Saubär
Der ausgebrannte Kombi von Saubauer Hias gibt Rätsel auf: Sechs verkohlte Körper - und ein Duft nach Schweinsripperl! War das ein Unfall oder war Mord im Spiel? Die Mordkommission Straubing schickt Hauptkommissar Lederer!
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Produktinformationen zu „Saubär “
Der ausgebrannte Kombi von Saubauer Hias gibt Rätsel auf: Sechs verkohlte Körper - und ein Duft nach Schweinsripperl! War das ein Unfall oder war Mord im Spiel? Die Mordkommission Straubing schickt Hauptkommissar Lederer!
Lese-Probe zu „Saubär “
Saubär von Christian LimmerIn der wolkenverhangenen Neumondnacht hob sich der Tannenwald links und rechts der schnurgeraden Landstraße wie ein Scherenbild ab. Der scharfe Novemberwind spielte mit den Bäumen, sie wiegten sich im Tanz hin und her. Hohl klang das Bellen eines großen Hundes aus einiger Entfernung herüber. Zwischen den Bäumen tauchte ein schwacher Schimmer auf. Ein alter Kombi schoss die Straße heran. Vertrocknete Tannennadeln wirbelten auf. Die rechte Seite des Wagens befand sich auf dem Grünstreifen, so dass die Begrenzungspfosten vom Kotflügel mit einem rhythmischen Plopp-Plopp-Plopp aus der Erde gerissen und durch die Luft geschleudert wurden. Für einen Moment schien es, als würde der Kombi sich in den Wald verabschieden, aber er folgte dem Straßenverlauf wie an der Schnur gezogen. Ein Schild kündigte eine Doppelkurve an, doch der Kombi raste unbeirrt mit hoher Geschwindigkeit weiter. Die scharfe Linkskurve tauchte auf und wurde von dem Wagen ignoriert. Kurz holperte er über den Entwässerungsgraben, pflügte eine Schneise durch die Bäume, bevor er frontal gegen einen dicken alten Tannenbaum krachte. Der Aufprall klang wie ein Schuss in der Stille. Die Motorhaube faltete sich zusammen, Wasserdampf stieg aus dem zerborstenen Kühler. Aus dem Inneren des Wagens war aufgeregtes Quieken und Grunzen zu hören. Dunkler Rauch mischte sich mit dem weißen Dampf. Im Motorraum hatte ein Kurzschluss einen Kabelbrand ausgelöst, der sich innerhalb weniger Sekunden auf die gesamte Front des Kombis ausbreitete. Ein Feuerzünglein erwischte das auslaufende Benzin und vereinigte sich mit ihm. Die gesamte Fahrgastzelle ging in Flammen auf. Es knisterte und knackte, die Glasscheiben schmolzen in der Hitze, und das Quieken und Grunzen steigerte sich ins Infernalische. Eine dunkle Gestalt trat zwischen den Bäumen hervor
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und verfolgte aus sicherer Entfernung das Ausbrennen des Kombis. Im Schein des Feuers war der unförmige Kopf der Gestalt mit den borstigen Haaren gut zu erkennen. Das Quieken und Grunzen erstarb. Die Gestalt verharrte noch einen Augenblick, dann verschwand sie lautlos im Wald.
Der Kombi brannte noch zwei Stunden. Am frühen Morgen entdeckte ihn ein Bauer, der mit einer Ladung Kürbisse unterwegs zum Wochenmarkt nach Straubing war. Um 8 Uhr 32 stand Polizeihauptmeisterin Gisela Wegmeyer von der Dienststelle Niedernussdorf vor dem ausgebrannten Wrack. Gisela war eine gestandene Frau Anfang fünfzig, gewohnt zuzupacken, wenn es nötig war. In ihrer Begleitung waren Polizeiobermeister Georg »Schorsch« Kramer und sein ranggleicher Kollege Erwin Huber. Der eine sehr stämmig, der andere sehr untersetzt. Alle drei lugten durch die geschmolzenen Scheiben ins Innere des Kombis. Der Bauer mit den Kürbissen hockte in seinem X3 und wärmte sich an der Standheizung. Er ließ die Polizisten nicht aus dem Blick. »Vier«, murmelte Erwin. »Fünf«, sagte Gisela. Sie deutete auf den Fußraum vor der Rückbank, auf der zwei Körper zu einem schwarzen Haufen verschmolzen waren. »Da unten.«
Erwin trat neben Gisela. »Das ist aber klein«, hauchte er. »Wahrscheinlich ein Kind.« Ihre Stimme zitterte. Schorsch war auf der anderen Seite des Wagens. Seine Nase kräuselte sich, er schnupperte. »Findet ihr nicht, dass das wie Ripperl riecht?« Gisela und Erwin schauten Schorsch entsetzt an. »Hast du überhaupt keinen Respekt?«, fuhr Erwin ihn an. Schorsch zog entschuldigend die breiten Schultern seines massigen Körpers bis zu den Ohrläppchen. »Wenn's doch wahr ist.« Gisela sog den scharfen Geruch tief ein. »Er hat recht.« Erwin streckte den Kopf weiter vor, seine Nasenflügel weiteten sich prüfend. Schorsch runzelte die Stirn. »Das sind Schweine.« »Sag einmal, kannst du nicht mal im Angesicht des Todes deine blöde Klappe halten?«, sagte Erwin. Schorsch ignorierte seinen Kollegen, deutete auf den Körper im Beifahrersitz. »Der hat zu viele Rippen.« Gisela folgte Schorschs Finger. Sie betrachtete die Überreste des Brustkorbs. Zählte sechzehn Rippenpaare. Sie wusste nicht, wie viele Rippen ein Mensch hatte, aber sie vertraute Schorsch, er war schließlich Sohn eines Metzgers. »Bist du sicher?«, fragte sie. »Absolut.« Erwin tippte sich an die Stirn. »Ein Schwein als Beifahrer, dir geht wohl die Fantasie ein bisschen durch.« Schorsch begegnete dem Blick Erwins kühl. »Ich glaub, ich hab in meinem Leben schon mehr Schweine gesehen als du.«
»Nicht nur das, manchmal bist auch eins. Vom Ausschauen mag ich gar nicht reden.« »Wenn's danach ging, bist du bei den Wühlmäusen aufgewachsen. Die sind auch nicht die Intelligentesten.« Gisela schlich um den Wagen herum, während Schorsch und Erwin sich stritten. Ihr Handy bimmelte. Polizeiobermeister Richard Hafenrichters müdes Gesicht erschien auf dem Display. Als Gisela vor ein paar Jahren die Telefonnummern ihrer Mitarbeiter mit deren Fotos verknüpft hatte, hatte Richie sich ernsthaft Mühe gegeben, einen ordnungsgemäßen Eindruck zu machen. Aber all die Jahre Kiffen hatten ihre Spuren hinterlassen, und das war nicht nur an den stets halbgeschlossenen Augen zu erkennen, sondern auch an der Langsamkeit, mit der sein Gehirn arbeitete. »Ja?«, fragte sie. Richies krächzende Morgenstimme quälte sich aus dem Apparat. »Halter des Wagens ist der Hias.« »Der rote Hias?«, fragte Gisela überrascht nach. »Ja.« »Hast du bei ihm angerufen?« Stille. Sie sah Richie vor sich, mit seinen selbstgehäckselten Haaren, die immer kreuz und quer vom Kopf abstanden, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Am liebsten hätte sie daran gezogen, um die Antwort zu beschleunigen. »Logisch. Da geht aber keiner hin.« Sie schaute auf die Leichen im Wagen. Schorsch und Erwin hatten ihren Disput beendet, als der Name Hias gefallen war. Gisela steckte das Handy weg. Sie fragte sich, wer von den Toten der rothaarige Saubauer war.
Vermutlich der schwarze Klumpen im Fahrersitz. Ein eiskalter Schauder durchfuhr sie, und sie zog unwillkürlich den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis zum Anschlag hoch. »Schorsch, nimm mal das Protokoll auf.« Mit dem Kinn wies sie auf den X3. Schorsch setzte sich gehorsam in Bewegung. »Ich ruf die Feuerwehr an, damit die hier aufräumen«, sagte Erwin und ging ein paar Schritte zur Seite. Er war froh, dem Anblick und dem Gestank zu entkommen. Gisela bemerkte ein faustgroßes Loch im Kofferraumdeckel. Es sah aus wie ein Einschussloch. Das Blech war allerdings nach außen gebogen, als sei der Schuss von innen gekommen.
Ihre Finger fuhren über die Perforierung. An den Fingerspitzen blieb Ruß zurück. Sie zögerte einen Moment, drückte dann den Knopf der Verriegelung. Der Kofferraumdeckel quietschte, als er mit einem leisen Schnappen aufsprang. Der Ripperlduft wurde intensiver. Jeder Muskel in Giselas Körper war angespannt in schauriger Erwartung. Sie holte tief Luft, hielt den Atem an, hob den Kofferraumdeckel. Auf den ersten Blick sah das schwarze Etwas aus wie ein absurd großer Maulwurfshügel, bis sie erkannte, dass die Leiche sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte und so verbrannt war. Neben ihr lag eine doppelläufige Schrotflinte, die das Feuer relativ unbeschadet überstanden hatte. »Die sind in zehn Minuten da«, rief Erwin herüber. Gisela schaute auf. Ihr Blick flackerte. »Soll ich mal beim Hias vorbeifahren?«, fragte Erwin. Gisela schüttelte den Kopf. »Ich glaub, das braucht's nicht.«
Schorsch und Erwin leiteten den spärlichen Verkehr an der Unfallstelle vorbei, als Kriminalhauptkommissar Karl Lederer von der Mordkommission Straubing mit den Kriminaltechnikern die Unfallstelle eine knappe Stunde später erreichte. Der Blondschopf mit dem Pornoschnauzer und dem abgewetzten Ledermantel nickte bei seiner Ankunft kurz in die Runde und besah sich ohne ein weiteres Wort das Autowrack. Seine Männer warteten geduldig im Hintergrund, bis er alle Eindrücke aufgenommen hatte. Sie wussten, dass er in diesen Momenten nicht gestört werden mochte. »'tschuldigung, guten Morgen erst mal«, sagte Gisela. Lederer betrachtete die Insassen der Fahrgastzelle, ohne zu reagieren. Seine Arroganz ärgerte Gisela. »In Anstand hat's wohl keine Fortbildungsmaßnahme gegeben, was?« Lederer schaute über die Schulter, musterte Gisela, als hätte sie Mundgeruch. »Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um einen Benimmkurs zu absolvieren.« »Wenn Sie ein kleines guten Morgen schon als Benimmkurs betrachten, dann ist Ihnen eh nicht mehr zu helfen. « Lederer zog seine Mundwinkel nach oben und bleckte die blendend weißen Zähne. »Guten Morgen.« Das Lächeln rutschte wie auf Glatteis weg. Er widmete sich wieder dem Wrack. Gisela biss die Zähne zusammen, dass es knirschte. Normalerweise war sie die Ruhe in Person, aber Lederer schaffte es immer wieder, sie bis aufs Blut zu reizen.
Auch wenn Gisela von ihrem letzten Aufeinandertreffen wusste, dass er durchaus menschliche Qualitäten besaß, so zeigte er die selten. Zu selten für ihren Geschmack. Lederer hob den Kofferraumdeckel, verharrte. Gisela suchte in seinem Gesicht nach einer Gefühlsregung. Außer einem leichten Zucken seiner Schnurrbartspitzen nahm sie nichts wahr. »Wie gut kennen Sie diesen Hias denn?« Seine blauen Augen richteten sich fragend auf Gisela. »War nicht sehr gesellig oder gesprächig. Fast so wie Sie.« Gisela schaute ihn herausfordernd an. Lederer hatte eine spitze Antwort bereits auf der Zunge, schluckte sie jedoch hinunter.
Er hatte nicht vor, sich auf das Niveau dieser Landpomeranze zu begeben. Er winkte seinen Männern, machte mit einer kreiselnden Bewegung seiner Hand deutlich, dass sie mit dem Sicherungsangriff beginnen konnten. »Fünf Schweine und ein toter Saubauer, was denken Sie, ist da passiert?«, fragte Gisela. »Für Spekulationen jeglicher Art ist es viel zu früh, Frau Wegmeyer. Was wir aber definitiv ausschließen können, ist, dass die Schweine den Mann in den Kofferraum gesperrt und dann gemeinschaftlichen Selbstmord begangen haben.« »Und wieso?« Lederer blinzelte irritiert. »Was, wieso?« »Wieso können wir das ausschließen?« Lederer glotzte Gisela an, als hätte sie rückwärts gesprochen. »War bloß ein Witz.« Sie grinste schief. Es gab ja das Gerücht, dass Chirurgen während einer Operation Witze machten, um die Anspannung abzubauen. Genauso fühlte sich Gisela im Moment. »Fahren wir?« Lederer sammelte sich, blinzelte noch einmal. »Äh, wohin?« »Zum Hias seinem Hof. Vielleicht finden wir da Anhaltspunkte, was passiert ist.« Lederer entfuhr ein leiser Lacher. »Das machen wir schon.« »Sag ich doch«, sagte Gisela. »Nein, ich meine, das machen wir, meine Männer und ich, schon.« »Und was machen wir, meine Männer und ich?«, fragte Gisela. »Sie warten auf meinen Zuruf.« Gisela spürte eine sengende Hitze von ihrem Herzen aus aufsteigen. »Das glauben Sie doch wohl selber nicht, oder?« »Haben Sie damit ein Problem, Frau Kollegin?« »Ein gewaltiges. Jedes Mal, wenn Sie zu uns kommen, stehen wir da wie die Deppen.« Lederer verkniff sich den Kommentar, dass er Gisela und ihre Truppe genau dafür hielt - einen Haufen Deppen. »Die Leute hier im Dorf werden mir Fragen stellen, und ich will in der Lage sein, Antworten zu geben«, fuhr sie fort. »Ihre einzige Antwort auf irgendwelche Fragen hat zu sein, dass Sie keine Auskunft geben dürfen. Alle Ermittlungsergebnisse sind vertraulich zu behandeln. In der Vergangenheit ist das weder von Ihnen noch Ihren Männern eingehalten worden.«
»Weil's in einem Dorf anders läuft, als Sie das von der Stadt her kennen. Wenn man hier keine Auskunft gibt, entstehen erstens Gerüchte und zweitens der Widerwille zu helfen. Und wir wissen nie, ob man nicht doch mal die Mithilfe der Bevölkerung braucht, oder?« Gisela schaute Lederer offen an. Sie suchte keinen Streit, sie wollte nur, dass er nicht wieder wie eine Planierraupe alles und jeden plattmachte. Sie kannte ihre Niedernussdorfer und wusste, dass sie für den Schaden geradestehen müsste.
Das war letztes Jahr im Fall der rumänischen Prostituierten so gewesen, und das würde auch diesmal wieder so sein, wenn sie nicht Vorsorge träfe. »Außerdem zeigen Sie mir doch gern, was Sie alles draufhaben.« Lederer stutzte kurz, dann gluckste er. Er wendete sich an den Leiter der Spurensicherung, einen massigen Kahlkopf, in dessen Mundwinkel ein Lolli klebte. »Ich fahr mit der Kollegin zum Hof des Toten.« Erwin und Schorsch horchten auf. »Bleibst du lang weg?«, fragte Schorsch. »Weiß ich noch nicht«, sagte Gisela. »Müssen wir mit denen allein bleiben?« Erwin nickte vielsagend zu den Kriminaltechnikern, die in professioneller Ruhe ihrer Arbeit nachgingen. »Die tun euch nichts«, sagte Gisela. Erwin verzog säuerlich den Mund. Auch Schorschs Miene war alles andere als erfreut. »Du hast keine Ahnung. Sobald du weg bist, reden die über uns und machen blöde Witze«, sagte er. Gisela warf einen Blick auf die vier Männer in den weißen Schutzanzügen.
»Kommen Sie?« Lederer war bereits bei seinem Mercedes. Sein Blick drängelte. »Mit denen werdet ihr schon fertig«, sagte Gisela zu Erwin und Schorsch. »Ihr seid's doch gestandene Mannsbilder. « Sie stieg zu Lederer in den Wagen und schenkte ihren Männern im Vorbeifahren einen ermutigenden Blick. Schorsch hob zaghaft die Hand zum Abschied. Kaum war der Mercedes zwischen den Bäumen verschwunden, sahen er und Erwin besorgt zu den Kriminaltechnikern. Der Glatzkopf sagte irgendetwas zu seinen Kollegen, die daraufhin auflachten. Einer von ihnen, ein bebrillter Wichtigtuer, warf einen kurzen Blick auf Erwin und Schorsch, machte eine leise Bemerkung. Wieder lachten alle. »Wenn noch mal einer lacht, dann geh ich rüber«, knurrte Erwin. Schorsch brummte zustimmend.
Der Mercedes erreichte nach zehn Minuten Fahrt den Einsiedlerhof des Saubauern. Er lag auf einer Anhöhe, etwa drei Kilometer außerhalb Niedernussdorfs. Ringsherum waren karge Ackerflächen, die von den kalten Temperaturen hart und trocken waren. Der Hof selbst war baufällig. Überall blätterte der Putz ab, an manchen Stellen zeigten sich die Ziegelsteine, aus denen das Hauptgebäude gebaut worden war. Die Westseite war von Wind und Wetter besonders mitgenommen. Dreckwasser vom Dach hatte die Fassade dort grau eingefärbt. Die kaputten Scheiben zweier Fenster im ersten Stock waren mit Pappe ausgebessert worden.
Gisela und Lederer stiegen aus dem Wagen. Während der Kommissar sich umschaute, legte Gisela den Kopf leicht schief. Alles, was sie hörte, war leises Hühnergegacker. Sie steuerte auf den Schweinestall zu, der mehr aus morschen als aus intakten Brettern zu bestehen schien. »Was ist?«, fragte Lederer. »Ist so ruhig«, sagte Gisela. Sie zog die windschiefe Stalltür auf. Ein scharfer Geruch schlug ihr entgegen. Er war nicht bitter und beißend wie Ammoniak, sondern süßlich und schwer wie Balsamico- Essig. Er erinnerte sie schwach an den Geruch im Pflegeheim, in dem ihr Vater seit einigen Monaten wohnte. Gisela zog ihren Schal über Mund und Nase. Noch bevor sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, wusste sie, dass hier der Tod wohnte. Eine Bewegung hinter ihr schreckte sie auf. Lederer stand in der Stalltür. Er hielt sich schützend einen Arm vor die Nase. Sein Blick glitt über die dreißig Schweine, die in ihrem geronnenen Blut lagen. »Da hat jemand ganze Arbeit geleistet.« Seine Stimme klang gedämpft und nasal. Giselas Blick fiel auf ein Ferkel, dessen Kopf zerplatzt war. Jemand hatte es mit gewaltiger Wucht erschlagen. »Der muss eine Sauwut gehabt haben«, sagte Gisela. »Gibt's hier noch jemanden auf dem Hof?«, fragte Lederer. Gisela schüttelte den Kopf. »Der hat hier seit Jahren schon allein gewohnt.« Die Haustür war nicht verschlossen. Gisela drückte sie auf. Ihr ganzer Körper war angespannt, sie erwartete auch hier den Geruch des Todes. Holziger Weihrauchduft empfing sie und Lederer. Der schmale Gang, von dem links und rechts Türen wegführten, glich einem Schlachtfeld.
Überall lagen Kleidungsstücke: Mäntel, Jacken, Mützen, Schuhe. Sämtliche Schubladen einer Kommode waren herausgezogen. Nur die altmodischen Fotos aus früheren Zeiten hingen unversehrt an den Wänden. Gisela und Lederer tasteten sich vorsichtig vorwärts. Unter ihren Schuhen knirschte das Glas kaputter Türfenster. Die erste Tür rechts stand halb offen. Gisela lugte hinein. Chaos. Bettzeug auf dem Boden, das Bett selbst nur noch ein Haufen zersplittertes Holz, der Kleiderschrank umgeworfen. Es schien, als hätte hier ein Untier gewütet. Sie folgte Lederer, der die Tür am Ende des Ganges ansteuerte. Farbiges Mosaikglas säumte nur noch in scharfen Zacken das Loch in der Tür, der Rest zierte den groben Dielenboden. Hinter dem zerbrochenen Türfenster konnte Gisela den Küchentisch ausmachen, in dessen Mitte eine Schale mit drei Räucherstäbchen und einem Teelicht stand. Schmale Fähnchen kräuselten sich nach oben und trugen den Weihrauchduft durch das Haus. Lederer schlug den Ledermantel zurück, legte seine rechte Hand auf die Waffe in seinem Holster. Giselas Herzschlag beschleunigte sich. Glaubte er wirklich, das Untier befand sich noch im Haus? Sie hatte in ihrem ganzen Leben ihre Pistole nie außerhalb des Schießstandes eingesetzt, und der Gedanke, das hier und jetzt zu tun, erschien ihr lächerlich. Bis ein Geräusch von der Kellertür sie aufschreckte. Ohne nachzudenken, zog sie die Pistole, den Blick fest auf die abgeblätterte Tür gerichtet. Es war ein Kratzen, schnell und hektisch.
Gisela wollte sich mit Lederer verständigen, doch der Straubinger war bereits in der Küche. Gisela unterdrückte einen Ruf, um ihn auf die Geräusche hinter der Kellertür aufmerksam zu machen. Sie hatte Angst, das unbekannte Wesen aufzuschrecken. Sie näherte sich der Kellertür, streckte die Hand nach der Klinke aus. In dem Moment brachen die Kratzgeräusche ab. Gisela lauschte einen Moment. Nichts. Langsam drückte sie die Klinke nach unten, schob die Tür einen Spaltbreit auf. Im gleichen Augenblick zwängte sich ein kleines schwarzes Tier durch, lief den Gang entlang zur Haustür und verschwand nach draußen. Gisela atmete erleichtert aus. Das war Seppl, der Niedernussdorfer Rauhhaardackel gewesen, der aus unerfindlichen Gründen im Keller eingesperrt gewesen sein musste. Gisela zog die Tür wieder zu, balancierte über die farbigen Glassplitter zu Lederer. Der sah sich in der einfachen Küche um.
Die Hängeschränke waren vollständig ausgeräumt, die Scherben des Geschirrs bedeckten den Boden wie Hagelzucker. Neben dem Tisch lag eine tote Sau. In der Stirn ein Loch von einem Bolzenschussgerät. Eine kleine Lache Blut hatte sich unter dem Tier gesammelt, das meiste davon war bereits vom Holzboden aufgesogen worden. »Da hat sich jemand wirklich bemüht, seine Spuren zu verwischen«, sagte Lederer. Obwohl er leise sprach, klang seine Stimme in Giselas Ohren zu laut. »Meinen Sie, der ist noch hier?«, flüsterte sie. »Ich denke nicht.« »Sollen wir uns nicht doch umschauen?«
»Zu zweit macht das keinen Sinn. Wir postieren uns draußen, um dem Täter die Flucht nicht zu ermöglichen. Wenn meine Männer hier sind, nehmen wir das gesamte Areal genauestens unter die Lupe. Kommen Sie.«
Zurück beim Mercedes versuchte Lederer vergeblich, über Handy Kontakt mit seinen Leuten aufzunehmen. Überall schaltete sich nur die Mailbox ein. Lederer hinterließ die Nachricht, sich nach Abschluss des Sicherungsangriffs zum Hof des Opfers zu begeben. »Auch das noch«, murmelte er. »Schauen Sie doch mal, ob Ihre Männer meinen Leuten Bescheid geben können. « Gisela wählte erst Schorsch, dann Erwin an. Auch hier erreichte sie nur die Mailbox. »Hoffentlich ist da nichts passiert«, sagte sie. »Was soll denn passiert sein? Die haben keinen Empfang. Funklöcher sind hier draußen ja nichts Außergewöhnliches. « Gisela beließ es dabei. In ihrem Kopf jedoch spukte eine Geschichte herum, die sie als Kind von ihrem Vater gehört hatte. Die Geschichte vom unheimlichen Saubären, einem bärengroßen Zwitterwesen, das durch die Lande zog und wahllos Menschen und Tiere tötete. Natürlich hatte sie es ab einem bestimmten Alter als Legende abgetan, und der Verstand sagte ihr, dass so ein Untier reiner Unfug war. Trotzdem riefen die mysteriösen Umstände des Autounfalls und die heillose Zerstörung auf dem Hof Bilder hervor, die Lederer lächerlich gefunden hätte. In ihrer Fantasie sah sie den Saubären mit blutverschmiertem Maul die Leichen von Schorsch, Erwin und Lederers Männern zerreißen. Die unheimliche Stille rund um den Hof tat ihr Übriges. Gisela war froh, Lederer in der Nähe zu haben. Der behielt aufmerksam das Hauptgebäude und den Stall im Auge. »Ich geh mal auf die andere Seite, Sie bleiben hier«, sagte er. »Ich möchte sichergehen, dass niemand hinten raus kann.« Ohne auf Giselas Antwort zu warten, stiefelte er los und verschwand um die Ecke. Gisela hielt die Luft an, wartete auf einen Todesschrei des Straubingers.
Sie hörte nur ein weit entferntes Bellen, gefolgt von dem Krächzen mehrerer Krähen. Das Handy bimmelte. Gisela zuckte zusammen, ihr Herz machte einen Satz quer durch den Brustkorb. Mit zitternden Fingern zog sie das Telefon heraus. Auf dem Display war Erwins Gesicht zu sehen. Erleichterung durchströmte warm ihren Körper. »Erwin, Gott sei Dank.« »Was gibt's, Chefin?« »Ich bin mit dem Lederer beim Hias. Seine Männer sollen herkommen, wenn sie mit der Arbeit fertig sind.« Es rauschte und knisterte in der Leitung. »Hast du mich gehört, Erwin?« »Ja, schon.« »Aber?« »Ich weiß nicht, ob das so schnell geht.« »Richt's auf jeden Fall aus, die sollen ihren Obermacker dann einfach selber anrufen und das klären.« »Mhm.« Erwin war zwar immer etwas brummig und maulfaul, aber Gisela hatte im Lauf der Jahre gelernt, die unterschiedlichen Tonlagen seiner Stimme zu interpretieren. »Was ist los?«, fragte sie. Rauschen und Knistern. »Sag.« »Mei, wir hatten einen kleinen Disput.« »Wer wir?« »Der Schorsch und ich mit den Kasperln vom Lederer.« Gisela atmete tief durch. Sie ahnte bereits den nächsten Satz. »Die wollten unbedingt eine aufs Maul haben«, sagte Erwin. Ein Knurren entfuhr Giselas Kehle. »Wir haben nicht angefangen, ehrlich«, ergänzte Erwin hastig. »Die machen sich einen Spaß mit uns, und du meinst, das lassen wir uns gefallen?« »Sind die noch einsatzfähig?«, fragte Gisela. »Schon.« Er zögerte kurz. »Bis auf einen, den hat's ein bisschen schlimmer erwischt. Ist mit dem Kopf gegen einen Baum gerannt. Der hat ziemlich Schädelweh.« Erwin gluckste. »Ich sag dir jetzt was - wenn ich während der Ermittlungen noch ein Mal Beschwerden von den Straubingern hör, dann zieh ich Konsequenzen. Ich hab's satt, euer kindisches Verhalten immer und immer wieder zu rechtfertigen. Ist das rübergekommen?« »Ja«, tönte es kleinlaut aus dem Hörer. »Aber wir haben echt nicht angefangen.« Gisela ersparte sich jeden weiteren Kommentar und drückte Erwin ohne viel Federlesen weg.
Eine knappe Stunde später waren die Kriminaltechniker vor Ort. Erwin fuhr mit dem Streifenwagen voraus. Lederer bemerkte überrascht, dass seine Männer nur zu dritt und ziemlich lädiert waren. Ein Blick auf Erwins blaues Auge verwandelte die Überraschung in Erkenntnis. Er schaute schnell zu Gisela, die entschuldigend die Schultern hob und ein zerknirschtes Gesicht machte. Lederer seufzte. Er wies Erwin und Gisela an, mögliche Fluchtwege aus dem Gebäude im Auge zu behalten, während er mit seiner Truppe das Haus durchsuchte. Gisela entdeckte Seppl, der in der Tür des Schweinestalls hockte und zu ihr blickte.
Er winselte leise. Sie marschierte hinüber, ging vor ihm in die Hocke und streichelte seinen Kopf. Der kleine Hund rutschte näher an sie heran, sein ganzer Körper zitterte. »Hast Angst, hm?« Mitfühlend schaute sie ihm in die wässrigen Augen. »Ich wünscht, du könntest mir sagen, was du gesehen hast.« »Was wird das denn?« Lederers Stimme hallte über den Hof. Gisela erhob sich, als der Straubinger mit weit ausholenden Schritten auf sie zukam. »Nennen Sie das aufpassen?«, fuhr er sie an. »'tschuldigung, war blöd, ich weiß.« Lederer schenkte Seppl einen kurzen Blick. »Gehört der hierher?« »Der gehört zum Dorf«, erwiderte Gisela. »Keiner weiß, wo der eigentlich herkommt, der ist schon seit Jahren das Niedernussdorfer Maskottchen.« Gisela nickte zum Haus. »Ist keiner mehr drin?« Lederer schüttelte den Kopf. »Das obere Stockwerk sieht ebenso wüst aus wie das Erdgeschoss. Ich vermute, hier waren mehrere Täter am Werk.« »Kann's auch was anderes gewesen sein?« Gisela biss sich auf die Zunge, kaum war das letzte Wort ausgesprochen. Lederer sah sie fragend an. »An was denken Sie da?« Gisela wich seinem Blick aus. Kurz drängte ihre abergläubische Vermutung nach oben, aber die Angst, sich lächerlich zu machen, hielt sie zurück. »Keine Ahnung. Sie sagen doch immer, man muss jede Eventualität in Betracht ziehen, solange es keine gesicherten Erkenntnisse gibt.« Lederer musterte Gisela. Er spürte, dass sie etwas zurückhielt, bohrte aber nicht nach. »Wenn Sie einen Verdacht haben, in welche Richtung auch immer, Sie finden bei mir jederzeit ein offenes Ohr«, sagte er nur. Gisela nickte. Einen Moment lang ruhte sein Blick auf ihr, dann wendete er sich um und ging zu seinem Mercedes. Er verständigte die Rechtsmedizin, dass die Leiche aus dem Kofferraum heute noch obduziert werden müsse.
Es dauerte den ganzen Tag, bis die Kriminaltechniker alle kleineren und größeren Spuren gesichert hatten. Gisela und Erwin, die die ganze Zeit über bibbernd in der Kälte stehen mussten, wärmten sich am Abend im Wirtshaus »Zum Wilden Bock« bei einem Tee, respektive einem dunklen Weißbier auf. Schorsch und Richie hockten den beiden gegenüber. Schorsch trug einen Ohrverband. Einer der Kriminaltechniker hatte ihn aus purer Verzweiflung gebissen, um dem Erstickungstod zu entgehen. Richie, der immer so wirkte, als würde er jeden Moment einschlafen, hatte sich die Geschichte um die Schlägerei stoisch angehört. Zwischendurch hatte er sich am Kinnbart gekratzt oder war sich durch die punkige Frisur gefahren, insgesamt aber widmete er seinem Weißbier mehr Aufmerksamkeit als seinen Kollegen.
Selbst Giselas Bericht von der unglaublichen Verwüstung entrang ihm nur ein Gähnen. »Also, was du da erzählst, das klingt ja echt nach einem Monster«, meinte Schorsch zu Gisela. Er blinzelte aufgeregt. »Das erinnert mich an eine Geschichte, die mir mein Opa früher immer erzählt hat. Von dem Saubären, der sich zwischen Erntedank und Weihnachten seine Opfer von den Höfen holt.« Erwin lachte auf. »Du glaubst auch noch ans Christkind, was?« »Mein Opa hat den schon mal gesehen«, zischte Schorsch. »Das Viech war über zwei Meter groß, hatte einen riesigen haarigen Schädel mit zwei Hauern im Unterkiefer, und seine Augen haben rot geglüht.« »Dein Opa war ein alter Säufer«, sagte Erwin, trank sein Bier aus und orderte mit einem auffordernden Blick zum Wirt gleich das nächste. »Ich hab den auch schon mal gesehen«, brummte Richie in sein Glas hinein. Bei ihm wusste man oft nicht, sprach er mit den anderen oder mit sich selbst. »Und er hat genauso ausgesehen, wie der Schorsch ihn beschrieben hat.« »Du hast den Saubären gesehen?«, fragte Gisela. »Wann?«
Richie hob den Kopf und richtete die rotgeäderten Augen auf seine Kollegen. »Ich war achtzehn und auf dem Rückweg von einem Iron Maiden Konzert. Arschkalt war's auf dem Moped, aber davon hab ich nichts gespürt. Innerlich hab ich geglüht, ich war voll aufgeheizt von der Musik. Kennt ihr den Riff aus 666 - Number of the Beast? Der brennt.« Richie griff zur Luftgitarre. Knarrende Laute drangen aus seinem Mund, während seine Hände die Gitarre bearbeiteten und sein Kopf rhythmisch vor und zurück zuckte. »Erzähl weiter«, forderte Schorsch und stupste ihn an. Richie ließ von der Gitarre ab, schaute in die Runde. »Ich bin grad am Schallerhof vorbei in den Wald rein, als das Viech vor mir über die Straße läuft.« Seine rechte Hand stieß vor, begleitet von einem Zischlaut. »Ich reiß den Lenker herum, brems, und bevor ich schau, lieg ich im Graben.« »Und der Saubär?«, fragte Schorsch atemlos. »Der war längst zwischen den Bäumen verschwunden, als ich mich aufgerappelt hab«, sagte Richie. Zum Zeichen, dass die Geschichte zu Ende war, trank er sein Bier aus und hielt das leere Glas dem Wirt hin, der gerade Erwins Nachschub an den Tisch brachte. »Mir auch noch eins«, sagte Richie. Der Wirt nickte und kehrte zum Tresen zurück. »Und das ging ratzfatz?«, fragte Erwin. »Ratzfatz«, bestätigte Richie. »Und da hast du ganz genau gesehen, wie das Viech ausgeschaut hat?« Erwins Kopf lag leicht schräg, sein Blick versuchte Richie zu durchleuchten.
Der beugte sich vor. »Weißt du eigentlich, dass sich in den Momenten des Todes die Zeit bis ins Unendliche dehnt und sich jedes Detail in dein Gehirn einfräst?« Er tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe. »Da drin sind Bilder, die wünsch ich meinem ärgsten Feind nicht.« »Also, wenn der Richie das sagt, dann wird's ja wohl stimmen. Oder willst du sagen, er ist auch ein alter Säufer? « Schorsch blickte Erwin herausfordernd an. Der Wirt stellte das frische Weißbier vor Richie ab. »Ich sag bloß, ich glaub weder ans Christkind oder den Osterhasen oder an sonst einen Schmarrn«, sagte Erwin. »Wenn es wirklich der Saubär war, dann werden die im Hias seinem Haus bestimmt Spuren finden.« Er hob sein Glas. »Prost.« Die anderen folgten seinem Beispiel, stießen klingend miteinander an. Gisela hob ihre Tasse nur anstandshalber, sie war in Gedanken. In ihr rumorte der Gedanke an ein riesiges Untier, obwohl ihr Verstand sich mit aller Macht dagegen wehrte. Sie wollte nicht auf Lederers Ermittlungsergebnisse warten, sie musste selbst herausfinden, was passiert war.
Weihrauch passte gar nicht zu Hias. Der Saubauer war im Dorf als stinkender Einzelgänger verschrien, der sich mit seinen Schweinen im Dreck suhlte, mit ihnen schmuste und sonst allerlei Dinge mit ihnen anstellte. Den Gerüchten lag, zumindest was das Stinken anging, ein wahrer Kern zugrunde. Im Wirtshaus »Zum Wilden Bock« mied es jeder, in seiner Nähe zu sitzen.
Für Gisela war klar, dass die Räucherstäbchen nicht von Hias stammten, sondern von seinem Besuch. Telefonklingeln schreckte sie auf. Ludwig lag neben Gisela mit halb offenem Mund im Tiefschlaf und rührte sich nicht, als sie sich aus der Bettdecke schälte und ins Wohnzimmer hastete. Es war kurz nach Mitternacht, und ein Anruf um diese Uhrzeit konnte nur eine schlechte Nachricht bedeuten. »Wegmeyer«, meldete sie sich. »Hier ist Doris«, klang es aus dem Hörer. Eine heiße Welle durchfuhr Gisela. Doris war Schwester in dem Pflegeheim, in dem ihr Vater wohnte. »Der Jakob ist vor einer halben Stunde eingeschlafen«, sagte Doris. Gisela hörte den Satz, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis sie seine Bedeutung verstanden hatte. Ein Stich fuhr ihr durchs Herz, gleichzeitig drückte es ihr die Kehle zu. »Es tut mir leid, dass du keine Möglichkeit mehr hattest, dich zu verabschieden«, hörte sie Doris wie aus weiter Ferne sagen. Das Atmen fiel ihr schwer. »Ja. Ich komm morgen früh vorbei, geht das?« Ihre Stimme klang dünn wie Reispapier. Sie hörte Doris' Antwort nicht mehr, ein Rauschen in den Ohren übertönte alles andere. Kurz wurde ihr schwarz vor den Augen. Als das Licht zurückkam, hielt Ludwig sie in seinen Armen. Er war durch ein Krachen aufgeweckt worden und hatte Gisela ohnmächtig im Wohnzimmer vorgefunden. Einige Minuten lang saßen die beiden in enger Umarmung auf dem Teppichboden, bevor sie ins Schlafzimmer zurückkehrten. An Schlaf war jedoch nicht zu denken, und nachdem sie kurz vor Sonnenaufgang die Hühner gefüttert hatte, fuhr Gisela in das dreißig Kilometer entfernte Bad Reibach.
Schwester Doris, eine bodenständige Frau Anfang vierzig, übergab ihr den Totenschein, führte sie dann zu Jakobs Zimmer. Giselas Vater lag in seinem Bett, die Augen geschlossen, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Gisela betrachtete ihn lange, es war ihr, als würde sie sein Gesicht zum ersten Mal sehen. Seine Haut wirkte glatter als sonst, die Falten nicht mehr so tief, um seine Mundwinkel lag ein kleines Lächeln, als hätte er einen angenehmen Traum. Gisela fuhr ihm über die lichten Haare, küsste seine Stirn und verließ das abgedunkelte Zimmer. Sie verständigte sich mit Doris auf ein Bestattungsinstitut, zu dem Jakob überführt werden sollte. Alle Unterlagen hatte sie dabei, seit Monaten war sie für diesen Fall gerüstet. Und doch traf es sie jetzt unvorbereitet. Auf der Rückfahrt nach Niedernussdorf wurde Gisela von Bildern aus der Vergangenheit überschwemmt. Vor allem erinnerte sie sich an ihre Kindheit, als Jakob abends immer an ihrem Bett gesessen und vorgelesen hatte. So hatte er ihr die Sagen von Knecht Ruprecht, den Nibelungen oder Rübezahl nähergebracht. Und die Legende vom Saubären. Der Saubär. Kurz fröstelte es Gisela. Es mussten Menschen gewesen sein, die Hias umgebracht hatten. Skrupellose Menschen. Aber wozu der Weihrauch? Weihrauch wurde verwendet, um den Leib Christi zu ehren. Die Heiden verwendeten Weihrauch auch, um den Tod von ihrer Schwelle zu verbannen. Beides schien Gisela in diesem Fall sehr unwahrscheinlich.
Sie bremste abrupt. Ohne es zu merken, war sie zu Hias' Hof gefahren und stand jetzt vor dem Haupthaus. Es lag im harten Licht der kalten Mittagssonne und machte einen abweisenden Eindruck. Die großteils morschen Fensterläden waren geschlossen, an allen Zugängen waren Polizeisiegel angebracht. Ein heulender Motor hinter dem Haus ließ Gisela aufhorchen. Dort war der Schweinestall. Ein kleiner Bagger rollte aus dem flachen Gebäude, in der Schaufel zwei Schweinekadaver. Der Bagger fuhr an die Ladefläche eines modernen Lastwagens heran, der aus Edelstahl zu bestehen schien, und kippte die toten Tiere hinein. Der Baggerführer, ein aufgedunsener Bleichling mit Sicherheitsbrille und Atemschutzmaske, verschwand mit dem bulligen Gefährt wieder im Stall, ohne Gisela zu bemerken. Der Leichengeruch verursachte ihr leichte Übelkeit und einen dumpfen Kopfschmerz, als sie den Stall betrat. Feinstaub erfüllte den Raum mit bräunlichem Nebel. Der Bagger schob seine gezahnte Schaufel mit Wucht unter zwei weitere Schweinekörper, hob sie hoch. Nur die Hufe lugten über den Rand. Der Bagger machte eine halbe Drehung, schoss auf Gisela zu, die in der Tür stand. Er bremste scharf, die Schaufel schaukelte, der Motor blubberte vor sich hin. Der Bleichling lehnte sich aus der Kabine. »Wollen Sie überfahren werden? Was machen Sie überhaupt hier? Das ist Sperrgebiet.« Gisela wurde bewusst, dass sie in Zivil war. »Ich bin von der Polizei.« Der Bleichling beäugte sie skeptisch. Ihr schien, als glotze der Tod persönlich sie an. »Hat die Mordkommission die Aufräumarbeiten in Auftrag gegeben?« »Wer denn sonst? Kann ich weitermachen?
Ich werd nicht fürs Rumstehen bezahlt.« Gisela trat einen Schritt beiseite. Der Baggermotor heulte auf, das bullige Gefährt rollte an ihr vorbei zum Lastwagen. Sie machte ein paar Schritte in den Stall hinein. Es gab mehrere hüfthohe brüchige Mauern, die insgesamt vier Koben voneinander abtrennten. Drei waren schon freigeräumt, im letzten lagen noch fünf tote Schweine. Getrocknetes Blut in Augen und Ohren ließ darauf schließen, dass ihnen allen die Schädel eingeschlagen worden waren. Dreißig Schweine zu erschlagen, das war eine Mordsarbeit. Ein Hupen schreckte Gisela auf. Der Bagger röhrte heran. Seine Schaufel senkte sich, rutschte mit einem hässlichen Quietschen über den Steinboden und schob sich vehement unter die nächsten Schweinekörper. Die breiten Zähne der Schaufel durchbohrten eine Sau und spießten sie wie mit der Gabel auf. Gisela wendete den Kopf ab. Magenflüssigkeit stieg in die Speiseröhre hoch. Sie schluckte den bitteren Saft hin unter und rannte ins Freie. Ihre Nase brannte, als sie ein paarmal die kalte Luft tief einatmete. Hinter ihr lud der Bagger die Kadaver ab. Gisela hörte die toten Schweine dumpf auf die Körper ihrer Artgenossen aufprallen. Nachdem der Bleichling seine Arbeit getan hatte und mit dem Lastwagen verschwunden war, machte sich Gisela an die Arbeit.
Sie brach das Siegel an der Tür auf und betrat das Haus. Zögernd schob sie sich in den düsteren Hausflur mit den gerahmten alten Fotos, die die Geschichte des Hofes über drei Generationen erzählte. Hias war der Letzte der Familie gewesen. Gisela drehte den Lichtschalter. Zwei Lampen flammten auf, erhellten den düsteren Gang. Gleich fühlte Gisela sich etwas wohler, auch wenn der Novemberwind heulend durch die Ritzen des Hauses fuhr und ihre Schritte musikalisch begleitete. Das Chaos empfing sie unverändert, der Geruch des Todes hing noch in der Luft. Glassplitter knirschten unter Giselas Schuhen. Ihr Ziel war die Küche. Alle ihre Sinne richteten sich auf den Raum hinter der verschlossenen Tür am Ende des Gangs. Ein leises Scharren. Gisela hielt inne, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Ratten, schoss es ihr durch den Kopf. Das mussten Ratten sein. Kein Wunder, die fühlten sich auf dem vergammelten Hof sicher ausgesprochen wohl. Sie tastete sich weiter zur Küche vor, drückte vorsichtig die Tür auf. Rascheln und Scharren empfingen sie, als zwei Ratten sich schleunigst aus dem Staub machten. Sie huschten hinter den Kühlschrank, und bald darauf war von ihnen nichts mehr zu hören.
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Der Kombi brannte noch zwei Stunden. Am frühen Morgen entdeckte ihn ein Bauer, der mit einer Ladung Kürbisse unterwegs zum Wochenmarkt nach Straubing war. Um 8 Uhr 32 stand Polizeihauptmeisterin Gisela Wegmeyer von der Dienststelle Niedernussdorf vor dem ausgebrannten Wrack. Gisela war eine gestandene Frau Anfang fünfzig, gewohnt zuzupacken, wenn es nötig war. In ihrer Begleitung waren Polizeiobermeister Georg »Schorsch« Kramer und sein ranggleicher Kollege Erwin Huber. Der eine sehr stämmig, der andere sehr untersetzt. Alle drei lugten durch die geschmolzenen Scheiben ins Innere des Kombis. Der Bauer mit den Kürbissen hockte in seinem X3 und wärmte sich an der Standheizung. Er ließ die Polizisten nicht aus dem Blick. »Vier«, murmelte Erwin. »Fünf«, sagte Gisela. Sie deutete auf den Fußraum vor der Rückbank, auf der zwei Körper zu einem schwarzen Haufen verschmolzen waren. »Da unten.«
Erwin trat neben Gisela. »Das ist aber klein«, hauchte er. »Wahrscheinlich ein Kind.« Ihre Stimme zitterte. Schorsch war auf der anderen Seite des Wagens. Seine Nase kräuselte sich, er schnupperte. »Findet ihr nicht, dass das wie Ripperl riecht?« Gisela und Erwin schauten Schorsch entsetzt an. »Hast du überhaupt keinen Respekt?«, fuhr Erwin ihn an. Schorsch zog entschuldigend die breiten Schultern seines massigen Körpers bis zu den Ohrläppchen. »Wenn's doch wahr ist.« Gisela sog den scharfen Geruch tief ein. »Er hat recht.« Erwin streckte den Kopf weiter vor, seine Nasenflügel weiteten sich prüfend. Schorsch runzelte die Stirn. »Das sind Schweine.« »Sag einmal, kannst du nicht mal im Angesicht des Todes deine blöde Klappe halten?«, sagte Erwin. Schorsch ignorierte seinen Kollegen, deutete auf den Körper im Beifahrersitz. »Der hat zu viele Rippen.« Gisela folgte Schorschs Finger. Sie betrachtete die Überreste des Brustkorbs. Zählte sechzehn Rippenpaare. Sie wusste nicht, wie viele Rippen ein Mensch hatte, aber sie vertraute Schorsch, er war schließlich Sohn eines Metzgers. »Bist du sicher?«, fragte sie. »Absolut.« Erwin tippte sich an die Stirn. »Ein Schwein als Beifahrer, dir geht wohl die Fantasie ein bisschen durch.« Schorsch begegnete dem Blick Erwins kühl. »Ich glaub, ich hab in meinem Leben schon mehr Schweine gesehen als du.«
»Nicht nur das, manchmal bist auch eins. Vom Ausschauen mag ich gar nicht reden.« »Wenn's danach ging, bist du bei den Wühlmäusen aufgewachsen. Die sind auch nicht die Intelligentesten.« Gisela schlich um den Wagen herum, während Schorsch und Erwin sich stritten. Ihr Handy bimmelte. Polizeiobermeister Richard Hafenrichters müdes Gesicht erschien auf dem Display. Als Gisela vor ein paar Jahren die Telefonnummern ihrer Mitarbeiter mit deren Fotos verknüpft hatte, hatte Richie sich ernsthaft Mühe gegeben, einen ordnungsgemäßen Eindruck zu machen. Aber all die Jahre Kiffen hatten ihre Spuren hinterlassen, und das war nicht nur an den stets halbgeschlossenen Augen zu erkennen, sondern auch an der Langsamkeit, mit der sein Gehirn arbeitete. »Ja?«, fragte sie. Richies krächzende Morgenstimme quälte sich aus dem Apparat. »Halter des Wagens ist der Hias.« »Der rote Hias?«, fragte Gisela überrascht nach. »Ja.« »Hast du bei ihm angerufen?« Stille. Sie sah Richie vor sich, mit seinen selbstgehäckselten Haaren, die immer kreuz und quer vom Kopf abstanden, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Am liebsten hätte sie daran gezogen, um die Antwort zu beschleunigen. »Logisch. Da geht aber keiner hin.« Sie schaute auf die Leichen im Wagen. Schorsch und Erwin hatten ihren Disput beendet, als der Name Hias gefallen war. Gisela steckte das Handy weg. Sie fragte sich, wer von den Toten der rothaarige Saubauer war.
Vermutlich der schwarze Klumpen im Fahrersitz. Ein eiskalter Schauder durchfuhr sie, und sie zog unwillkürlich den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis zum Anschlag hoch. »Schorsch, nimm mal das Protokoll auf.« Mit dem Kinn wies sie auf den X3. Schorsch setzte sich gehorsam in Bewegung. »Ich ruf die Feuerwehr an, damit die hier aufräumen«, sagte Erwin und ging ein paar Schritte zur Seite. Er war froh, dem Anblick und dem Gestank zu entkommen. Gisela bemerkte ein faustgroßes Loch im Kofferraumdeckel. Es sah aus wie ein Einschussloch. Das Blech war allerdings nach außen gebogen, als sei der Schuss von innen gekommen.
Ihre Finger fuhren über die Perforierung. An den Fingerspitzen blieb Ruß zurück. Sie zögerte einen Moment, drückte dann den Knopf der Verriegelung. Der Kofferraumdeckel quietschte, als er mit einem leisen Schnappen aufsprang. Der Ripperlduft wurde intensiver. Jeder Muskel in Giselas Körper war angespannt in schauriger Erwartung. Sie holte tief Luft, hielt den Atem an, hob den Kofferraumdeckel. Auf den ersten Blick sah das schwarze Etwas aus wie ein absurd großer Maulwurfshügel, bis sie erkannte, dass die Leiche sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte und so verbrannt war. Neben ihr lag eine doppelläufige Schrotflinte, die das Feuer relativ unbeschadet überstanden hatte. »Die sind in zehn Minuten da«, rief Erwin herüber. Gisela schaute auf. Ihr Blick flackerte. »Soll ich mal beim Hias vorbeifahren?«, fragte Erwin. Gisela schüttelte den Kopf. »Ich glaub, das braucht's nicht.«
Schorsch und Erwin leiteten den spärlichen Verkehr an der Unfallstelle vorbei, als Kriminalhauptkommissar Karl Lederer von der Mordkommission Straubing mit den Kriminaltechnikern die Unfallstelle eine knappe Stunde später erreichte. Der Blondschopf mit dem Pornoschnauzer und dem abgewetzten Ledermantel nickte bei seiner Ankunft kurz in die Runde und besah sich ohne ein weiteres Wort das Autowrack. Seine Männer warteten geduldig im Hintergrund, bis er alle Eindrücke aufgenommen hatte. Sie wussten, dass er in diesen Momenten nicht gestört werden mochte. »'tschuldigung, guten Morgen erst mal«, sagte Gisela. Lederer betrachtete die Insassen der Fahrgastzelle, ohne zu reagieren. Seine Arroganz ärgerte Gisela. »In Anstand hat's wohl keine Fortbildungsmaßnahme gegeben, was?« Lederer schaute über die Schulter, musterte Gisela, als hätte sie Mundgeruch. »Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um einen Benimmkurs zu absolvieren.« »Wenn Sie ein kleines guten Morgen schon als Benimmkurs betrachten, dann ist Ihnen eh nicht mehr zu helfen. « Lederer zog seine Mundwinkel nach oben und bleckte die blendend weißen Zähne. »Guten Morgen.« Das Lächeln rutschte wie auf Glatteis weg. Er widmete sich wieder dem Wrack. Gisela biss die Zähne zusammen, dass es knirschte. Normalerweise war sie die Ruhe in Person, aber Lederer schaffte es immer wieder, sie bis aufs Blut zu reizen.
Auch wenn Gisela von ihrem letzten Aufeinandertreffen wusste, dass er durchaus menschliche Qualitäten besaß, so zeigte er die selten. Zu selten für ihren Geschmack. Lederer hob den Kofferraumdeckel, verharrte. Gisela suchte in seinem Gesicht nach einer Gefühlsregung. Außer einem leichten Zucken seiner Schnurrbartspitzen nahm sie nichts wahr. »Wie gut kennen Sie diesen Hias denn?« Seine blauen Augen richteten sich fragend auf Gisela. »War nicht sehr gesellig oder gesprächig. Fast so wie Sie.« Gisela schaute ihn herausfordernd an. Lederer hatte eine spitze Antwort bereits auf der Zunge, schluckte sie jedoch hinunter.
Er hatte nicht vor, sich auf das Niveau dieser Landpomeranze zu begeben. Er winkte seinen Männern, machte mit einer kreiselnden Bewegung seiner Hand deutlich, dass sie mit dem Sicherungsangriff beginnen konnten. »Fünf Schweine und ein toter Saubauer, was denken Sie, ist da passiert?«, fragte Gisela. »Für Spekulationen jeglicher Art ist es viel zu früh, Frau Wegmeyer. Was wir aber definitiv ausschließen können, ist, dass die Schweine den Mann in den Kofferraum gesperrt und dann gemeinschaftlichen Selbstmord begangen haben.« »Und wieso?« Lederer blinzelte irritiert. »Was, wieso?« »Wieso können wir das ausschließen?« Lederer glotzte Gisela an, als hätte sie rückwärts gesprochen. »War bloß ein Witz.« Sie grinste schief. Es gab ja das Gerücht, dass Chirurgen während einer Operation Witze machten, um die Anspannung abzubauen. Genauso fühlte sich Gisela im Moment. »Fahren wir?« Lederer sammelte sich, blinzelte noch einmal. »Äh, wohin?« »Zum Hias seinem Hof. Vielleicht finden wir da Anhaltspunkte, was passiert ist.« Lederer entfuhr ein leiser Lacher. »Das machen wir schon.« »Sag ich doch«, sagte Gisela. »Nein, ich meine, das machen wir, meine Männer und ich, schon.« »Und was machen wir, meine Männer und ich?«, fragte Gisela. »Sie warten auf meinen Zuruf.« Gisela spürte eine sengende Hitze von ihrem Herzen aus aufsteigen. »Das glauben Sie doch wohl selber nicht, oder?« »Haben Sie damit ein Problem, Frau Kollegin?« »Ein gewaltiges. Jedes Mal, wenn Sie zu uns kommen, stehen wir da wie die Deppen.« Lederer verkniff sich den Kommentar, dass er Gisela und ihre Truppe genau dafür hielt - einen Haufen Deppen. »Die Leute hier im Dorf werden mir Fragen stellen, und ich will in der Lage sein, Antworten zu geben«, fuhr sie fort. »Ihre einzige Antwort auf irgendwelche Fragen hat zu sein, dass Sie keine Auskunft geben dürfen. Alle Ermittlungsergebnisse sind vertraulich zu behandeln. In der Vergangenheit ist das weder von Ihnen noch Ihren Männern eingehalten worden.«
»Weil's in einem Dorf anders läuft, als Sie das von der Stadt her kennen. Wenn man hier keine Auskunft gibt, entstehen erstens Gerüchte und zweitens der Widerwille zu helfen. Und wir wissen nie, ob man nicht doch mal die Mithilfe der Bevölkerung braucht, oder?« Gisela schaute Lederer offen an. Sie suchte keinen Streit, sie wollte nur, dass er nicht wieder wie eine Planierraupe alles und jeden plattmachte. Sie kannte ihre Niedernussdorfer und wusste, dass sie für den Schaden geradestehen müsste.
Das war letztes Jahr im Fall der rumänischen Prostituierten so gewesen, und das würde auch diesmal wieder so sein, wenn sie nicht Vorsorge träfe. »Außerdem zeigen Sie mir doch gern, was Sie alles draufhaben.« Lederer stutzte kurz, dann gluckste er. Er wendete sich an den Leiter der Spurensicherung, einen massigen Kahlkopf, in dessen Mundwinkel ein Lolli klebte. »Ich fahr mit der Kollegin zum Hof des Toten.« Erwin und Schorsch horchten auf. »Bleibst du lang weg?«, fragte Schorsch. »Weiß ich noch nicht«, sagte Gisela. »Müssen wir mit denen allein bleiben?« Erwin nickte vielsagend zu den Kriminaltechnikern, die in professioneller Ruhe ihrer Arbeit nachgingen. »Die tun euch nichts«, sagte Gisela. Erwin verzog säuerlich den Mund. Auch Schorschs Miene war alles andere als erfreut. »Du hast keine Ahnung. Sobald du weg bist, reden die über uns und machen blöde Witze«, sagte er. Gisela warf einen Blick auf die vier Männer in den weißen Schutzanzügen.
»Kommen Sie?« Lederer war bereits bei seinem Mercedes. Sein Blick drängelte. »Mit denen werdet ihr schon fertig«, sagte Gisela zu Erwin und Schorsch. »Ihr seid's doch gestandene Mannsbilder. « Sie stieg zu Lederer in den Wagen und schenkte ihren Männern im Vorbeifahren einen ermutigenden Blick. Schorsch hob zaghaft die Hand zum Abschied. Kaum war der Mercedes zwischen den Bäumen verschwunden, sahen er und Erwin besorgt zu den Kriminaltechnikern. Der Glatzkopf sagte irgendetwas zu seinen Kollegen, die daraufhin auflachten. Einer von ihnen, ein bebrillter Wichtigtuer, warf einen kurzen Blick auf Erwin und Schorsch, machte eine leise Bemerkung. Wieder lachten alle. »Wenn noch mal einer lacht, dann geh ich rüber«, knurrte Erwin. Schorsch brummte zustimmend.
Der Mercedes erreichte nach zehn Minuten Fahrt den Einsiedlerhof des Saubauern. Er lag auf einer Anhöhe, etwa drei Kilometer außerhalb Niedernussdorfs. Ringsherum waren karge Ackerflächen, die von den kalten Temperaturen hart und trocken waren. Der Hof selbst war baufällig. Überall blätterte der Putz ab, an manchen Stellen zeigten sich die Ziegelsteine, aus denen das Hauptgebäude gebaut worden war. Die Westseite war von Wind und Wetter besonders mitgenommen. Dreckwasser vom Dach hatte die Fassade dort grau eingefärbt. Die kaputten Scheiben zweier Fenster im ersten Stock waren mit Pappe ausgebessert worden.
Gisela und Lederer stiegen aus dem Wagen. Während der Kommissar sich umschaute, legte Gisela den Kopf leicht schief. Alles, was sie hörte, war leises Hühnergegacker. Sie steuerte auf den Schweinestall zu, der mehr aus morschen als aus intakten Brettern zu bestehen schien. »Was ist?«, fragte Lederer. »Ist so ruhig«, sagte Gisela. Sie zog die windschiefe Stalltür auf. Ein scharfer Geruch schlug ihr entgegen. Er war nicht bitter und beißend wie Ammoniak, sondern süßlich und schwer wie Balsamico- Essig. Er erinnerte sie schwach an den Geruch im Pflegeheim, in dem ihr Vater seit einigen Monaten wohnte. Gisela zog ihren Schal über Mund und Nase. Noch bevor sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, wusste sie, dass hier der Tod wohnte. Eine Bewegung hinter ihr schreckte sie auf. Lederer stand in der Stalltür. Er hielt sich schützend einen Arm vor die Nase. Sein Blick glitt über die dreißig Schweine, die in ihrem geronnenen Blut lagen. »Da hat jemand ganze Arbeit geleistet.« Seine Stimme klang gedämpft und nasal. Giselas Blick fiel auf ein Ferkel, dessen Kopf zerplatzt war. Jemand hatte es mit gewaltiger Wucht erschlagen. »Der muss eine Sauwut gehabt haben«, sagte Gisela. »Gibt's hier noch jemanden auf dem Hof?«, fragte Lederer. Gisela schüttelte den Kopf. »Der hat hier seit Jahren schon allein gewohnt.« Die Haustür war nicht verschlossen. Gisela drückte sie auf. Ihr ganzer Körper war angespannt, sie erwartete auch hier den Geruch des Todes. Holziger Weihrauchduft empfing sie und Lederer. Der schmale Gang, von dem links und rechts Türen wegführten, glich einem Schlachtfeld.
Überall lagen Kleidungsstücke: Mäntel, Jacken, Mützen, Schuhe. Sämtliche Schubladen einer Kommode waren herausgezogen. Nur die altmodischen Fotos aus früheren Zeiten hingen unversehrt an den Wänden. Gisela und Lederer tasteten sich vorsichtig vorwärts. Unter ihren Schuhen knirschte das Glas kaputter Türfenster. Die erste Tür rechts stand halb offen. Gisela lugte hinein. Chaos. Bettzeug auf dem Boden, das Bett selbst nur noch ein Haufen zersplittertes Holz, der Kleiderschrank umgeworfen. Es schien, als hätte hier ein Untier gewütet. Sie folgte Lederer, der die Tür am Ende des Ganges ansteuerte. Farbiges Mosaikglas säumte nur noch in scharfen Zacken das Loch in der Tür, der Rest zierte den groben Dielenboden. Hinter dem zerbrochenen Türfenster konnte Gisela den Küchentisch ausmachen, in dessen Mitte eine Schale mit drei Räucherstäbchen und einem Teelicht stand. Schmale Fähnchen kräuselten sich nach oben und trugen den Weihrauchduft durch das Haus. Lederer schlug den Ledermantel zurück, legte seine rechte Hand auf die Waffe in seinem Holster. Giselas Herzschlag beschleunigte sich. Glaubte er wirklich, das Untier befand sich noch im Haus? Sie hatte in ihrem ganzen Leben ihre Pistole nie außerhalb des Schießstandes eingesetzt, und der Gedanke, das hier und jetzt zu tun, erschien ihr lächerlich. Bis ein Geräusch von der Kellertür sie aufschreckte. Ohne nachzudenken, zog sie die Pistole, den Blick fest auf die abgeblätterte Tür gerichtet. Es war ein Kratzen, schnell und hektisch.
Gisela wollte sich mit Lederer verständigen, doch der Straubinger war bereits in der Küche. Gisela unterdrückte einen Ruf, um ihn auf die Geräusche hinter der Kellertür aufmerksam zu machen. Sie hatte Angst, das unbekannte Wesen aufzuschrecken. Sie näherte sich der Kellertür, streckte die Hand nach der Klinke aus. In dem Moment brachen die Kratzgeräusche ab. Gisela lauschte einen Moment. Nichts. Langsam drückte sie die Klinke nach unten, schob die Tür einen Spaltbreit auf. Im gleichen Augenblick zwängte sich ein kleines schwarzes Tier durch, lief den Gang entlang zur Haustür und verschwand nach draußen. Gisela atmete erleichtert aus. Das war Seppl, der Niedernussdorfer Rauhhaardackel gewesen, der aus unerfindlichen Gründen im Keller eingesperrt gewesen sein musste. Gisela zog die Tür wieder zu, balancierte über die farbigen Glassplitter zu Lederer. Der sah sich in der einfachen Küche um.
Die Hängeschränke waren vollständig ausgeräumt, die Scherben des Geschirrs bedeckten den Boden wie Hagelzucker. Neben dem Tisch lag eine tote Sau. In der Stirn ein Loch von einem Bolzenschussgerät. Eine kleine Lache Blut hatte sich unter dem Tier gesammelt, das meiste davon war bereits vom Holzboden aufgesogen worden. »Da hat sich jemand wirklich bemüht, seine Spuren zu verwischen«, sagte Lederer. Obwohl er leise sprach, klang seine Stimme in Giselas Ohren zu laut. »Meinen Sie, der ist noch hier?«, flüsterte sie. »Ich denke nicht.« »Sollen wir uns nicht doch umschauen?«
»Zu zweit macht das keinen Sinn. Wir postieren uns draußen, um dem Täter die Flucht nicht zu ermöglichen. Wenn meine Männer hier sind, nehmen wir das gesamte Areal genauestens unter die Lupe. Kommen Sie.«
Zurück beim Mercedes versuchte Lederer vergeblich, über Handy Kontakt mit seinen Leuten aufzunehmen. Überall schaltete sich nur die Mailbox ein. Lederer hinterließ die Nachricht, sich nach Abschluss des Sicherungsangriffs zum Hof des Opfers zu begeben. »Auch das noch«, murmelte er. »Schauen Sie doch mal, ob Ihre Männer meinen Leuten Bescheid geben können. « Gisela wählte erst Schorsch, dann Erwin an. Auch hier erreichte sie nur die Mailbox. »Hoffentlich ist da nichts passiert«, sagte sie. »Was soll denn passiert sein? Die haben keinen Empfang. Funklöcher sind hier draußen ja nichts Außergewöhnliches. « Gisela beließ es dabei. In ihrem Kopf jedoch spukte eine Geschichte herum, die sie als Kind von ihrem Vater gehört hatte. Die Geschichte vom unheimlichen Saubären, einem bärengroßen Zwitterwesen, das durch die Lande zog und wahllos Menschen und Tiere tötete. Natürlich hatte sie es ab einem bestimmten Alter als Legende abgetan, und der Verstand sagte ihr, dass so ein Untier reiner Unfug war. Trotzdem riefen die mysteriösen Umstände des Autounfalls und die heillose Zerstörung auf dem Hof Bilder hervor, die Lederer lächerlich gefunden hätte. In ihrer Fantasie sah sie den Saubären mit blutverschmiertem Maul die Leichen von Schorsch, Erwin und Lederers Männern zerreißen. Die unheimliche Stille rund um den Hof tat ihr Übriges. Gisela war froh, Lederer in der Nähe zu haben. Der behielt aufmerksam das Hauptgebäude und den Stall im Auge. »Ich geh mal auf die andere Seite, Sie bleiben hier«, sagte er. »Ich möchte sichergehen, dass niemand hinten raus kann.« Ohne auf Giselas Antwort zu warten, stiefelte er los und verschwand um die Ecke. Gisela hielt die Luft an, wartete auf einen Todesschrei des Straubingers.
Sie hörte nur ein weit entferntes Bellen, gefolgt von dem Krächzen mehrerer Krähen. Das Handy bimmelte. Gisela zuckte zusammen, ihr Herz machte einen Satz quer durch den Brustkorb. Mit zitternden Fingern zog sie das Telefon heraus. Auf dem Display war Erwins Gesicht zu sehen. Erleichterung durchströmte warm ihren Körper. »Erwin, Gott sei Dank.« »Was gibt's, Chefin?« »Ich bin mit dem Lederer beim Hias. Seine Männer sollen herkommen, wenn sie mit der Arbeit fertig sind.« Es rauschte und knisterte in der Leitung. »Hast du mich gehört, Erwin?« »Ja, schon.« »Aber?« »Ich weiß nicht, ob das so schnell geht.« »Richt's auf jeden Fall aus, die sollen ihren Obermacker dann einfach selber anrufen und das klären.« »Mhm.« Erwin war zwar immer etwas brummig und maulfaul, aber Gisela hatte im Lauf der Jahre gelernt, die unterschiedlichen Tonlagen seiner Stimme zu interpretieren. »Was ist los?«, fragte sie. Rauschen und Knistern. »Sag.« »Mei, wir hatten einen kleinen Disput.« »Wer wir?« »Der Schorsch und ich mit den Kasperln vom Lederer.« Gisela atmete tief durch. Sie ahnte bereits den nächsten Satz. »Die wollten unbedingt eine aufs Maul haben«, sagte Erwin. Ein Knurren entfuhr Giselas Kehle. »Wir haben nicht angefangen, ehrlich«, ergänzte Erwin hastig. »Die machen sich einen Spaß mit uns, und du meinst, das lassen wir uns gefallen?« »Sind die noch einsatzfähig?«, fragte Gisela. »Schon.« Er zögerte kurz. »Bis auf einen, den hat's ein bisschen schlimmer erwischt. Ist mit dem Kopf gegen einen Baum gerannt. Der hat ziemlich Schädelweh.« Erwin gluckste. »Ich sag dir jetzt was - wenn ich während der Ermittlungen noch ein Mal Beschwerden von den Straubingern hör, dann zieh ich Konsequenzen. Ich hab's satt, euer kindisches Verhalten immer und immer wieder zu rechtfertigen. Ist das rübergekommen?« »Ja«, tönte es kleinlaut aus dem Hörer. »Aber wir haben echt nicht angefangen.« Gisela ersparte sich jeden weiteren Kommentar und drückte Erwin ohne viel Federlesen weg.
Eine knappe Stunde später waren die Kriminaltechniker vor Ort. Erwin fuhr mit dem Streifenwagen voraus. Lederer bemerkte überrascht, dass seine Männer nur zu dritt und ziemlich lädiert waren. Ein Blick auf Erwins blaues Auge verwandelte die Überraschung in Erkenntnis. Er schaute schnell zu Gisela, die entschuldigend die Schultern hob und ein zerknirschtes Gesicht machte. Lederer seufzte. Er wies Erwin und Gisela an, mögliche Fluchtwege aus dem Gebäude im Auge zu behalten, während er mit seiner Truppe das Haus durchsuchte. Gisela entdeckte Seppl, der in der Tür des Schweinestalls hockte und zu ihr blickte.
Er winselte leise. Sie marschierte hinüber, ging vor ihm in die Hocke und streichelte seinen Kopf. Der kleine Hund rutschte näher an sie heran, sein ganzer Körper zitterte. »Hast Angst, hm?« Mitfühlend schaute sie ihm in die wässrigen Augen. »Ich wünscht, du könntest mir sagen, was du gesehen hast.« »Was wird das denn?« Lederers Stimme hallte über den Hof. Gisela erhob sich, als der Straubinger mit weit ausholenden Schritten auf sie zukam. »Nennen Sie das aufpassen?«, fuhr er sie an. »'tschuldigung, war blöd, ich weiß.« Lederer schenkte Seppl einen kurzen Blick. »Gehört der hierher?« »Der gehört zum Dorf«, erwiderte Gisela. »Keiner weiß, wo der eigentlich herkommt, der ist schon seit Jahren das Niedernussdorfer Maskottchen.« Gisela nickte zum Haus. »Ist keiner mehr drin?« Lederer schüttelte den Kopf. »Das obere Stockwerk sieht ebenso wüst aus wie das Erdgeschoss. Ich vermute, hier waren mehrere Täter am Werk.« »Kann's auch was anderes gewesen sein?« Gisela biss sich auf die Zunge, kaum war das letzte Wort ausgesprochen. Lederer sah sie fragend an. »An was denken Sie da?« Gisela wich seinem Blick aus. Kurz drängte ihre abergläubische Vermutung nach oben, aber die Angst, sich lächerlich zu machen, hielt sie zurück. »Keine Ahnung. Sie sagen doch immer, man muss jede Eventualität in Betracht ziehen, solange es keine gesicherten Erkenntnisse gibt.« Lederer musterte Gisela. Er spürte, dass sie etwas zurückhielt, bohrte aber nicht nach. »Wenn Sie einen Verdacht haben, in welche Richtung auch immer, Sie finden bei mir jederzeit ein offenes Ohr«, sagte er nur. Gisela nickte. Einen Moment lang ruhte sein Blick auf ihr, dann wendete er sich um und ging zu seinem Mercedes. Er verständigte die Rechtsmedizin, dass die Leiche aus dem Kofferraum heute noch obduziert werden müsse.
Es dauerte den ganzen Tag, bis die Kriminaltechniker alle kleineren und größeren Spuren gesichert hatten. Gisela und Erwin, die die ganze Zeit über bibbernd in der Kälte stehen mussten, wärmten sich am Abend im Wirtshaus »Zum Wilden Bock« bei einem Tee, respektive einem dunklen Weißbier auf. Schorsch und Richie hockten den beiden gegenüber. Schorsch trug einen Ohrverband. Einer der Kriminaltechniker hatte ihn aus purer Verzweiflung gebissen, um dem Erstickungstod zu entgehen. Richie, der immer so wirkte, als würde er jeden Moment einschlafen, hatte sich die Geschichte um die Schlägerei stoisch angehört. Zwischendurch hatte er sich am Kinnbart gekratzt oder war sich durch die punkige Frisur gefahren, insgesamt aber widmete er seinem Weißbier mehr Aufmerksamkeit als seinen Kollegen.
Selbst Giselas Bericht von der unglaublichen Verwüstung entrang ihm nur ein Gähnen. »Also, was du da erzählst, das klingt ja echt nach einem Monster«, meinte Schorsch zu Gisela. Er blinzelte aufgeregt. »Das erinnert mich an eine Geschichte, die mir mein Opa früher immer erzählt hat. Von dem Saubären, der sich zwischen Erntedank und Weihnachten seine Opfer von den Höfen holt.« Erwin lachte auf. »Du glaubst auch noch ans Christkind, was?« »Mein Opa hat den schon mal gesehen«, zischte Schorsch. »Das Viech war über zwei Meter groß, hatte einen riesigen haarigen Schädel mit zwei Hauern im Unterkiefer, und seine Augen haben rot geglüht.« »Dein Opa war ein alter Säufer«, sagte Erwin, trank sein Bier aus und orderte mit einem auffordernden Blick zum Wirt gleich das nächste. »Ich hab den auch schon mal gesehen«, brummte Richie in sein Glas hinein. Bei ihm wusste man oft nicht, sprach er mit den anderen oder mit sich selbst. »Und er hat genauso ausgesehen, wie der Schorsch ihn beschrieben hat.« »Du hast den Saubären gesehen?«, fragte Gisela. »Wann?«
Richie hob den Kopf und richtete die rotgeäderten Augen auf seine Kollegen. »Ich war achtzehn und auf dem Rückweg von einem Iron Maiden Konzert. Arschkalt war's auf dem Moped, aber davon hab ich nichts gespürt. Innerlich hab ich geglüht, ich war voll aufgeheizt von der Musik. Kennt ihr den Riff aus 666 - Number of the Beast? Der brennt.« Richie griff zur Luftgitarre. Knarrende Laute drangen aus seinem Mund, während seine Hände die Gitarre bearbeiteten und sein Kopf rhythmisch vor und zurück zuckte. »Erzähl weiter«, forderte Schorsch und stupste ihn an. Richie ließ von der Gitarre ab, schaute in die Runde. »Ich bin grad am Schallerhof vorbei in den Wald rein, als das Viech vor mir über die Straße läuft.« Seine rechte Hand stieß vor, begleitet von einem Zischlaut. »Ich reiß den Lenker herum, brems, und bevor ich schau, lieg ich im Graben.« »Und der Saubär?«, fragte Schorsch atemlos. »Der war längst zwischen den Bäumen verschwunden, als ich mich aufgerappelt hab«, sagte Richie. Zum Zeichen, dass die Geschichte zu Ende war, trank er sein Bier aus und hielt das leere Glas dem Wirt hin, der gerade Erwins Nachschub an den Tisch brachte. »Mir auch noch eins«, sagte Richie. Der Wirt nickte und kehrte zum Tresen zurück. »Und das ging ratzfatz?«, fragte Erwin. »Ratzfatz«, bestätigte Richie. »Und da hast du ganz genau gesehen, wie das Viech ausgeschaut hat?« Erwins Kopf lag leicht schräg, sein Blick versuchte Richie zu durchleuchten.
Der beugte sich vor. »Weißt du eigentlich, dass sich in den Momenten des Todes die Zeit bis ins Unendliche dehnt und sich jedes Detail in dein Gehirn einfräst?« Er tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe. »Da drin sind Bilder, die wünsch ich meinem ärgsten Feind nicht.« »Also, wenn der Richie das sagt, dann wird's ja wohl stimmen. Oder willst du sagen, er ist auch ein alter Säufer? « Schorsch blickte Erwin herausfordernd an. Der Wirt stellte das frische Weißbier vor Richie ab. »Ich sag bloß, ich glaub weder ans Christkind oder den Osterhasen oder an sonst einen Schmarrn«, sagte Erwin. »Wenn es wirklich der Saubär war, dann werden die im Hias seinem Haus bestimmt Spuren finden.« Er hob sein Glas. »Prost.« Die anderen folgten seinem Beispiel, stießen klingend miteinander an. Gisela hob ihre Tasse nur anstandshalber, sie war in Gedanken. In ihr rumorte der Gedanke an ein riesiges Untier, obwohl ihr Verstand sich mit aller Macht dagegen wehrte. Sie wollte nicht auf Lederers Ermittlungsergebnisse warten, sie musste selbst herausfinden, was passiert war.
Weihrauch passte gar nicht zu Hias. Der Saubauer war im Dorf als stinkender Einzelgänger verschrien, der sich mit seinen Schweinen im Dreck suhlte, mit ihnen schmuste und sonst allerlei Dinge mit ihnen anstellte. Den Gerüchten lag, zumindest was das Stinken anging, ein wahrer Kern zugrunde. Im Wirtshaus »Zum Wilden Bock« mied es jeder, in seiner Nähe zu sitzen.
Für Gisela war klar, dass die Räucherstäbchen nicht von Hias stammten, sondern von seinem Besuch. Telefonklingeln schreckte sie auf. Ludwig lag neben Gisela mit halb offenem Mund im Tiefschlaf und rührte sich nicht, als sie sich aus der Bettdecke schälte und ins Wohnzimmer hastete. Es war kurz nach Mitternacht, und ein Anruf um diese Uhrzeit konnte nur eine schlechte Nachricht bedeuten. »Wegmeyer«, meldete sie sich. »Hier ist Doris«, klang es aus dem Hörer. Eine heiße Welle durchfuhr Gisela. Doris war Schwester in dem Pflegeheim, in dem ihr Vater wohnte. »Der Jakob ist vor einer halben Stunde eingeschlafen«, sagte Doris. Gisela hörte den Satz, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis sie seine Bedeutung verstanden hatte. Ein Stich fuhr ihr durchs Herz, gleichzeitig drückte es ihr die Kehle zu. »Es tut mir leid, dass du keine Möglichkeit mehr hattest, dich zu verabschieden«, hörte sie Doris wie aus weiter Ferne sagen. Das Atmen fiel ihr schwer. »Ja. Ich komm morgen früh vorbei, geht das?« Ihre Stimme klang dünn wie Reispapier. Sie hörte Doris' Antwort nicht mehr, ein Rauschen in den Ohren übertönte alles andere. Kurz wurde ihr schwarz vor den Augen. Als das Licht zurückkam, hielt Ludwig sie in seinen Armen. Er war durch ein Krachen aufgeweckt worden und hatte Gisela ohnmächtig im Wohnzimmer vorgefunden. Einige Minuten lang saßen die beiden in enger Umarmung auf dem Teppichboden, bevor sie ins Schlafzimmer zurückkehrten. An Schlaf war jedoch nicht zu denken, und nachdem sie kurz vor Sonnenaufgang die Hühner gefüttert hatte, fuhr Gisela in das dreißig Kilometer entfernte Bad Reibach.
Schwester Doris, eine bodenständige Frau Anfang vierzig, übergab ihr den Totenschein, führte sie dann zu Jakobs Zimmer. Giselas Vater lag in seinem Bett, die Augen geschlossen, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Gisela betrachtete ihn lange, es war ihr, als würde sie sein Gesicht zum ersten Mal sehen. Seine Haut wirkte glatter als sonst, die Falten nicht mehr so tief, um seine Mundwinkel lag ein kleines Lächeln, als hätte er einen angenehmen Traum. Gisela fuhr ihm über die lichten Haare, küsste seine Stirn und verließ das abgedunkelte Zimmer. Sie verständigte sich mit Doris auf ein Bestattungsinstitut, zu dem Jakob überführt werden sollte. Alle Unterlagen hatte sie dabei, seit Monaten war sie für diesen Fall gerüstet. Und doch traf es sie jetzt unvorbereitet. Auf der Rückfahrt nach Niedernussdorf wurde Gisela von Bildern aus der Vergangenheit überschwemmt. Vor allem erinnerte sie sich an ihre Kindheit, als Jakob abends immer an ihrem Bett gesessen und vorgelesen hatte. So hatte er ihr die Sagen von Knecht Ruprecht, den Nibelungen oder Rübezahl nähergebracht. Und die Legende vom Saubären. Der Saubär. Kurz fröstelte es Gisela. Es mussten Menschen gewesen sein, die Hias umgebracht hatten. Skrupellose Menschen. Aber wozu der Weihrauch? Weihrauch wurde verwendet, um den Leib Christi zu ehren. Die Heiden verwendeten Weihrauch auch, um den Tod von ihrer Schwelle zu verbannen. Beides schien Gisela in diesem Fall sehr unwahrscheinlich.
Sie bremste abrupt. Ohne es zu merken, war sie zu Hias' Hof gefahren und stand jetzt vor dem Haupthaus. Es lag im harten Licht der kalten Mittagssonne und machte einen abweisenden Eindruck. Die großteils morschen Fensterläden waren geschlossen, an allen Zugängen waren Polizeisiegel angebracht. Ein heulender Motor hinter dem Haus ließ Gisela aufhorchen. Dort war der Schweinestall. Ein kleiner Bagger rollte aus dem flachen Gebäude, in der Schaufel zwei Schweinekadaver. Der Bagger fuhr an die Ladefläche eines modernen Lastwagens heran, der aus Edelstahl zu bestehen schien, und kippte die toten Tiere hinein. Der Baggerführer, ein aufgedunsener Bleichling mit Sicherheitsbrille und Atemschutzmaske, verschwand mit dem bulligen Gefährt wieder im Stall, ohne Gisela zu bemerken. Der Leichengeruch verursachte ihr leichte Übelkeit und einen dumpfen Kopfschmerz, als sie den Stall betrat. Feinstaub erfüllte den Raum mit bräunlichem Nebel. Der Bagger schob seine gezahnte Schaufel mit Wucht unter zwei weitere Schweinekörper, hob sie hoch. Nur die Hufe lugten über den Rand. Der Bagger machte eine halbe Drehung, schoss auf Gisela zu, die in der Tür stand. Er bremste scharf, die Schaufel schaukelte, der Motor blubberte vor sich hin. Der Bleichling lehnte sich aus der Kabine. »Wollen Sie überfahren werden? Was machen Sie überhaupt hier? Das ist Sperrgebiet.« Gisela wurde bewusst, dass sie in Zivil war. »Ich bin von der Polizei.« Der Bleichling beäugte sie skeptisch. Ihr schien, als glotze der Tod persönlich sie an. »Hat die Mordkommission die Aufräumarbeiten in Auftrag gegeben?« »Wer denn sonst? Kann ich weitermachen?
Ich werd nicht fürs Rumstehen bezahlt.« Gisela trat einen Schritt beiseite. Der Baggermotor heulte auf, das bullige Gefährt rollte an ihr vorbei zum Lastwagen. Sie machte ein paar Schritte in den Stall hinein. Es gab mehrere hüfthohe brüchige Mauern, die insgesamt vier Koben voneinander abtrennten. Drei waren schon freigeräumt, im letzten lagen noch fünf tote Schweine. Getrocknetes Blut in Augen und Ohren ließ darauf schließen, dass ihnen allen die Schädel eingeschlagen worden waren. Dreißig Schweine zu erschlagen, das war eine Mordsarbeit. Ein Hupen schreckte Gisela auf. Der Bagger röhrte heran. Seine Schaufel senkte sich, rutschte mit einem hässlichen Quietschen über den Steinboden und schob sich vehement unter die nächsten Schweinekörper. Die breiten Zähne der Schaufel durchbohrten eine Sau und spießten sie wie mit der Gabel auf. Gisela wendete den Kopf ab. Magenflüssigkeit stieg in die Speiseröhre hoch. Sie schluckte den bitteren Saft hin unter und rannte ins Freie. Ihre Nase brannte, als sie ein paarmal die kalte Luft tief einatmete. Hinter ihr lud der Bagger die Kadaver ab. Gisela hörte die toten Schweine dumpf auf die Körper ihrer Artgenossen aufprallen. Nachdem der Bleichling seine Arbeit getan hatte und mit dem Lastwagen verschwunden war, machte sich Gisela an die Arbeit.
Sie brach das Siegel an der Tür auf und betrat das Haus. Zögernd schob sie sich in den düsteren Hausflur mit den gerahmten alten Fotos, die die Geschichte des Hofes über drei Generationen erzählte. Hias war der Letzte der Familie gewesen. Gisela drehte den Lichtschalter. Zwei Lampen flammten auf, erhellten den düsteren Gang. Gleich fühlte Gisela sich etwas wohler, auch wenn der Novemberwind heulend durch die Ritzen des Hauses fuhr und ihre Schritte musikalisch begleitete. Das Chaos empfing sie unverändert, der Geruch des Todes hing noch in der Luft. Glassplitter knirschten unter Giselas Schuhen. Ihr Ziel war die Küche. Alle ihre Sinne richteten sich auf den Raum hinter der verschlossenen Tür am Ende des Gangs. Ein leises Scharren. Gisela hielt inne, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Ratten, schoss es ihr durch den Kopf. Das mussten Ratten sein. Kein Wunder, die fühlten sich auf dem vergammelten Hof sicher ausgesprochen wohl. Sie tastete sich weiter zur Küche vor, drückte vorsichtig die Tür auf. Rascheln und Scharren empfingen sie, als zwei Ratten sich schleunigst aus dem Staub machten. Sie huschten hinter den Kühlschrank, und bald darauf war von ihnen nichts mehr zu hören.
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Autoren-Porträt von Christian Limmer
Christian Limmer, 1964 in Straubing geboren und aufgewachsen, begann Theaterwissenschaft zu studieren, brach das Studium wegen Trockenheit ab und arbeitete im Folgenden unter anderem als Cutter bei Bavaria Film. An der UCLA in Los Angeles absolvierte er einen Drehbuchkurs, bevor er seine Karriere bei Film und Fernsehen begann. Seit 1993 schreibt er Drehbücher für Fernsehproduktionen wie Polizeiruf 110, Tatort oder Unter Verdacht.Sein Niederbayernkrimi Sau Nr. 4 ist mit dem Bayerischen Fernsehpreis 2011 ausgezeichnet worden.
Er lebt mit seiner Familie in München. Saubär ist sein zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christian Limmer
- 2013, 1, 304 Seiten, Maße: 13,2 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653386
- ISBN-13: 9783863653385
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