Die Duftnäherin
Roman. Originalausgabe
1349:
Die 16-jährige Anna flieht vor ihrem gewalttätigen Vater. In Bremen findet sie eine Anstellung als Schneiderin und hat eine geniale Idee: Sie näht Seifenteilchen in die Kleider ein. Doch dann erfährt Annas Vater, wo sie sich...
Die 16-jährige Anna flieht vor ihrem gewalttätigen Vater. In Bremen findet sie eine Anstellung als Schneiderin und hat eine geniale Idee: Sie näht Seifenteilchen in die Kleider ein. Doch dann erfährt Annas Vater, wo sie sich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Duftnäherin “
1349:
Die 16-jährige Anna flieht vor ihrem gewalttätigen Vater. In Bremen findet sie eine Anstellung als Schneiderin und hat eine geniale Idee: Sie näht Seifenteilchen in die Kleider ein. Doch dann erfährt Annas Vater, wo sie sich aufhält - sie schwebt in höchster Gefahr.
Die 16-jährige Anna flieht vor ihrem gewalttätigen Vater. In Bremen findet sie eine Anstellung als Schneiderin und hat eine geniale Idee: Sie näht Seifenteilchen in die Kleider ein. Doch dann erfährt Annas Vater, wo sie sich aufhält - sie schwebt in höchster Gefahr.
Klappentext zu „Die Duftnäherin “
Deutschland im Jahre 1349. Endlich bietet sich der sechzehnjährigen Anna die Gelegenheit zur Flucht vor ihrem gewalttätigen Vater. Sie macht sich auf den Weg nach Bremen, in die Heimatstadt ihrer verstorbenen Mutter, begleitet von dem jungen Gawin. Hier kommt Anna bei einer Seifensiederin unter. Sie wird Schneiderin und lässt sich etwas ganz Besonderes einfallen: In die Säume der Kleider näht sie Seife ein und erzeugt so wundervolle Düfte. Bald finden ihre außergewöhnlichen Kreationen Anklang bei den hochstehenden Damen der Stadt. Die zwischen Anna und Gawin aufkeimende Liebe muss zunächst geheim bleiben - schließlich haben sie sich als Geschwister ausgegeben.
Lese-Probe zu „Die Duftnäherin “
Die Duftnäherin von Caren Benedikt Mit ihren sechs Jahren konnte sie nicht verstehen, was vor sich ging. Alles hatte sich draußen abgespielt, lediglich die dumpfen Geräusche waren ins Innere der kleinen Kate gedrungen. Bis zur Nasenspitze hatte sie sich die Decke hochgezogen, wie sie es immer tat, wenn Vater und Mutter sich stritten. Doch diesmal war es anders. Der Vater war allein in die Hütte zurückgekehrt, und sosehr sie auch mit fest aufeinandergepressten Augenlidern gewartet hatte, die Mutter war ihm nicht gefolgt. Erst als die Sonne schon durch die Ritzen der hölzernen Fensterläden gedrungen war, war der Schlaf über sie gekommen.
Weder am nächsten noch am übernächsten Tag kehrte die Mutter heim. Anna hatte Mühe, ganz allein mit ihren kleinen Händen das Essen zuzubereiten und Ordnung zu schaffen, um nicht den Zorn ihres Vaters zu spüren zu bekommen.
Am dritten Tage war dann Gerhild, die Wirtin der Schänke, gekommen, hatte sie an die Hand genommen und zu einem Platz hinter der Kirche geführt, an dem viele Menschen aus der Nachbarschaft versammelt waren. Auch ihr Vater war dort. Er stand an einem Erdhügel, der neben einem Loch aufgeschüttet worden war. Anna beugte sich vor, um erkennen zu können, was sich in dem Erdloch befand. Sie sah ein weißes Tuch, das etwas verhüllte.
Pater Anselm sprach ein paar Worte, die sie nicht verstand, kam herüber und strich ihr über das Haar. Dann wurde die Erde in das Loch gefüllt, und Gerhild führte sie fort.
Sie beschloss, der Mutter von dem eigenartigen Geschehen zu berichten, sobald diese nach Hause kommen würde, und sie zu fragen, was dies alles zu bedeuten hatte.
Sie war noch zu klein, um zu ahnen, dass sie ihr die Frage niemals würde stellen können.
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1. Kapitel
Lünen im Jahr 1349
Nur drei Tage. Mehr Zeit blieb ihr nicht, um so weit wie möglich fortzukommen. Eilig stopfte Anna ihre Habseligkeiten in das Tuch, das sie mit einem groben Knoten zum Bündel geschnürt hatte. Als sie das Seidenkleid ganz unten aus der Truhe zog, stockte sie und drückte es an sich. Tief atmete sie den Duft ein. Das Gewand war das Einzige, was ihr von der Mutter geblieben war, und all die Jahre über hatte sie es gehütet wie einen wertvollen Schatz.
Ihr gesamtes Vermögen bestand aus den Münzen, die sie mühsam Tag für Tag in einem kleinen Säckchen inmitten ihres Strohlagers versteckt hatte. Welch unbeschreibliche Angst hatte sie jedes Mal ausgestanden, wenn sie aus der Schänke oder vom Markt heimkam und die Einnahmen bei ihrem Vater ablieferte. Ganz vorsichtig, damit kein Verdacht aufkam, behielt sie nie mehr als nur einen Silberpfennig für sich. Wäre sie von ihrem Vater dabei ertappt worden, er hätte sie totgeprügelt. Doch meist war er zu betrunken, um ihr auf die Schliche zu kommen. Zufrieden spürte sie nun das Gewicht der Geldkatze um ihren Hals. In den letzten Jahren hatte sich genug angesammelt, dass sie fortlaufen und anderswo ein neues Leben beginnen könnte. Wie hatte sie diesen Tag herbeigesehnt! Doch nun, da er gekommen war, verspürte sie die Erleichterung nicht, die sie sich so sehr erhofft hatte.
Anna schämte sich nicht des befreienden Gefühls, das sie empfunden hatte, als die Büttel ihren Vater abführten. Solange sie ihn wegsperrten, war sie in Sicherheit, wenngleich diese nicht lange anhalten würde. Dass der Schultheiß durchgreifen würde, hatte sich abgezeichnet. Zu vielen Menschen war Helme das Geld schuldig geblieben. Nur ihm selbst war es in seinem Dunstkreis von Bier und Schnaps entgangen. Nun war die Gelegenheit für ihre Flucht gekommen. Anna rechnete damit, einen guten Vorsprung herausholen und ihre Spuren verwischen zu können. Drei Tage, mehr Zeit bliebe ihr nicht. Zum Glück hatten sie Helme so überraschend mitgenommen, dass Anna dem Schicksal entgangen war, einem Kumpan ihres Vaters zu Willen sein zu müssen, um so einen Teil seiner Schulden zu begleichen. Helme hatte nur gelacht, als Anna ihn unter Tränen anflehte, ihr diese Schmach zu ersparen, sie gepackt und in das Kellerloch sperren wollen, gerade in dem Moment, als der Schultheiß mit einem Helfer die Kate betrat und ihn mitnahm.
Der letzte Blick, den sie ihm zuwarf, bevor er ins Freie gezerrt wurde, ließ all den Hass und die Verachtung erkennen, die sich seit dem Tod ihrer Mutter vor bald zehn Jahren in ihr angesammelt hatten. Sein wütendes Gebrüll verriet Anna, dass er den Ausdruck in ihren Augen sehr wohl hatte lesen können.
Jetzt raffte sie ihre wenigen Habseligkeiten, schnürte mit dem zerschlissenen Tuch, das sie über ihr Lager gespannt hatte, ein Bündel und verließ das Haus. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, blickte sie sich ein letztes Mal um. Nie wieder würde sie zurückkehren. Wenn sie es schaffte, ohne Spuren zu hinterlassen, zu verschwinden, läge ein neues Leben vor ihr. Finge er sie jedoch wieder ein, bliebe ihr nichts, als sich den kleinen geschnitzten Holzdolch, den sie sich unter den Röcken fest ans Bein geschnürt hatte, ins Herz zu rammen. Sie war bereit dazu. Weder Schmerz noch Tod würden ihr die gleichen Qualen bereiten, die sie empfand, würde sie weiter mit ihm leben müssen. Leise zog sie die Tür ins Schloss, atmete geräuschvoll aus und trat auf den Weg. Bis Dortmund, die nächstgelegene Stadt, bräuchte sie nicht mehr als den Nachmittag. Hier würde er sie als Erstes suchen. Bis nach Münster, in die andere Richtung, verginge dagegen ein ganzer Tag. Doch Anna wollte weder in den einen noch in den anderen Ort. Zielsicher setzte sie ihren Weg fort. Sie hörte schnelle Schritte hinter sich, drehte sich jedoch nicht um. Ihr Atem ging rasch und flach, sie ballte die Hände zu Fäusten.
»Wo willst du hin?«
Erleichtert atmete sie aus, als sie die Stimme erkannte und stehen blieb.
»Wo willst du hin?«, wiederholte Jakob. Der Achtjährige lebte in der Kate seiner Tante, nur einen Steinwurf von Annas Heim entfernt.
»Ich gehe fort.«
»Weshalb?«
Anna schwieg.
»Kommst du wieder?«
Ruhig schüttelte sie den Kopf.
»Und wohin willst du?«
Anna schaute sich um, konnte jedoch niemand entdecken, der ihr Gespräch belauschen konnte.
»Du darfst es aber niemandem sagen, hörst du?«
Jakob nickte eifrig.
»Vor allem nicht meinem Vater. Hast du verstanden? Er wird dir Geld geben, damit du mich verrätst. Doch du darfst es nicht tun!«
»Versprochen.«
»Ich will versuchen, mich nach Köln durchzuschlagen.«
»Köln?«
»Sei ruhig!«, zischte sie. »Man könnte dich hören.«
»Aber das ist furchtbar weit«, fl üsterte Jakob.
»Ich weiß. Aber ich muss es einfach schaffen.«
»Ich werde dich nicht verraten.«
Sie beugte sich zu ihm hinab, drückte ihn kurz an sich und ging dann bis zur Weggabelung, wo sie die Straße Richtung Süden einschlug. Jakob sah ihr nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er brauchte nicht lange, um einen Entschluss zu fassen. Annas Vater hatte seine Schulden nicht bezahlen können und war nun im Keller des Pfarrers eingesperrt. Es war nicht das erste Mal, und Jakob wusste, dass Helme noch immer irgendeine Möglichkeit gefunden hatte, um Geld aufzutreiben. Woher, das wusste er nicht. Doch dass ihm die Nachricht von Annas Flucht etwas wert sein würde, dessen war sich Jakob sicher. Also schlenderte er hinüber zum Pfarrhaus, setzte sich auf einen der großen Findlinge davor und wartete. Irgendwann würde Helme wieder auf freien Fuß gesetzt werden, und dann wäre Jakob zur Stelle. Er zog sein Messer hervor und setzte seine Schnitzerei an der Flöte fort, die er am nächsten Markttag verkaufen wollte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Wie dumm Anna doch war, wenn sie glaubte, ihm vertrauen zu können. Er selbst würde einen solchen Fehler niemals begehen.
Kaum dass Anna hinter der Biegung verschwunden war, blickte sie sich um. Jakob hatte ihr die Geschichte abgekauft und wartete wahrscheinlich nur darauf, ihrem Vater einige Pfennige abzuschwatzen, indem er ihm verriet, dass sie sich in Richtung Köln davongemacht hatte. Eilig legte sie den Weg bis zu dem kleinen Waldstück zurück, wo sie im Schutze der Bäume die Richtung änderte und ihren eigentlichen Weg nach Bremen einschlug.
2. Kapitel
Sein Körper fühlte sich taub an. Gawin kauerte am Waldboden und beobachtete jede noch so kleine Bewegung seines Opfers. Die Angst, dass ihm seine Beine im richtigen Moment nicht gehorchen würden, ließ ihm den Angstschweiß im Nacken zusammenlaufen. Vorsichtig prüfte er seine Glieder. Zu lange schon hatte er dort gehockt und das Kaninchen nicht aus den Augen gelassen. Fest umklammerte er den massiven Stock, mit dem er zustechen würde. Langsam stemmte er sich vom Boden hoch. Das Kaninchen blieb ungerührt sitzen. Wenn es jetzt aufschrecken und davonlaufen würde, müsste er verhungern. Schon seit Tagen hatte er nur noch Blätter gekaut. Davor war es ein Apfel gewesen, den er einer der Marktfrauen gestohlen und sofort verschlungen hatte. Die Prügel, die er dafür bezog, waren fürchterlich gewesen. Noch immer spürte er die Wunden, die das Knotenseil, mit dem der Marktaufseher zuschlug, auf seinem Rücken hinterlassen hatte. Doch immerhin war er an diesem Tag nicht vor Hunger eingegangen. Ob ihm das heute wieder gelingen würde, wusste er nicht. Vorsichtig pirschte er sich heran, das Kaninchen blickte auf. Gawin erstarrte. Einen Moment lang schien das Tier ihn anzusehen. Er fühlte sich ertappt, rührte sich nicht und wartete, bis es wieder zu Boden sah. Jetzt war der Moment gekommen. Er fasste den Stab so fest, dass seine Fingerknöchel weiß unter der Haut hervortraten. Dann machte er einen Sprung, holte mit dem Stock aus und stieß ihn seiner Beute in den Leib. Gawin keuchte, starrte auf den Kaninchenkörper und wartete. Kein Fortspringen, keine Bewegung. Das Kaninchen war tot. Seine ganze Anspannung entlud sich in einem einzigen, gellenden Siegesschrei. Eine Welle der Befriedigung ging durch seinen Körper. Mit einem Ruck zog er den Stock aus dem Leib, hob das tote Geschöpf vom Boden auf und betrachtete es von allen Seiten. Er würde nicht verhungern. Weder heute noch in den nächsten Wochen.
Anna beobachtete den Fremden mit wechselnden Gefühlen. Er schien nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre zu sein und besaß einen hageren, ausgemergelten Körper. Seine Bekleidung bestand ausschließlich aus Lumpen, die vor Dreck standen. Die Arme waren so dünn, als würden sie jeden Moment zerbrechen. Überhaupt wirkte sein gesamter Körper, als hätte er überhaupt kein Fleisch mehr auf den Knochen, sondern als wären diese nur noch von Haut umspannt. Nie zuvor hatte sie solch einen klapperdürren Menschen gesehen, und der Anblick ließ sie erschaudern. Bei dem Schrei, den der Junge nach dem Erlegen seiner Beute ausgestoßen hatte, war sie zusammengefahren. Still verbarg sie sich hinter den Bäumen, während ihr Herz heftig pochte. Zwar konnte ihr dieser kleine Kerl nicht gefährlich werden, doch die Art, in der er das Kaninchen erlegt hatte, ließ an seiner Entschlossenheit keinen Zweifel aufkommen. Sie hatte viel Geld bei sich, und wenn ihr dieses Kind auch körperlich unterlegen sein mochte, konnte es dennoch schnell genug sein, um ihr die Geldkatze zu entreißen und im Dickicht zu entkommen. Also wartete sie, bis der Junge seine Habseligkeiten zusammengetragen hatte und sich weiter durch den Wald schlug, um dann in sicherer Entfernung ihren eigenen Weg fortzusetzen.
Gawin war auf der Hut. Das Mädchen, das sich so tölpelhaft laut durch den Wald bewegt hatte und ihn nun beobachtete, musste irgendetwas im Schilde führen. Bestimmt würde es versuchen, ihm seinen Fang zu stehlen. Was sollte es auch sonst von ihm wollen? Dass er außer seiner Beute nichts besaß, sah man ihm schließlich deutlich an. Doch er konnte sich nicht mehr allzu viel Zeit lassen, das Kaninchen aufzuspießen und zu braten. Sein Hunger war einfach zu groß. Wenn die junge Frau ihm noch lange folgte, würde er wohl oder übel ein Stück aus dem Tier herausreißen und roh hinunterschlingen müssen. Seinen Verschlag aufzusuchen schien ihm zu riskant. Er sah sich um. Nicht weit von hier gab es eine einigermaßen geschützte Stelle, wo er ein Feuer machen und dabei die Umgebung im Auge behalten konnte. Wenn sie ihn dort überfallen wollte, würde er sie rechtzeitig kommen sehen, um sich das Kaninchen zu schnappen und damit verschwinden zu können.
Ein Geräusch ließ Anna zusammenfahren. Hastig drehte sie den Kopf und blickte sich um. Wurde sie verfolgt? Oder war es ein Tier, das sie jeden Moment angreifen würde? Schnell fuhr sie wieder herum und suchte nach dem Jungen, der sich weiter in nördlicher Richtung bewegte. Nur noch einen Moment, dann würde sie ihn aus den Augen verlieren. Wie von selbst setzten sich ihre Beine in Bewegung. Auch wenn sie nicht darauf hoffen durfte, würde er ihr womöglich beistehen, sollte sie in Not geraten. Und solange er ohnehin in die gleiche Richtung ging, in die auch sie wollte, konnte es nicht schaden ihm zu folgen. Er machte nicht den Eindruck, als ob er sich nur auf der Jagd befunden hätte und nun mit seinem Fang nach Hause zurückkehren würde. Mehrfach blieb er stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Anna duckte sich, um nicht von ihm entdeckt zu werden. Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald. Der Bursche schien sich hier auszukennen. Zielstrebig hielt er auf eine Fläche zu, die offenbar schon mehrfach als Feuerstelle benutzt worden war. Er sammelte einige Zweige und schichtete sie auf. Aus einem Tuch zog er etwas hervor, das Anna auf die Entfernung hin nicht erkennen konnte. Doch nachdem nur einen Augenblick später einige Funken aufsprühten, musste es wohl ein Feuerstein gewesen sein. Sorgfältig legte der Knabe noch mehrere dicke Äste auf das von ihm entzündete Reisig, trat einen Schritt zurück und betrachtete die Flammen, die sich gierig am Holz hinauffraßen. Er zog einen etwas kleineren Holzspeer hervor als den, mit dem er das Kaninchen erlegt hatte, und spießte ein Stück Fleisch auf. Anna stellte verwundert fest, dass er seine Beute irgendwann, nachdem er sie erlegt hatte, auch zerteilt haben musste, ohne dass sie es bemerkt hatte. Obwohl er das Fleisch erst wenige Augenblicke über den Flammen gedreht hatte, zupfte er etwas vom Rand ab und steckte es in den Mund. Sein Hunger musste unvorstellbar groß sein. Bei diesem Anblick begann auch Annas Magen, sich bemerkbar zu machen und laut zu knurren. Schnell duckte sie sich auf den Boden hinab, wartete einen Moment, ob der Knabe sie entdeckt haben könnte, und zog, als dieser nicht einmal in ihre Richtung sah, ein Stück Trockenfleisch aus ihrem Bündel hervor. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie seit ihrem Aufbruch vor zwei Tagen nur einmal etwas gegessen hatte. Zu schnell hatte sie vorankommen und zu dem Zeitpunkt, an dem ihr Vater freikam, schon möglichst weit weg sein wollen. Selbst wenn er sich zunächst in eine falsche Richtung wandte, würde ihm wahrscheinlich irgendwann aufgehen, dass sie ihm eine Falle gestellt und ihn in die Irre geführt hatte. Wohin er dann als Nächstes gehen würde, wusste nur Gott allein. Sie schreckte hoch. Der Knabe saß nicht mehr am Feuer. Oh, mein Gott! Sie war unaufmerksam gewesen und hatte nicht bemerkt, dass er sich davongemacht hatte. Einen Moment schlug ihr Herz schneller. Wo war er hin? Gerade wollte sie sich aufrichten, als sie plötzlich von hinten gepackt und hochgezogen wurde. Ihr Kopftuch wurde so heftig heruntergerissen, dass sich ihre hellblonden, langen Haare aus dem Knoten lösten.
»Na, was haben wir denn da für ein Täubchen?«
Anna wehrte sich gegen den harten Griff, konnte sich jedoch nicht aus der Umklammerung befreien. Der Alkoholgestank des grobschlächtigen Kerls erinnerte sie so stark an ihren Vater, dass ihr vor lauter Ekel und Angst ganz übel wurde.
»Was treibst du dich hier herum, hä?« Sein Gesicht war nun ganz nah vor ihrem. Sie wandte den Kopf ab, um dem Fäulnisgeruch, der seinem Mund bei jedem Wort schwallartig entströmte, auszuweichen.
»Na, willst du nicht antworten?« Er zog sie noch dichter an sich heran. »Alles hier im Wald gehört dem Grafen Bernhard zur Lippe, dem Herrn von Rheda. Und ich bin sein Meier. Also bestimme ich über den Wald, die Ländereien und alles, was sich dort befindet. Verstehst du?« Er umfasste ihre Taille und presste sein Gesicht an ihren Hals. »Alles hier ist meins«, keuchte er und leckte mit der Zunge über ihre Haut.
Anna versuchte, ihn von sich wegzuschieben. »Lasst mich!« Verzweifelt drückte sie ihre Hände gegen seine Gurgel, und es gelang ihr tatsächlich, ihn ein Stück von sich zu drücken. Worauf er nur noch fester zupackte, sie erneut an sich zog und mit seiner Hand ihre linke Brust umfasste. »Ja, so mag ich's.« Brutal presste er seine Lippen auf die ihren, als er plötzlich mit einem verdutzten Gesichtsausdruck seine Umklammerung löste und einen Schritt nach hinten taumelte. Ein weiteres Mal sauste der dicke Ast auf seinen Hinterkopf, und der Meier schlug, ohne sich noch abfangen zu können, der Länge nach auf dem Waldboden auf.
Anna blickte den Jungen an, der mit erhobenem Arm dastand, bereit, nochmals zuzuschlagen. Erst als er sah, dass der Mann sich nicht mehr rührte, ließ er seinen Arm mit dem Ast langsam sinken.
»Du musst besser aufpassen. Eine Horde Reiter hätte sich lautloser durch den Wald bewegt als du«, murmelte er zerknirscht, beugte sich dann zu Annas Angreifer hinab und durchsuchte ihn. Er zog ein kleines Lederbündel aus dessen Wams hervor, prüfte den Inhalt und steckte das Säckchen ein.
»Wir sollten von hier verschwinden. Er wird noch ein Weilchen schlafen und mit einer gewaltigen Beule am Kopf wieder aufwachen. Dann will ich lieber nicht mehr hier sein.«
Benommen hob Anna ihr Bündel auf, zog das Kopftuch wieder über ihr Haar und folgte dem Jungen, der sich flink seinen Weg durch den Wald bahnte. Sie lief ihm eine ganze Weile nach, bis er schließlich abrupt stehen blieb. Er sah sich um, und auch Anna blickte in alle Richtungen, um zu sehen, ob ihnen jemand gefolgt sein könnte.
»Wir sind da. Komm!«
Der Wald war hier so dicht, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Einen Moment glaubte sie sogar, den Jungen verloren zu haben. Doch als sie etwas weiterging, stieß sie mit der Hüfte gegen das Holzdach eines Verschlages, duckte sich und kroch auf allen vieren hinein. Drinnen war es stockdunkel. Tastend rutschte sie auf den Knien weiter. Der Geruch wurde modriger, der Boden sandiger.
»Wir sind gleich da«, hörte sie die Stimme des Jungen.
Sie hallte, und es klang, als sei er ein gutes Stück von ihr entfernt. Wie blind bewegte sie sich weiter voran, bis sie ein Geräusch hörte und im nächsten Moment einige Funken, gefolgt von einer Flamme, aufblitzen sah, die sich zischend durch ein paar trockene Zweige brannte.
Sie war in einer Steinhöhle, in einem großen Felsendom, wie sie nun erkannte, als der Knabe ein größeres Holzstück nachlegte und es sofort um einiges heller wurde.
Sie ließ ihren Blick an den Wänden entlangschweifen, die über und über mit Malereien versehen waren. An einigen Stellen waren sogar Formen in den Stein gehauen worden, und in einer Ecke waren kleine geschnitzte Holzfiguren aufgereiht.
»Das reicht«, befand er, als er ein weiteres Stück Holz aufgelegt hatte. »Wenn die Flammen zu weit nach oben züngeln, kann der Rauch nicht mehr abziehen.«
Sorgfältig errichtete er mit weiteren Holzstücken eine Art Gestell zum Braten des Fleisches ähnlich dem, das Anna schon gesehen hatte, als sie ihn im Wald aus der Ferne beim Feuermachen beobachtet hatte.
»Hast du all die Malereien und Schnitzarbeiten angefertigt?«
Der Junge nickte. »Hast du etwas zu essen bei dir?«
Anna bejahte und zog schnell ein Tuch aus ihrem Bündel hervor, in dem sich Trockenfleisch, fünf Äpfel, ein Kanten Brot und einige Beeren befanden, und breitete alles vor dem Jungen aus. Hastig griff er nach einem Apfel und biss in ihn hinein.
»Gut. Ich gebe dir auch was von dem Kaninchen ab.«
Anna nickte stumm und sah ihn an. Aus der Nähe erkannte sie, dass er keineswegs mehr so jung war, wie sie ihn geschätzt hatte. Er konnte nur wenig jünger sein als sie selbst. Sein Körper war zwar dünn und ausgemergelt, doch er war so groß wie sie, vielleicht sogar etwas größer. Mit verbissenem Gesichtsausdruck bohrte er ein kleines, stumpfes Messer in den Rumpf des Kaninchens und versuchte, ein Stück Fleisch aus ihm herauszuschneiden.
»Warte, ich habe etwas Besseres.« Anna zog ein Messer hervor, das sie ihrem Vater, kurz bevor sie das Haus für immer verließ, gestohlen hatte. Er hatte es dazu benutzt, Hühner auszuweiden, oder manchmal auch, um ihr Angst zu machen. »Hier!«
Der Bursche nahm es und betrachtete es von allen Seiten. »Donnerwetter!«
Augenblicklich stieß er es in den Leib des Kaninchens und versenkte es fast vollständig darin. Geschickt bewegte er es vor und zurück, trennte das Fell von den Muskeln und zog es danach mühelos vom Rumpf ab. Er teilte das Fleisch in mehrere Stücke, spießte eines nach dem anderen auf und lehnte es vorsichtig an das soeben aufgeschichtete Feuergestell. Blut tropfte herab und zischte in den Flammen auf. Sorgsam packte er das restliche Fleisch, von den Eingeweiden getrennt, auf ein Tuch, legte die Enden des Stoffes übereinander, bis alles abgedeckt war, und schob das Bündel vorsichtig an die Höhlenwand. Dann drehte er sich wieder dem Feuer zu.
Anna starrte in die Flammen. »Danke«, brachte sie kurz hervor.
Er erwiderte nichts.
»Du musst besser aufpassen«, sagte er nach einer Weile. »Was macht eigentlich eine wie du hier im Wald?«
Anna schwieg. Ganz gewiss würde sie ihm nicht erzählen, wer sie war und woher sie kam. Und erst recht nicht, wohin sie gehen wollte. Er hatte ihr zwar geholfen. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihm vertrauen konnte. Sie hätte nicht einmal mit ihm hierherkommen sollen. Ihr Herz pochte schneller, als sie an das Geld dachte, das sie bei sich trug. Ohne zu zögern, hatte er den Meier niedergeschlagen und ihn beraubt. Und nun befand sie sich mit ihm zusammen in diesem Verschlag. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Verstohlen blickte sie in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Dann eben nicht.« Seine Stimme ließ Anna zusammenzucken.
»Wenn du stumm sein willst wie ein Fisch, ist mir das auch recht.«
Er drehte alle Spieße nacheinander um. Das gebratene Fleisch roch köstlich, und Annas Magen meldete sich lautstark.
»Dein Magen erzählt mehr als du.«
Sie musste schmunzeln. Auf einmal kam es ihr albern vor, sich vorzustellen, was ihr der Bursche alles an möglichen Greueltaten antun könnte, während er einfach nur dasaß und darauf wartete, das Fleisch essen zu können.
»Ich heiße Anna!«
»Meine Güte, der Magen spricht auch noch.«
Sie lachte kurz auf, um sofort wieder zu Boden zu sehen.
»Ich heiße Gawin.«
»Woher kommst du, Gawin?«
»Von hier und dort. Und du?«
»Ich auch.«
Sie sahen sich einen Moment lang an, dann lachten sie los.
»Also kommen wir sogar aus dem gleichen Dorf«, witzelte Gawin. Er betrachtete seinen unerwarteten Gast. Sie war bildhübsch, wahrscheinlich etwas älter als er. Als ihr der Meier das Tuch vom Kopf gerissen hatte, waren lange, hellblonde Haare zum Vorschein gekommen. Solche Haare hatte er noch nie zuvor gesehen, nur davon gehört. Die Damen bei Hofe, hieß es, bleichten ihre Haare so lange mit Zitronensaft, bis sie einen helleren Farbton annahmen. Warum sie das taten, hatte Gawin nie verstanden. Doch dieses Mädchen machte ihm nicht den Eindruck, seine Haare derart behandelt zu haben. Einen Moment überlegte er, es danach zu fragen. Doch da es gerade einmal mit Mühe seinen Namen hervorgebracht hatte, von dem er noch nicht einmal wusste, ob es sein richtiger war, ließ er es lieber bleiben. Und warum sollte es auch einem wie
ihm auf eine solche Frage antworten?
»Wohnst du hier?«
Er nickte.
»Ziemlich ungewöhnlich, so eine Höhle mitten im Wald.«
»Eigentlich nicht. Hier gibt es einige Felsen, sie fallen nur nicht so auf, weil sie völlig von Pflanzen überwuchert sind. Manche sind hohl, andere nicht.«
»Lebst du allein hier?«
Seine Miene verfinsterte sich, und Anna bereute augenblicklich, ihm diese Frage gestellt zu haben.
»Entschuldige.«
»Schon gut. Es stimmt ja, ich bin allein.« Das hatte er ursprünglich nicht sagen wollen, doch nun, da es heraus war, tat es ihm gut, und seine Anspannung ließ nach.
»Ich auch.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Sind deine Eltern tot?«, fragte Gawin.
Anna nickte. »Und deine?«
»Ich habe sie nie kennengelernt.« Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte er ihr die Wahrheit gesagt. Ein ungewohntes Gefühl. Wann immer er in den vergangenen Jahren ein Wort über sein Leben verloren hatte, spann er stets eine Geschichte zusammen, die ihm im jeweiligen Moment passend erschien. Manchmal wusste er selbst nicht mehr, was wahr oder erfunden war.
»Wie lange lebst du schon hier?«
»Ein paar Jahre. Für mich ist es in Ordnung, wenn ich genug zu essen finde.« Leise fügte er hinzu: »Nur im Winter ist es schwer.«
Anna nickte, dann schwiegen beide eine Weile.
»Du kannst hierbleiben, wenn du willst«, nahm Gawin das Gespräch wieder auf.
Anna sah ihn an. »Bis morgen früh. Dann muss ich weiter.«
Ihre Antwort versetzte ihm einen Stich. Nie zuvor war jemand außer ihm in der Höhle, seinem Zuhause, gewesen. Und es hatte ihm nichts ausgemacht. Doch jetzt, wo sie mit ihm am Feuer saß und die Einsamkeit durchbrochen hatte, die ihn seit Jahren umgab, wollte er nicht, dass sie wieder ging.
»Wo willst du hin?«
Wieder war ihre Antwort nur ein Schweigen. Gawin nahm einen der Fleischspieße, prüfte ihn und reichte ihn Anna.
»Ist fertig.«
Er sammelte die anderen Stöcke ein, legte sie sorgfältig auf das Tuch, in dem sich das rohe Fleisch befand, und aß endlich selbst das erste Stück. Der Genuss, den ihm diese Mahlzeit bereitete, war ihm deutlich anzusehen. Seine Besucherin verfolgte aus dem Augenwinkel heraus, dass er jeden Bissen lange kaute, bevor er ihn hinunterschluckte. Sie selbst hatte bisher keinen Hunger gekannt und fragte sich nun, was wohl schlimmer war. Ihr eigenes elendes Dasein bei ihrem Vater oder Gawins Leben, geprägt von Hunger, Angst und Einsamkeit.
»Willst du mitkommen?«, hörte sie sich selbst sagen, ohne zuvor darüber nachgedacht zu haben.
Gawin blickte verwundert auf. »Wohin?«
Ihr Herz klopfte. Sie hatte ihn ganz spontan gefragt und überlegte nun, wie es wohl wäre, eine Begleitung zu haben. Gawin sah sie jedoch so erwartungsvoll an, dass sie wünschte, ihren Mund gehalten zu haben.
»Ich will in die Stadt.«
»In welche?«
Sie antwortete nicht.
»Und was willst du dort?«
»Leben«, erklärte sie sofort. »In Freiheit leben und Kleider nähen.«
Gawin schien verblüfft. »Bist du Näherin?«
»Ich habe genäht, dort, wo ich bisher lebte, und die Kleider auf den Märkten verkauft.«
»Aber du hast gar keine Stoffe bei dir.«
Schon wollte Anna nach der Geldkatze um ihren Hals greifen, doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne und legte beide Hände um den Fleischspieß.
»Ich werde Stoff und Garn kaufen, sobald ich den nächsten Markt erreiche.«
Gawin gingen eine Menge Fragen durch den Kopf, vor allem die, ob sie den Stoff denn auch bezahlen könne. Doch ein Gefühl sagte ihm, dass es besser wäre still zu sein. So nickte er nur und beließ es bei ihrer Erklärung.
»Ich kann nicht nähen, und ich habe auch kein Geld«, sagte er schließlich. »Ich wüsste nicht, wie ich in einer Stadt überleben sollte. Außerdem«, er machte eine kurze Pause, »würden sie einen wie mich gar nicht erst durchs Stadttor hineinlassen.«
Anna erwiderte nichts. Schweigend aß sie das Fleisch, trank einen Schluck aus ihrem Wasserschlauch und rückte bis an die Höhlenwand zurück, wo sie sich zusammenkauerte. Mit einem Mal überkam sie eine gewaltige Müdigkeit. Die schützende Höhle, das Feuer, der gefüllte Bauch. Und sie war nicht allein.
»Schlaf gut«, sagte Gawin und legte sich mit dem Rücken zum Feuer gleichfalls nieder.
»Du auch«, vernahm er ihre Stimme.
Einen Moment lang lag er nur so da und lauschte ihrem Atem. Es war schön, Gesellschaft zu haben. Er spürte, wie ihm eine Träne über die Wange lief. Morgen früh würde sie fort sein und er wieder allein. So einsam wie in diesem Moment hatte er sich noch nie gefühlt.
© 2012 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
1. Kapitel
Lünen im Jahr 1349
Nur drei Tage. Mehr Zeit blieb ihr nicht, um so weit wie möglich fortzukommen. Eilig stopfte Anna ihre Habseligkeiten in das Tuch, das sie mit einem groben Knoten zum Bündel geschnürt hatte. Als sie das Seidenkleid ganz unten aus der Truhe zog, stockte sie und drückte es an sich. Tief atmete sie den Duft ein. Das Gewand war das Einzige, was ihr von der Mutter geblieben war, und all die Jahre über hatte sie es gehütet wie einen wertvollen Schatz.
Ihr gesamtes Vermögen bestand aus den Münzen, die sie mühsam Tag für Tag in einem kleinen Säckchen inmitten ihres Strohlagers versteckt hatte. Welch unbeschreibliche Angst hatte sie jedes Mal ausgestanden, wenn sie aus der Schänke oder vom Markt heimkam und die Einnahmen bei ihrem Vater ablieferte. Ganz vorsichtig, damit kein Verdacht aufkam, behielt sie nie mehr als nur einen Silberpfennig für sich. Wäre sie von ihrem Vater dabei ertappt worden, er hätte sie totgeprügelt. Doch meist war er zu betrunken, um ihr auf die Schliche zu kommen. Zufrieden spürte sie nun das Gewicht der Geldkatze um ihren Hals. In den letzten Jahren hatte sich genug angesammelt, dass sie fortlaufen und anderswo ein neues Leben beginnen könnte. Wie hatte sie diesen Tag herbeigesehnt! Doch nun, da er gekommen war, verspürte sie die Erleichterung nicht, die sie sich so sehr erhofft hatte.
Anna schämte sich nicht des befreienden Gefühls, das sie empfunden hatte, als die Büttel ihren Vater abführten. Solange sie ihn wegsperrten, war sie in Sicherheit, wenngleich diese nicht lange anhalten würde. Dass der Schultheiß durchgreifen würde, hatte sich abgezeichnet. Zu vielen Menschen war Helme das Geld schuldig geblieben. Nur ihm selbst war es in seinem Dunstkreis von Bier und Schnaps entgangen. Nun war die Gelegenheit für ihre Flucht gekommen. Anna rechnete damit, einen guten Vorsprung herausholen und ihre Spuren verwischen zu können. Drei Tage, mehr Zeit bliebe ihr nicht. Zum Glück hatten sie Helme so überraschend mitgenommen, dass Anna dem Schicksal entgangen war, einem Kumpan ihres Vaters zu Willen sein zu müssen, um so einen Teil seiner Schulden zu begleichen. Helme hatte nur gelacht, als Anna ihn unter Tränen anflehte, ihr diese Schmach zu ersparen, sie gepackt und in das Kellerloch sperren wollen, gerade in dem Moment, als der Schultheiß mit einem Helfer die Kate betrat und ihn mitnahm.
Der letzte Blick, den sie ihm zuwarf, bevor er ins Freie gezerrt wurde, ließ all den Hass und die Verachtung erkennen, die sich seit dem Tod ihrer Mutter vor bald zehn Jahren in ihr angesammelt hatten. Sein wütendes Gebrüll verriet Anna, dass er den Ausdruck in ihren Augen sehr wohl hatte lesen können.
Jetzt raffte sie ihre wenigen Habseligkeiten, schnürte mit dem zerschlissenen Tuch, das sie über ihr Lager gespannt hatte, ein Bündel und verließ das Haus. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, blickte sie sich ein letztes Mal um. Nie wieder würde sie zurückkehren. Wenn sie es schaffte, ohne Spuren zu hinterlassen, zu verschwinden, läge ein neues Leben vor ihr. Finge er sie jedoch wieder ein, bliebe ihr nichts, als sich den kleinen geschnitzten Holzdolch, den sie sich unter den Röcken fest ans Bein geschnürt hatte, ins Herz zu rammen. Sie war bereit dazu. Weder Schmerz noch Tod würden ihr die gleichen Qualen bereiten, die sie empfand, würde sie weiter mit ihm leben müssen. Leise zog sie die Tür ins Schloss, atmete geräuschvoll aus und trat auf den Weg. Bis Dortmund, die nächstgelegene Stadt, bräuchte sie nicht mehr als den Nachmittag. Hier würde er sie als Erstes suchen. Bis nach Münster, in die andere Richtung, verginge dagegen ein ganzer Tag. Doch Anna wollte weder in den einen noch in den anderen Ort. Zielsicher setzte sie ihren Weg fort. Sie hörte schnelle Schritte hinter sich, drehte sich jedoch nicht um. Ihr Atem ging rasch und flach, sie ballte die Hände zu Fäusten.
»Wo willst du hin?«
Erleichtert atmete sie aus, als sie die Stimme erkannte und stehen blieb.
»Wo willst du hin?«, wiederholte Jakob. Der Achtjährige lebte in der Kate seiner Tante, nur einen Steinwurf von Annas Heim entfernt.
»Ich gehe fort.«
»Weshalb?«
Anna schwieg.
»Kommst du wieder?«
Ruhig schüttelte sie den Kopf.
»Und wohin willst du?«
Anna schaute sich um, konnte jedoch niemand entdecken, der ihr Gespräch belauschen konnte.
»Du darfst es aber niemandem sagen, hörst du?«
Jakob nickte eifrig.
»Vor allem nicht meinem Vater. Hast du verstanden? Er wird dir Geld geben, damit du mich verrätst. Doch du darfst es nicht tun!«
»Versprochen.«
»Ich will versuchen, mich nach Köln durchzuschlagen.«
»Köln?«
»Sei ruhig!«, zischte sie. »Man könnte dich hören.«
»Aber das ist furchtbar weit«, fl üsterte Jakob.
»Ich weiß. Aber ich muss es einfach schaffen.«
»Ich werde dich nicht verraten.«
Sie beugte sich zu ihm hinab, drückte ihn kurz an sich und ging dann bis zur Weggabelung, wo sie die Straße Richtung Süden einschlug. Jakob sah ihr nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er brauchte nicht lange, um einen Entschluss zu fassen. Annas Vater hatte seine Schulden nicht bezahlen können und war nun im Keller des Pfarrers eingesperrt. Es war nicht das erste Mal, und Jakob wusste, dass Helme noch immer irgendeine Möglichkeit gefunden hatte, um Geld aufzutreiben. Woher, das wusste er nicht. Doch dass ihm die Nachricht von Annas Flucht etwas wert sein würde, dessen war sich Jakob sicher. Also schlenderte er hinüber zum Pfarrhaus, setzte sich auf einen der großen Findlinge davor und wartete. Irgendwann würde Helme wieder auf freien Fuß gesetzt werden, und dann wäre Jakob zur Stelle. Er zog sein Messer hervor und setzte seine Schnitzerei an der Flöte fort, die er am nächsten Markttag verkaufen wollte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Wie dumm Anna doch war, wenn sie glaubte, ihm vertrauen zu können. Er selbst würde einen solchen Fehler niemals begehen.
Kaum dass Anna hinter der Biegung verschwunden war, blickte sie sich um. Jakob hatte ihr die Geschichte abgekauft und wartete wahrscheinlich nur darauf, ihrem Vater einige Pfennige abzuschwatzen, indem er ihm verriet, dass sie sich in Richtung Köln davongemacht hatte. Eilig legte sie den Weg bis zu dem kleinen Waldstück zurück, wo sie im Schutze der Bäume die Richtung änderte und ihren eigentlichen Weg nach Bremen einschlug.
2. Kapitel
Sein Körper fühlte sich taub an. Gawin kauerte am Waldboden und beobachtete jede noch so kleine Bewegung seines Opfers. Die Angst, dass ihm seine Beine im richtigen Moment nicht gehorchen würden, ließ ihm den Angstschweiß im Nacken zusammenlaufen. Vorsichtig prüfte er seine Glieder. Zu lange schon hatte er dort gehockt und das Kaninchen nicht aus den Augen gelassen. Fest umklammerte er den massiven Stock, mit dem er zustechen würde. Langsam stemmte er sich vom Boden hoch. Das Kaninchen blieb ungerührt sitzen. Wenn es jetzt aufschrecken und davonlaufen würde, müsste er verhungern. Schon seit Tagen hatte er nur noch Blätter gekaut. Davor war es ein Apfel gewesen, den er einer der Marktfrauen gestohlen und sofort verschlungen hatte. Die Prügel, die er dafür bezog, waren fürchterlich gewesen. Noch immer spürte er die Wunden, die das Knotenseil, mit dem der Marktaufseher zuschlug, auf seinem Rücken hinterlassen hatte. Doch immerhin war er an diesem Tag nicht vor Hunger eingegangen. Ob ihm das heute wieder gelingen würde, wusste er nicht. Vorsichtig pirschte er sich heran, das Kaninchen blickte auf. Gawin erstarrte. Einen Moment lang schien das Tier ihn anzusehen. Er fühlte sich ertappt, rührte sich nicht und wartete, bis es wieder zu Boden sah. Jetzt war der Moment gekommen. Er fasste den Stab so fest, dass seine Fingerknöchel weiß unter der Haut hervortraten. Dann machte er einen Sprung, holte mit dem Stock aus und stieß ihn seiner Beute in den Leib. Gawin keuchte, starrte auf den Kaninchenkörper und wartete. Kein Fortspringen, keine Bewegung. Das Kaninchen war tot. Seine ganze Anspannung entlud sich in einem einzigen, gellenden Siegesschrei. Eine Welle der Befriedigung ging durch seinen Körper. Mit einem Ruck zog er den Stock aus dem Leib, hob das tote Geschöpf vom Boden auf und betrachtete es von allen Seiten. Er würde nicht verhungern. Weder heute noch in den nächsten Wochen.
Anna beobachtete den Fremden mit wechselnden Gefühlen. Er schien nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre zu sein und besaß einen hageren, ausgemergelten Körper. Seine Bekleidung bestand ausschließlich aus Lumpen, die vor Dreck standen. Die Arme waren so dünn, als würden sie jeden Moment zerbrechen. Überhaupt wirkte sein gesamter Körper, als hätte er überhaupt kein Fleisch mehr auf den Knochen, sondern als wären diese nur noch von Haut umspannt. Nie zuvor hatte sie solch einen klapperdürren Menschen gesehen, und der Anblick ließ sie erschaudern. Bei dem Schrei, den der Junge nach dem Erlegen seiner Beute ausgestoßen hatte, war sie zusammengefahren. Still verbarg sie sich hinter den Bäumen, während ihr Herz heftig pochte. Zwar konnte ihr dieser kleine Kerl nicht gefährlich werden, doch die Art, in der er das Kaninchen erlegt hatte, ließ an seiner Entschlossenheit keinen Zweifel aufkommen. Sie hatte viel Geld bei sich, und wenn ihr dieses Kind auch körperlich unterlegen sein mochte, konnte es dennoch schnell genug sein, um ihr die Geldkatze zu entreißen und im Dickicht zu entkommen. Also wartete sie, bis der Junge seine Habseligkeiten zusammengetragen hatte und sich weiter durch den Wald schlug, um dann in sicherer Entfernung ihren eigenen Weg fortzusetzen.
Gawin war auf der Hut. Das Mädchen, das sich so tölpelhaft laut durch den Wald bewegt hatte und ihn nun beobachtete, musste irgendetwas im Schilde führen. Bestimmt würde es versuchen, ihm seinen Fang zu stehlen. Was sollte es auch sonst von ihm wollen? Dass er außer seiner Beute nichts besaß, sah man ihm schließlich deutlich an. Doch er konnte sich nicht mehr allzu viel Zeit lassen, das Kaninchen aufzuspießen und zu braten. Sein Hunger war einfach zu groß. Wenn die junge Frau ihm noch lange folgte, würde er wohl oder übel ein Stück aus dem Tier herausreißen und roh hinunterschlingen müssen. Seinen Verschlag aufzusuchen schien ihm zu riskant. Er sah sich um. Nicht weit von hier gab es eine einigermaßen geschützte Stelle, wo er ein Feuer machen und dabei die Umgebung im Auge behalten konnte. Wenn sie ihn dort überfallen wollte, würde er sie rechtzeitig kommen sehen, um sich das Kaninchen zu schnappen und damit verschwinden zu können.
Ein Geräusch ließ Anna zusammenfahren. Hastig drehte sie den Kopf und blickte sich um. Wurde sie verfolgt? Oder war es ein Tier, das sie jeden Moment angreifen würde? Schnell fuhr sie wieder herum und suchte nach dem Jungen, der sich weiter in nördlicher Richtung bewegte. Nur noch einen Moment, dann würde sie ihn aus den Augen verlieren. Wie von selbst setzten sich ihre Beine in Bewegung. Auch wenn sie nicht darauf hoffen durfte, würde er ihr womöglich beistehen, sollte sie in Not geraten. Und solange er ohnehin in die gleiche Richtung ging, in die auch sie wollte, konnte es nicht schaden ihm zu folgen. Er machte nicht den Eindruck, als ob er sich nur auf der Jagd befunden hätte und nun mit seinem Fang nach Hause zurückkehren würde. Mehrfach blieb er stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Anna duckte sich, um nicht von ihm entdeckt zu werden. Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald. Der Bursche schien sich hier auszukennen. Zielstrebig hielt er auf eine Fläche zu, die offenbar schon mehrfach als Feuerstelle benutzt worden war. Er sammelte einige Zweige und schichtete sie auf. Aus einem Tuch zog er etwas hervor, das Anna auf die Entfernung hin nicht erkennen konnte. Doch nachdem nur einen Augenblick später einige Funken aufsprühten, musste es wohl ein Feuerstein gewesen sein. Sorgfältig legte der Knabe noch mehrere dicke Äste auf das von ihm entzündete Reisig, trat einen Schritt zurück und betrachtete die Flammen, die sich gierig am Holz hinauffraßen. Er zog einen etwas kleineren Holzspeer hervor als den, mit dem er das Kaninchen erlegt hatte, und spießte ein Stück Fleisch auf. Anna stellte verwundert fest, dass er seine Beute irgendwann, nachdem er sie erlegt hatte, auch zerteilt haben musste, ohne dass sie es bemerkt hatte. Obwohl er das Fleisch erst wenige Augenblicke über den Flammen gedreht hatte, zupfte er etwas vom Rand ab und steckte es in den Mund. Sein Hunger musste unvorstellbar groß sein. Bei diesem Anblick begann auch Annas Magen, sich bemerkbar zu machen und laut zu knurren. Schnell duckte sie sich auf den Boden hinab, wartete einen Moment, ob der Knabe sie entdeckt haben könnte, und zog, als dieser nicht einmal in ihre Richtung sah, ein Stück Trockenfleisch aus ihrem Bündel hervor. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie seit ihrem Aufbruch vor zwei Tagen nur einmal etwas gegessen hatte. Zu schnell hatte sie vorankommen und zu dem Zeitpunkt, an dem ihr Vater freikam, schon möglichst weit weg sein wollen. Selbst wenn er sich zunächst in eine falsche Richtung wandte, würde ihm wahrscheinlich irgendwann aufgehen, dass sie ihm eine Falle gestellt und ihn in die Irre geführt hatte. Wohin er dann als Nächstes gehen würde, wusste nur Gott allein. Sie schreckte hoch. Der Knabe saß nicht mehr am Feuer. Oh, mein Gott! Sie war unaufmerksam gewesen und hatte nicht bemerkt, dass er sich davongemacht hatte. Einen Moment schlug ihr Herz schneller. Wo war er hin? Gerade wollte sie sich aufrichten, als sie plötzlich von hinten gepackt und hochgezogen wurde. Ihr Kopftuch wurde so heftig heruntergerissen, dass sich ihre hellblonden, langen Haare aus dem Knoten lösten.
»Na, was haben wir denn da für ein Täubchen?«
Anna wehrte sich gegen den harten Griff, konnte sich jedoch nicht aus der Umklammerung befreien. Der Alkoholgestank des grobschlächtigen Kerls erinnerte sie so stark an ihren Vater, dass ihr vor lauter Ekel und Angst ganz übel wurde.
»Was treibst du dich hier herum, hä?« Sein Gesicht war nun ganz nah vor ihrem. Sie wandte den Kopf ab, um dem Fäulnisgeruch, der seinem Mund bei jedem Wort schwallartig entströmte, auszuweichen.
»Na, willst du nicht antworten?« Er zog sie noch dichter an sich heran. »Alles hier im Wald gehört dem Grafen Bernhard zur Lippe, dem Herrn von Rheda. Und ich bin sein Meier. Also bestimme ich über den Wald, die Ländereien und alles, was sich dort befindet. Verstehst du?« Er umfasste ihre Taille und presste sein Gesicht an ihren Hals. »Alles hier ist meins«, keuchte er und leckte mit der Zunge über ihre Haut.
Anna versuchte, ihn von sich wegzuschieben. »Lasst mich!« Verzweifelt drückte sie ihre Hände gegen seine Gurgel, und es gelang ihr tatsächlich, ihn ein Stück von sich zu drücken. Worauf er nur noch fester zupackte, sie erneut an sich zog und mit seiner Hand ihre linke Brust umfasste. »Ja, so mag ich's.« Brutal presste er seine Lippen auf die ihren, als er plötzlich mit einem verdutzten Gesichtsausdruck seine Umklammerung löste und einen Schritt nach hinten taumelte. Ein weiteres Mal sauste der dicke Ast auf seinen Hinterkopf, und der Meier schlug, ohne sich noch abfangen zu können, der Länge nach auf dem Waldboden auf.
Anna blickte den Jungen an, der mit erhobenem Arm dastand, bereit, nochmals zuzuschlagen. Erst als er sah, dass der Mann sich nicht mehr rührte, ließ er seinen Arm mit dem Ast langsam sinken.
»Du musst besser aufpassen. Eine Horde Reiter hätte sich lautloser durch den Wald bewegt als du«, murmelte er zerknirscht, beugte sich dann zu Annas Angreifer hinab und durchsuchte ihn. Er zog ein kleines Lederbündel aus dessen Wams hervor, prüfte den Inhalt und steckte das Säckchen ein.
»Wir sollten von hier verschwinden. Er wird noch ein Weilchen schlafen und mit einer gewaltigen Beule am Kopf wieder aufwachen. Dann will ich lieber nicht mehr hier sein.«
Benommen hob Anna ihr Bündel auf, zog das Kopftuch wieder über ihr Haar und folgte dem Jungen, der sich flink seinen Weg durch den Wald bahnte. Sie lief ihm eine ganze Weile nach, bis er schließlich abrupt stehen blieb. Er sah sich um, und auch Anna blickte in alle Richtungen, um zu sehen, ob ihnen jemand gefolgt sein könnte.
»Wir sind da. Komm!«
Der Wald war hier so dicht, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Einen Moment glaubte sie sogar, den Jungen verloren zu haben. Doch als sie etwas weiterging, stieß sie mit der Hüfte gegen das Holzdach eines Verschlages, duckte sich und kroch auf allen vieren hinein. Drinnen war es stockdunkel. Tastend rutschte sie auf den Knien weiter. Der Geruch wurde modriger, der Boden sandiger.
»Wir sind gleich da«, hörte sie die Stimme des Jungen.
Sie hallte, und es klang, als sei er ein gutes Stück von ihr entfernt. Wie blind bewegte sie sich weiter voran, bis sie ein Geräusch hörte und im nächsten Moment einige Funken, gefolgt von einer Flamme, aufblitzen sah, die sich zischend durch ein paar trockene Zweige brannte.
Sie war in einer Steinhöhle, in einem großen Felsendom, wie sie nun erkannte, als der Knabe ein größeres Holzstück nachlegte und es sofort um einiges heller wurde.
Sie ließ ihren Blick an den Wänden entlangschweifen, die über und über mit Malereien versehen waren. An einigen Stellen waren sogar Formen in den Stein gehauen worden, und in einer Ecke waren kleine geschnitzte Holzfiguren aufgereiht.
»Das reicht«, befand er, als er ein weiteres Stück Holz aufgelegt hatte. »Wenn die Flammen zu weit nach oben züngeln, kann der Rauch nicht mehr abziehen.«
Sorgfältig errichtete er mit weiteren Holzstücken eine Art Gestell zum Braten des Fleisches ähnlich dem, das Anna schon gesehen hatte, als sie ihn im Wald aus der Ferne beim Feuermachen beobachtet hatte.
»Hast du all die Malereien und Schnitzarbeiten angefertigt?«
Der Junge nickte. »Hast du etwas zu essen bei dir?«
Anna bejahte und zog schnell ein Tuch aus ihrem Bündel hervor, in dem sich Trockenfleisch, fünf Äpfel, ein Kanten Brot und einige Beeren befanden, und breitete alles vor dem Jungen aus. Hastig griff er nach einem Apfel und biss in ihn hinein.
»Gut. Ich gebe dir auch was von dem Kaninchen ab.«
Anna nickte stumm und sah ihn an. Aus der Nähe erkannte sie, dass er keineswegs mehr so jung war, wie sie ihn geschätzt hatte. Er konnte nur wenig jünger sein als sie selbst. Sein Körper war zwar dünn und ausgemergelt, doch er war so groß wie sie, vielleicht sogar etwas größer. Mit verbissenem Gesichtsausdruck bohrte er ein kleines, stumpfes Messer in den Rumpf des Kaninchens und versuchte, ein Stück Fleisch aus ihm herauszuschneiden.
»Warte, ich habe etwas Besseres.« Anna zog ein Messer hervor, das sie ihrem Vater, kurz bevor sie das Haus für immer verließ, gestohlen hatte. Er hatte es dazu benutzt, Hühner auszuweiden, oder manchmal auch, um ihr Angst zu machen. »Hier!«
Der Bursche nahm es und betrachtete es von allen Seiten. »Donnerwetter!«
Augenblicklich stieß er es in den Leib des Kaninchens und versenkte es fast vollständig darin. Geschickt bewegte er es vor und zurück, trennte das Fell von den Muskeln und zog es danach mühelos vom Rumpf ab. Er teilte das Fleisch in mehrere Stücke, spießte eines nach dem anderen auf und lehnte es vorsichtig an das soeben aufgeschichtete Feuergestell. Blut tropfte herab und zischte in den Flammen auf. Sorgsam packte er das restliche Fleisch, von den Eingeweiden getrennt, auf ein Tuch, legte die Enden des Stoffes übereinander, bis alles abgedeckt war, und schob das Bündel vorsichtig an die Höhlenwand. Dann drehte er sich wieder dem Feuer zu.
Anna starrte in die Flammen. »Danke«, brachte sie kurz hervor.
Er erwiderte nichts.
»Du musst besser aufpassen«, sagte er nach einer Weile. »Was macht eigentlich eine wie du hier im Wald?«
Anna schwieg. Ganz gewiss würde sie ihm nicht erzählen, wer sie war und woher sie kam. Und erst recht nicht, wohin sie gehen wollte. Er hatte ihr zwar geholfen. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihm vertrauen konnte. Sie hätte nicht einmal mit ihm hierherkommen sollen. Ihr Herz pochte schneller, als sie an das Geld dachte, das sie bei sich trug. Ohne zu zögern, hatte er den Meier niedergeschlagen und ihn beraubt. Und nun befand sie sich mit ihm zusammen in diesem Verschlag. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Verstohlen blickte sie in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Dann eben nicht.« Seine Stimme ließ Anna zusammenzucken.
»Wenn du stumm sein willst wie ein Fisch, ist mir das auch recht.«
Er drehte alle Spieße nacheinander um. Das gebratene Fleisch roch köstlich, und Annas Magen meldete sich lautstark.
»Dein Magen erzählt mehr als du.«
Sie musste schmunzeln. Auf einmal kam es ihr albern vor, sich vorzustellen, was ihr der Bursche alles an möglichen Greueltaten antun könnte, während er einfach nur dasaß und darauf wartete, das Fleisch essen zu können.
»Ich heiße Anna!«
»Meine Güte, der Magen spricht auch noch.«
Sie lachte kurz auf, um sofort wieder zu Boden zu sehen.
»Ich heiße Gawin.«
»Woher kommst du, Gawin?«
»Von hier und dort. Und du?«
»Ich auch.«
Sie sahen sich einen Moment lang an, dann lachten sie los.
»Also kommen wir sogar aus dem gleichen Dorf«, witzelte Gawin. Er betrachtete seinen unerwarteten Gast. Sie war bildhübsch, wahrscheinlich etwas älter als er. Als ihr der Meier das Tuch vom Kopf gerissen hatte, waren lange, hellblonde Haare zum Vorschein gekommen. Solche Haare hatte er noch nie zuvor gesehen, nur davon gehört. Die Damen bei Hofe, hieß es, bleichten ihre Haare so lange mit Zitronensaft, bis sie einen helleren Farbton annahmen. Warum sie das taten, hatte Gawin nie verstanden. Doch dieses Mädchen machte ihm nicht den Eindruck, seine Haare derart behandelt zu haben. Einen Moment überlegte er, es danach zu fragen. Doch da es gerade einmal mit Mühe seinen Namen hervorgebracht hatte, von dem er noch nicht einmal wusste, ob es sein richtiger war, ließ er es lieber bleiben. Und warum sollte es auch einem wie
ihm auf eine solche Frage antworten?
»Wohnst du hier?«
Er nickte.
»Ziemlich ungewöhnlich, so eine Höhle mitten im Wald.«
»Eigentlich nicht. Hier gibt es einige Felsen, sie fallen nur nicht so auf, weil sie völlig von Pflanzen überwuchert sind. Manche sind hohl, andere nicht.«
»Lebst du allein hier?«
Seine Miene verfinsterte sich, und Anna bereute augenblicklich, ihm diese Frage gestellt zu haben.
»Entschuldige.«
»Schon gut. Es stimmt ja, ich bin allein.« Das hatte er ursprünglich nicht sagen wollen, doch nun, da es heraus war, tat es ihm gut, und seine Anspannung ließ nach.
»Ich auch.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Sind deine Eltern tot?«, fragte Gawin.
Anna nickte. »Und deine?«
»Ich habe sie nie kennengelernt.« Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte er ihr die Wahrheit gesagt. Ein ungewohntes Gefühl. Wann immer er in den vergangenen Jahren ein Wort über sein Leben verloren hatte, spann er stets eine Geschichte zusammen, die ihm im jeweiligen Moment passend erschien. Manchmal wusste er selbst nicht mehr, was wahr oder erfunden war.
»Wie lange lebst du schon hier?«
»Ein paar Jahre. Für mich ist es in Ordnung, wenn ich genug zu essen finde.« Leise fügte er hinzu: »Nur im Winter ist es schwer.«
Anna nickte, dann schwiegen beide eine Weile.
»Du kannst hierbleiben, wenn du willst«, nahm Gawin das Gespräch wieder auf.
Anna sah ihn an. »Bis morgen früh. Dann muss ich weiter.«
Ihre Antwort versetzte ihm einen Stich. Nie zuvor war jemand außer ihm in der Höhle, seinem Zuhause, gewesen. Und es hatte ihm nichts ausgemacht. Doch jetzt, wo sie mit ihm am Feuer saß und die Einsamkeit durchbrochen hatte, die ihn seit Jahren umgab, wollte er nicht, dass sie wieder ging.
»Wo willst du hin?«
Wieder war ihre Antwort nur ein Schweigen. Gawin nahm einen der Fleischspieße, prüfte ihn und reichte ihn Anna.
»Ist fertig.«
Er sammelte die anderen Stöcke ein, legte sie sorgfältig auf das Tuch, in dem sich das rohe Fleisch befand, und aß endlich selbst das erste Stück. Der Genuss, den ihm diese Mahlzeit bereitete, war ihm deutlich anzusehen. Seine Besucherin verfolgte aus dem Augenwinkel heraus, dass er jeden Bissen lange kaute, bevor er ihn hinunterschluckte. Sie selbst hatte bisher keinen Hunger gekannt und fragte sich nun, was wohl schlimmer war. Ihr eigenes elendes Dasein bei ihrem Vater oder Gawins Leben, geprägt von Hunger, Angst und Einsamkeit.
»Willst du mitkommen?«, hörte sie sich selbst sagen, ohne zuvor darüber nachgedacht zu haben.
Gawin blickte verwundert auf. »Wohin?«
Ihr Herz klopfte. Sie hatte ihn ganz spontan gefragt und überlegte nun, wie es wohl wäre, eine Begleitung zu haben. Gawin sah sie jedoch so erwartungsvoll an, dass sie wünschte, ihren Mund gehalten zu haben.
»Ich will in die Stadt.«
»In welche?«
Sie antwortete nicht.
»Und was willst du dort?«
»Leben«, erklärte sie sofort. »In Freiheit leben und Kleider nähen.«
Gawin schien verblüfft. »Bist du Näherin?«
»Ich habe genäht, dort, wo ich bisher lebte, und die Kleider auf den Märkten verkauft.«
»Aber du hast gar keine Stoffe bei dir.«
Schon wollte Anna nach der Geldkatze um ihren Hals greifen, doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne und legte beide Hände um den Fleischspieß.
»Ich werde Stoff und Garn kaufen, sobald ich den nächsten Markt erreiche.«
Gawin gingen eine Menge Fragen durch den Kopf, vor allem die, ob sie den Stoff denn auch bezahlen könne. Doch ein Gefühl sagte ihm, dass es besser wäre still zu sein. So nickte er nur und beließ es bei ihrer Erklärung.
»Ich kann nicht nähen, und ich habe auch kein Geld«, sagte er schließlich. »Ich wüsste nicht, wie ich in einer Stadt überleben sollte. Außerdem«, er machte eine kurze Pause, »würden sie einen wie mich gar nicht erst durchs Stadttor hineinlassen.«
Anna erwiderte nichts. Schweigend aß sie das Fleisch, trank einen Schluck aus ihrem Wasserschlauch und rückte bis an die Höhlenwand zurück, wo sie sich zusammenkauerte. Mit einem Mal überkam sie eine gewaltige Müdigkeit. Die schützende Höhle, das Feuer, der gefüllte Bauch. Und sie war nicht allein.
»Schlaf gut«, sagte Gawin und legte sich mit dem Rücken zum Feuer gleichfalls nieder.
»Du auch«, vernahm er ihre Stimme.
Einen Moment lang lag er nur so da und lauschte ihrem Atem. Es war schön, Gesellschaft zu haben. Er spürte, wie ihm eine Träne über die Wange lief. Morgen früh würde sie fort sein und er wieder allein. So einsam wie in diesem Moment hatte er sich noch nie gefühlt.
© 2012 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
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Autoren-Porträt von Caren Benedikt
Caren Benedikt, geboren 1971, wuchs in einer norddeutschen Kleinstadt auf. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten und arbeitete danach als freie Journalistin. Heute lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem kleinen Ort bei Bremen. Weitere Informationen unter www.caren-benedikt.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Caren Benedikt
- 3. Aufl., 620 Seiten, Maße: 12,5 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426512939
- ISBN-13: 9783426512937
- Erscheinungsdatum: 28.08.2013
Rezension zu „Die Duftnäherin “
"Ein neuer Stern am Himmel des historischen Romans." Kolibri - Mein FREI. ZEIT. MAGAZIN, Oktober 2013
Pressezitat
"Ein neuer Stern am Himmel des historischen Romans." Kolibri - Mein FREI. ZEIT. MAGAZIN, Oktober 2013
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