Das Böse liegt so nah
Sloan Burbank ist bei der New Yorker Polizei beschäftigt. Da wird sie von Freunden gebeten, die vermisste Tochter Penny zu suchen. Der vermeintliche Routinefall entpuppt sich als Katz-und-Maus-Spiel, als weitere Mädchen verschwinden.
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Produktinformationen zu „Das Böse liegt so nah “
Sloan Burbank ist bei der New Yorker Polizei beschäftigt. Da wird sie von Freunden gebeten, die vermisste Tochter Penny zu suchen. Der vermeintliche Routinefall entpuppt sich als Katz-und-Maus-Spiel, als weitere Mädchen verschwinden.
Lese-Probe zu „Das Böse liegt so nah “
Das Böse liegt so nah von Andrea Kane 1. Kapitel Datum: 19. März Zeit: 21.00 Uhr
Objekt: Athene
Sie war wirklich eine Kämpferin.
Ich hatte es nur meiner Geschicklichkeit und meiner guten Form zu verdanken, dass es mir gelang, sie zu unterwerfen. Sogar die Waffe hatte nicht ausgereicht, um sie zu zähmen. Es war nicht so wie bei den anderen. Erst als sie die Klinge und die Tropfen ihres eigenen Blutes auf ihrem Nacken spürte, gab sie auf. Zuerst zitterte sie, dann bewegte sie sich nicht mehr. Sie war zu clever, um sich zu wehren. Sie wollte kämpfen. Ich sah es in ihren Augen. Aber sie tat es nicht. Am Ende hatte ich gewonnen. Ich spritzte ihr das Nembutal, und fünf Minuten später erschlaffte ihr Körper.
Ich hatte sie.
Ihr warmer betäubter Körper sackte gegen meine Schulter. Es war ein gutes Gefühl. Mein Timing und meine Ausführung waren perfekt. Es waren Frühjahrsferien, und daher würde niemand sie in den nächsten Tagen vermissen.
Und dann wäre es zu spät.
John Jay College für Strafrechtspflege New York City
20. März, 16.00 Uhr Im Hörsaal knisterte es vor Spannung.
... mehr
Es war der letzte Vortrag der zweitägigen Tagung: »Gewalt gegen Frauen: Wie man es vermeidet, Teil einer Statistik zu werden «. Zu den vortragenden Experten gehörten unter anderen Jimmy O'Donnelly, ein Detective des New York Police Department NYPD aus dem Dezernat für Sexualverbrechen, Sharon McNally, Psychologin, spezialisiert auf die Beratung von Opfern von Gewaltverbrechen, Dr. Charles Hewitt, Professor für Statistik und Mathematik, der hier am John Jay College lehrte, Dr. Lillian Doyle, Professorin am John Jay College, allerdings im Fachbereich Soziologie, und Lawrence Clark, ehemaliger Leitender Special Agent aus der FBI-Abteilung für Profiling.
Und Sloane Burbank, der letzte Name auf dieser beeindruckenden Liste von Experten.
Alle anderen hatten schon referiert. Jetzt war sie an der Reihe.
Der Moderator beschrieb Sloanes eindrucksvollen Werdegang, wozu auch ein Jahr bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Manhattan gehörte, bevor sie FBI-Agentin wurde. In der FBI-Abteilung für Krisenintervention wurde sie speziell für Verhandlungen bei Geiselnahmen ausgebildet. Derzeit war sie als private Ermittlerin tätig. In dieser Funktion arbeitete sie mit Polizeibehörden, Unternehmen und Bildungseinrichtungen zusammen und führte Schulungen in Krisenbewältigung und Konfliktlösung durch. Sie war außerdem ausgebildete Krav-Maga-Trainerin. Und dabei war sie gerade mal dreißig Jahre alt.
Der Moderator nickte Sloane anerkennend zu, trat vom Mikrofon zurück und erteilte ihr das Wort.
Begeisterter Applaus brandete auf. Als Sloane sich erhob, dachte sie - wie schon so oft -, wie gut sich alles, was sie zu sagen hatte, in der Theorie anhörte. Und sie war gut, aber nicht so gut wie noch vor einem Jahr. Andererseits hatte dieses Wissen nichts mit der Realität zu tun. Sie war die Einzige, die den Unterschied kannte.
Wie immer strahlte Sloane Energie und Selbstvertrauen aus. Sie knöpfte ihren Blazer auf, zog ihn aus und warf ihn über die Stuhllehne. Die Skepsis, die sie im Gesicht einiger Zuhörer sah, überraschte sie nicht. Die Reaktion kannte sie nur zu gut. Und sie hatte sie schon oft zu ihrem Vorteil genutzt.
Trotz ihres beeindruckenden Lebenslaufs war sie recht zierlich und hatte das jugendliche Aussehen einer Studentin. Aus diesem Grund zweifelten einige an ihren Fähigkeiten und trauten ihr von vornherein nichts zu.
Sollten sie doch. Dadurch war sie im Vorteil. Und dieser Vorteil verlieh ihr Macht.
Sloane wusste, dass Macht viele Gesichter hatte.
Sie zog ihre Schutzhandschuhe an und stellte sich mitten auf die Bühne, sodass der Mittelgang des Hörsaals genau vor ihr lag.
»Sie haben heute Abend schon Vorträge über das Thema gehört, wie man mit den Folgen eines Angriffs umgeht und wie man ihn vermeidet. Es wurden einige Profile typischer Opfer und Angreifer vorgestellt«, begann sie. »Alles, was Sie bisher gelernt haben, ist richtig. Doch es gibt noch eine andere Wahrheit. Wir können die Lebenssituationen, in denen wir uns befinden, nicht immer kontrollieren. Was passiert, wenn Sie nachts allein in einer Tiefgarage stehen, Ihren Wagen ganz hinten geparkt haben und dort ein gruseliger Typ auf der Lauer liegt, der gebaut ist wie ein Kleiderschrank?«
Sloane hielt ihre Hände hoch, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. Dann zeigte sie auf ihren schwarzen Rollkragenpullover und ihre schwarze Hose. Ihre Kleidung hatte keine Taschen, und sie trug kein Waffenholster. »Ich bin ähnlich angezogen wie vielleicht Sie in einer solchen Situation. Ich trage keine Waffe, und ich habe nichts, was ich als solche benutzen könnte. Ich habe auch keine Handtasche bei mir. Selbst wenn ich eine bei mir hätte, würde mir die Zeit fehlen, um mein Handy oder mein Pfefferspray herauszuholen. Darum habe ich Krav Maga gelernt. «
In den Augen der Zuhörer flackerte Interesse auf, und das sogar bei denen, die am Anfang noch gezweifelt hatten.
»Kurz zur Einführung«, fuhr sie fort. »Krav Maga ist eine ganz besondere Art der Selbstverteidigung. Die Anfänge reichen zurück in die Tschechoslowakei während des Aufstiegs des Nazi- Regimes. Der Begründer ist Imi Lichtenfeld, der seine Fähigkeiten im Straßenkampf weiterentwickelte, um sich und andere jüdische Familien vor Angriffen zu schützen. Später emigrierte Lichtenfeld nach Israel. Dort entwickelte er diese Techniken weiter und unterrichtete sie dann als Nahkampfausbilder bei der israelischen Armee. Krav Maga ist Hebräisch und heißt ›Kontaktkampf‹. Es ist eine Ausbildung, die auf unvorhersehbare Straßenkämpfe abzielt. Es gibt keine Regeln. Und es gibt auch keine Trophäen für einen guten Kampfstil. Es geht allein ums Überleben. «
Während Sloane sprach, trat ein kräftiger Mann mit einer Skimaske hinter ihrem Rücken leise vor den Vorhang, sodass die Zuhörer ihn sehen konnten, Sloane jedoch nicht.
Er zog ein Messer aus der Tasche und stürzte sich blitzschnell auf Sloane. Sie hatte keine Zeit, sich auf den Angriff vorzubereiten, und das Publikum hielt den Atem an.
Er packte Sloane an der linken Schulter und presste ihr das Messer in ihren Rücken. »Steig in den Wagen«, befahl er mit krächzender Stimme.
Doch dann änderte sich die Situation schlagartig.
Sloane fuhr blitzschnell herum. Ihr linker Unterarm schoss nach vorn und blockierte sein rechtes Handgelenk, damit sie das Messer abwehren konnte. Es folgte ein Offensivschlag, indem sie ihm mit dem rechten Ellbogen einen direkten Schlag gegen die Kehle verpasste. Als der Angreifer nach Luft rang und vor dem angedeuteten Schlag auf seine Kehle zurückwich, schoss Sloanes linke Hand hoch und nahm seinen rechten Arm zwischen ihrem Oberarm, ihrem Unterarm und ihrer Brust in die Zange. Durch den ungeheuren Druck fiel ihm das Messer aus der Hand.
Sie hatte die Bedrohung abgewehrt.
Daraufhin nahm sie den Kopf ihres Angreifers mit dem rechten Arm in den Schwitzkasten, packte mit der linken Hand seine Schulter, riss seinen Oberkörper nach unten und versetzte ihm mit dem Knie einen Stoß in den Unterleib.
Sloane unterdrückte ein Lächeln, als sie spürte, dass er sich instinktiv versteifte und zurückwich, obwohl er sich - wie es die Demonstration verlangte -, zusammenkrümmte und aufschrie, als wäre er kastriert worden. Zum Schluss verpasste sie ihm noch einen Stoß mit dem Ellbogen auf den Nacken und stieß ihn dann zur Seite, worauf er zusammenbrach und sich scheinbar vor Schmerzen wand.
Die ganze Demonstration hatte keine zehn Sekunden gedauert.
»Dein mangelndes Vertrauen enttäuscht mich«, flüsterte Sloane, während sie ihm aufhalf. Das Publikum applaudierte. »Ich habe deine Luftröhre kaum berührt. Hast du wirklich geglaubt, ich würde dir in die Eier treten?«
»Niemals.« Seine Antwort wurde von dem Applaus übertönt. »Ich weiß, dass du ein Profi bist. Das war nur ein Reflex.«
»Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen.« Mit ernster Miene drehte Sloane sich zu den Zuschauern um. »Das war nur ein Beispiel, wie man Krav Maga bei der Selbstverteidigung einsetzen kann«, erklärte sie. »Es gibt Dutzende von Techniken - je nachdem, wie bedrohlich die Situation ist, in der Sie sich befinden. Auf dem Flyer, den ich verteilt habe, finden Sie alle Informationen zu Krav-Maga-Kursenvor Ort. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das Training ist. Es ist effektiv, und es funktioniert.« Sie drehte sich zu ihrem Angreifer um und gab ihm ein Zeichen, seine Skimaske abzustreifen. »Ich bitte um Applaus für Dr. Elliot Lyman vom John Jay College. Er war ein großartiger Partner bei dieser Demonstration, und er ist ein guter Freund.«
Als Elliot seine Maske abnahm, brandete wieder Applaus auf.
»Auch wenn du immer noch ein Feigling bist«, flüsterte Sloane. »Damals in der Highschool hast du dich jedes Mal geduckt, wenn ich dir einen deiner Bälle zurückgeworfen habe, obwohl du zwei Jahre älter und einen Kopf größer warst als ich. Es hat sich nichts geändert.«
»Damals war ich ein Computerfreak«, erwiderte er. »Jetzt bin ich Informatik-Professor. Ein Trottel, der mit Algorithmen spielt. Nicht so eine fantastische FBI-Agentin wie du.«
»Ex-FBI-Agentin«, korrigierte sie ihn.
»Das wird sich wieder ändern.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir werden sehen.« Sloane presste die Lippen zusammen und signalisierte auf diese Weise, dass sie das Thema nicht vertiefen wollte.
Sie schloss ihre Präsentation ab, beantwortete eine Menge Fragen und plauderte nach dem Ende der Tagung noch eine Weile mit ein paar anderen Referenten. Die vom John Jay College kannte sie von früheren Tagungen, die hier stattgefunden hatten, und von ihren Besuchen bei Elliot. Ihn kannte sie schon seit Beginn der Highschool. Damals hatte sie ihm Nachhilfe in Spanisch gegeben, und er hatte sie in die Geheimnisse des Computers eingeweiht. Ihr Kontakt war nie abgerissen, und als Sloane das FBI verlassen hatte und zurück in den Osten gezogen war, hatten sie ihre Freundschaft wieder aufleben lassen.
Eine Stunde später ging Sloane zu ihrem Wagen und dachte daran, wie kontrovers die Meinungen von Polizisten und Akademikern sein konnten. Sie dachte an Lillian Doyle mit den silbergrauen Haaren, die die Wurzeln der Gewalt in der modernen Zivilisation sah, und an Jimmy O'Donnelly, einen pensionierten Detective des New York Police Department, der es mit allen Gräueltaten zu tun gehabt hatte, die man sich nur vorstellen konnte. Wenn man ihnen zuhörte, hatte man manchmal das Gefühl, sie würden verschiedene Sprachen sprechen. Und je lauter sie sprachen, desto weniger verstanden sie einander.
Für die Teilnehmer war es jedoch gut, dass unterschiedliche Referenten zu Wort kamen. Dadurch wurde ihnen das Thema »Gewalt gegen Frauen« aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert. Das war auch für die Referenten gut. Weder Jimmy O'Donnelly noch Larry Clark gehörten zu denen, die sich zur Ruhe setzen wollten. Und die Professoren liebten angeregte Diskussionen. Besonders Lillian Doyle brauchte laut Elliot die geistige Ablenkung. Ihr Tumor bildete sich nicht weiter zurück, und das letzte Semester war sehr hart für sie gewesen.
Sloane nahm gerne an solchen Tagungen teil. Für sie war das aus mehreren Gründen eine gute Sache.
Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch, als eine steife Brise über ihr Gesicht fuhr und sie daran erinnerte, dass der Winter noch nicht vorbei war. Ein stechender Schmerz schoss durch ihre Handfläche und löste wie immer lebhafte Erinnerungen aus. An das Messer, wie es in ihr Fleischdrang. Andas Blut. Anden Schmerz. Es war ein Bild, das sie nicht abschütteln konnte. Es hatte ihr Leben verändert.
Auch sie hatte sich dadurch verändert.
Sloane zuckte zusammen, als sie erkannte, dass sie ihre Handschuhe hätte anziehen sollen, bevor sie ins Freie gegangen war. Ihre Handtherapeutin würde stinksauer sein, wenn sie es erfahren würde. Jetzt lohnte es sich nicht mehr, die Handschuhe anzuziehen. Sie hatte ihren Wagen fast schon erreicht.
Wenig später stieg sie in ihren Sabura Outback. Sloane hatte Mühe, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken, und sie biss die Zähne zusammen, weil der Schmerz immer noch da war.
Der Motor war gerade angesprungen, als ihr Handy klingelte.
Auf dem Display stand Unbekannt. Das war nicht ungewöhnlich. Die meisten ihrer Kunden schützten ihre Privatsphäre.
»Sloane Burbank«, meldete sie sich.
»Sloane?«, erwiderte eine Frau zögernd. »Hier ist Hope Truman. Pennys Mutter. Ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnerst.«
»Mrs Truman! Hallo! Natürlich erinnere ich mich an Sie.« Sloane runzelte verwundert die Stirn. Es war über zehn Jahre her, seit sie mit den Trumans gesprochen hatte, obwohl sie und Penny während der Schulzeit unzertrennliche Freundinnen gewesen waren. Sogar als Penny später eine private Highschool besuchte, hatten sie sich immer noch zu ausgedehnten Shoppingtouren getroffen. Oder sie hatten sich gegenseitig zu Hause besucht und nach einem gemütlichen Abend bei der Freundin übernachtet. Als dann die Collegezeit begann, hatten sich ihre Wege jedoch getrennt. Sie schlossen neue Freundschaften und verloren sich schließlich aus den Augen. Aber die Erinnerung an ihren jugendlichen Übermut, an ihre Geheimsprache und an die gemeinsam verbrachte Jugend würden wie ihre geliebten Tagebücher immer ein Teil ihres Lebens bleiben.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Sloane. »Und wie geht es Penny? Ich habe ewig nichts von ihr gehört. Ich weiß nur, dass sie bei Harper's Bazaar Karriere macht.«
»Dann weißt du es also nicht?«
»Was weiß ich nicht?«
»Darum rufe ich an.« Mrs Truman holte tief Luft. »Penny ist seit fast einem Jahr verschwunden.«
Sloane spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Wie meinen Sie das - verschwunden?«
»Ich meine, sie hat sich in Luft aufgelöst. Es gibt keine einzige Spur. Und sie hat Ronald und mir kein Wort gesagt. Seither haben wir nichts mehr von ihr gehört.«
»Sie haben also nichts mehr von Penny gehört. Auch sonst niemand?«, hakte Sloane nach, die nicht nur Pennys ehemalige Schulfreundin, sondern auch ausgebildete FBI-Agentin war. Die Trumans waren wohlhabend und weithin bekannt. Ronald Truman war ein renommierter Kardiologe am Mount Sinai. Immer wieder sorgte er für Schlagzeilen. Und seine Selbsthilfebücher zum Thema Wie halte ich mein Herz fit? eroberten regelmäßig die Bestsellerlisten.
Die Trumans waren also ideale Opfer für Erpresser.
»Auch sonst niemand«, erwiderte Mrs Truman.
»Sie haben nie eine Lösegeldforderung oder einen Brief erhalten? «
»Nie. Und wir haben weiß Gott darauf gewartet. Glaub mir, Sloane, wir haben nichts außer Acht gelassen und uns sogar mit der furchtbaren Möglichkeit auseinandergesetzt, dass es sich um eine Entführung handelt, bei der etwas schiefgegangen ist. Aber Pennys Leichnam wurde nie gefunden.« Mrs Truman seufzte resigniert. »Ich bin mir durchaus bewusst, wie gering die Chancen noch sind. Es ist elf Monate her. Aber sie ist meine Tochter. Ich kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.«
»Das kann ich gut verstehen.«
Sloane wusste viel besser als Mrs Truman, wie gut oder wie schlecht die Chancen standen. Und ihr wurde übel, als sie daran dachte.
»Ich habe gerade in der Zeitung den Artikel über dich und die Tagung gelesen, auf der du einen Vortrag gehalten hast«, fuhr Mrs Trumanfort. »Ich wusste nicht, dass du FBI-Agentin warst, und ich wusste auch nicht, dass du beim FBI aufgehört hast, um als private Ermittlerin zu arbeiten. Als ich den Artikel las, habe ich zum ersten Mal seit Monaten wieder ein wenig Hoffnung geschöpft. Wir haben nichts unversucht gelassen. Ihr beide wart damals unzertrennlich. Ich bitte dich, nein, ich flehe dich an, bei uns vorbeizukommen, bevor du Manhattan wieder verlässt. Ich weiß, dass ich dich damit überfalle und dass ich viel von dir verlange. Ich bezahle jede Summe, die du verlangst, auch das Doppelte oder das Dreifache deines normalen Honorars. Unser Fahrer kann dich an der Universität abholen und dich später dort wieder absetzen. Ich würde alles tun, damit du . . .«
»Das ist nicht nötig«, unterbrach Sloane sie. Hunderte von Fragen schossen ihr durch den Kopf. Doch ihr war klar, dass sie in dieser Situation ein persönliches Gespräch führen musste. »Penny ist untrennbar mit meinem Leben verbunden. Wenn ich irgendetwas tun kann, werde ich es tun. Die Tagung ist gerade zu Ende gegangen. Mein Auto steht auf dem Parkplatz, und der Motor läuft. Ich komme jetzt gleich vorbei, bevor ich nach Hause fahre.«
»Gott segne dich.« Tränen der Dankbarkeit mischten sich in die Stimme der älteren Frau.
»Wo wohnen Sie jetzt?«
»125 East Seventy-Eighth, zwischen Park und Lexington Avenue. Apartment 640.«
»Bin schon unterwegs.«
2. Kapitel Datum: 20. März Uhrzeit: 18.00 Uhr
Objekt: Athene
Endlich. Sie ist aufgewacht.
Diesmal erkenne ich an ihrem Blick, dass sie ihre Umgebung wahrnimmt. Es ist nicht wie sonst, wenn sie zu sich kam und dann erschöpft und desorientiert war. Diesmal sieht sie nicht durch mich hindurch, sondern sie sieht mich tatsächlich. Sie zittert. Sie hat Angst.
Das sollte sie auch. Sie weiß, sie gehört mir.
Ich spüre, wie das Adrenalin durch ihre Adern strömt. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, aber beim ersten Mal hat es mich überrascht. Jetzt nicht mehr. Jetzt warte ich schon darauf. Es ist ein gutes Gefühl. Macht. Kontrolle. Sie leistet Widerstand, aber sie zappelt vergebens. Wegen ihrer Kraft und ihrer Intelligenz habe ich dieses Mal besondere Vorkehrungen getroffen. Ihre Hand-und Fußgelenke sind mit dickeren Tauen gefesselt. Die Taue sind mit Klebeband umwickelt. Die Tür ihres Zimmers ist zwei Mal verschlossen.
Ich habe sie nicht geknebelt. Das werde ich tun, wenn ich hinausgehe. Aber niemand kann sie hören. Hier nicht.
Es wird schwieriger sein, ihren Willen zu brechen, schwieriger als bei der letzten Frau. Aber ich werde tun, was ich tun muss.
Sie verlangen es von mir.
125 East Seventy-Eighth Street, Apartment 640
Sloane saß bei den Trumans in der Ecke eines eleganten alten Sofas aus Mahagoni mit Damastbezug und trank den Tee, den Pennys Mutter unbedingt hatte zubereiten wollen. Sie stellte die Tasse auf den Tisch, nahm den Stift auf diese besondere Art in die Hand, die sie sich seit ihrer Handverletzung angewöhnt hatte, und klappte ihr Notizheft auf.
Sloane wartete geduldig, denn Hope Truman lief aufgeregt hin und her und legte Löffelbiskuits auf einen Teller.
Löffelbiskuits. Das weckte viele Erinnerungen. Nachdem sie zu Hause bei Penny stundenlang mit ihren Barbiepuppen gespielt hatten, bot Mrs Truman ihnen immer Löffelbiskuits an. Penny stylte ihre Barbie, kleidete sie nach der neuesten Mode und stimmte dann alle Accessoires genau darauf ab. Sloane behauptete, ihre Barbie sei She-Ra, die Prinzessin der Macht, und ließ sie durchs Zimmer fliegen. Gegen She-Ra katte Ken keine Chance.
Damals waren sie ganz verrückt gewesen nach Löffelbiskuits. Jetzt boten sie Hope Truman die Möglichkeit, ihre Nervosität zu bekämpfen. Sie war verzweifelt, und sie versuchte, das Thema, das zu diesem Treffen geführt hatte, hinauszuzögern. Sloane konnte das gut verstehen. Eine liebende Mutter, die Ermittlungserfolge sehen wollte, die aber gleichzeitig wahnsinnige Angst davor hatte. Und nach fast einem Jahr? Sie konnte nur noch beten und auf ein Wunder hoffen.
Sloane sollte ihr dieses Wunder bescheren.
Verstohlen musterte sie Pennys Mutter. Selbst mit siebenundfünfzig war sie immer noch eine elegante, sehr attraktive Frau. Schlank wie früher. Die Frisur saß perfekt, und sie war makellos geschminkt. Sie trug einen braunen Rollkragenpullover aus Cashmere und eine ockerfarbene Hose, in der sie aussah, als würde sie Werbung machen für Mode von Bergdorf. Doch man sah auch, dass diese Katastrophe ihren Tribut gefordert hatte.
Tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht gegraben, und die hatten nichts mit dem Alter zu tun. In ihren Augen sah Sloane diesen gehetzten Blick, den sie viel zu gut kannte, um ihn noch falsch zu deuten.
»Und wie geht es deinen Eltern?«, fragte Mrs Truman, die sich trotz der schwierigen Situation bemühte, ihrer Rolle als Gastgeberin gerecht zu werden.
»Es geht ihnen gut«, erwiderte Sloane. »Sie sind nach Florida gezogen, nachdem sie jetzt beide im Ruhestand sind. Allerdings stimmt das mit dem Ruhestand nicht so ganz. Meine Mutter arbeitet immer noch mit einigen ihrer Lieblingsautoren, die sie früher in ihrer Literaturagentur betreut hat. Und mein Dad handelt noch ab und zu mit Kunst, falls er irgendein Objekt besonders interessant findet.«
»Ich erinnere mich, dass er früher ständig im Ausland war und dass du ihn oft begleitet hast.«
»Ich habe diese Reisen genossen. Darum spreche ich heute so viele Sprachen. Das ist wohl einer der Hauptgründe, warum das FBI so großes Interesse an mir hatte.« Sloane räusperte sich und schnitt vorsichtig das Thema an, das sie hierhergeführt hatte. »Möchten Sie mit mir über Penny sprechen?«
Mrs Truman nickte unsicher. Sie hörte auf, sich an den Löffelbiskuits und dem Tee zu schaffen zu machen, und sank in einen Ohrensessel. Bevor sie etwas erwiderte, verschränkte sie die Finger ineinander. »Tut mir leid, dass ich dir nicht gleich alles erzählt habe.«
»Das macht doch nichts. Sie haben Angst. Es ist in einer solchen Situation ganz normal, wenn man auf andere Themen ausweicht. «
»Danke. Vielen Dank auch, dass du gekommen bist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.«
»Das müssen Sie auch nicht.« Sloane beugte sich vor. »Mrs Truman ...«
»Hope«, korrigierte die ältere Frau und lächelte verhalten. »Du bist kein Kind mehr. Darum sollten wir auf diese förmliche Anrede verzichten.«
Sloane erwiderte das verhaltene Lächeln. »Okay, Hope. Ich kann mir wahrscheinlich kaum vorstellen, was das für Sie und Ihren Gatten bedeutet. Sie haben gesagt, Penny sei vor einem Jahr verschwunden?«
»Ja, am vierzehnten April ist es ein Jahr her. Allerdings haben wir es erst ein paar Tage später festgestellt.«
»Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«
Hope nickte und leierte wie ein Roboter die Einzelheiten herunter, die sie vermutlich schon unzählige Male erzählt hatte. »Am sechzehnten und siebzehnten erschien sie nicht zur Arbeit. Sie rief auch an beiden Tagen dort nicht an. Ihre Assistentin bei der Zeitung versuchte, sie zu Hause und auf ihrem Handy zu erreichen. Penny meldete sich nicht. Am siebzehnten war sie morgens mit ihrer Freundin Amy zum Frühstück verabredet. Amy und Penny haben nach dem College zwei oder drei Jahre zusammengewohnt. Ronald und ich haben Amy kennengelernt. Sie ist reizend. Als Penny nicht zur Verabredung erschien und Amy sie nicht im Büro und bei Freunden erreichen konnte, rief sie uns an.«
»Und Sie haben dann die Polizei informiert.«
Hope nickte. »Sie haben jede Spur verfolgt. Schließlich fanden sie heraus, dass eine Frau, auf die Pennys Beschreibung zutraf, am vierzehnten April ein Busticket nach Atlantic City gekauft hatte. Daraufhin informierten sie das FBI.«
»Welches Büro hat in dem Fall ermittelt? New York oder Newark?«
»New York, aber sie haben eng mit Newark zusammengearbeitet. Es führte aber zu nichts. Beide Büros fanden keine Spur. Entweder kam die Frau, die sie für Penny hielten, niemals in Atlantic City an, oder es gab keine Zeugen, die sich an sie erinnern konnten.«
»Wurde das Ticket mit einer Kreditkarte bezahlt?«
»Wieder eine Sackgasse. Es wurde bar bezahlt.«
Sloane runzelte die Stirn. »Das ist seltsam. Ich erinnere mich, dass sie schon als Elfjährige für ein Modemagazin arbeiten wollte. Und sie war immer sehr zuverlässig. Wenn sie sich nicht um hundertachtzig Grad gedreht hat . . .«
»Das hat sie nicht.«
»Hat denn die Tatsache, dass sie seit zwei Tagen auf der Arbeit fehlte, ohne anzurufen, bei Harper's Bazaar nicht alle Alarmglocken schrillen lassen?«
»Ja und nein.« Mit zittriger Hand trank Hope einen Schluck Tee. »Offenbar lief es damals für Penny in der Redaktion nicht sehr gut. Sie wurde wohl übergangen bei einer Beförderung. Es war eine harte Zeit für sie, und das nicht nur beruflich, sondern auch privat. Von Rosalinda, Pennys Assistentin, erfuhren wir, dass Penny einen Freund hatte und dass die Beziehung gerade in die Brüche gegangen war. Deshalb erfand Rosalinda eine Ausrede, als Penny nicht zur Arbeit erschien. Sie erzählte allen bei der Zeitung, Penny würde zu Hause arbeiten. Als das FBI sie befragte, gab sie zu, Penny habe die Redaktion am Tag vorher weinend verlassen und gesagt, ihr Leben sei die reinste Katastrophe und sie würde am liebsten alles hinschmeißen.«
»Hat Penny sich nicht bei Ihnen gemeldet?«, fragte Sloane zögernd.
»Nein, an jenem Tag nicht. Wir haben eine Woche vorher miteinander gesprochen.« Hope Truman räusperte sich. »Wenn du mich jetzt fragst, ob wir uns nahestanden, würde ich sagen, ja. Wir hatten ein gutes Verhältnis, wie das eben so ist zwischen Mutter und Tochter. Wir waren keine Freundinnen. Sie hatte ihr eigenes Leben. Über Privates hat sie mir nicht viel erzählt. Sie hat weder ihren Freund noch die Trennung erwähnt. Aber wenn man sich von seinem Freund trennt und wenn man spurlos verschwindet, das hat doch nichts miteinander zu tun. Falls Penny weggehen wollte, hätte sie das niemals getan, ohne ihrem Vater und mir ein Wort zu sagen. Sie hätte es auch nicht getan, ohne ihre persönlichen Dinge mitzunehmen oder ohne vorher alles mit ihrem Vermieter, mit ihrer Bank und mit den Stadtwerken zu regeln. Außerdem wurde keine ihrer Kreditkarten benutzt, seit sie verschwunden ist.«
»Welche Theorie hatte das FBI?«
»Dass die Probleme in ihrem Leben zu viel für sie gewesen sein könnten. Dass sie Depressionen bekommen haben könnte. Und dass starke Depressionen oft dazu führen, dass Menschen Dinge tun, die gar nicht zu ihrer Persönlichkeit passen.«
Sloane verbarg ihre Skepsis. Die Ermittler hatten im Grunde nichts anderes gesagt, als dass Penny entweder die Nerven verloren hatte und abgehauen war, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen, nachdem sie alle Verbindungen zu ihrem alten Leben abgebrochen hatte, oder aber dass sie Selbstmord begangen hatte. Nun, bei einem Selbstmord hätte man die Leiche und vielleicht einen Abschiedsbrief finden müssen. Und die Theorie, dass sie vor ihren Problemen davongelaufen sei, um ganz neu zu beginnen? Das wäre ziemlich weit hergeholt. Vor allem, weil schon ein Jahr vergangen war. Mittlerweile hätte Penny ihre Familie benachrichtigt und ihr mitgeteilt, dass alles in Ordnung sei.
Keine dieser Schlussfolgerungen machte Sloane glücklich, und die Alternativen waren noch viel schrecklicher.
»Ich weiß, was für furchtbare Gedanken dir jetzt durch den Kopf gehen«, sagte Hope. »Ich habe mich mit all diesen Gedanken fast ein Jahr herumgequält. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Aber ich konnte mich an niemanden wenden. Ab und zu erkundige ich mich beim FBI nach dem Stand der Ermittlungen. Der Mitarbeiter im FBI-Büro hier in New York ist immer sehr höflich und erklärt sich jedes Mal bereit, alles zu überprüfen, wenn Ronald und mir noch irgendetwas einfällt. Aber ich bin nicht dumm. Der Fall liegt auf Eis. Solange es keine neuen Spuren gibt . . .«
»Ich spreche mit denen«, bot Sloane an. »Ich habe gute Kontakte zum FBI-Büro in New York. Ich erkläre ihnen die Situation und sage ihnen, dass Sie mich engagiert haben. Dann arrangieren sie ein Treffen zwischen dem verantwortlichen Special Agent und mir. Der wird mich dann über den neuesten Stand der Ermittlungen informieren. Das hilft mir, die richtigen Schritte einzuleiten. Wie heißt der verantwortliche Special Agent?«
»Parker.«
Sloane wollte sich den Namen aufschreiben, doch dann hob sie den Kopf. »Derek Parker?«
Hope nickte. »Warum? Kennst du ihn?«
»Ja, ich kenne ihn.« Sloane machte sich wieder Notizen. »Wir haben im FBI-Büro Cleveland zusammengearbeitet.« Sie klappte ihr Notizheft zu und schob die Teetasse zur Seite. »Ich rufe gleich morgen früh im FBI-Büro an und vereinbare ein Treffen mit ihm. Anschließend rufe ich Sie an und informiere Sie. Dann überlegen wir, wie es weitergehen soll.«
Mrs Trumans Lippen zitterten. »Danke, Sloane.«
»Bedanken Sie sich bei mir, wenn ich Antworten gefunden habe.« Und beten Sie, dass es nicht die Antworten sind, vor denen ich mich am meisten fürchte.
Sloane stand auf. Sie freute sich nicht auf diesen Fall. Es war eine Scheißsituation. Und es würde eine große Herausforderung sein, objektiv an den Fall heranzugehen. Die Chancen, dass Penny noch lebte, waren sehr gering. Und wenn Sloane daran dachte, wer die Ermittlungen leitete, konnte sie kaum auf eine fruchtbare Zusammenarbeit hoffen.
Sloane musste ein paar Leute um einen Gefallen bitten, um dieses Treffen zu vereinbaren, und Derek durfte nicht im Voraus wissen, mit wem er sich treffen sollte. Dann hätte er keinen Heimvorteil, und dadurch hätte sie die Chance, dass es überhaupt zu dem Treffen kam.
Wie es danach weiterging, stand in den Sternen.
© 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Es war der letzte Vortrag der zweitägigen Tagung: »Gewalt gegen Frauen: Wie man es vermeidet, Teil einer Statistik zu werden «. Zu den vortragenden Experten gehörten unter anderen Jimmy O'Donnelly, ein Detective des New York Police Department NYPD aus dem Dezernat für Sexualverbrechen, Sharon McNally, Psychologin, spezialisiert auf die Beratung von Opfern von Gewaltverbrechen, Dr. Charles Hewitt, Professor für Statistik und Mathematik, der hier am John Jay College lehrte, Dr. Lillian Doyle, Professorin am John Jay College, allerdings im Fachbereich Soziologie, und Lawrence Clark, ehemaliger Leitender Special Agent aus der FBI-Abteilung für Profiling.
Und Sloane Burbank, der letzte Name auf dieser beeindruckenden Liste von Experten.
Alle anderen hatten schon referiert. Jetzt war sie an der Reihe.
Der Moderator beschrieb Sloanes eindrucksvollen Werdegang, wozu auch ein Jahr bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Manhattan gehörte, bevor sie FBI-Agentin wurde. In der FBI-Abteilung für Krisenintervention wurde sie speziell für Verhandlungen bei Geiselnahmen ausgebildet. Derzeit war sie als private Ermittlerin tätig. In dieser Funktion arbeitete sie mit Polizeibehörden, Unternehmen und Bildungseinrichtungen zusammen und führte Schulungen in Krisenbewältigung und Konfliktlösung durch. Sie war außerdem ausgebildete Krav-Maga-Trainerin. Und dabei war sie gerade mal dreißig Jahre alt.
Der Moderator nickte Sloane anerkennend zu, trat vom Mikrofon zurück und erteilte ihr das Wort.
Begeisterter Applaus brandete auf. Als Sloane sich erhob, dachte sie - wie schon so oft -, wie gut sich alles, was sie zu sagen hatte, in der Theorie anhörte. Und sie war gut, aber nicht so gut wie noch vor einem Jahr. Andererseits hatte dieses Wissen nichts mit der Realität zu tun. Sie war die Einzige, die den Unterschied kannte.
Wie immer strahlte Sloane Energie und Selbstvertrauen aus. Sie knöpfte ihren Blazer auf, zog ihn aus und warf ihn über die Stuhllehne. Die Skepsis, die sie im Gesicht einiger Zuhörer sah, überraschte sie nicht. Die Reaktion kannte sie nur zu gut. Und sie hatte sie schon oft zu ihrem Vorteil genutzt.
Trotz ihres beeindruckenden Lebenslaufs war sie recht zierlich und hatte das jugendliche Aussehen einer Studentin. Aus diesem Grund zweifelten einige an ihren Fähigkeiten und trauten ihr von vornherein nichts zu.
Sollten sie doch. Dadurch war sie im Vorteil. Und dieser Vorteil verlieh ihr Macht.
Sloane wusste, dass Macht viele Gesichter hatte.
Sie zog ihre Schutzhandschuhe an und stellte sich mitten auf die Bühne, sodass der Mittelgang des Hörsaals genau vor ihr lag.
»Sie haben heute Abend schon Vorträge über das Thema gehört, wie man mit den Folgen eines Angriffs umgeht und wie man ihn vermeidet. Es wurden einige Profile typischer Opfer und Angreifer vorgestellt«, begann sie. »Alles, was Sie bisher gelernt haben, ist richtig. Doch es gibt noch eine andere Wahrheit. Wir können die Lebenssituationen, in denen wir uns befinden, nicht immer kontrollieren. Was passiert, wenn Sie nachts allein in einer Tiefgarage stehen, Ihren Wagen ganz hinten geparkt haben und dort ein gruseliger Typ auf der Lauer liegt, der gebaut ist wie ein Kleiderschrank?«
Sloane hielt ihre Hände hoch, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. Dann zeigte sie auf ihren schwarzen Rollkragenpullover und ihre schwarze Hose. Ihre Kleidung hatte keine Taschen, und sie trug kein Waffenholster. »Ich bin ähnlich angezogen wie vielleicht Sie in einer solchen Situation. Ich trage keine Waffe, und ich habe nichts, was ich als solche benutzen könnte. Ich habe auch keine Handtasche bei mir. Selbst wenn ich eine bei mir hätte, würde mir die Zeit fehlen, um mein Handy oder mein Pfefferspray herauszuholen. Darum habe ich Krav Maga gelernt. «
In den Augen der Zuhörer flackerte Interesse auf, und das sogar bei denen, die am Anfang noch gezweifelt hatten.
»Kurz zur Einführung«, fuhr sie fort. »Krav Maga ist eine ganz besondere Art der Selbstverteidigung. Die Anfänge reichen zurück in die Tschechoslowakei während des Aufstiegs des Nazi- Regimes. Der Begründer ist Imi Lichtenfeld, der seine Fähigkeiten im Straßenkampf weiterentwickelte, um sich und andere jüdische Familien vor Angriffen zu schützen. Später emigrierte Lichtenfeld nach Israel. Dort entwickelte er diese Techniken weiter und unterrichtete sie dann als Nahkampfausbilder bei der israelischen Armee. Krav Maga ist Hebräisch und heißt ›Kontaktkampf‹. Es ist eine Ausbildung, die auf unvorhersehbare Straßenkämpfe abzielt. Es gibt keine Regeln. Und es gibt auch keine Trophäen für einen guten Kampfstil. Es geht allein ums Überleben. «
Während Sloane sprach, trat ein kräftiger Mann mit einer Skimaske hinter ihrem Rücken leise vor den Vorhang, sodass die Zuhörer ihn sehen konnten, Sloane jedoch nicht.
Er zog ein Messer aus der Tasche und stürzte sich blitzschnell auf Sloane. Sie hatte keine Zeit, sich auf den Angriff vorzubereiten, und das Publikum hielt den Atem an.
Er packte Sloane an der linken Schulter und presste ihr das Messer in ihren Rücken. »Steig in den Wagen«, befahl er mit krächzender Stimme.
Doch dann änderte sich die Situation schlagartig.
Sloane fuhr blitzschnell herum. Ihr linker Unterarm schoss nach vorn und blockierte sein rechtes Handgelenk, damit sie das Messer abwehren konnte. Es folgte ein Offensivschlag, indem sie ihm mit dem rechten Ellbogen einen direkten Schlag gegen die Kehle verpasste. Als der Angreifer nach Luft rang und vor dem angedeuteten Schlag auf seine Kehle zurückwich, schoss Sloanes linke Hand hoch und nahm seinen rechten Arm zwischen ihrem Oberarm, ihrem Unterarm und ihrer Brust in die Zange. Durch den ungeheuren Druck fiel ihm das Messer aus der Hand.
Sie hatte die Bedrohung abgewehrt.
Daraufhin nahm sie den Kopf ihres Angreifers mit dem rechten Arm in den Schwitzkasten, packte mit der linken Hand seine Schulter, riss seinen Oberkörper nach unten und versetzte ihm mit dem Knie einen Stoß in den Unterleib.
Sloane unterdrückte ein Lächeln, als sie spürte, dass er sich instinktiv versteifte und zurückwich, obwohl er sich - wie es die Demonstration verlangte -, zusammenkrümmte und aufschrie, als wäre er kastriert worden. Zum Schluss verpasste sie ihm noch einen Stoß mit dem Ellbogen auf den Nacken und stieß ihn dann zur Seite, worauf er zusammenbrach und sich scheinbar vor Schmerzen wand.
Die ganze Demonstration hatte keine zehn Sekunden gedauert.
»Dein mangelndes Vertrauen enttäuscht mich«, flüsterte Sloane, während sie ihm aufhalf. Das Publikum applaudierte. »Ich habe deine Luftröhre kaum berührt. Hast du wirklich geglaubt, ich würde dir in die Eier treten?«
»Niemals.« Seine Antwort wurde von dem Applaus übertönt. »Ich weiß, dass du ein Profi bist. Das war nur ein Reflex.«
»Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen.« Mit ernster Miene drehte Sloane sich zu den Zuschauern um. »Das war nur ein Beispiel, wie man Krav Maga bei der Selbstverteidigung einsetzen kann«, erklärte sie. »Es gibt Dutzende von Techniken - je nachdem, wie bedrohlich die Situation ist, in der Sie sich befinden. Auf dem Flyer, den ich verteilt habe, finden Sie alle Informationen zu Krav-Maga-Kursenvor Ort. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das Training ist. Es ist effektiv, und es funktioniert.« Sie drehte sich zu ihrem Angreifer um und gab ihm ein Zeichen, seine Skimaske abzustreifen. »Ich bitte um Applaus für Dr. Elliot Lyman vom John Jay College. Er war ein großartiger Partner bei dieser Demonstration, und er ist ein guter Freund.«
Als Elliot seine Maske abnahm, brandete wieder Applaus auf.
»Auch wenn du immer noch ein Feigling bist«, flüsterte Sloane. »Damals in der Highschool hast du dich jedes Mal geduckt, wenn ich dir einen deiner Bälle zurückgeworfen habe, obwohl du zwei Jahre älter und einen Kopf größer warst als ich. Es hat sich nichts geändert.«
»Damals war ich ein Computerfreak«, erwiderte er. »Jetzt bin ich Informatik-Professor. Ein Trottel, der mit Algorithmen spielt. Nicht so eine fantastische FBI-Agentin wie du.«
»Ex-FBI-Agentin«, korrigierte sie ihn.
»Das wird sich wieder ändern.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir werden sehen.« Sloane presste die Lippen zusammen und signalisierte auf diese Weise, dass sie das Thema nicht vertiefen wollte.
Sie schloss ihre Präsentation ab, beantwortete eine Menge Fragen und plauderte nach dem Ende der Tagung noch eine Weile mit ein paar anderen Referenten. Die vom John Jay College kannte sie von früheren Tagungen, die hier stattgefunden hatten, und von ihren Besuchen bei Elliot. Ihn kannte sie schon seit Beginn der Highschool. Damals hatte sie ihm Nachhilfe in Spanisch gegeben, und er hatte sie in die Geheimnisse des Computers eingeweiht. Ihr Kontakt war nie abgerissen, und als Sloane das FBI verlassen hatte und zurück in den Osten gezogen war, hatten sie ihre Freundschaft wieder aufleben lassen.
Eine Stunde später ging Sloane zu ihrem Wagen und dachte daran, wie kontrovers die Meinungen von Polizisten und Akademikern sein konnten. Sie dachte an Lillian Doyle mit den silbergrauen Haaren, die die Wurzeln der Gewalt in der modernen Zivilisation sah, und an Jimmy O'Donnelly, einen pensionierten Detective des New York Police Department, der es mit allen Gräueltaten zu tun gehabt hatte, die man sich nur vorstellen konnte. Wenn man ihnen zuhörte, hatte man manchmal das Gefühl, sie würden verschiedene Sprachen sprechen. Und je lauter sie sprachen, desto weniger verstanden sie einander.
Für die Teilnehmer war es jedoch gut, dass unterschiedliche Referenten zu Wort kamen. Dadurch wurde ihnen das Thema »Gewalt gegen Frauen« aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert. Das war auch für die Referenten gut. Weder Jimmy O'Donnelly noch Larry Clark gehörten zu denen, die sich zur Ruhe setzen wollten. Und die Professoren liebten angeregte Diskussionen. Besonders Lillian Doyle brauchte laut Elliot die geistige Ablenkung. Ihr Tumor bildete sich nicht weiter zurück, und das letzte Semester war sehr hart für sie gewesen.
Sloane nahm gerne an solchen Tagungen teil. Für sie war das aus mehreren Gründen eine gute Sache.
Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch, als eine steife Brise über ihr Gesicht fuhr und sie daran erinnerte, dass der Winter noch nicht vorbei war. Ein stechender Schmerz schoss durch ihre Handfläche und löste wie immer lebhafte Erinnerungen aus. An das Messer, wie es in ihr Fleischdrang. Andas Blut. Anden Schmerz. Es war ein Bild, das sie nicht abschütteln konnte. Es hatte ihr Leben verändert.
Auch sie hatte sich dadurch verändert.
Sloane zuckte zusammen, als sie erkannte, dass sie ihre Handschuhe hätte anziehen sollen, bevor sie ins Freie gegangen war. Ihre Handtherapeutin würde stinksauer sein, wenn sie es erfahren würde. Jetzt lohnte es sich nicht mehr, die Handschuhe anzuziehen. Sie hatte ihren Wagen fast schon erreicht.
Wenig später stieg sie in ihren Sabura Outback. Sloane hatte Mühe, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken, und sie biss die Zähne zusammen, weil der Schmerz immer noch da war.
Der Motor war gerade angesprungen, als ihr Handy klingelte.
Auf dem Display stand Unbekannt. Das war nicht ungewöhnlich. Die meisten ihrer Kunden schützten ihre Privatsphäre.
»Sloane Burbank«, meldete sie sich.
»Sloane?«, erwiderte eine Frau zögernd. »Hier ist Hope Truman. Pennys Mutter. Ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnerst.«
»Mrs Truman! Hallo! Natürlich erinnere ich mich an Sie.« Sloane runzelte verwundert die Stirn. Es war über zehn Jahre her, seit sie mit den Trumans gesprochen hatte, obwohl sie und Penny während der Schulzeit unzertrennliche Freundinnen gewesen waren. Sogar als Penny später eine private Highschool besuchte, hatten sie sich immer noch zu ausgedehnten Shoppingtouren getroffen. Oder sie hatten sich gegenseitig zu Hause besucht und nach einem gemütlichen Abend bei der Freundin übernachtet. Als dann die Collegezeit begann, hatten sich ihre Wege jedoch getrennt. Sie schlossen neue Freundschaften und verloren sich schließlich aus den Augen. Aber die Erinnerung an ihren jugendlichen Übermut, an ihre Geheimsprache und an die gemeinsam verbrachte Jugend würden wie ihre geliebten Tagebücher immer ein Teil ihres Lebens bleiben.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Sloane. »Und wie geht es Penny? Ich habe ewig nichts von ihr gehört. Ich weiß nur, dass sie bei Harper's Bazaar Karriere macht.«
»Dann weißt du es also nicht?«
»Was weiß ich nicht?«
»Darum rufe ich an.« Mrs Truman holte tief Luft. »Penny ist seit fast einem Jahr verschwunden.«
Sloane spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Wie meinen Sie das - verschwunden?«
»Ich meine, sie hat sich in Luft aufgelöst. Es gibt keine einzige Spur. Und sie hat Ronald und mir kein Wort gesagt. Seither haben wir nichts mehr von ihr gehört.«
»Sie haben also nichts mehr von Penny gehört. Auch sonst niemand?«, hakte Sloane nach, die nicht nur Pennys ehemalige Schulfreundin, sondern auch ausgebildete FBI-Agentin war. Die Trumans waren wohlhabend und weithin bekannt. Ronald Truman war ein renommierter Kardiologe am Mount Sinai. Immer wieder sorgte er für Schlagzeilen. Und seine Selbsthilfebücher zum Thema Wie halte ich mein Herz fit? eroberten regelmäßig die Bestsellerlisten.
Die Trumans waren also ideale Opfer für Erpresser.
»Auch sonst niemand«, erwiderte Mrs Truman.
»Sie haben nie eine Lösegeldforderung oder einen Brief erhalten? «
»Nie. Und wir haben weiß Gott darauf gewartet. Glaub mir, Sloane, wir haben nichts außer Acht gelassen und uns sogar mit der furchtbaren Möglichkeit auseinandergesetzt, dass es sich um eine Entführung handelt, bei der etwas schiefgegangen ist. Aber Pennys Leichnam wurde nie gefunden.« Mrs Truman seufzte resigniert. »Ich bin mir durchaus bewusst, wie gering die Chancen noch sind. Es ist elf Monate her. Aber sie ist meine Tochter. Ich kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.«
»Das kann ich gut verstehen.«
Sloane wusste viel besser als Mrs Truman, wie gut oder wie schlecht die Chancen standen. Und ihr wurde übel, als sie daran dachte.
»Ich habe gerade in der Zeitung den Artikel über dich und die Tagung gelesen, auf der du einen Vortrag gehalten hast«, fuhr Mrs Trumanfort. »Ich wusste nicht, dass du FBI-Agentin warst, und ich wusste auch nicht, dass du beim FBI aufgehört hast, um als private Ermittlerin zu arbeiten. Als ich den Artikel las, habe ich zum ersten Mal seit Monaten wieder ein wenig Hoffnung geschöpft. Wir haben nichts unversucht gelassen. Ihr beide wart damals unzertrennlich. Ich bitte dich, nein, ich flehe dich an, bei uns vorbeizukommen, bevor du Manhattan wieder verlässt. Ich weiß, dass ich dich damit überfalle und dass ich viel von dir verlange. Ich bezahle jede Summe, die du verlangst, auch das Doppelte oder das Dreifache deines normalen Honorars. Unser Fahrer kann dich an der Universität abholen und dich später dort wieder absetzen. Ich würde alles tun, damit du . . .«
»Das ist nicht nötig«, unterbrach Sloane sie. Hunderte von Fragen schossen ihr durch den Kopf. Doch ihr war klar, dass sie in dieser Situation ein persönliches Gespräch führen musste. »Penny ist untrennbar mit meinem Leben verbunden. Wenn ich irgendetwas tun kann, werde ich es tun. Die Tagung ist gerade zu Ende gegangen. Mein Auto steht auf dem Parkplatz, und der Motor läuft. Ich komme jetzt gleich vorbei, bevor ich nach Hause fahre.«
»Gott segne dich.« Tränen der Dankbarkeit mischten sich in die Stimme der älteren Frau.
»Wo wohnen Sie jetzt?«
»125 East Seventy-Eighth, zwischen Park und Lexington Avenue. Apartment 640.«
»Bin schon unterwegs.«
2. Kapitel Datum: 20. März Uhrzeit: 18.00 Uhr
Objekt: Athene
Endlich. Sie ist aufgewacht.
Diesmal erkenne ich an ihrem Blick, dass sie ihre Umgebung wahrnimmt. Es ist nicht wie sonst, wenn sie zu sich kam und dann erschöpft und desorientiert war. Diesmal sieht sie nicht durch mich hindurch, sondern sie sieht mich tatsächlich. Sie zittert. Sie hat Angst.
Das sollte sie auch. Sie weiß, sie gehört mir.
Ich spüre, wie das Adrenalin durch ihre Adern strömt. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, aber beim ersten Mal hat es mich überrascht. Jetzt nicht mehr. Jetzt warte ich schon darauf. Es ist ein gutes Gefühl. Macht. Kontrolle. Sie leistet Widerstand, aber sie zappelt vergebens. Wegen ihrer Kraft und ihrer Intelligenz habe ich dieses Mal besondere Vorkehrungen getroffen. Ihre Hand-und Fußgelenke sind mit dickeren Tauen gefesselt. Die Taue sind mit Klebeband umwickelt. Die Tür ihres Zimmers ist zwei Mal verschlossen.
Ich habe sie nicht geknebelt. Das werde ich tun, wenn ich hinausgehe. Aber niemand kann sie hören. Hier nicht.
Es wird schwieriger sein, ihren Willen zu brechen, schwieriger als bei der letzten Frau. Aber ich werde tun, was ich tun muss.
Sie verlangen es von mir.
125 East Seventy-Eighth Street, Apartment 640
Sloane saß bei den Trumans in der Ecke eines eleganten alten Sofas aus Mahagoni mit Damastbezug und trank den Tee, den Pennys Mutter unbedingt hatte zubereiten wollen. Sie stellte die Tasse auf den Tisch, nahm den Stift auf diese besondere Art in die Hand, die sie sich seit ihrer Handverletzung angewöhnt hatte, und klappte ihr Notizheft auf.
Sloane wartete geduldig, denn Hope Truman lief aufgeregt hin und her und legte Löffelbiskuits auf einen Teller.
Löffelbiskuits. Das weckte viele Erinnerungen. Nachdem sie zu Hause bei Penny stundenlang mit ihren Barbiepuppen gespielt hatten, bot Mrs Truman ihnen immer Löffelbiskuits an. Penny stylte ihre Barbie, kleidete sie nach der neuesten Mode und stimmte dann alle Accessoires genau darauf ab. Sloane behauptete, ihre Barbie sei She-Ra, die Prinzessin der Macht, und ließ sie durchs Zimmer fliegen. Gegen She-Ra katte Ken keine Chance.
Damals waren sie ganz verrückt gewesen nach Löffelbiskuits. Jetzt boten sie Hope Truman die Möglichkeit, ihre Nervosität zu bekämpfen. Sie war verzweifelt, und sie versuchte, das Thema, das zu diesem Treffen geführt hatte, hinauszuzögern. Sloane konnte das gut verstehen. Eine liebende Mutter, die Ermittlungserfolge sehen wollte, die aber gleichzeitig wahnsinnige Angst davor hatte. Und nach fast einem Jahr? Sie konnte nur noch beten und auf ein Wunder hoffen.
Sloane sollte ihr dieses Wunder bescheren.
Verstohlen musterte sie Pennys Mutter. Selbst mit siebenundfünfzig war sie immer noch eine elegante, sehr attraktive Frau. Schlank wie früher. Die Frisur saß perfekt, und sie war makellos geschminkt. Sie trug einen braunen Rollkragenpullover aus Cashmere und eine ockerfarbene Hose, in der sie aussah, als würde sie Werbung machen für Mode von Bergdorf. Doch man sah auch, dass diese Katastrophe ihren Tribut gefordert hatte.
Tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht gegraben, und die hatten nichts mit dem Alter zu tun. In ihren Augen sah Sloane diesen gehetzten Blick, den sie viel zu gut kannte, um ihn noch falsch zu deuten.
»Und wie geht es deinen Eltern?«, fragte Mrs Truman, die sich trotz der schwierigen Situation bemühte, ihrer Rolle als Gastgeberin gerecht zu werden.
»Es geht ihnen gut«, erwiderte Sloane. »Sie sind nach Florida gezogen, nachdem sie jetzt beide im Ruhestand sind. Allerdings stimmt das mit dem Ruhestand nicht so ganz. Meine Mutter arbeitet immer noch mit einigen ihrer Lieblingsautoren, die sie früher in ihrer Literaturagentur betreut hat. Und mein Dad handelt noch ab und zu mit Kunst, falls er irgendein Objekt besonders interessant findet.«
»Ich erinnere mich, dass er früher ständig im Ausland war und dass du ihn oft begleitet hast.«
»Ich habe diese Reisen genossen. Darum spreche ich heute so viele Sprachen. Das ist wohl einer der Hauptgründe, warum das FBI so großes Interesse an mir hatte.« Sloane räusperte sich und schnitt vorsichtig das Thema an, das sie hierhergeführt hatte. »Möchten Sie mit mir über Penny sprechen?«
Mrs Truman nickte unsicher. Sie hörte auf, sich an den Löffelbiskuits und dem Tee zu schaffen zu machen, und sank in einen Ohrensessel. Bevor sie etwas erwiderte, verschränkte sie die Finger ineinander. »Tut mir leid, dass ich dir nicht gleich alles erzählt habe.«
»Das macht doch nichts. Sie haben Angst. Es ist in einer solchen Situation ganz normal, wenn man auf andere Themen ausweicht. «
»Danke. Vielen Dank auch, dass du gekommen bist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.«
»Das müssen Sie auch nicht.« Sloane beugte sich vor. »Mrs Truman ...«
»Hope«, korrigierte die ältere Frau und lächelte verhalten. »Du bist kein Kind mehr. Darum sollten wir auf diese förmliche Anrede verzichten.«
Sloane erwiderte das verhaltene Lächeln. »Okay, Hope. Ich kann mir wahrscheinlich kaum vorstellen, was das für Sie und Ihren Gatten bedeutet. Sie haben gesagt, Penny sei vor einem Jahr verschwunden?«
»Ja, am vierzehnten April ist es ein Jahr her. Allerdings haben wir es erst ein paar Tage später festgestellt.«
»Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«
Hope nickte und leierte wie ein Roboter die Einzelheiten herunter, die sie vermutlich schon unzählige Male erzählt hatte. »Am sechzehnten und siebzehnten erschien sie nicht zur Arbeit. Sie rief auch an beiden Tagen dort nicht an. Ihre Assistentin bei der Zeitung versuchte, sie zu Hause und auf ihrem Handy zu erreichen. Penny meldete sich nicht. Am siebzehnten war sie morgens mit ihrer Freundin Amy zum Frühstück verabredet. Amy und Penny haben nach dem College zwei oder drei Jahre zusammengewohnt. Ronald und ich haben Amy kennengelernt. Sie ist reizend. Als Penny nicht zur Verabredung erschien und Amy sie nicht im Büro und bei Freunden erreichen konnte, rief sie uns an.«
»Und Sie haben dann die Polizei informiert.«
Hope nickte. »Sie haben jede Spur verfolgt. Schließlich fanden sie heraus, dass eine Frau, auf die Pennys Beschreibung zutraf, am vierzehnten April ein Busticket nach Atlantic City gekauft hatte. Daraufhin informierten sie das FBI.«
»Welches Büro hat in dem Fall ermittelt? New York oder Newark?«
»New York, aber sie haben eng mit Newark zusammengearbeitet. Es führte aber zu nichts. Beide Büros fanden keine Spur. Entweder kam die Frau, die sie für Penny hielten, niemals in Atlantic City an, oder es gab keine Zeugen, die sich an sie erinnern konnten.«
»Wurde das Ticket mit einer Kreditkarte bezahlt?«
»Wieder eine Sackgasse. Es wurde bar bezahlt.«
Sloane runzelte die Stirn. »Das ist seltsam. Ich erinnere mich, dass sie schon als Elfjährige für ein Modemagazin arbeiten wollte. Und sie war immer sehr zuverlässig. Wenn sie sich nicht um hundertachtzig Grad gedreht hat . . .«
»Das hat sie nicht.«
»Hat denn die Tatsache, dass sie seit zwei Tagen auf der Arbeit fehlte, ohne anzurufen, bei Harper's Bazaar nicht alle Alarmglocken schrillen lassen?«
»Ja und nein.« Mit zittriger Hand trank Hope einen Schluck Tee. »Offenbar lief es damals für Penny in der Redaktion nicht sehr gut. Sie wurde wohl übergangen bei einer Beförderung. Es war eine harte Zeit für sie, und das nicht nur beruflich, sondern auch privat. Von Rosalinda, Pennys Assistentin, erfuhren wir, dass Penny einen Freund hatte und dass die Beziehung gerade in die Brüche gegangen war. Deshalb erfand Rosalinda eine Ausrede, als Penny nicht zur Arbeit erschien. Sie erzählte allen bei der Zeitung, Penny würde zu Hause arbeiten. Als das FBI sie befragte, gab sie zu, Penny habe die Redaktion am Tag vorher weinend verlassen und gesagt, ihr Leben sei die reinste Katastrophe und sie würde am liebsten alles hinschmeißen.«
»Hat Penny sich nicht bei Ihnen gemeldet?«, fragte Sloane zögernd.
»Nein, an jenem Tag nicht. Wir haben eine Woche vorher miteinander gesprochen.« Hope Truman räusperte sich. »Wenn du mich jetzt fragst, ob wir uns nahestanden, würde ich sagen, ja. Wir hatten ein gutes Verhältnis, wie das eben so ist zwischen Mutter und Tochter. Wir waren keine Freundinnen. Sie hatte ihr eigenes Leben. Über Privates hat sie mir nicht viel erzählt. Sie hat weder ihren Freund noch die Trennung erwähnt. Aber wenn man sich von seinem Freund trennt und wenn man spurlos verschwindet, das hat doch nichts miteinander zu tun. Falls Penny weggehen wollte, hätte sie das niemals getan, ohne ihrem Vater und mir ein Wort zu sagen. Sie hätte es auch nicht getan, ohne ihre persönlichen Dinge mitzunehmen oder ohne vorher alles mit ihrem Vermieter, mit ihrer Bank und mit den Stadtwerken zu regeln. Außerdem wurde keine ihrer Kreditkarten benutzt, seit sie verschwunden ist.«
»Welche Theorie hatte das FBI?«
»Dass die Probleme in ihrem Leben zu viel für sie gewesen sein könnten. Dass sie Depressionen bekommen haben könnte. Und dass starke Depressionen oft dazu führen, dass Menschen Dinge tun, die gar nicht zu ihrer Persönlichkeit passen.«
Sloane verbarg ihre Skepsis. Die Ermittler hatten im Grunde nichts anderes gesagt, als dass Penny entweder die Nerven verloren hatte und abgehauen war, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen, nachdem sie alle Verbindungen zu ihrem alten Leben abgebrochen hatte, oder aber dass sie Selbstmord begangen hatte. Nun, bei einem Selbstmord hätte man die Leiche und vielleicht einen Abschiedsbrief finden müssen. Und die Theorie, dass sie vor ihren Problemen davongelaufen sei, um ganz neu zu beginnen? Das wäre ziemlich weit hergeholt. Vor allem, weil schon ein Jahr vergangen war. Mittlerweile hätte Penny ihre Familie benachrichtigt und ihr mitgeteilt, dass alles in Ordnung sei.
Keine dieser Schlussfolgerungen machte Sloane glücklich, und die Alternativen waren noch viel schrecklicher.
»Ich weiß, was für furchtbare Gedanken dir jetzt durch den Kopf gehen«, sagte Hope. »Ich habe mich mit all diesen Gedanken fast ein Jahr herumgequält. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Aber ich konnte mich an niemanden wenden. Ab und zu erkundige ich mich beim FBI nach dem Stand der Ermittlungen. Der Mitarbeiter im FBI-Büro hier in New York ist immer sehr höflich und erklärt sich jedes Mal bereit, alles zu überprüfen, wenn Ronald und mir noch irgendetwas einfällt. Aber ich bin nicht dumm. Der Fall liegt auf Eis. Solange es keine neuen Spuren gibt . . .«
»Ich spreche mit denen«, bot Sloane an. »Ich habe gute Kontakte zum FBI-Büro in New York. Ich erkläre ihnen die Situation und sage ihnen, dass Sie mich engagiert haben. Dann arrangieren sie ein Treffen zwischen dem verantwortlichen Special Agent und mir. Der wird mich dann über den neuesten Stand der Ermittlungen informieren. Das hilft mir, die richtigen Schritte einzuleiten. Wie heißt der verantwortliche Special Agent?«
»Parker.«
Sloane wollte sich den Namen aufschreiben, doch dann hob sie den Kopf. »Derek Parker?«
Hope nickte. »Warum? Kennst du ihn?«
»Ja, ich kenne ihn.« Sloane machte sich wieder Notizen. »Wir haben im FBI-Büro Cleveland zusammengearbeitet.« Sie klappte ihr Notizheft zu und schob die Teetasse zur Seite. »Ich rufe gleich morgen früh im FBI-Büro an und vereinbare ein Treffen mit ihm. Anschließend rufe ich Sie an und informiere Sie. Dann überlegen wir, wie es weitergehen soll.«
Mrs Trumans Lippen zitterten. »Danke, Sloane.«
»Bedanken Sie sich bei mir, wenn ich Antworten gefunden habe.« Und beten Sie, dass es nicht die Antworten sind, vor denen ich mich am meisten fürchte.
Sloane stand auf. Sie freute sich nicht auf diesen Fall. Es war eine Scheißsituation. Und es würde eine große Herausforderung sein, objektiv an den Fall heranzugehen. Die Chancen, dass Penny noch lebte, waren sehr gering. Und wenn Sloane daran dachte, wer die Ermittlungen leitete, konnte sie kaum auf eine fruchtbare Zusammenarbeit hoffen.
Sloane musste ein paar Leute um einen Gefallen bitten, um dieses Treffen zu vereinbaren, und Derek durfte nicht im Voraus wissen, mit wem er sich treffen sollte. Dann hätte er keinen Heimvorteil, und dadurch hätte sie die Chance, dass es überhaupt zu dem Treffen kam.
Wie es danach weiterging, stand in den Sternen.
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Autoren-Porträt von Andrea Kane
Andrea Kane ist in den USA eine sehr erfolgreiche Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in New Jersey. Im Internet ist sie unter www.andreakane.com zu finden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Kane
- 2014, 1, 511 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863656040
- ISBN-13: 9783863656041
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