Splitterfasernackt
Lilly Lindner ist sechs, als der Nachbar beginnt, sie regelmäßig zu vergewaltigen. Er droht ihr mit dem Schlimmsten, falls sie etwas ihren Eltern erzählen sollte. Und so schweigt das kleine Mädchen. Schließlich zieht der Mann weg...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Splitterfasernackt “
Lilly Lindner ist sechs, als der Nachbar beginnt, sie regelmäßig zu vergewaltigen. Er droht ihr mit dem Schlimmsten, falls sie etwas ihren Eltern erzählen sollte. Und so schweigt das kleine Mädchen. Schließlich zieht der Mann weg doch Lillys Leben ist längst aus dem Lot. Mit 13 Jahren fängt sie an zu hungern damit von ihrem geschundenen Körper möglichst wenig übrig bleibt. Doch die Schande macht sie damit nicht ungeschehen. Und so beschließt Lilly als junge Frau, ihren Körper, der ihr schon lange nicht mehr gehört, in einem Edel- Bordell zu verkaufen. Und ausgerechnet hier beginnt sie, ihre ungeheuerliche Geschichte aufzuschreiben und verfasst ein beeindruckendes, provozierendes Buch von großer Sprachgewalt.
Klappentext zu „Splitterfasernackt “
Lilly Lindner ist sechs, als der Nachbar beginnt, sie regelmäßig zu vergewaltigen. Er droht ihr mit dem Schlimmsten, falls sie etwas ihren Eltern erzählen sollte. Und so schweigt das kleine Mädchen. Schließlich zieht der Mann weg - doch Lillys Leben ist längst aus dem Lot. Mit 13 Jahren fängt sie an zu hungern - damit von ihrem geschundenen Körper möglichst wenig übrig bleibt. Doch die Schande macht sie damit nicht ungeschehen. Und so beschließt Lilly als junge Frau, ihren Körper, der ihr schon lange nicht mehr gehört, in einem Edel- Bordell zu verkaufen. Und ausgerechnet hier beginnt sie, ihre ungeheuerliche Geschichte aufzuschreiben - und verfasst ein beeindruckendes, provozierendes Buch von großer Sprachgewalt.
Lilly Lindner ist sechs, als der Nachbar beginnt, sie regelmäßig zu vergewaltigen. Er droht ihr mit dem Schlimmsten, falls sie etwas ihren Eltern erzählen sollte. Und so schweigt das kleine Mädchen. Schließlich zieht der Mann weg - doch Lillys Leben ist längst aus dem Lot. Mit 13 Jahren fängt sie an zu hungern - damit von ihrem geschundenen Körper möglichst wenig übrig bleibt. Doch die Schande macht sie damit nicht ungeschehen. Und so beschließt Lilly als junge Frau, ihren Körper, der ihr schon lange nicht mehr gehört, in einem Edel- Bordell zu verkaufen. Und ausgerechnet hier beginnt sie, ihre ungeheuerliche Geschichte aufzuschreiben - und verfasst ein beeindruckendes, provozierendes Buch von großer Sprachgewalt.
Lese-Probe zu „Splitterfasernackt “
Splitterfasernackt von Lilly LindnerPROLOG
Vielleicht arbeite ich ja nur deshalb in einem Bordell, weil Männer an einem Ort wie diesem für ihre Triebe bezahlen müssen und weil sie auf diesem Weg nicht einmal annähernd zu meinem Herzen durchdringen können. Sie sind nur ein flüchtiger Schwarm zirpender Wanderheuschrecken. Ein Rudel schwanzwedelnder Hunde.
Es gibt Männer, die stellen ihre Frau vor dem Baumarkt ab und sagen: »Schatzi-Mausi, ich gehe nur schnell ein paar Dübel kaufen ... wartest du bitte kurz hier auf mich - im Baumarkt langweilst du dich ja sowieso bloß ...« Und dann verlassen diese Männer den Baumarkt durch den Zugang um die Ecke und gehen auf einen Zehn-Minuten-Fick in ein Bordell. Für solche Notfälle haben Männer sogar immer eine ungeöffnete Packung Dübel oder Schrauben als Alibi in der Tasche.
Das ist die Welt, in der ich meine zu kurzen Röcke und mein gefälschtes Lächeln trage.
Warum sollte ich je wieder Sex haben, ohne dafür bezahlt zu werden? Aus Liebe? Nein danke. Nicht einmal mit Rückgaberecht. Das ist viel zu kompliziert. Und die Miete lässt sich davon auch nicht bezahlen.
Das habe ich nur so dahingeschrieben.
Eigentlich meine ich das Gegenteil.
Was kann schöner sein als der erste Kuss oder ein ehrlich gemeintes Lächeln. Was ist wertvoller als geschenkte Zeit und eine liebevolle Berührung.
Es gibt Augenblicke, in denen ich mich frage: »Wie konnte ich es nur wagen, meinen Körper gegen die Sucht, in fremde Arme zu fallen, einzutauschen? Und mit welchen Worten kann ich ihn wieder in Empfang nehmen, falls ich ihn eines Tages zurückbekommen sollte?«
Es ist ein Alptraum, dieses Spiel mit einem geschändeten Körper zu treiben.
... mehr
Wenn ich Sex auf dem goldenen Himmelbett in Zimmer vier habe, starre ich verloren den orangegelben Leuchtschlauch an. Ich sehe Licht, denke ich mit meinen ausgebrannten Gehirnzellen und verharre regungslos im Nichts. Ich fühle einen Körper auf mir - gut, wenn er nicht verschwitzt und klebrig ist. Schlecht, wenn er es doch ist. Ich schlinge meine verzweifelten Arme um einen Kunden, wenn ich ihn mag. Ich lasse meine Arme schlaff auf dem Bettlaken verweilen, wenn ich ihn nicht mag. Ein unbedeutendes Stöhnen an meinem Ohr, eine Wange ganz dicht an meiner. Wenn ich meinen Gast nett finde, ist es okay, wenn nicht, bin ich woanders.
Den schlimmsten Sex im Leben kann man nur einmal haben.
Und ich habe ihn längst hinter mir. Damals ...
Mit jedem Tag bin ich weiter weg davon.
Es sind meine Masken, die einen Teil von dem aufgewühlten Sturm in mir verraten: An leuchtenden Tagen bin ich die beste Liebhaberin, die man sich zu gönnen wagt; an dunklen Tagen bin ich die geilste Nutte, die man kaufen kann.
Meine Sätze sind unruhig. Zwischen den Zeilen wandern ungreifbare Gedanken hin und her. Ich versuche, ein paar Kommas zu verschieben, die hässlichen Wörter gegen schönere auszutauschen.
Aber ich bin zu müde. Ich kann nicht mehr.
Ich reiße Männer auf. Und Kondomverpackungen.
Ich reiße und reiße, und alles zerbricht.
Vielleicht sollte ich davonrennen und mich in einem nachtschwarzen Wald vor mir selbst verstecken. Dort könnte ich tagelang keinen Sex haben - ich würde vergessen, wie ein Schwanz schmeckt, ich würde aufhören, den kleinsten gemeinsamen Nenner von mir und mir und mir zu suchen. Es würde anfangen zu regnen. Und ich würde dort an einem wunderschönen verlassenen See sitzen, und der Regen würde leise flüsternd die Schande von meinem Körper tragen.
VORSPIEL
1
Der erste Mann, mit dem ich Sex habe, riecht nach Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. Seine Hände sind rauh und klebrig, seine Haare ungepflegt, und von seinem Atem wird mir zuerst schlecht, dann schwindlig.
Er wirft mich auf ein Sofa mit altmodischem Blumenmuster und hält mich mit seiner einen Hand fest, während die andere an seinem Gürtel herumfummelt. Ich weine. Ich sage irgendwelche bittenden Worte, ich stammle zusammenhanglose Sätze, ich flehe ihn an, ich flüstere nein, nein. Nein.
Meine Stimme fühlt sich fremd an, sie stolpert über meine viel zu trockenen Lippen. Ich versuche sie zu halten, denn wenn ich sie verliere, dann verliere ich auch mich.
Aber der Mann schlägt mir ins Gesicht, und ich sehe zu, wie mein rechter Schneidezahn durch die Luft fliegt und unter dem Couchtisch verschwindet.
Es ist ein Milchzahn. Alles ist okay. Ich werde einen neuen bekommen. Wie weich meine Gedanken sich anfühlen, wie sanft. Obwohl ich schreie.
»Hör auf zu heulen!«, schnauzt der Mann mich an und presst seine Hand auf meinen blutenden Mund. »Wenn du noch einmal schreist, dann schlitze ich dich auf!«
Also schreie ich nicht mehr. Ich bin ganz still.
Aber er schlitzt mich trotzdem auf.
Er bohrt sich in mich, er liegt schwer und keuchend auf mir. Seine linke Hand schließt sich wie ein Schraubstock um meinen Hals, die rechte reißt grob an meinen Haaren.
»Schlampe«, raunt er mir ins Ohr, »du kleine dreckige Schlampe!«
Ich starre die gelbweiße Zimmerdecke an. Sie kommt mir blendend grell vor. Meine Arme liegen schlaff neben mir, ich will sie bewegen, aber sie gehorchen mir nicht mehr. Mein Kopf ist leer und voll von Rauschen. Ich erzähle mir eine Geschichte, die ein schönes Ende hat, aber ich höre kaum zu.
»Komm«, wispert mir da eine leise Stimme ins Ohr; die Stimme gehört mir, aber ich erkenne sie nicht.
»Komm«, flüstert sie, »ich bringe dich weg von hier, vertrau mir.«
Vertrauen. Ein Fehler, den ich nicht wieder begehe.
Vertrauen ist russisches Roulette ohne Gewinner.
Vertrauen ist ein mit Leichen bedecktes Kinderkarussell.
Aber in einem Moment wie diesem, wenn die Entscheidungen, die man trifft, nichts mehr verändern, ist es okay, nach Strohhalmen zu greifen.
Also vertraue ich der Stimme doch.
Schweigend nehme ich ihre Hand an und lasse mich fortführen. Weg von dem Sofa, weg von dem Mann, weg von meinem Körper. In der hintersten Zimmerecke bleibt das kleine Mädchen schließlich stehen, seine kalte Berührung umschließt mein wimmerndes Herz.
»Weiter weg können wir nicht gehen«, flüstert es kaum hörbar.
Ich drehe mich um und blicke auf meine hilflose Hülle. Ich sehe in meine leeren Augen, betrachte die bleichen dünnen Beine, die merkwürdig verkrümmt zur Seite ragen. Ich nehme Abschied von dem geschädigten Körper. Er gehört nicht mehr mir. Die Trennung ist leicht, alles andere wäre schwerer.
»Mach die Augen zu«, flüstert da die Stimme. »Mach sie erst wieder auf, wenn ich es dir erlaube.«
Ich gehorche ihr. Keine Sekunde wage ich zu zögern. Ich blende ihn aus, meinen Körper, das tote Stück Fleisch; ich lasse ihn allein, ich lasse ihn zurück. Ich gebe ihn auf.
Der Mann lässt uns gehen. Mich und den Körper. Wir stehen vor seiner Wohnungstür, er drückt uns eine Tafel Schokolade in die Hand und sagt: »Das ist unser kleines Geheimnis. Du wirst es niemals jemandem erzählen. Hörst du? Niemals! Wenn dir dein Leben lieb ist ...«
Mein Leben ist mir nicht mehr lieb. Ich weiß gar nicht so genau, was Leben eigentlich noch bedeutet. Ich habe es vergessen. Aber der Mann schließt seine Tür und wartet keine Antwort ab.
Da stehen wir dann, der Körper und ich. Schweigend, stumm. Jetzt ist es zu spät, um wegzulaufen. Wir verharren. Wir warten ab. Wir lauschen angespannt in den dumpfen Nachhall. Aber nichts passiert. Nichts wird leichter. Der Schmerz fühlt sich taub an. Fremd. Unbekannt. Ist das überhaupt mein Schmerz? Vielleicht gehört er ja jemand anderem.
Wie überschaubar wäre das.
Ich beschließe, kein Wort zu verlieren über meine Schande, die ich hinter dieser Tür besiegelt habe. Dazu sind Türen da, um sie geschlossen zu halten, wenn man weiß, dass dahinter ein Mann mit einem gewetzten Messer lauert.
Also gehe ich einen Schritt zurück. Weg von der Tür. Geheimnisse müssen bewahrt werden, Dunkelheit sollte man nicht ans Tageslicht ziehen. Der Schmutz, der an mir klebt, darf niemals zu sehen sein. Es ist ein Spiel. Verstecken.
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Keiner.
Und wenn er kommt? Dann kommt er halt.
Und wenn er da war, was dann?
Wenn er drinnen war, was dann?
Dem Körper ist das alles egal, er steht nur nutzlos herum. Ich verachte ihn für seine Schwäche. Wie könnte er zu mir gehören? Das bin ich nicht. Lautlos trete ich einen weiteren Schritt von der Tür zurück. Der Körper bewegt seine müden Beine und folgt mir.
»Bleib stehen«, sage ich.
Aber er kommt näher.
Da drehe ich mich um und renne fort.
Ich bin sechs Jahre alt, bald komme ich in die Schule. Glücklich sein ist wichtiger als Schmerzen empfinden, das habe ich schon im Kindergarten gelernt. Denn Eltern mögen glückliche Kinder. Eltern mögen lachende Kinder. Wenn man lächelt, mit Grübchen in den Wangen und mit leuchtenden Augen, wenn man lange, vom Wind zerzauste Haare und ein süßes Puppengesicht hat, dann wird man leichter geliebt als andere. Perfektion ist Sicherheit, Perfektion ist Macht. Meine Eltern brauchen ein perfektes Kind; ich muss funktionieren, ich darf auf keinen Fall ein Fehler sein. Also schrubbe ich stundenlang in der Badewanne zwischen meinen Beinen hin und her, bis die Haut rot und geschwollen ist. Mit gleichgültigen Augen betrachte ich dabei das blutige Wasser, es wird verschwinden, sobald ich die Wanne leerlaufen lasse, so weit, so gut.
Nichts bleibt zurück.
Nach dem Baden wickele ich mich in das größte Handtuch, das ich finden kann, und bin verzweifelt, weil es nicht weiß ist, denn weiß ist beruhigend, weiß ist sauber, weiß ist rein.
Meine Beine sind wacklig, sie fühlen sich fiebrig an, heiß und kalt zugleich, bei jeder Bewegung schwankend. Aber ich darf nicht fallen, nicht heute, die neunzehn Schritte bis in mein Zimmer muss ich schaffen.
Ich zähle sie, jeden einzelnen.
Und ich schaffe sie, alle.
In meinem Zimmer vergrabe ich mein Gesicht in dem nach Waschmittel duftenden Handtuch. Ich verschwinde darin und frage mich, ob ich mich unsichtbar machen kann, wenn ich nur fest genug daran glaube. Ich glaube, so sehr ich kann.
Aber nichts passiert.
Also nehme ich die Schokolade, die ich achtlos zusammen mit meinem Kleid auf den Fußboden geworfen habe, und esse sie hastig auf. Dann gehe ich wie in Trance zurück ins Badezimmer, die schwachen Beine taumelnd wie die einer Marionette; dort beuge ich mich über die Toilette und würge so lange, bis auch der letzte Krümel wieder aus dem elenden Körper heraus ist. Anschließend wasche ich mir meine Hände und das Gesicht mit eiskaltem Wasser und sehe dabei zu, wie sie erst blau und dann violett-lila anlaufen. Der Schmerz beruhigt mich, ich fühle, wie meine Fingerspitzen langsam taub werden, wie sie zittern und beben. Es ist nichts passiert.
Es ist doch nichts passiert.
Mit verkrampften Händen drehe ich den Wasserhahn wieder zu und blicke auf. Mein Spiegelbild weicht einen Schritt zurück von mir. Und dann noch einen. Und noch einen.
Da weiß ich genau: Es gibt mich nicht mehr.
Die Tatsache, dass ein gewöhnlicher Tag in meinem Leben nicht damit beginnt, dass jemand die Bettdecke von meinem Körper reißt, zu mir aufs Bett gesprungen kommt und in mein Ohr brüllt: »Hey, aufwachen! Erzähl die Geschichte! Wie war das, als du vergewaltigt worden bist?!« - diese Tatsache kommt meinem Geisteszustand sehr gelegen.
Noch heute fällt es mir schwer, »Vergewaltigung« zu sagen, ohne dabei mit fahrigen Händen durch meine Haare zu streichen, auf meiner Lippe herumzukauen oder zu Boden zu blicken. Ich habe niemals einem Menschen in die Augen gesehen, während ich davon erzählt habe. Und man kann mir noch so oft sagen, dass ich mich für nichts schämen muss, dass ich unschuldig bin. Ich glaube kein Wort, bis ich unwiderlegbare Beweise dafür habe. Und wer soll mir die liefern?
»Vergewaltigung« in den Laptop zu tippen ist leichter, als es auszusprechen. Aber die nackten Buchstaben anschließend auf dem Bildschirm lesen zu müssen ist ein unerbittliches Aufbegehren gegen mich selbst.
Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal darüber geschrieben habe, vielleicht, als ich vierzehn Jahre alt war, vielleicht auch erst mit fünfzehn. Solange ich es nicht aufgeschrieben hatte, war es weniger wirklich, weiter weg von mir. Aber man kann sich nicht ewig belügen; irgendwann fängt man doch an, sich hübsche Muster in die Arme zu schlitzen. Und wenn nichts mehr von dem ersten Arm übrig ist, geht man entweder erbarmungslos zu dem zweiten Arm über, oder man beginnt sich allmählich ein paar Gedanken zu machen.
Mein Gehirn macht sich sehr gerne Gedanken. Und es ist zu dem Schluss gekommen, dass ich all die Erinnerungen, die nach und nach in mir aufkommen, zu Papier bringen sollte, um sie zu ordnen und um später sagen zu können: »Okay, das kenne ich schon! Ich weiß, dass er das mit mir gemacht hat, ich habe es sogar aufgeschrieben. Es ist vorbei. Einmal durchdrehen reicht vollkommen aus.«
Aber es hat natürlich nicht gereicht.
Und es wird niemals reichen.
Ich hätte meine Geschichte auch anders beginnen können. Mit dem Gefühl zum Beispiel, das einen überkommt, wenn man es zum ersten Mal alleine schafft, seine Schuhe fest genug zu binden, so dass die Schleife den ganzen Weg bis zum Spielplatz und sogar noch die Leiter hinauf bis hoch zur Rutsche hält. Aber was würde das über mich aussagen? Dass ich eine Schleife knüpfen kann. Und dass ich schon einmal eine Rutsche hinuntergerutscht bin. Ich nehme an, das schaffen alle anderen Menschen auch.
Vielleicht wäre es trotzdem ein besserer Anfang gewesen. Ein schönerer. Ein leichterer.
Aber dennoch erzähle ich zuallererst von dem Tag, an dem so vieles für mich aufgehört hat. Von meinem größten Geheimnis, das ich niemals verraten wollte, von dem ich in all den Jahren nicht einmal meinen Eltern erzählt habe. Und wenn es einen Gott gibt, dann verbietet er ihnen hoffentlich, dass sie meine Tür eintreten und sich gemeinsam mit mir hinsetzen und ein Gespräch führen wollen. So etwas haben wir früher schon versucht. Das hat dann entweder damit geendet, dass ich mir eine Rasierklinge in die Pulsader gerammt habe, dass meine Mutter kurzzeitig ausgezogen ist, dass ich in eine Psychoklinik gewandert bin, dass meine Mutter mit Stühlen geworfen hat, dass ich ins Kinderheim geflüchtet bin, dass meine Mutter ins Kloster wollte, dass ich eine Packung Antidepressiva mit einem Happs verspeist habe, dass meine Mutter kein Wort mehr gesprochen hat oder dass ich angefangen habe, mich mit Wänden anzufreunden. Mein Vater war währenddessen genauso, wie er immer ist: ruhig und ausgeglichen. Eine Bombe könnte direkt neben ihm in die Luft gehen, er würde einfach ganz gelassen bleiben und in aller Seelenruhe seinen schwarzen Tee mit Kardamom austrinken, um dann eine Runde mit seinem Fahrrad zu drehen. Mein Vater hat sich nie mitreißen lassen, er hat nie getobt. Wenn meine Mutter gesagt hat, sie würde mich hassen, wenn meine Mutter geschrien hat, sie wolle mich nie, nie wieder sehen, dann hat er, ohne von dem Buch aufzublicken, in dem er gerade las, zu mir gesagt: »Sie meint das nicht so.«
Als wäre es vollkommen egal. Als wäre ich vollkommen egal.
Wenn ich ihn gefragt habe, ob er mich eigentlich lieben würde, dann hat er »jaja« geantwortet, als wäre es genauso egal. Ich habe als Kind immer gedacht, mein Vater hätte keine Gefühle. Ich dachte, er könnte es, ohne mit der Wimper zu zucken, hinnehmen, wenn meine Mutter und ich auf einen Schlag einfach verschwunden wären. Mit siebzehn Jahren habe ich zum ersten Mal Emotionen in seinen Augen gesehen; ich war gerade knapp am Tod vorbeigerauscht und saß high und zugedoped von all den Überresten der Tabletten, die noch in meinem Blut umherirrten, am Küchentisch und löffelte einen Magermilchjoghurt. Etwas anderes konnte ich nicht essen, weil ich mir meinen Hals durch das Auskotzen der hundert Tabletten leicht zerfetzt hatte. Jedenfalls erzählte mein Vater mir, dass er soeben bei meinem Schulleiter gewesen sei, um ihm mitzuteilen, dass ich für das nächste halbe Jahr nicht zur Schule kommen würde.
»Danke«, habe ich gesagt, weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Außerdem hatte ich Halsschmerzen und konnte sowieso nur heiser krächzen.
»Weißt du, wie schwer es für mich war, ihm zu erklären, dass meine Tochter versucht hat, sich umzubringen?«, hat mein Vater daraufhin gesagt.
Und in seinen graublauen Augen lag in diesem Moment etwas, das ich noch nie darin gesehen hatte: Zärtlichkeit. Verzweiflung. Und ich musste heulen, so sehr hat mich das bewegt. Natürlich bin ich vorher schnell ins Bad geflüchtet. Ich habe die Tür hinter mir abgeschlossen, zweimal geprüft, ob sie auch wirklich fest verschlossen ist, und dann habe ich das Wasser ganz stark aufgedreht, um möglichst viel Krach zu machen. Anschließend habe ich mein Gesicht mit literweise kaltem Wasser gewaschen, damit ja keine roten Flecken mehr zu sehen sind. Denn wie könnte ich je zugeben, wie sehr meine Eltern mich berühren, mit jedem noch so winzigen Atemzug.
Danach war mein Vater wieder so, wie ich ihn kannte. Er schrieb einen Bericht über das Geschehene, als wäre unsere Familie, allen voran natürlich ich, einfach nur irgendein Projekt, dessen Entwicklung so sachlich und knapp wie möglich dokumentiert werden müsste. Manchmal, wenn ich alleine war, habe ich mir seinen Lilly-Ordner geschnappt und gelesen, was da über mich drinstand. Ich habe herausgefunden, dass ich »unfähig«, »eigensinnig« und »nicht imstande für ein vernünftiges Zusammenleben mit meiner Mutter« bin. Ich habe gelesen, dass ich versucht habe, mich umzubringen, mit genauer Zeit- und Ortsangabe und so kalt dahingeschrieben, als wäre ich tatsächlich erfolgreich gewesen.
Eine meiner Therapeutinnen hat meinen Vater schließlich darauf hingewiesen, dass es nicht sehr taktvoll sei, ständig mit einer Akte über mich bei ihr aufzukreuzen und während der Gespräche Notizen zu machen, um anschließend Kopien des Protokolls an irgendwelche Ärzte und Psychologen zu verteilen. Ich weiß nicht, ob er das je verstanden hat. Aber egal - ich würde ihm trotzdem jedes Jahr einen Geburtstagskuchen backen, wenn ich nur wüsste, dass er sich darüber freuen könnte.
Zurück zu meiner Geschichte, denn die geht da weiter, als das kleine Mädchen beschließt, den widerlichen Körper so bald wie möglich los zu sein und anschließend schnellstens erwachsen zu werden, damit es ausziehen kann, in ein sicheres Haus, in ein neues Leben, Hauptsache weg - weit, weit weg.
Das Mädchen spricht nicht mehr viel, und wenn es redet, dann zu laut, zu aufgedreht, zu übermütig. Es streitet mit den anderen Kindern, es will alleine sein, es sitzt in der hintersten Ecke vom Sandkasten und buddelt ein Loch, in dem man sich verstecken kann. Es kneift mit boshaften Fingern in seinen Körper, es streckt seinem Spiegelbild die Zunge raus, es weint nachts, es badet in eiskaltem Wasser, bis seine Lippen violett angelaufen sind und es sich kaum noch bewegen kann, es will immer in der Nähe seiner Mutter sein, aber die versteht das intensive kleine Mädchen nicht - es ist seiner Mutter lästig, weil es viel zu viel Raum für sich beansprucht.
Da verändert sich das kleine Mädchen, es beginnt die Gedanken in seinem Kopf zu verdrehen, es erfindet neue Freunde, unsichtbare flüsternde Gestalten, mit denen es reden kann und die immer da sind. Es gibt eine Geheimsprache, geheime Spiele, geheime Regeln. Dort, in dieser unwirklichen Welt, fühlt sich das Mädchen sicher, und es zieht sich dahin zurück, sooft es möglich ist.
Das Mädchen verdrängt, es vergisst - es lässt den schmutzigen Teil von sich ganz tief in seinem Innersten verschwinden.
Die Zeit vergeht.
Das Mädchen ist dankbar. Denn ein kleines Kind zu sein ist schlecht, da ist es sich sicher. Und es zerkratzt sich seine Arme, um einen anderen Schmerz zu spüren, einen greifbaren, der abklingt und verheilt; es boxt sich in den Bauch, liegt nackt und zitternd bei weit geöffnetem Fenster auf dem Fußboden und friert, weil es nichts Besseres verdient hat, weil sein Körper leiden muss.
Schließlich wird das Mädchen älter, es kommt mir näher und näher; und ich kann nicht mehr »es« und »das Mädchen« schreiben.
Denn das kleine Kind geht so nahtlos in mich über, dass keine Lüge der Welt das vertuschen kann.
© 2011 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Wenn ich Sex auf dem goldenen Himmelbett in Zimmer vier habe, starre ich verloren den orangegelben Leuchtschlauch an. Ich sehe Licht, denke ich mit meinen ausgebrannten Gehirnzellen und verharre regungslos im Nichts. Ich fühle einen Körper auf mir - gut, wenn er nicht verschwitzt und klebrig ist. Schlecht, wenn er es doch ist. Ich schlinge meine verzweifelten Arme um einen Kunden, wenn ich ihn mag. Ich lasse meine Arme schlaff auf dem Bettlaken verweilen, wenn ich ihn nicht mag. Ein unbedeutendes Stöhnen an meinem Ohr, eine Wange ganz dicht an meiner. Wenn ich meinen Gast nett finde, ist es okay, wenn nicht, bin ich woanders.
Den schlimmsten Sex im Leben kann man nur einmal haben.
Und ich habe ihn längst hinter mir. Damals ...
Mit jedem Tag bin ich weiter weg davon.
Es sind meine Masken, die einen Teil von dem aufgewühlten Sturm in mir verraten: An leuchtenden Tagen bin ich die beste Liebhaberin, die man sich zu gönnen wagt; an dunklen Tagen bin ich die geilste Nutte, die man kaufen kann.
Meine Sätze sind unruhig. Zwischen den Zeilen wandern ungreifbare Gedanken hin und her. Ich versuche, ein paar Kommas zu verschieben, die hässlichen Wörter gegen schönere auszutauschen.
Aber ich bin zu müde. Ich kann nicht mehr.
Ich reiße Männer auf. Und Kondomverpackungen.
Ich reiße und reiße, und alles zerbricht.
Vielleicht sollte ich davonrennen und mich in einem nachtschwarzen Wald vor mir selbst verstecken. Dort könnte ich tagelang keinen Sex haben - ich würde vergessen, wie ein Schwanz schmeckt, ich würde aufhören, den kleinsten gemeinsamen Nenner von mir und mir und mir zu suchen. Es würde anfangen zu regnen. Und ich würde dort an einem wunderschönen verlassenen See sitzen, und der Regen würde leise flüsternd die Schande von meinem Körper tragen.
VORSPIEL
1
Der erste Mann, mit dem ich Sex habe, riecht nach Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. Seine Hände sind rauh und klebrig, seine Haare ungepflegt, und von seinem Atem wird mir zuerst schlecht, dann schwindlig.
Er wirft mich auf ein Sofa mit altmodischem Blumenmuster und hält mich mit seiner einen Hand fest, während die andere an seinem Gürtel herumfummelt. Ich weine. Ich sage irgendwelche bittenden Worte, ich stammle zusammenhanglose Sätze, ich flehe ihn an, ich flüstere nein, nein. Nein.
Meine Stimme fühlt sich fremd an, sie stolpert über meine viel zu trockenen Lippen. Ich versuche sie zu halten, denn wenn ich sie verliere, dann verliere ich auch mich.
Aber der Mann schlägt mir ins Gesicht, und ich sehe zu, wie mein rechter Schneidezahn durch die Luft fliegt und unter dem Couchtisch verschwindet.
Es ist ein Milchzahn. Alles ist okay. Ich werde einen neuen bekommen. Wie weich meine Gedanken sich anfühlen, wie sanft. Obwohl ich schreie.
»Hör auf zu heulen!«, schnauzt der Mann mich an und presst seine Hand auf meinen blutenden Mund. »Wenn du noch einmal schreist, dann schlitze ich dich auf!«
Also schreie ich nicht mehr. Ich bin ganz still.
Aber er schlitzt mich trotzdem auf.
Er bohrt sich in mich, er liegt schwer und keuchend auf mir. Seine linke Hand schließt sich wie ein Schraubstock um meinen Hals, die rechte reißt grob an meinen Haaren.
»Schlampe«, raunt er mir ins Ohr, »du kleine dreckige Schlampe!«
Ich starre die gelbweiße Zimmerdecke an. Sie kommt mir blendend grell vor. Meine Arme liegen schlaff neben mir, ich will sie bewegen, aber sie gehorchen mir nicht mehr. Mein Kopf ist leer und voll von Rauschen. Ich erzähle mir eine Geschichte, die ein schönes Ende hat, aber ich höre kaum zu.
»Komm«, wispert mir da eine leise Stimme ins Ohr; die Stimme gehört mir, aber ich erkenne sie nicht.
»Komm«, flüstert sie, »ich bringe dich weg von hier, vertrau mir.«
Vertrauen. Ein Fehler, den ich nicht wieder begehe.
Vertrauen ist russisches Roulette ohne Gewinner.
Vertrauen ist ein mit Leichen bedecktes Kinderkarussell.
Aber in einem Moment wie diesem, wenn die Entscheidungen, die man trifft, nichts mehr verändern, ist es okay, nach Strohhalmen zu greifen.
Also vertraue ich der Stimme doch.
Schweigend nehme ich ihre Hand an und lasse mich fortführen. Weg von dem Sofa, weg von dem Mann, weg von meinem Körper. In der hintersten Zimmerecke bleibt das kleine Mädchen schließlich stehen, seine kalte Berührung umschließt mein wimmerndes Herz.
»Weiter weg können wir nicht gehen«, flüstert es kaum hörbar.
Ich drehe mich um und blicke auf meine hilflose Hülle. Ich sehe in meine leeren Augen, betrachte die bleichen dünnen Beine, die merkwürdig verkrümmt zur Seite ragen. Ich nehme Abschied von dem geschädigten Körper. Er gehört nicht mehr mir. Die Trennung ist leicht, alles andere wäre schwerer.
»Mach die Augen zu«, flüstert da die Stimme. »Mach sie erst wieder auf, wenn ich es dir erlaube.«
Ich gehorche ihr. Keine Sekunde wage ich zu zögern. Ich blende ihn aus, meinen Körper, das tote Stück Fleisch; ich lasse ihn allein, ich lasse ihn zurück. Ich gebe ihn auf.
Der Mann lässt uns gehen. Mich und den Körper. Wir stehen vor seiner Wohnungstür, er drückt uns eine Tafel Schokolade in die Hand und sagt: »Das ist unser kleines Geheimnis. Du wirst es niemals jemandem erzählen. Hörst du? Niemals! Wenn dir dein Leben lieb ist ...«
Mein Leben ist mir nicht mehr lieb. Ich weiß gar nicht so genau, was Leben eigentlich noch bedeutet. Ich habe es vergessen. Aber der Mann schließt seine Tür und wartet keine Antwort ab.
Da stehen wir dann, der Körper und ich. Schweigend, stumm. Jetzt ist es zu spät, um wegzulaufen. Wir verharren. Wir warten ab. Wir lauschen angespannt in den dumpfen Nachhall. Aber nichts passiert. Nichts wird leichter. Der Schmerz fühlt sich taub an. Fremd. Unbekannt. Ist das überhaupt mein Schmerz? Vielleicht gehört er ja jemand anderem.
Wie überschaubar wäre das.
Ich beschließe, kein Wort zu verlieren über meine Schande, die ich hinter dieser Tür besiegelt habe. Dazu sind Türen da, um sie geschlossen zu halten, wenn man weiß, dass dahinter ein Mann mit einem gewetzten Messer lauert.
Also gehe ich einen Schritt zurück. Weg von der Tür. Geheimnisse müssen bewahrt werden, Dunkelheit sollte man nicht ans Tageslicht ziehen. Der Schmutz, der an mir klebt, darf niemals zu sehen sein. Es ist ein Spiel. Verstecken.
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Keiner.
Und wenn er kommt? Dann kommt er halt.
Und wenn er da war, was dann?
Wenn er drinnen war, was dann?
Dem Körper ist das alles egal, er steht nur nutzlos herum. Ich verachte ihn für seine Schwäche. Wie könnte er zu mir gehören? Das bin ich nicht. Lautlos trete ich einen weiteren Schritt von der Tür zurück. Der Körper bewegt seine müden Beine und folgt mir.
»Bleib stehen«, sage ich.
Aber er kommt näher.
Da drehe ich mich um und renne fort.
Ich bin sechs Jahre alt, bald komme ich in die Schule. Glücklich sein ist wichtiger als Schmerzen empfinden, das habe ich schon im Kindergarten gelernt. Denn Eltern mögen glückliche Kinder. Eltern mögen lachende Kinder. Wenn man lächelt, mit Grübchen in den Wangen und mit leuchtenden Augen, wenn man lange, vom Wind zerzauste Haare und ein süßes Puppengesicht hat, dann wird man leichter geliebt als andere. Perfektion ist Sicherheit, Perfektion ist Macht. Meine Eltern brauchen ein perfektes Kind; ich muss funktionieren, ich darf auf keinen Fall ein Fehler sein. Also schrubbe ich stundenlang in der Badewanne zwischen meinen Beinen hin und her, bis die Haut rot und geschwollen ist. Mit gleichgültigen Augen betrachte ich dabei das blutige Wasser, es wird verschwinden, sobald ich die Wanne leerlaufen lasse, so weit, so gut.
Nichts bleibt zurück.
Nach dem Baden wickele ich mich in das größte Handtuch, das ich finden kann, und bin verzweifelt, weil es nicht weiß ist, denn weiß ist beruhigend, weiß ist sauber, weiß ist rein.
Meine Beine sind wacklig, sie fühlen sich fiebrig an, heiß und kalt zugleich, bei jeder Bewegung schwankend. Aber ich darf nicht fallen, nicht heute, die neunzehn Schritte bis in mein Zimmer muss ich schaffen.
Ich zähle sie, jeden einzelnen.
Und ich schaffe sie, alle.
In meinem Zimmer vergrabe ich mein Gesicht in dem nach Waschmittel duftenden Handtuch. Ich verschwinde darin und frage mich, ob ich mich unsichtbar machen kann, wenn ich nur fest genug daran glaube. Ich glaube, so sehr ich kann.
Aber nichts passiert.
Also nehme ich die Schokolade, die ich achtlos zusammen mit meinem Kleid auf den Fußboden geworfen habe, und esse sie hastig auf. Dann gehe ich wie in Trance zurück ins Badezimmer, die schwachen Beine taumelnd wie die einer Marionette; dort beuge ich mich über die Toilette und würge so lange, bis auch der letzte Krümel wieder aus dem elenden Körper heraus ist. Anschließend wasche ich mir meine Hände und das Gesicht mit eiskaltem Wasser und sehe dabei zu, wie sie erst blau und dann violett-lila anlaufen. Der Schmerz beruhigt mich, ich fühle, wie meine Fingerspitzen langsam taub werden, wie sie zittern und beben. Es ist nichts passiert.
Es ist doch nichts passiert.
Mit verkrampften Händen drehe ich den Wasserhahn wieder zu und blicke auf. Mein Spiegelbild weicht einen Schritt zurück von mir. Und dann noch einen. Und noch einen.
Da weiß ich genau: Es gibt mich nicht mehr.
Die Tatsache, dass ein gewöhnlicher Tag in meinem Leben nicht damit beginnt, dass jemand die Bettdecke von meinem Körper reißt, zu mir aufs Bett gesprungen kommt und in mein Ohr brüllt: »Hey, aufwachen! Erzähl die Geschichte! Wie war das, als du vergewaltigt worden bist?!« - diese Tatsache kommt meinem Geisteszustand sehr gelegen.
Noch heute fällt es mir schwer, »Vergewaltigung« zu sagen, ohne dabei mit fahrigen Händen durch meine Haare zu streichen, auf meiner Lippe herumzukauen oder zu Boden zu blicken. Ich habe niemals einem Menschen in die Augen gesehen, während ich davon erzählt habe. Und man kann mir noch so oft sagen, dass ich mich für nichts schämen muss, dass ich unschuldig bin. Ich glaube kein Wort, bis ich unwiderlegbare Beweise dafür habe. Und wer soll mir die liefern?
»Vergewaltigung« in den Laptop zu tippen ist leichter, als es auszusprechen. Aber die nackten Buchstaben anschließend auf dem Bildschirm lesen zu müssen ist ein unerbittliches Aufbegehren gegen mich selbst.
Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal darüber geschrieben habe, vielleicht, als ich vierzehn Jahre alt war, vielleicht auch erst mit fünfzehn. Solange ich es nicht aufgeschrieben hatte, war es weniger wirklich, weiter weg von mir. Aber man kann sich nicht ewig belügen; irgendwann fängt man doch an, sich hübsche Muster in die Arme zu schlitzen. Und wenn nichts mehr von dem ersten Arm übrig ist, geht man entweder erbarmungslos zu dem zweiten Arm über, oder man beginnt sich allmählich ein paar Gedanken zu machen.
Mein Gehirn macht sich sehr gerne Gedanken. Und es ist zu dem Schluss gekommen, dass ich all die Erinnerungen, die nach und nach in mir aufkommen, zu Papier bringen sollte, um sie zu ordnen und um später sagen zu können: »Okay, das kenne ich schon! Ich weiß, dass er das mit mir gemacht hat, ich habe es sogar aufgeschrieben. Es ist vorbei. Einmal durchdrehen reicht vollkommen aus.«
Aber es hat natürlich nicht gereicht.
Und es wird niemals reichen.
Ich hätte meine Geschichte auch anders beginnen können. Mit dem Gefühl zum Beispiel, das einen überkommt, wenn man es zum ersten Mal alleine schafft, seine Schuhe fest genug zu binden, so dass die Schleife den ganzen Weg bis zum Spielplatz und sogar noch die Leiter hinauf bis hoch zur Rutsche hält. Aber was würde das über mich aussagen? Dass ich eine Schleife knüpfen kann. Und dass ich schon einmal eine Rutsche hinuntergerutscht bin. Ich nehme an, das schaffen alle anderen Menschen auch.
Vielleicht wäre es trotzdem ein besserer Anfang gewesen. Ein schönerer. Ein leichterer.
Aber dennoch erzähle ich zuallererst von dem Tag, an dem so vieles für mich aufgehört hat. Von meinem größten Geheimnis, das ich niemals verraten wollte, von dem ich in all den Jahren nicht einmal meinen Eltern erzählt habe. Und wenn es einen Gott gibt, dann verbietet er ihnen hoffentlich, dass sie meine Tür eintreten und sich gemeinsam mit mir hinsetzen und ein Gespräch führen wollen. So etwas haben wir früher schon versucht. Das hat dann entweder damit geendet, dass ich mir eine Rasierklinge in die Pulsader gerammt habe, dass meine Mutter kurzzeitig ausgezogen ist, dass ich in eine Psychoklinik gewandert bin, dass meine Mutter mit Stühlen geworfen hat, dass ich ins Kinderheim geflüchtet bin, dass meine Mutter ins Kloster wollte, dass ich eine Packung Antidepressiva mit einem Happs verspeist habe, dass meine Mutter kein Wort mehr gesprochen hat oder dass ich angefangen habe, mich mit Wänden anzufreunden. Mein Vater war währenddessen genauso, wie er immer ist: ruhig und ausgeglichen. Eine Bombe könnte direkt neben ihm in die Luft gehen, er würde einfach ganz gelassen bleiben und in aller Seelenruhe seinen schwarzen Tee mit Kardamom austrinken, um dann eine Runde mit seinem Fahrrad zu drehen. Mein Vater hat sich nie mitreißen lassen, er hat nie getobt. Wenn meine Mutter gesagt hat, sie würde mich hassen, wenn meine Mutter geschrien hat, sie wolle mich nie, nie wieder sehen, dann hat er, ohne von dem Buch aufzublicken, in dem er gerade las, zu mir gesagt: »Sie meint das nicht so.«
Als wäre es vollkommen egal. Als wäre ich vollkommen egal.
Wenn ich ihn gefragt habe, ob er mich eigentlich lieben würde, dann hat er »jaja« geantwortet, als wäre es genauso egal. Ich habe als Kind immer gedacht, mein Vater hätte keine Gefühle. Ich dachte, er könnte es, ohne mit der Wimper zu zucken, hinnehmen, wenn meine Mutter und ich auf einen Schlag einfach verschwunden wären. Mit siebzehn Jahren habe ich zum ersten Mal Emotionen in seinen Augen gesehen; ich war gerade knapp am Tod vorbeigerauscht und saß high und zugedoped von all den Überresten der Tabletten, die noch in meinem Blut umherirrten, am Küchentisch und löffelte einen Magermilchjoghurt. Etwas anderes konnte ich nicht essen, weil ich mir meinen Hals durch das Auskotzen der hundert Tabletten leicht zerfetzt hatte. Jedenfalls erzählte mein Vater mir, dass er soeben bei meinem Schulleiter gewesen sei, um ihm mitzuteilen, dass ich für das nächste halbe Jahr nicht zur Schule kommen würde.
»Danke«, habe ich gesagt, weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Außerdem hatte ich Halsschmerzen und konnte sowieso nur heiser krächzen.
»Weißt du, wie schwer es für mich war, ihm zu erklären, dass meine Tochter versucht hat, sich umzubringen?«, hat mein Vater daraufhin gesagt.
Und in seinen graublauen Augen lag in diesem Moment etwas, das ich noch nie darin gesehen hatte: Zärtlichkeit. Verzweiflung. Und ich musste heulen, so sehr hat mich das bewegt. Natürlich bin ich vorher schnell ins Bad geflüchtet. Ich habe die Tür hinter mir abgeschlossen, zweimal geprüft, ob sie auch wirklich fest verschlossen ist, und dann habe ich das Wasser ganz stark aufgedreht, um möglichst viel Krach zu machen. Anschließend habe ich mein Gesicht mit literweise kaltem Wasser gewaschen, damit ja keine roten Flecken mehr zu sehen sind. Denn wie könnte ich je zugeben, wie sehr meine Eltern mich berühren, mit jedem noch so winzigen Atemzug.
Danach war mein Vater wieder so, wie ich ihn kannte. Er schrieb einen Bericht über das Geschehene, als wäre unsere Familie, allen voran natürlich ich, einfach nur irgendein Projekt, dessen Entwicklung so sachlich und knapp wie möglich dokumentiert werden müsste. Manchmal, wenn ich alleine war, habe ich mir seinen Lilly-Ordner geschnappt und gelesen, was da über mich drinstand. Ich habe herausgefunden, dass ich »unfähig«, »eigensinnig« und »nicht imstande für ein vernünftiges Zusammenleben mit meiner Mutter« bin. Ich habe gelesen, dass ich versucht habe, mich umzubringen, mit genauer Zeit- und Ortsangabe und so kalt dahingeschrieben, als wäre ich tatsächlich erfolgreich gewesen.
Eine meiner Therapeutinnen hat meinen Vater schließlich darauf hingewiesen, dass es nicht sehr taktvoll sei, ständig mit einer Akte über mich bei ihr aufzukreuzen und während der Gespräche Notizen zu machen, um anschließend Kopien des Protokolls an irgendwelche Ärzte und Psychologen zu verteilen. Ich weiß nicht, ob er das je verstanden hat. Aber egal - ich würde ihm trotzdem jedes Jahr einen Geburtstagskuchen backen, wenn ich nur wüsste, dass er sich darüber freuen könnte.
Zurück zu meiner Geschichte, denn die geht da weiter, als das kleine Mädchen beschließt, den widerlichen Körper so bald wie möglich los zu sein und anschließend schnellstens erwachsen zu werden, damit es ausziehen kann, in ein sicheres Haus, in ein neues Leben, Hauptsache weg - weit, weit weg.
Das Mädchen spricht nicht mehr viel, und wenn es redet, dann zu laut, zu aufgedreht, zu übermütig. Es streitet mit den anderen Kindern, es will alleine sein, es sitzt in der hintersten Ecke vom Sandkasten und buddelt ein Loch, in dem man sich verstecken kann. Es kneift mit boshaften Fingern in seinen Körper, es streckt seinem Spiegelbild die Zunge raus, es weint nachts, es badet in eiskaltem Wasser, bis seine Lippen violett angelaufen sind und es sich kaum noch bewegen kann, es will immer in der Nähe seiner Mutter sein, aber die versteht das intensive kleine Mädchen nicht - es ist seiner Mutter lästig, weil es viel zu viel Raum für sich beansprucht.
Da verändert sich das kleine Mädchen, es beginnt die Gedanken in seinem Kopf zu verdrehen, es erfindet neue Freunde, unsichtbare flüsternde Gestalten, mit denen es reden kann und die immer da sind. Es gibt eine Geheimsprache, geheime Spiele, geheime Regeln. Dort, in dieser unwirklichen Welt, fühlt sich das Mädchen sicher, und es zieht sich dahin zurück, sooft es möglich ist.
Das Mädchen verdrängt, es vergisst - es lässt den schmutzigen Teil von sich ganz tief in seinem Innersten verschwinden.
Die Zeit vergeht.
Das Mädchen ist dankbar. Denn ein kleines Kind zu sein ist schlecht, da ist es sich sicher. Und es zerkratzt sich seine Arme, um einen anderen Schmerz zu spüren, einen greifbaren, der abklingt und verheilt; es boxt sich in den Bauch, liegt nackt und zitternd bei weit geöffnetem Fenster auf dem Fußboden und friert, weil es nichts Besseres verdient hat, weil sein Körper leiden muss.
Schließlich wird das Mädchen älter, es kommt mir näher und näher; und ich kann nicht mehr »es« und »das Mädchen« schreiben.
Denn das kleine Kind geht so nahtlos in mich über, dass keine Lüge der Welt das vertuschen kann.
© 2011 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
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Autoren-Porträt von Lilly Lindner
Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. Ihr Debüt "Splitterfasernackt" stand monatelang auf der Bestsellerliste. Zuletzt erschienen von ihr das Jugendbuch "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" und "Winterwassertief".
Bibliographische Angaben
- Autor: Lilly Lindner
- 2013, 10. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426784882
- ISBN-13: 9783426784884
- Erscheinungsdatum: 25.06.2013
Rezension zu „Splitterfasernackt “
"An den Nervenenden einer wahren Geschichte: in "Splitterfasernackt" erzählt Lilly Lindner von Missbrauch, Prostitution und Magersucht. Geschrieben in einer glasklaren und welthaltigen Prosa, leistet diese Geschichte einer Verwandlung Aufklärungsarbeit." Frankfurter Allgemeine Zeitung 20111018
Pressezitat
"An den Nervenenden einer wahren Geschichte: in "Splitterfasernackt" erzählt Lilly Lindner von Missbrauch, Prostitution und Magersucht. Geschrieben in einer glasklaren und welthaltigen Prosa, leistet diese Geschichte einer Verwandlung Aufklärungsarbeit." Frankfurter Allgemeine Zeitung 20111018
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