang das Dreifingerfaultier in den Dschungeln von Äquatorialbrasilien in situ studieren konnte. Es ist ein äußerst faszinierendes Geschöpf. Im Grunde ist die Trägheit sein einziger Wesenszug. Es schläft oder ruht im Durchschnitt zwanzig Stunden am Tag. Unser Team untersuchte die Schlafgewohnheiten von fünf wild lebenden Dreifingerfaultieren, indem wir ihnen am frühen Abend, wenn sie eingeschlafen waren, leuchtend rote, mit Wasser gefüllte Plastikschälchen auf die Köpfe stellten. Wir konnten sehen, dass sie am nächsten Morgen, wenn sich im Wasser schon die Insekten tummelten, noch immer an Ort und Stelle waren. Am regsten ist das Faultier bei Sonnenuntergang, wobei das Wort rege hier mit größtmöglicher Relativität zu verstehen ist. Das Tier bewegt sich in seiner charakteristischen hängenden Haltung mit einer Geschwindigkeit von etwa 400 Metern die Stunde den Ast eines Baumes entlang. Am Boden kriecht es, wenn es motiviert ist, mit einem Tempo von 250 Metern die Stunde zu seinem nächsten Baum, das heißt 440-mal langsamer als ein motivierter Gepard. Unmotiviert legt es vier bis fünf Meter die Stunde zurück.
Über die Außenwelt erfährt das Dreifingerfaultier nicht viel. Auf einer Skala von 2 bis 10, bei der die 2 für außerordentliche Dumpfheit und 10 für extreme Wachheit steht, stufte Beebe (1926) den Tast-, Geschmacks- und Gesichtssinn und das Gehör des Faultiers mit 2 ein, den Geruchssinn mit 3. Trifft man auf freier Wildbahn auf ein schlafendes Dreifingerfaultier, so genügt es in der Regel, es zwei- oder dreimal anzustoßen, um es zu wecken. Es wird sich dann schläfrig in jede erdenkliche Richtung umsehen, nur nicht in die, aus der der Stoß kam. Warum es sich umsieht, weiß man allerdings nicht, denn das Faultier sieht wie Mr Magoo alles nur durch einen Nebel. Was das Gehör angeht, ist ein Faultier nicht wirklich taub; es interessiert sich nur nicht für Geräusche. Beebe berichtet, dass er neben schlafenden oder fressenden Faultieren Gewehre abfeuerte und kaum eine Reaktion damit hervorrief. Und den etwas höher entwickelten Geruchssinn eines Faultiers sollte man auch nicht überschätzen. Es heißt, sie könnten abgestorbene Äste riechen und dann meiden, doch Bullock (1968)berichtet, dass Faultiere »häufig« zu Boden fallen, weil sie sich an abgestorbenen Ästen festhalten.
Man fragt sich, wie ein solches Tier überleben kann.
Es überlebt, weil es so langsam ist. Trägheit und Schläfrigkeit schützen es vor allen Gefahren, sie sorgen dafür, dass ein Jaguar oder Ozelot, dass Harpyien und Anakondas das Faultier überhaupt nicht wahrnehmen. Im Pelz des Faultiers gedeiht eine Algenart, die in der Trockenzeit braun und in der Regenzeit grün ist, und so fügt sich das Tier stets in das Moos und Blattwerk seiner Umgebung ein und wirkt wie ein Ameisen-oder Eichhörnchennest oder einfach nur wie ein Teil des Baumes.
Das Dreifingerfaultier lebt ein friedliches Vegetarierleben in vollkommenem Einklang mit seiner Umgebung. »Stets hat es ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen«, schreibt Tirler (1966). Es ist ein Lächeln, das ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich bin keiner, der leichtfertig menschliche Charakterzüge oder Gefühlsregungen auf Tiere projiziert, doch viele Male, wenn ich in jenem Monat in Brasilien ein ruhendes Faultier betrachtete, hatte ich den Eindruck, dass ich in der Gegenwart eines an den Füßen hängenden, tief in seine Meditation versenkten Jogis war oder eines ganz dem Gebet ergebenen Eremiten, in der Gegenwart von Wesen großer Weisheit, deren inneres Leben jenseits all meiner wissenschaftlichen Forschungen lag.
Manchmal gerieten mir meine beiden Studienfächer durcheinander. Manche meiner Kommilitonen bei den Religionswissenschaftlern - wirrköpfige Agnostiker, die nicht wussten, welche Seite oben war, allesamt der Vernunft ergeben, jenem Katzengold der Intelligenz - erinnerten mich an das Dreifingerfaultier; und das Dreifingerfaultier, ein so perfektes Beispiel für das Wunder des Lebens, erinnerte mich an Gott.
Mit meinen Naturkundekollegen war das Leben leicht. Naturwissenschaftler sind ein freundliches, gottloses, hart arbeitendes, biertrinkendes Volk, dessen Verstand mit Sex, Schach und Baseball beschäftigt ist, wenn er einmal nicht an Wissenschaft denkt.
Ich war, wenn ich mich selbst loben darf, ein ausgezeichneter Student. Vier Jahre hintereinander war ich der Beste am St. Michael's College. Ich errang jede Auszeichnung, die das Zoologische Seminar zu vergeben hatte. Und wenn ich bei den Religionswissenschaftlern keins bekam, dann lag das schlicht und einfach daran, dass dort keine vergeben wurden (jeder weiß, dass der Lohn für solche Studien nicht in irdischer Hand liegt). Ich hätte die Medaille des Generalgouverneurs bekommen, die höchste Ehre, die von der Universität Toronto an Undergraduates vergeben wird - nicht wenige angesehene Kanadier haben sie erhalten -, wäre da nicht ein rotgesichtiger Rindfleischesser mit einem Hals wie ein Baumstamm und einer unerträglich guten Laune gewesen.
Noch heute tut es ein wenig weh, dass ich übergangen wurde. Wenn man viel im Leben gelitten hat, dann ist jeder neue Schmerz entsetzlich und belanglos zugleich. Mein Leben ist wie ein Vanitasstillleben eines alten Niederländers: Ich habe stets einen grinsenden Totenschädel zur Hand, der mich an die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens gemahnt. Ich verspotte diesen Schädel. Ich sehe ihn an und sage: »Da bist du an den Falschen geraten. Du glaubst vielleicht nicht an das Leben, aber ich glaube nicht an den Tod. Mach, dass du weiterkommst.« Der Schädel lacht gehässig und rückt noch ein Stückchen näher, aber das wundert mich nicht. Es ist ja nicht die biologische Notwendigkeit, die den Tod immer die Nähe des Lebens suchen lässt - es ist der Neid. Das Leben ist so schön, dass der Tod sich in es verliebt hat, ein eifersüchtiger, gieriger Liebhaber, der an sich rafft, was er zu fassen bekommt. Aber das Leben macht mühelos den Sprung über das Vergessen, verliert ein Eckchen oder zwei, nichts Wichtiges, und Düsternis ist nichts als der flüchtige Schatten einer Wolke. Der Rotgesichtige bekam auch das Rhodes-Stipendium. Ich trage es ihm nicht nach und ich hoffe, dass er in Oxford glücklich und weise geworden ist.
Sollte Lakshmi, die Göttin des Reichtums, mir jemals wohlgesonnen sein, dann ist Oxford die fünfte auf der Liste der Städte, die ich noch besuchen möchte, bevor meine Tage vorüber sind, nach Mekka, Varanasi, Jerusalem und Paris.
Zu meinem Arbeitsleben weiß ich nichts zu sagen, nur dass eine Krawatte eine Schlinge ist, und auch wenn man sie falsch herum um den Hals hat, kann sie einen Mann erwürgen, wenn er nicht Acht gibt.
Kanada liebe ich. Mir fehlen die indische Hitze, das Essen, die Eidechsen an den Wänden, die Musicals im Kino, die Kühe, die durch die Straßen ziehen, das Krächzen der Krähen, sogar die Diskussionen über Cricket - aber Kanada liebe ich. Es ist ein wunderbares Land, wenn auch nach allen vernünftigen Maßstäben viel zu kalt, ein Land bewohnt von aufrechten, klugen Menschen, die alle dringend einen besseren Friseur bräuchten. Und in Pondicherry habe ich nichts, wohin ich zurückkehren könnte.
Richard Parker ist bei mir geblieben. Ich habe ihn nie vergessen. Darf ich sagen, dass ich ihn vermisse? Ich vermisse ihn. In meinen Träumen erscheint er mir noch. Eigentlich sind es Alpträume, aber Alpträume voller Liebe. So etwas gibt es, so seltsam ist das menschliche Herz. Bis heute verstehe ich nicht, wie er mich einfach so verlassen konnte, ohne einen Abschiedsgruß, ja ohne einen Blick zurück. Das ist ein Schmerz wie ein Axthieb nach meinem Herzen.
Die Ärzte und Schwestern im Hospital in Mexiko waren unendlich freundlich zu mir. Auch die anderen Patienten. Krebskranke, Unfallopfer, sobald sie meine Geschichte hörten, kamen auf Krücken und in Rollstühlen herüber, sie wollten mich sehen, mit ihren ganzen Familien, obwohl kein Einziger von ihnen Englisch sprach, und ich sprach kein Spanisch. Sie lächelten mich an, schüttelten mir die Hand, streichelten mir den Kopf, ließen Essen und Kleider als Geschenke auf meinem Bett zurück. Sie rührten mich so sehr, ich lachte und weinte in einem fort, ich konnte nicht anders.
Schon binnen ein paar Tagen konnte ich stehen, sogar ein, zwei Schritte gehen, trotz Schwindel und Übelkeit und meiner großen Erschöpfung. Bluttests ergaben, dass ich anämisch war, mit sehr hohem Natrium-und niedrigem Kaliumgehalt im Blut. Wasser sammelte sich in meinem Körper, und die Beine schwollen entsetzlich an. Es sah aus, als hätte mich jemand auf ein Paar Elefantenbeine gestellt. Mein Urin war ein tiefdunkles Gelb, fast schon Braun. Nach einer guten Woche konnte ich schon wieder einigermaßen gehen und konnte Schuhe anziehen, wenn ich sie nicht zuband. Meine Haut wurde heil, auch wenn ich heute noch Narben auf Schultern und Rücken habe.
Das erste Mal, als ich einen Wasserhahn aufdrehte, war das laute, entsetzlich verschwenderische Gurgeln und Sprudeln ein solcher Schock, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und mir in den Armen einer Krankenschwester die Sinne schwanden.
Als ich zum erste Mal in Kanada in ein indisches Restaurant ging, aß ich mit den Fingern. Der Kellner sah mich kritisch an, dann sagte er: »Na, frisch vom Boot, was?« Ich erbleichte. Meine Finger, noch in der Sekunde zuvor Geschmacksknospen, die das Essen ein paar Augenblicke früher genossen als die Zunge, wurden schmutzig unter seinen Augen. Sie erstarrten wie Gauner auf frischer Tat ertappt. Ich wagte nicht sie abzulecken. Verstohlen wischte ich sie an meiner Serviette ab. Er wusste nicht, wie tief diese Worte mich verletzten. Wie Nägel, die mir ins Fleisch getrieben wurden. Ich griff zu Messer und Gabel. Ich hatte solche Werkzeuge kaum je benutzt. Mir zitterten die Hände. Mein Sambar schmeckte nach gar nichts mehr.
Kapitel 2
Er wohnt in Scarborough. Ein schmaler, kleiner Mann - höchstens eins fünfundsechzig groß. Dunkles Haar, dunkle Augen. An den Schläfen erstes Grau. Älter als vierzig kann er nicht sein. Angenehm kaffeebraune Farbe. Trotz des milden Herbstwetters zieht er für den Weg zum Lokal einen dicken Winterparka mit Pelzkapuze an. Ausdrucksvolles Gesicht. Spricht schnell, Hände ständig in Bewegung. Kein Smalltalk. Immer gleich zur Sache.
Kapitel 3
Meinen Namen habe ich nach einem Schwimmbad. Sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, wie wasserscheu meine Eltern waren. Einer der ersten Geschäftspartner meines Vaters war Francis Adirubasamy. Er wurde ein guter Freund der Familie. Ich habe ihn immer Mamaji genannt - mama ist das tamilische Wort für Onkel und ji ist die Nachsilbe, mit der man in Indien Respekt und Zuneigung ausdrückt. Als junger Mann, lange bevor ich zur Welt kam, war Mamaji ein erfolgreicher Wettkampfschwimmer gewesen, der Champion von ganz Südindien. Und so sah er sein Leben lang aus. Mein Bruder Ravi hat mir einmal erzählt, dass Mamaji bei seiner Geburt nicht aufhören wollte, Wasser zu atmen, und der Arzt musste ihn, damit er nicht erstickte, an den Füßen packen und über seinem Kopf kreisen lassen, immer und immer im Kreis herum.
»Das hat ihn gerettet!«, sagte Ravi und machte über seinem eigenen Kopf wilde Handbewegungen. »Er musste husten, das Wasser kam raus, und von da an hat er Luft geatmet; aber sein ganzes Fleisch und Blut ist dabei in den Oberkörper gegangen. Deshalb ist seine Brust so kräftig und die Beine sind so dünn.«
Ich glaubte es ihm. (Ravi hat mich immer geärgert. Das erste Mal, dass er Mamaji in meiner Gegenwart »Mr Fish« nannte, habe ich ihm eine Bananenschale ins Bett gesteckt.) Selbst als er schon über sechzig war und ein wenig gebeugt ging, als die Schwerkraft eines ganzen Lebens die bei der Geburt nach oben geschleuderten Muskeln wieder erdwärts gezogen hatte, schwamm Mamaji noch jeden Morgen im Pool des Aurobindo-Aschrams seine dreißig Bahnen.
Er mühte sich, meinen Eltern das Schwimmen beizubringen, aber das Äußerste, was er erreichte, war, dass sie am Strand bis zu den Knien ins Wasser gingen und groteske Ruderbewegungen mit den Armen machten; wenn sie das Brustschwimmen übten, wirkten sie, als kämpften sie sich durch den Dschungel und teilten mit den Armen das hohe Gras, und wenn sie kraulten, sahen sie aus, als liefen sie einen Berg hinunter und versuchten mit den Armen die Balance zu halten. Ravi legte ähnliches Geschick an den Tag.
Erst als ich auf den Plan trat, fand Mamaji einen willigen Schüler. Am Tag, an dem ich ins schwimmfähige Alter kam - und das, erklärte Mamaji zum Entsetzen meiner Mutter, sei mit sieben Jahren -, ging er mit mir hinunter an den Strand, breitete die Arme zum Meer und rief: »Das ist mein Geschenk für dich!« »Und dann hätte er dich beinahe ersäuft«, sagte Mutter.
Ich hielt meinem Schwimmguru die Treue. Unter seinem aufmerksamen Blick strampelte ich mit den Beinen, wühlte mit den Händen den Sand auf und drehte mit jedem Zug den Kopf, um Luft zu holen. Ich muss ausgesehen haben wie ein Kind, das in Zeitlupe einen Wutanfall bekommt. Dann ging es ins Wasser, er hielt mich an der Oberfläche, und ich tat mein Bestes, um zu schwimmen. Es war weit schwieriger als an Land. Aber Mamaji war geduldig und machte mir Mut.
Als ich die Grundbegriffe zu seiner Zufriedenheit erlernt hatte, ließen wir das Lachen und das Kreischen hinter uns, das Durcheinander, das Platschen, die blaugrünen Wellen und die tosende Brandung, und nun kam das ordentliche Rechteck, die gleichmäßige Tiefe (und das Eintrittsgeld) des Schwimmbeckens im Aschram.
Meine ganze Kindheit lang ging ich mit ihm dreimal die Woche dorthin, ein frühmorgendliches Ritual jeden Montag, Mittwoch und Freitag, so gleichmäßig im Takt wie die Bewegungen eines guten Brustschwimmers. Ich sehe es noch vor mir, wie dieser würdige alte Herr neben mir seine Kleider auszog, wie mit jedem sorgfältig abgelegten Stück mehr von seinem Körper zum Vorschein kam, wobei stets der Anstand gewahrt blieb und er sich ganz zum Schluss ein wenig abwandte und dann eine prachtvolle ausländische Profibadehose überstreifte. Er streckte sich, dann war er bereit. Alles war von epischer Schlichtheit. Der Unterricht und später die Übungen waren hart, aber es war eine große Befriedigung, wenn man eine Technik immer schneller und besser beherrschen lernte, immer und immer wieder, fast zur Hypnose, und das Wasser wandelte sich vom geschmolzenen Blei zum flüssigen Licht.
Ans Meer kehrte ich allein zurück, ein heimliches Vergnügen, zu dem mich die mächtigen Wogen lockten, die ihre kleinen Ausläufer in Wellen auf den Strand schickten, sanfte Lassos, mit denen sie ihren willigen indischen Indianerjungen fingen.
Einmal, ich muss ungefähr dreizehn gewesen sein, schenkte ich Mamaji zum Geburtstag meine zwei ersten Bahnen Schmetterlingsstil. Nach der zweiten war ich so erschöpft, dass ich ihm kaum noch zuwinken konnte.
Es wurde nicht nur geschwommen, es wurde auch vom Schwimmen geredet. Das Reden war der Teil, den Vater mochte. Je standhafter er sich weigerte, tatsächlich ins Wasser zu gehen, desto glühender malte er es sich aus. Das Fachsimpeln unter Schwimmern war seine Erholung nach alldem, was täglich bei der Arbeit im Zoo zu bereden war. Wasser ohne ein Flusspferd drin war so viel leichter zu beherrschen als Wasser mit.
Mamaji hatte dank der Großzügigkeit der Kolonialverwaltung zwei Jahre lang in Paris studiert. Das war Anfang der dreißiger Jahre, als die Franzosen noch alles daransetzten, Pondicherry so französisch zu machen, wie die Briten den Rest von Indien britisch machen wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was Mamaji dort studiert hat. Sicher etwas, das mit Wirtschaft zu tun hatte. Er konnte wunderbar Geschichten erzählen, aber auf seine Erlebnisse am Eiffelturm oder im Louvre oder in den Cafés der Champs-Élysées wartete man vergebens. Alle seine Geschichten hatten mit Schwimmbädern und Schwimmwettbewerben zu tun. Da gab es zum Beispiel die Piscine Deligny, das älteste Schwimmbad der Stadt, dessen Anfänge bis ins Jahr 1796 zurückreichten; es war ein offenes Boot, am Quai d'Orsay festgemacht, und im Jahr 1900 der Austragungsort für die Schwimmwettkämpfe der Olympischen Spiele. Doch keine der Zeiten wurde vom Internationalen Schwimmverband anerkannt, denn das Becken war sechs Meter zu lang. Das Wasser in diesem Becken kam direkt aus der Seine, ungeklärt und ungeheizt. »Es war kalt und schmutzig«, sagte Mamaji. »Das Wasser war schon durch ganz Paris geflossen, und so sah es auch aus. Und die Leute, die drin badeten, haben dafür gesorgt, dass es noch ekliger wurde.« Vertraulich flüsternd, mit schockierenden Beispielen, mit denen er seine These untermauerte, versicherte er uns, dass der Standard der Körperhygiene bei den Franzosen ausgesprochen niedrig war. »Deligny war schon schlimm, aber noch schlimmer war das Bain Royal, auch so eine Latrine an der Seine. Im Deligny haben sie wenigstens die toten Fische rausgeholt.« Aber trotz allem war und blieb es ein Olympiabecken, und das machte es unsterblich. Mochte es auch noch so eine Jauchegrube sein, Mamaji sprach von Deligny stets mit einem seligen Lächeln.
Besser war man in den Piscines Château-Landon, Rouvet oder Boulevard de la Gare dran. Das waren Hallenbäder, die rund ums Jahr geöffnet hatten. Sie wurden gespeist vom Kondenswasser der Dampfmaschinen der umliegenden Fabriken, das sauberer und wärmer war. Doch auch diese Bäder waren ein wenig unappetitlich und oft überfüllt. »Da war so viel Schleim und Auswurf im Wasser, dass man das Gefühl hatte, man schwimmt zwischen Quallen«, lachte Mamaji.
Die Piscines Hébert, Ledru-Rollin und Butte-aux-Cailles waren helle, moderne, geräumige Bäder, die ihr Wasser aus eigenen Brunnen bezogen. Sie waren der Maßstab, an dem andere städtische Schwimmbäder gemessen wurden. Außerdem gab es natürlich die Piscine des Tourelles, das andere Olympiabad der Stadt, eröffnet 1924, als die Spiele zum zweiten Mal in Paris ausgetragen wurden. Und es gab weitere, viele weitere.
Doch kein anderes Bad konnte es in Mamajis Augen mit dem Glanz der Piscine Molitor aufnehmen. Das war das Nonplusultra der Badekultur von Paris, ja der gesamten zivilisierten Welt.
»Es war ein Schwimmbad für die Götter. Der Schwimmclub des Molitor war der beste in ganz Paris. Es hatte zwei Becken, ein offenes und ein überdachtes. Beide waren so groß wie zwei kleine Ozeane. Beim Innenbecken waren immer zwei Bahnen reserviert, damit Wettkampfschwimmer üben konnten. Das Wasser war so klar und rein, man hätte seinen Kaffee damit kochen können. Rund um das Becken standen hölzerne Umkleidekabinen, blau und weiß auf zwei Etagen. Von oben konnte man hinuntersehen und alles beobachten. Es gab Angestellte, die die Kabinen mit Kreide markierten, zum Zeichen, dass sie besetzt waren, hinkende alte Männer, freundlich auf ihre bärbeißige Art. Selbst das größte Gebrüll, das lauteste Palaver machte ihnen nichts aus. Die Duschen spendeten wunderbar wohl tuendes heißes Wasser. Es gab ein Dampfbad und eine Turnhalle. Im Winter wurde das Außenbecken zur Eisbahn. Es gab eine Bar, eine Cafeteria, eine große Sonnenterrasse, sogar zwei kleine Strände mit echtem Sand. Alles war Messing, Kacheln und Holz, alles blitzblank. Es war - es war ...«
Es war das einzige Schwimmbad, bei dem Mamaji die Worte fehlten, das einzige, wo er in Gedanken so viele Runden schwamm, dass er sie nicht mehr beschreiben konnte.
Mamaji hatte seine Erinnerungen, Vater seine Träume.
So kam ich zu meinem Namen, als ich drei Jahre nach Ravi als letzter, willkommener Spross meiner Familie das Licht der Welt erblickte: Piscine Molitor Patel.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Yann Martel
Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. Er war nominiert für den Governor General Award und den Commonwealth Writers Prize und gewann den Booker Prize 2002. Yann Martel lebt mit seiner Familie in Saskatchewan.Manfred Allié, geb. 1955 in Marburg a. d. L., übersetzt Literatur, u.a. Scott Bradfield, Ralph Ellison, Richard Powers, Yann, Martel und Michael Innes. Er lebt in der Eifel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Yann Martel
- 2012, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Allié, Manfred; Kempf-Allié, Gabriele
- Übersetzer: Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596196981
- ISBN-13: 9783596196982
- Erscheinungsdatum: 12.11.2012
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