Das Efeuhaus
Roman
Ein verwunschenes Jagdschloss. Ein unerfüllter Lebenstraum. Zwei Frauen. Ein dunkles Geheimnis.
Die junge Schauspielerin Helena ist auf dem Weg in die Berge. Als sie in einen Schneesturm gerät, kommt sie mit ihrem Auto von der Straße ab. Schutz findet...
Die junge Schauspielerin Helena ist auf dem Weg in die Berge. Als sie in einen Schneesturm gerät, kommt sie mit ihrem Auto von der Straße ab. Schutz findet...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Efeuhaus “
Klappentext zu „Das Efeuhaus “
Ein verwunschenes Jagdschloss. Ein unerfüllter Lebenstraum. Zwei Frauen. Ein dunkles Geheimnis.Die junge Schauspielerin Helena ist auf dem Weg in die Berge. Als sie in einen Schneesturm gerät, kommt sie mit ihrem Auto von der Straße ab. Schutz findet sie in einem alten Jagdschloss, das seit Jahren leer steht - ein verwunschenes Gebäude, das von einstiger Pracht kündet. In der Nacht wird Helena von seltsamen Träumen heimgesucht. Als sie das Tagebuch der Marietta von Ahrensberg findet, versucht sie, mehr über das Schicksal der jungen Frau zu erfahren. Warum ist die Baronin im Jahr 1922 so jung gestorben, am selben Tag wie ihr kleiner Sohn? Gemeinsam mit dem attraktiven Nachfahren der Familie Moritz von Ahrensberg kommt Helena einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur ...
»Irgendwann, dachte sie, würde der Efeu so dicht sein wie die Hecke, die Dornröschen gefangenhielt. Kein Mensch würde noch zu ihr durchdringen können, kein Laut ihr Ohr erreichen, nichts ihren Schlaf stören.«
Lese-Probe zu „Das Efeuhaus “
Das Efeuhaus von Sophia Cronberg Erster Teil
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I
Als sie mit den Schneeketten kämpfte, musste Helena unwillkürlich an Martin denken. Seit Wochen hatte sie seinen Namen nicht mehr ausgesprochen und jedem in ihrer Umgebung verboten, es zu tun. Aber nun stellte sie sich vor, wie er sich in dieser Lage verhalten hätte.
Wahrscheinlich wäre er im Auto sitzen geblieben und hätte sich eine gefühlte halbe Stunde lang in die Bedienungsanleitung vertieft, bis ihr der Geduldsfaden gerissen und sie zur Tat geschritten wäre. Nachdem er eine Weile zugesehen hätte, wie sie sich vergebens abrackerte, wäre er mit jenem gönnerhaften Lächeln, mit dem er unverschämt gut aussah, das sie aber damals immer zur Weißglut brachte, endlich aus dem Auto gestiegen und hätte ganz lässig das Problem behoben.
»Wozu, glaubst du, gibt es Bedienungsanleitungen?«, hätte er gefragt.
»Die versteht doch kein Mensch!«
»Na, wie gut, dass du mich hast, Schatz«, hätte er gemurmelt, sie an sich gezogen und über ihren Kopf gestreichelt. Ehe sie schnippisch antworten und seine Hand hätte wegstoßen können, hätte er versöhnlicher hinzugefügt: »Aber macht doch nichts! Du bist nun mal die Künstlerin - für die praktischen Dinge hast du ja mich. Wo hättest du Stadtpflanze auch lernen sollen, wie man Schneeketten anlegt?«
Das hatte sie in der Tat noch nie gemacht, und während Helena diese Dinger in Händen hielt - auf einer einsamen Forststraße irgendwo in den tiefverschneiten Bergen -, packte sie wieder eine unglaubliche Wut auf Martin, obwohl er zumindest dafür nun wirklich nichts konnte. Der Schnee schmolz auf ihrem Kopf und sickerte durch alle Öffnungen ihres zwar schicken, aber viel zu dünnen Wintermantels.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
Sie fluchte erst auf Martin, dann auf Luisa, schließlich auf sich selbst, weil sie sich keine Landkarte gekauft, sondern sich auf die Straßenschilder und Luisas Wegbeschreibung verlassen hatte. Luisa war ihre beste Freundin, die sie zum Skiwochenende in den österreichischen Bergen eingeladen hatte.
»Du musst unbedingt mal rauskommen«, hatte sie erklärt, »und von München aus sind es nur zwei Stunden.«
Helena war mittlerweile vier unterwegs und steckte irgendwo in der Einöde fest. Ein Schild hatte sie auf die Forststraße gelockt, die mitten durch einen dichten Wald führte. Eine halbe Stunde lang war sie an keinem Haus mehr vorbeigekommen - und schließlich war die Straße immer schmaler und steiler geworden. Die erste Wegstrecke hatte man heute Morgen noch geräumt, aber mittlerweile stand der Schnee so hoch, dass ihre Reifen mehrmals quietschend durchgedreht hatten, und die Angst, im Straßengraben zu landen, hatte ihre Bedenken besiegt, die neu gekauften Schneeketten anzulegen.
Helena las die Bedienungsanleitung nun schon zum x-ten Mal und hatte immer noch keine Ahnung, wie sie am besten vorgehen sollte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, das Licht wurde immer diffuser. Zuerst hatten die grauen Wolken nur schmale Schneisen am mattblauen Himmel gezogen, nun verschmolz der farblose Himmel mit den schmutzig anmutenden Schneemassen. Sie warf die Bedienungsanleitung genervt auf den Rücksitz und entschied, sich auf ihren gesunden Menschenverstand zu verlassen. So schwer konnte das alles nicht sein - Schritt eins: Ketten
entwirren, Schritt zwei: Sie vor die Reifen legen, Schritt drei: darauf fahren, Schritt vier: Ketten schließen. Davon, dass sie sich den Finger einklemmte, sobald sie die Ketten hochhob, wollte sie sich nicht entmutigen lassen. Sie unterdrückte einen weiteren Fluch und dachte wieder an Martin. Die Erinnerung daran, wie er stets spöttisch die Augenbrauen hochzog, sobald sie wieder einmal den Kampf gegen die Technik verlor, gab ihr Kraft.
Nein, sie würde ihm nicht den Gefallen tun zu scheitern. Sie würde die Schneeketten anlegen und den Weg zur Hütte zurücklegen, wo sie jenes kuschelige Kaminfeuer erwartete, von dem Luisa so geschwärmt hatte. Sie würde die Bekanntschaft neuer, interessanter Leute machen, die nichts von ihren Rückschlägen an allen Fronten wussten, würde lachen, »Die Siedler von Catan« spielen, Glühwein trinken und gestärkt und voller Pläne wieder nach Hause zurückkehren.
Soweit der Plan.
Sie hoffte so lange, ihn doch noch umsetzen zu können, bis sie die Ketten vor die Reifen gelegt hatte und wieder ins Auto gestiegen war. Sobald sie Gas gab, drehten die Reifen erneut durch. Sie stieg erst aufstöhnend auf die Bremse, dann wieder auf das Gas-pedal. Prompt machte das Auto einen Ruck, und sie spürte, wie es über einen Widerstand rollte - wahrscheinlich die Schneeketten. Zu weit, sie war viel zu weit gefahren!
Hektisch stieg sie auf die Bremse, doch anstatt stehenzubleiben, rollte das Auto noch ein Stückchen weiter nach hinten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Straße unter der Schneedecke völlig vereist war. Schweiß brach ihr aus, ein lauter Schrei entfuhr ihren Lippen. Sie klammerte sich ans Lenkrad, kurbelte heftig nach links, um zu verhindern, dass das Auto von der Straße abkam, aber sie hatte keine Chance. Schon geriet es in eine gefährliche Schieflage, und voller Entsetzen stellte Helena fest, dass sie vergessen hatte, den Gurt anzulegen. Sie umklammerte das Lenkrad
noch fester, schloss die Augen und spürte, wie das Auto mit einem lauten Quietschen langsam zur Seite kippte. Dann senkte sich eine schreckliche Stille über sie.
Jeder weitere Fluch blieb Helena in der Kehle stecken. Ihr Ärger war längst der nackten Angst gewichen. Eine Weile wagte sie nicht, das Lenkrad loszulassen und auszusteigen -- womöglich würde das Auto zu schwanken beginnen, wenn sie ihr Gewicht verlagerte. Doch schließlich blieb ihr gar nichts anderes übrig, als aus dem Fahrzeug zu klettern und das ganze Ausmaß ihres Unglücks in Augenschein zu nehmen.
»Na großartig!«
Sie war mit dem rechten Vorder- und Hinterreifen von der Forststraße abgekommen, und ohne fremde Hilfe würde es ihr nie gelingen, das Auto wieder auf die Fahrbahn zu befördern. Das Licht schien noch fahler durch die Baumkronen, Schneefall setzte ein. Helenas Hände waren steif gefroren, und als sie nach ihrem Handy kramte, wäre es ihr fast entglitten. Wie befürchtet hatte sie keinen Empfang.
»Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar«, erklärte eine fremde Frauenstimme, nachdem sie Luisas Nummer gewählt hatte.
Helena hätte am liebsten geheult.
Ihre Füße wurden nass, als sie verzweifelt ums Auto stapfte. Sie trug nur ihre dünnen Raulederstiefel, die bestenfalls für den Be-such des Münchner Weihnachtsmarktes taugten, aber für einen Spaziergang im Tiefschnee völlig ungeeignet waren.
Das hatte sie Luisa vor der Abfahrt auch entgegengehalten: »Ich habe überhaupt keine vernünftige Ausrüstung für die Berge!«
»Ach was«, hatte Luisa den Einwand entkräftet. »Du kannst dir alles von mir borgen - inklusive Snowboard.«
Wenigstens einen Schal hatte sie dabei. Helena holte ihn aus
dem Kofferraum und wickelte sich in ihn ein, fror aber immer noch erbärmlich. Suchend blickte sie sich um. Rechts bildeten Tannenbäume ein undurchdringliches Dickicht, links säumten hohe Laubbäume, von deren kahlen Ästen Schnee rieselte, den Weg. Weit und breit waren keine menschlichen Spuren zu sehen - nur winzige, runde Abdrücke von Rehen. Nicht einmal ein Futterstand für die Tiere, der vom hiesigen Förster immer mal wieder nachgefüllt werden musste, ließ sich in der Ferne erahnen. Wurzeln ragten dunkel aus dem Schnee, ansonsten lag der Boden unter der dicken, weißen Decke begraben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass heute noch jemand auf dieser Straße vorbeikommen würde, war denkbar gering. Was wiederum bedeutete, dass sie entweder im Auto übernachten oder dieses hier zurücklassen und die nächstgelegene Siedlung suchen musste. Sie sollte sich besser bald entscheiden, denn sie hatte keine Taschenlampe dabei und konnte bereits jetzt kaum noch etwas sehen. Ratlos rieb sich Helena ihre eiskalten Hände. Wenn sie wenigstens eine warme Decke eingepackt hätte! Doch Luisa hatte ihr versichert, dass es davon genügend auf der Hütte gäbe - ebenso wie Handtücher und Bettwäsche. Deswegen hatte sie nur ihre Toilettensachen, frische Unterwäsche, einen Pulli, Socken und ein zweites Paar Jeans in ihren kleinen Koffer gepackt. Sie kramte den Pulli hervor, zog ihn über ihre Bluse, dann schlüpfte sie wieder in ihren Mantel. Sie verzichtete aber auf das zusätzliche Paar Socken - die Stiefel würden sonst zu eng werden. Mit einem lauten Knall schloss sie den Kofferraum, blickte sich ein letztes Mal zweifelnd um und ging dann los. Wenn sie die Anhöhe erreicht hatte, die die Forststraße hochführte, hatte sie von dort aus vielleicht freien Blick ins Umland.
Die Strecke war nicht weit, höchstens einen halben Kilometer, aber der Schnee lag so hoch, dass sie immer wieder darin versank. Früher war sie auf ihren durchtrainierten Körper stolz gewesen,
aber in den letzten Monaten hatte sie sich am Abend lieber auf dem Sofa verkrochen und ihre Wunden geleckt, anstatt sich im Fitnessstudio oder beim Joggen abzurackern. Jetzt büßte sie dafür: Bald spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in Oberschenkeln und Waden, und ihre Stirn wurde feucht - von geschmolzenen Schneeflocken, aber auch von Schweiß. Nicht nur ihre Erschöpfung wuchs, auch ihr Überdruss.
Klar, dachte sie, dass ausgerechnet mir das passieren muss.
Wie konnte sie nur erwarten, dass dieses mehr als bescheidene Jahr einen glücklichen Ausklang finden würde? Am besten, sie hätte sich bis Silvester in ihrem Zimmer vergraben.
Letztes Jahr vor Weihnachten war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war mit Martin glücklich, die Ausbildung an der Abraxas Musical Akademie näherte sich dem Ende. Gleich nach der Abschlussprüfung im Frühling war die Hochzeit geplant, und nach einer traumhaften Hochzeitsreise würden unzählige interessante Engagements folgen.
An das Fiasko mit Martin, das sämtliche Ehepläne zunichte gemacht hatte, wollte sie jetzt gar nicht erst denken, und anstelle toller Engagements hatte sie sich von Casting zu Casting gequält, immer ernüchterter und gedemütigter. Schließlich hatte sie doch eine Rolle ergattert - nicht etwa für ein Musical, ja, nicht einmal für die Bühne. Einen knappen Monat lang stand sie stattdessen für eine Nachmittags-Telenovela vor der Kamera -- in einer blassen Nebenrolle, deren Text sich darauf beschränkte, den Bösewicht der Serie bewundernd anzuschmachten. Der hielt wenig davon, was jeder Zuschauer mit Verstand schon bei der ersten Begegnung durchschaute, ihr doofes Rollen-Ich aber leider so gar nicht. Am Ende wurde sie von dessen Ex vergiftet, so dass sich Helenas letzter Auftritt in Folge 185 darauf beschränkte, als Leiche geschminkt auf dem Seziertisch zu liegen.
Auch wenn dieser Abgang den Vorteil bot, dass sie keinen
schwachsinnigen Text mehr hatte lernen müssen - in dem Augenblick, als sie sich auf dem kalten Stahl ausschließlich darauf konzentrierte, den Atem möglichst flach zu halten, hatte sie gedacht, dass es nicht noch weiter bergab gehen konnte. Erst jetzt, da sie die einsame Forststraße entlangstapfte, wusste sie, dass der absolute Tiefpunkt damals noch nicht erreicht gewesen war. Dort war sie erst jetzt angelangt - diesmal in der Rolle »Stadtpflanze verirrt sich in den Bergen«.
Inmitten der Stille erschienen ihr die wenigen Geräusche um sie herum noch unheimlicher. Das Knacken der Äste, die unter der frostigen Last nachgaben, klang wie ein Seufzen, der kalte Wind, der den Schnee verwehte, wie ein Stöhnen. Ihre Schritte knarzten, ihr keuchender Atem und ihr laut pochendes Herz verstärkten das Gefühl vollkommener Verlassenheit.
Endlich hatte sie den höchsten Punkt der Straße erreicht. Zumindest ihre größte Angst, dass sich dahinter nur weiterer Wald erstrecken würde, erfüllte sich nicht. Der Blick auf den Himmel wurde nicht länger von Baumkronen verstellt, und sein Grau schien trotz anhaltenden Schneefalls etwas heller. Deutlich sichtbar schlängelte sich die Forststraße ins Tal und führte von dort wieder einen Berg hinauf. An ihrer breitesten Stelle zweigte eine Nebenstraße ab, die vor einem Gebäude endete.
Inmitten der Berge wirkte es wie ein Trugbild. Mit den zwei Er-kern rechts und links - von grünlich schimmernden Holzschindeln bedeckt und spitz zulaufend wie ein Kirchturm - glich es mehr einem Miniaturschloss als einem normalen Wohnhaus. Nichts deutete darauf hin, dass Menschen dort lebten: Das große, wuchtige Tor war geschlossen, hinter den vielen Fenstern brannte kein Licht, und aus dem Kamin stieg kein Rauch. Doch wenn sie für die Nacht inmitten dieser Einöde ein Dach über den Kopf finden wollte, dann bot sich dort ihre einzige Chance.
Der Weg zum Schlösschen hatte vom Hügel aus nicht weit gewirkt, doch bis Helena endlich das Gebäude erreichte, war eine halbe Stunde vergangen. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, und zwischen der Wolkendecke ließen sich die letzten Strahlen der Abendsonne erahnen, eher von einem dunklen Violett als einem warmen Rostrot. Der Schweiß auf ihrer Stirn erkaltete, und Helenas Magen begann zu knurren. Im Handschuhfach ihres Autos hatte sie noch einen angebrochenen Riegel Snickers und - wenn sie sich recht erinnerte - eine Dose Cola aufbewahrt, und sie ärgerte sich, nichts davon mitgenommen zu haben. Doch sie bezähmte ihren Hunger - dank der vielen Diäten, die sie in ihrem Leben schon gemacht hatte, war sie immerhin an das flaue Gefühl im Magen gewohnt. Auch als sie während der Musicalausbildung mit ihren Kolleginnen stets heimlich um die Wette fastete, hatte sie dies nicht von körperlichen Höchstleistungen abgebracht.
Aus der Nähe betrachtet wirkte das Gebäude noch viel erhabener, und der Weg, der darauf zuführte, war stärker verschneit als die Forststraße. Nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich jemand entlanggegangen oder gefahren war.
»Hallo?«, rief Helena mehrmals in die Stille hinein.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
I
Als sie mit den Schneeketten kämpfte, musste Helena unwillkürlich an Martin denken. Seit Wochen hatte sie seinen Namen nicht mehr ausgesprochen und jedem in ihrer Umgebung verboten, es zu tun. Aber nun stellte sie sich vor, wie er sich in dieser Lage verhalten hätte.
Wahrscheinlich wäre er im Auto sitzen geblieben und hätte sich eine gefühlte halbe Stunde lang in die Bedienungsanleitung vertieft, bis ihr der Geduldsfaden gerissen und sie zur Tat geschritten wäre. Nachdem er eine Weile zugesehen hätte, wie sie sich vergebens abrackerte, wäre er mit jenem gönnerhaften Lächeln, mit dem er unverschämt gut aussah, das sie aber damals immer zur Weißglut brachte, endlich aus dem Auto gestiegen und hätte ganz lässig das Problem behoben.
»Wozu, glaubst du, gibt es Bedienungsanleitungen?«, hätte er gefragt.
»Die versteht doch kein Mensch!«
»Na, wie gut, dass du mich hast, Schatz«, hätte er gemurmelt, sie an sich gezogen und über ihren Kopf gestreichelt. Ehe sie schnippisch antworten und seine Hand hätte wegstoßen können, hätte er versöhnlicher hinzugefügt: »Aber macht doch nichts! Du bist nun mal die Künstlerin - für die praktischen Dinge hast du ja mich. Wo hättest du Stadtpflanze auch lernen sollen, wie man Schneeketten anlegt?«
Das hatte sie in der Tat noch nie gemacht, und während Helena diese Dinger in Händen hielt - auf einer einsamen Forststraße irgendwo in den tiefverschneiten Bergen -, packte sie wieder eine unglaubliche Wut auf Martin, obwohl er zumindest dafür nun wirklich nichts konnte. Der Schnee schmolz auf ihrem Kopf und sickerte durch alle Öffnungen ihres zwar schicken, aber viel zu dünnen Wintermantels.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
Sie fluchte erst auf Martin, dann auf Luisa, schließlich auf sich selbst, weil sie sich keine Landkarte gekauft, sondern sich auf die Straßenschilder und Luisas Wegbeschreibung verlassen hatte. Luisa war ihre beste Freundin, die sie zum Skiwochenende in den österreichischen Bergen eingeladen hatte.
»Du musst unbedingt mal rauskommen«, hatte sie erklärt, »und von München aus sind es nur zwei Stunden.«
Helena war mittlerweile vier unterwegs und steckte irgendwo in der Einöde fest. Ein Schild hatte sie auf die Forststraße gelockt, die mitten durch einen dichten Wald führte. Eine halbe Stunde lang war sie an keinem Haus mehr vorbeigekommen - und schließlich war die Straße immer schmaler und steiler geworden. Die erste Wegstrecke hatte man heute Morgen noch geräumt, aber mittlerweile stand der Schnee so hoch, dass ihre Reifen mehrmals quietschend durchgedreht hatten, und die Angst, im Straßengraben zu landen, hatte ihre Bedenken besiegt, die neu gekauften Schneeketten anzulegen.
Helena las die Bedienungsanleitung nun schon zum x-ten Mal und hatte immer noch keine Ahnung, wie sie am besten vorgehen sollte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, das Licht wurde immer diffuser. Zuerst hatten die grauen Wolken nur schmale Schneisen am mattblauen Himmel gezogen, nun verschmolz der farblose Himmel mit den schmutzig anmutenden Schneemassen. Sie warf die Bedienungsanleitung genervt auf den Rücksitz und entschied, sich auf ihren gesunden Menschenverstand zu verlassen. So schwer konnte das alles nicht sein - Schritt eins: Ketten
entwirren, Schritt zwei: Sie vor die Reifen legen, Schritt drei: darauf fahren, Schritt vier: Ketten schließen. Davon, dass sie sich den Finger einklemmte, sobald sie die Ketten hochhob, wollte sie sich nicht entmutigen lassen. Sie unterdrückte einen weiteren Fluch und dachte wieder an Martin. Die Erinnerung daran, wie er stets spöttisch die Augenbrauen hochzog, sobald sie wieder einmal den Kampf gegen die Technik verlor, gab ihr Kraft.
Nein, sie würde ihm nicht den Gefallen tun zu scheitern. Sie würde die Schneeketten anlegen und den Weg zur Hütte zurücklegen, wo sie jenes kuschelige Kaminfeuer erwartete, von dem Luisa so geschwärmt hatte. Sie würde die Bekanntschaft neuer, interessanter Leute machen, die nichts von ihren Rückschlägen an allen Fronten wussten, würde lachen, »Die Siedler von Catan« spielen, Glühwein trinken und gestärkt und voller Pläne wieder nach Hause zurückkehren.
Soweit der Plan.
Sie hoffte so lange, ihn doch noch umsetzen zu können, bis sie die Ketten vor die Reifen gelegt hatte und wieder ins Auto gestiegen war. Sobald sie Gas gab, drehten die Reifen erneut durch. Sie stieg erst aufstöhnend auf die Bremse, dann wieder auf das Gas-pedal. Prompt machte das Auto einen Ruck, und sie spürte, wie es über einen Widerstand rollte - wahrscheinlich die Schneeketten. Zu weit, sie war viel zu weit gefahren!
Hektisch stieg sie auf die Bremse, doch anstatt stehenzubleiben, rollte das Auto noch ein Stückchen weiter nach hinten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Straße unter der Schneedecke völlig vereist war. Schweiß brach ihr aus, ein lauter Schrei entfuhr ihren Lippen. Sie klammerte sich ans Lenkrad, kurbelte heftig nach links, um zu verhindern, dass das Auto von der Straße abkam, aber sie hatte keine Chance. Schon geriet es in eine gefährliche Schieflage, und voller Entsetzen stellte Helena fest, dass sie vergessen hatte, den Gurt anzulegen. Sie umklammerte das Lenkrad
noch fester, schloss die Augen und spürte, wie das Auto mit einem lauten Quietschen langsam zur Seite kippte. Dann senkte sich eine schreckliche Stille über sie.
Jeder weitere Fluch blieb Helena in der Kehle stecken. Ihr Ärger war längst der nackten Angst gewichen. Eine Weile wagte sie nicht, das Lenkrad loszulassen und auszusteigen -- womöglich würde das Auto zu schwanken beginnen, wenn sie ihr Gewicht verlagerte. Doch schließlich blieb ihr gar nichts anderes übrig, als aus dem Fahrzeug zu klettern und das ganze Ausmaß ihres Unglücks in Augenschein zu nehmen.
»Na großartig!«
Sie war mit dem rechten Vorder- und Hinterreifen von der Forststraße abgekommen, und ohne fremde Hilfe würde es ihr nie gelingen, das Auto wieder auf die Fahrbahn zu befördern. Das Licht schien noch fahler durch die Baumkronen, Schneefall setzte ein. Helenas Hände waren steif gefroren, und als sie nach ihrem Handy kramte, wäre es ihr fast entglitten. Wie befürchtet hatte sie keinen Empfang.
»Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar«, erklärte eine fremde Frauenstimme, nachdem sie Luisas Nummer gewählt hatte.
Helena hätte am liebsten geheult.
Ihre Füße wurden nass, als sie verzweifelt ums Auto stapfte. Sie trug nur ihre dünnen Raulederstiefel, die bestenfalls für den Be-such des Münchner Weihnachtsmarktes taugten, aber für einen Spaziergang im Tiefschnee völlig ungeeignet waren.
Das hatte sie Luisa vor der Abfahrt auch entgegengehalten: »Ich habe überhaupt keine vernünftige Ausrüstung für die Berge!«
»Ach was«, hatte Luisa den Einwand entkräftet. »Du kannst dir alles von mir borgen - inklusive Snowboard.«
Wenigstens einen Schal hatte sie dabei. Helena holte ihn aus
dem Kofferraum und wickelte sich in ihn ein, fror aber immer noch erbärmlich. Suchend blickte sie sich um. Rechts bildeten Tannenbäume ein undurchdringliches Dickicht, links säumten hohe Laubbäume, von deren kahlen Ästen Schnee rieselte, den Weg. Weit und breit waren keine menschlichen Spuren zu sehen - nur winzige, runde Abdrücke von Rehen. Nicht einmal ein Futterstand für die Tiere, der vom hiesigen Förster immer mal wieder nachgefüllt werden musste, ließ sich in der Ferne erahnen. Wurzeln ragten dunkel aus dem Schnee, ansonsten lag der Boden unter der dicken, weißen Decke begraben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass heute noch jemand auf dieser Straße vorbeikommen würde, war denkbar gering. Was wiederum bedeutete, dass sie entweder im Auto übernachten oder dieses hier zurücklassen und die nächstgelegene Siedlung suchen musste. Sie sollte sich besser bald entscheiden, denn sie hatte keine Taschenlampe dabei und konnte bereits jetzt kaum noch etwas sehen. Ratlos rieb sich Helena ihre eiskalten Hände. Wenn sie wenigstens eine warme Decke eingepackt hätte! Doch Luisa hatte ihr versichert, dass es davon genügend auf der Hütte gäbe - ebenso wie Handtücher und Bettwäsche. Deswegen hatte sie nur ihre Toilettensachen, frische Unterwäsche, einen Pulli, Socken und ein zweites Paar Jeans in ihren kleinen Koffer gepackt. Sie kramte den Pulli hervor, zog ihn über ihre Bluse, dann schlüpfte sie wieder in ihren Mantel. Sie verzichtete aber auf das zusätzliche Paar Socken - die Stiefel würden sonst zu eng werden. Mit einem lauten Knall schloss sie den Kofferraum, blickte sich ein letztes Mal zweifelnd um und ging dann los. Wenn sie die Anhöhe erreicht hatte, die die Forststraße hochführte, hatte sie von dort aus vielleicht freien Blick ins Umland.
Die Strecke war nicht weit, höchstens einen halben Kilometer, aber der Schnee lag so hoch, dass sie immer wieder darin versank. Früher war sie auf ihren durchtrainierten Körper stolz gewesen,
aber in den letzten Monaten hatte sie sich am Abend lieber auf dem Sofa verkrochen und ihre Wunden geleckt, anstatt sich im Fitnessstudio oder beim Joggen abzurackern. Jetzt büßte sie dafür: Bald spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in Oberschenkeln und Waden, und ihre Stirn wurde feucht - von geschmolzenen Schneeflocken, aber auch von Schweiß. Nicht nur ihre Erschöpfung wuchs, auch ihr Überdruss.
Klar, dachte sie, dass ausgerechnet mir das passieren muss.
Wie konnte sie nur erwarten, dass dieses mehr als bescheidene Jahr einen glücklichen Ausklang finden würde? Am besten, sie hätte sich bis Silvester in ihrem Zimmer vergraben.
Letztes Jahr vor Weihnachten war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war mit Martin glücklich, die Ausbildung an der Abraxas Musical Akademie näherte sich dem Ende. Gleich nach der Abschlussprüfung im Frühling war die Hochzeit geplant, und nach einer traumhaften Hochzeitsreise würden unzählige interessante Engagements folgen.
An das Fiasko mit Martin, das sämtliche Ehepläne zunichte gemacht hatte, wollte sie jetzt gar nicht erst denken, und anstelle toller Engagements hatte sie sich von Casting zu Casting gequält, immer ernüchterter und gedemütigter. Schließlich hatte sie doch eine Rolle ergattert - nicht etwa für ein Musical, ja, nicht einmal für die Bühne. Einen knappen Monat lang stand sie stattdessen für eine Nachmittags-Telenovela vor der Kamera -- in einer blassen Nebenrolle, deren Text sich darauf beschränkte, den Bösewicht der Serie bewundernd anzuschmachten. Der hielt wenig davon, was jeder Zuschauer mit Verstand schon bei der ersten Begegnung durchschaute, ihr doofes Rollen-Ich aber leider so gar nicht. Am Ende wurde sie von dessen Ex vergiftet, so dass sich Helenas letzter Auftritt in Folge 185 darauf beschränkte, als Leiche geschminkt auf dem Seziertisch zu liegen.
Auch wenn dieser Abgang den Vorteil bot, dass sie keinen
schwachsinnigen Text mehr hatte lernen müssen - in dem Augenblick, als sie sich auf dem kalten Stahl ausschließlich darauf konzentrierte, den Atem möglichst flach zu halten, hatte sie gedacht, dass es nicht noch weiter bergab gehen konnte. Erst jetzt, da sie die einsame Forststraße entlangstapfte, wusste sie, dass der absolute Tiefpunkt damals noch nicht erreicht gewesen war. Dort war sie erst jetzt angelangt - diesmal in der Rolle »Stadtpflanze verirrt sich in den Bergen«.
Inmitten der Stille erschienen ihr die wenigen Geräusche um sie herum noch unheimlicher. Das Knacken der Äste, die unter der frostigen Last nachgaben, klang wie ein Seufzen, der kalte Wind, der den Schnee verwehte, wie ein Stöhnen. Ihre Schritte knarzten, ihr keuchender Atem und ihr laut pochendes Herz verstärkten das Gefühl vollkommener Verlassenheit.
Endlich hatte sie den höchsten Punkt der Straße erreicht. Zumindest ihre größte Angst, dass sich dahinter nur weiterer Wald erstrecken würde, erfüllte sich nicht. Der Blick auf den Himmel wurde nicht länger von Baumkronen verstellt, und sein Grau schien trotz anhaltenden Schneefalls etwas heller. Deutlich sichtbar schlängelte sich die Forststraße ins Tal und führte von dort wieder einen Berg hinauf. An ihrer breitesten Stelle zweigte eine Nebenstraße ab, die vor einem Gebäude endete.
Inmitten der Berge wirkte es wie ein Trugbild. Mit den zwei Er-kern rechts und links - von grünlich schimmernden Holzschindeln bedeckt und spitz zulaufend wie ein Kirchturm - glich es mehr einem Miniaturschloss als einem normalen Wohnhaus. Nichts deutete darauf hin, dass Menschen dort lebten: Das große, wuchtige Tor war geschlossen, hinter den vielen Fenstern brannte kein Licht, und aus dem Kamin stieg kein Rauch. Doch wenn sie für die Nacht inmitten dieser Einöde ein Dach über den Kopf finden wollte, dann bot sich dort ihre einzige Chance.
Der Weg zum Schlösschen hatte vom Hügel aus nicht weit gewirkt, doch bis Helena endlich das Gebäude erreichte, war eine halbe Stunde vergangen. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, und zwischen der Wolkendecke ließen sich die letzten Strahlen der Abendsonne erahnen, eher von einem dunklen Violett als einem warmen Rostrot. Der Schweiß auf ihrer Stirn erkaltete, und Helenas Magen begann zu knurren. Im Handschuhfach ihres Autos hatte sie noch einen angebrochenen Riegel Snickers und - wenn sie sich recht erinnerte - eine Dose Cola aufbewahrt, und sie ärgerte sich, nichts davon mitgenommen zu haben. Doch sie bezähmte ihren Hunger - dank der vielen Diäten, die sie in ihrem Leben schon gemacht hatte, war sie immerhin an das flaue Gefühl im Magen gewohnt. Auch als sie während der Musicalausbildung mit ihren Kolleginnen stets heimlich um die Wette fastete, hatte sie dies nicht von körperlichen Höchstleistungen abgebracht.
Aus der Nähe betrachtet wirkte das Gebäude noch viel erhabener, und der Weg, der darauf zuführte, war stärker verschneit als die Forststraße. Nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich jemand entlanggegangen oder gefahren war.
»Hallo?«, rief Helena mehrmals in die Stille hinein.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Sophia Cronberg
Sophia Cronberg wurde 1975 in Linz geboren. Seit einigen Jahren ist sie hauptberuflich Schriftstellerin. Sie spielt gern Klavier und liebt das Reisen. Sophia Cronberg ist Mutter einer kleinen Tochter und lebt abwechselnd in Frankfurt am Main und in Österreich. Bei FISCHER Taschenbuch sind von ihr »Das Efeuhaus«, »Die Lilieninsel« und »Der Palazzo am See« erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sophia Cronberg
- 2013, 1. Auflage, 480 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596195381
- ISBN-13: 9783596195381
- Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Rezension zu „Das Efeuhaus “
Ein in blumiger Sprache geschriebener Schmöker [...], der sich als Urlaubslektüre bestens eignet und spannende Einblicke in ein Frauenschicksal zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt. Empfohlen. Jane Holler EKZ Bibliotheksservice 20130617
Pressezitat
Ein in blumiger Sprache geschriebener Schmöker [...], der sich als Urlaubslektüre bestens eignet und spannende Einblicke in ein Frauenschicksal zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt. Empfohlen. Jane Holler EKZ Bibliotheksservice 20130617
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