Knapp am Herz vorbei
Roman
Wie in seinem wunderbaren Bestseller Tender Bar erzählt J.R. Moehringer mit der Sprache des Herzens eine wahre Geschichte vom Leben des beliebtesten Bankräuber aller Zeiten, Willie Sutton. New York, Weihnachten 1969. Willie Sutton packt seine...
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Produktinformationen zu „Knapp am Herz vorbei “
Klappentext zu „Knapp am Herz vorbei “
Wie in seinem wunderbaren Bestseller Tender Bar erzählt J.R. Moehringer mit der Sprache des Herzens eine wahre Geschichte vom Leben des beliebtesten Bankräuber aller Zeiten, Willie Sutton. New York, Weihnachten 1969. Willie Sutton packt seine Bücher ein und räumt die Zelle. Endlich Freiheit. Nach siebzehn Jahren. Doch die Zeit hat ihre Bedeutung verloren. Mit einem Fotografen und einem Reporter fährt er durch das verschneite New York auf den Spuren seiner legendären Vergangenheit: Die Kindheit im irischen Viertel, der erste Raub, dann 200 Banküberfälle, ohne je einen einzigen Schuss abzufeuern - und immer wieder Bess, die ihm das Herz brach. Wie ein Puzzle setzt sich Seite für Seite Suttons Leben zusammen. Was dabei Wirklichkeit und was Erfindung war, werden wir nie erfahren. Aber was macht das schon.
Lese-Probe zu „Knapp am Herz vorbei “
Knapp am Herz vorbei von J. R. MoehringerTEIL EINS
So war zu Anfang die ganze Welt Amerika; denn nirgendwo kannte man etwas wie Geld.
John Locke, Über die Regierung
EINS
Er schreibt gerade, als sie ihn holen kommen.
Er sitzt an seinem Metallschreibtisch, gebeugt über einen gelben Notizblock, spricht mit sich und mit ihr - wie immer mit ihr. Deshalb merkt er nicht, dass sie an der Tür stehen. Bis sie mit ihren Stöcken an den Gitterstäben rasseln.
Er blickt auf und rückt seine große verkratzte Brille mit dem oft geklebten Steg zurecht. Zwei Wärter stehen nebeneinander da - der linke dick, teigig und blass, wie aus Schmalz gemacht, der rechte groß und schlank, mit einem pfenniggroßen Leberfleck auf der rechten Wange.
Linker Wärter zieht seinen Hosenbund hoch. Auf die Füße, Sutton. Die Verwaltung will dich sprechen.
Sutton steht auf.
Rechter Wärter zeigt mit dem Schlagstock auf ihn. Was zum! Du heulst ja, Sutton.
Nein, Sir.
Lüg mich nicht an, Sutton. Ich seh, dass du geheult hast.
Sutton fasst sich an die Wange. Seine Finger werden nass. Mir war nicht bewusst, dass ich heule, Sir.
Rechter Wärter wedelt mit dem Schlagstock in Richtung Notizblock. Was ist das?
Nichts, Sir.
Er hat dich gefragt, was das ist, sagt Linker Wärter.
Sutton merkt, wie sein schlimmes Bein nachgibt, und beißt vor Schmerz die Zähne zusammen. Mein Roman, Sir.
... mehr
Sie sehen sich in seiner mit Büchern gefüllten Zelle um. Er folgt ihrem Blick. Es ist nie gut, wenn die Wärter sich in deiner Zelle umsehen. Wenn sie wollen, finden sie immer was. Sie schauen erbost auf die Bücher am Boden, die Bücher auf dem Metallschrank, die Bücher am Kaltwasserbecken. Suttons Zelle ist die einzige in Attica, in der Ausgaben von Dante, Platon, Shakespeare und Freud stehen. Nein, seinen Freud haben sie konfisziert. Häftlinge dürfen keine Psychologiebücher besitzen. Der Direktor glaubt, sie könnten sich gegenseitig hypnotisieren.
Rechter Wärter grinst. Er stupst seinen Kollegen an - zieh dir das rein. Sein Roman! Wovon handelt er denn?
Ach, Sie wissen schon. Vom Leben, Sir.
Was zum Teufel weiß ein alter Knacki wie du schon vom Leben?
Sutton zuckt die Schultern. Sie haben recht, Sir. Aber was weiß überhaupt irgendjemand davon?
Es spricht sich schnell herum. Gegen Mittag sind bereits zehn, zwölf Zeitungsreporter da und stehen dichtgedrängt am Hauptportal, stampfen mit den Füßen, pusten sich auf die Finger. Einer sagt, er habe eben gehört, es gebe Schnee. Und nicht zu knapp. Mindestens zwanzig Zentimeter.
Sie stöhnen alle.
Es ist zu kalt zum Schneien, sagt der Veteran in der Gruppe, ein alter Haudegen einer Presseagentur in Hosenträgern und schwarzen orthopädischen Schuhen, der seit dem Scopes-Prozess bei UPI arbeitet. Er fluppt einen Spuckebatzen auf den gefrorenen Boden und blickt missmutig zu den Wolken, dann zum Hauptwachturm, der einige an das neue Dornröschenschloss in Disneyland erinnert.
Es ist zu kalt, um hier draußen zu stehen, sagt der Reporter der New York Post. Er nuschelt etwas Abfälliges über den Gefängnisdirektor, der den Pressevertretern dreimal den Zutritt zum Gefängnis verwehrt hat. Die Reporter könnten jetzt heißen Kaffee trinken. Sie könnten die Telefone benutzen, letzte Pläne für Weihnachten schmieden. Stattdessen will der Gefängnisdirektor irgendetwas beweisen. Warum, fragen sie alle, warum?
Weil der Gefängnisdirektor ein Arschloch ist, sagt der Reporter von Time, darum.
Der Reporter von Look hält Daumen und Zeigefinger knapp auseinander. Gib einem Bürokraten so viel Macht, sagt er, und dann Vorsicht. Zieh dich warm an.
Nicht nur Bürokraten sind so gestrickt, sagt der Reporter der New York Times. Alle Chefs werden irgendwann Faschisten. Das ist die menschliche Natur.
Die Reporter tauschen Horrorgeschichten über ihre Chefs und Ressortleiter aus, elende Schwachköpfe, die ihnen diesen gottverdammten Auftrag eingebrockt haben. Unter Journalisten gibt es einen neuen Ausdruck, der erst in diesem Jahr aus dem Krieg in Asien übernommen wurde und oft für solche Einsätze verwendet wird, Einsätze, bei denen man im Pulk wartet, gewöhnlich im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt, im vollen Bewusstsein, dass man nichts Nennenswertes erfährt und schon gar nichts, was der Rest nicht auch erfahren würde. Der Ausdruck heißt Clusterfuck. Jeder Reporter gerät hin und wieder in einen Clusterfuck, das gehört zum Job, aber ein Clusterfuck an Heiligabend? Vor der Attica Correctional Facility? Das ist uncool, sagt der Reporter von der Village Voice. Sehr uncool.
Besonders sauer sind die Reporter auf den Oberboss, Gouverneur Nelson Rockefeller. Der mit seiner Buddy-Holly-Brille und der chronischen Unentschiedenheit. Gouverneur Hamlet, sagt der Reporter von UPI und grinst in Richtung Mauer. Bringt er es oder nicht?
Er brüllt in Richtung Dornröschenschloss: Mach zu oder komm runter vom Pott, Nelson! Stuhlgang oder Abgang!
Die Reporter nicken, grummeln, nicken. Sie werden unruhig, genau wie die Häftlinge auf der anderen Seite der neun Meter hohen Mauer. Die Häftlinge wollen raus, die Reporter wollen rein, und Schuld geben beide Gruppen der Polizei. Frierend, müde, wütend und von der Gesellschaft geächtet, stehen beide Gruppen kurz vor dem Aufruhr. Und beide sehen nicht den schönen Mond, der langsam über dem Gefängnis aufgeht.
Ein Vollmond.
Die Wärter führen Sutton von seiner Zelle in Block D durch eine Gittertür in einen Tunnel und zur Kommandozentrale - von den Häftlingen Times Square genannt -, die zu allen Zellenblocks und Büros führt. Vom Times Square wird Sutton zum Büro des stellvertretenden Gefängnisdirektors gebracht. Es ist das zweite Mal, dass er in diesem Monat zum Vize gerufen wird. Letzte Woche teilte man ihm mit, dass sein Begnadigungsgesuch abgelehnt worden sei - ein böser Schlag. Sutton und seine Anwälte waren sich ihrer Sache so sicher gewesen. Sie hatten die Fürsprache prominenter Richter gewonnen, hatten Schwachstellen in den Schuldsprüchen entdeckt und Briefe von Ärzten gesammelt, die attestierten, dass Sutton todkrank war. Doch die dreiköpfige Begnadigungskommission sagte nein.
Der Vize sitzt an seinem Schreibtisch und schenkt sich die Mühe aufzublicken. Hallo, Willie.
Hallo, Sir.
Sieht so aus, als hätten wir Startfreigabe.
Sir?
Der Vize deutet mit wedelnder Hand über die verstreuten Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Das sind deine Papiere. Du wirst entlassen.
Sutton blinzelt und massiert sein Bein. Entlassen? Von wem, Sir?
Der Vize blickt auf und seufzt. Vom Leiter der Gefängnisbehörde. Oder von Rockefeller. Oder von beiden. Albany hat noch nicht entschieden, wie sie die Sache verkaufen wollen. Als Ex-Banker weiß der Gouverneur nicht so recht, ob er seinen Namen druntersetzen soll. Aber der Leiter der Gefängnisbehörde will sich nicht über den Begnadigungsausschuss hinwegsetzen. So oder so, sie lassen dich laufen.
Laufen? Warum?
Woher soll ich das wissen. Ist mir scheißegal.
Und wann, Sir?
Heute Abend. Wenn das Telefon aufhört zu klingeln und die Reporter mir nicht mehr im Nacken hängen, dass sie mein Gefängnis als privates Fernsehzimmer benutzen wollen. Wenn die verfluchten Formulare ausgefüllt sind.
Sutton mustert den Vize. Dann die Wärter. Soll das ein Scherz sein? Nein, sie wirken ganz ernst.
Der Vize wendet sich wieder seinen Papieren zu. Viel Glück, Willie.
Die Wärter führen Sutton zum Anstaltsschneider. Jeder Mann, der aus einem Gefängnis im Staat New York entlassen wird, bekommt einen Entlassungsanzug, eine mindestens hundert Jahre zurückreichende Tradition. Das letzte Mal hatte man Suttons Maße für einen Entlassungsanzug genommen, als Calvin Coolidge Präsident war.
Sutton steht vor dem dreiteiligen Spiegel des Schneiders. Ein Schock. In den letzten Jahren stand er nicht oft vor Spiegeln, und er kann nicht glauben, was er sieht. Da ist sein rundes Gesicht, das glatte graue Haar, die verhasste Nase - zu groß, zu breit, mit unterschiedlich großen Nasenlöchern -, und da ist die große rote Verdickung auf seinem Augenlid, die in jedem Polizeibericht und FBI- Flugblatt kurz nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt wurde. Aber das ist nicht er - unmöglich. Sutton hatte sich immer viel auf eine gewisse Verwegenheit in seinem Äußeren eingebildet, auch in Handschellen. Und selbst in Gefängniskluft war es ihm stets gelungen, elegant und weltgewandt zu erscheinen. Jetzt dagegen, mit achtundsechzig Jahren, sieht er in dem dreiteiligen Spiegel nichts mehr von Verwegenheit, Eleganz und Weltgewandtheit. Er ist ein Strichmännchen mit Tränensäcken. Er sieht aus wie Felix der Kater. Selbst der bleistiftdünne Schnurrbart, auf den er früher so stolz war, ähnelt den Schnurrhaaren des Cartoonkaters.
Der Schneider, mit einem grünen Maßband um den Hals, tritt zu Sutton. Er ist ein alter Italiener aus der Bronx mit zwei fingerhutgroßen Schneidezähnen. Beim Reden klimpert er mit einer Handvoll Knöpfen und Münzen in seiner Tasche.
Sie lassen dich also raus, Willie.
Sieht so aus.
Wie lange warst du hier?
Siebzehn Jahre.
Und wann hattest du das letzte Mal einen neuen Anzug?
Oh. Vor zwanzig Jahren. Wenn ich früher gut bei Kasse war, trug ich nur maßgeschneiderte Anzüge. Und Seidenhemden. Von D'Andrea Brothers.
Er erinnert sich noch an die Adresse: Fifth Avenue 587. Und an die Telefonnummer. Murray Hill 5-5332.
Ja, sagt Schneider, D'Andrea, die waren wirklich gut. Ich hab noch einen Smoking von D'Andrea. Steig mal auf das Podest.
Sutton gehorcht ächzend. Ein Anzug, sagt er. Mein Gott, und ich dachte, das nächste Mal nehmen sie für mein Leichenhemd Maß.
Ich mach keine Leichenhemden, sagt Schneider. Da sieht ja keiner meine Arbeit.
Sutton schaut stirnrunzelnd auf die drei gespiegelten Schneider. Reicht es nicht, wenn man gute Arbeit leistet? Muss man sie unbedingt sehen?
Schneider legt sein Maßband quer über Suttons Schultern, dann längs über den Arm. Zeig mir einen Künstler, sagt er, der nicht gelobt werden will.
Sutton nickt. So ging's mir früher auch mit meinen Banküberfällen.
Schneider betrachtet das Triptychon der gespiegelten Suttons und zwinkert dem mittleren zu. Dann legt er das Maßband über Suttons schlimmes Bein. Innenbeinlänge sechsundsiebzig, verkündet er. Jacke achtundvierzig.
Als ich hier ankam, hatte ich Größe fünfzig. Ich sollte sie verklagen.
Schneider lacht leise und hustet. Welche Farbe möchtest du, Willie?
Alles außer Grau.
Dann Schwarz. Ich bin froh, dass sie dich rauslassen, Willie. Du hast deine Schuld gezahlt.
Vergib uns unsere Schuld, sagt Willie, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Schneider bekreuzigt sich.
Ist das aus deinem Roman?, fragt Rechter Wärter.
Sutton und Schneider sehen sich an.
Schneider richtet eine Fingerpistole auf Sutton. Frohe Weihnachten, Willie.
Gleichfalls, Kumpel.
Sutton richtet eine Fingerpistole auf Schneider und spannt den Hahn. Peng.
Die Reporter unterhalten sich über Sex, Geld und aktuelle Ereignisse. Altamont, das irre Konzert, wo vier Hippies im Drogenrausch starben - wer ist schuld? Mick Jagger? Die Hells Angels? Dann plaudern sie über ihre erfolgreicheren Kollegen, angefangen bei Norman Mailer. Mailer kandidiert nicht nur als Bürgermeister von New York, er hat außerdem gerade eine Million Dollar Vorschuss für ein Buch über die Mondlandung gekriegt. Mailer - der Typ macht Geschichte zu Fiktion und Fiktion zu Geschichte, und dann bringt er sich noch überall selbst mit ein. Er spielt nach seinen eigenen Regeln, während seine regelgebundenen Kollegen nach Attica geschickt werden und sich die Eier abfrieren. Scheiß Mailer, da sind sich alle einig.
Und scheiß Mond.
Sie pusten sich auf die Finger, ziehen die Krägen hoch und schließen Wetten ab, ob der Gefängnisdirektor wohl jemals öffentlich als Transvestit entlarvt wird. Außerdem wetten sie darauf, was zuerst passiert - ob Sutton entlassen wird oder ob Sutton abkratzt. Der Reporter von der New York Post sagt, Sutton stehe nicht nur an der Schwelle des Todes, er läute auch schon die Glocke und streife sich die Füße auf der Matte ab. Der Reporter von Newsday sagt, die Arterie in Suttons Bein sei irreversibel verstopft, das wisse er von einem Arzt, der mit seinem Schwager Racquetball spielt. Der Reporter von Look sagt, er habe von einem befreundeten Cop in der Bronx gehört, dass Sutton immer noch überall in der Stadt Knete versteckt hält. Die Gefängnisbehörde lässt Sutton frei, und die Cops folgen ihm dann zum Geld.
Auch eine Möglichkeit, die Haushaltskrise zu lösen, sagt der Mann von der Times Union in Albany.
Die Reporter erzählen sich, was sie von Sutton wissen, geben Fakten und Geschichten weiter wie kalte Verpflegung, mit der sie die Nacht durchstehen müssen. Was sie nicht gelesen haben oder aus dem Fernsehen kennen, haben sie von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gehört. Sutton ist der erste Bankräuber in der Geschichte, dessen Wirkungskreis mehr als eine Generation umspannt, der erste mit einer Langzeitkarriere, die vier Jahrzehnte umfasst. In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften. Sutton war schlauer als Machine Gun Kelly, vernünftiger als Pretty Boy Floyd, sympathischer als Legs Diamond, friedfertiger als Dutch Schulz, romantischer als Bonnie und Clyde. Er sah Bankraub als hohe Kunst und übte ihn mit der zielstrebigen Leidenschaft eines Künstlers aus. Er glaubte an Analyse, Planung, harte Arbeit. Aber er war auch kreativ, ein Erneuerer, und wie alle großen Künstler erwies er sich als zäher Überlebender. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen, entwischte jahrelang Polizisten und FBI-Agenten. Er war eine Mischung aus Henry Ford und John Dillinger - mit einem Hauch Houdini, Picasso und Rasputin. Die Reporter wissen alles über seine elegante Kleidung, sein schelmisches Lächeln, seine Liebe zu guten Büchern, das übermütige Schimmern in seinen strahlend blauen Augen, so blau, dass sie in einer Pressemitteilung des FBI einmal als azurblau beschrieben wurden. Nur ein besonderer Bankräuber entlockt dem FBI solche lyrischen Worte.
Was die Reporter nicht wissen und was sie wie die meisten Amerikaner immer gern gewusst hätten: War der für seine Gewaltlosigkeit berühmte Sutton an dem brutalen Unterweltmord an Arnold Schuster beteiligt? Schuster, ein jung aussehender Vierundzwanzigjähriger aus Brooklyn, Baseball-Fan und Veteran der Küstenwache, stieg eines Nachmittags in die falsche U-Bahn und sah sich Sutton gegenüber, dem damals meistgesuchten Mann Amerikas. Drei Wochen später war Schuster tot, und der Mord an ihm ist vielleicht der peinsamste ungeklärte Fall in der New Yorker Kriminalgeschichte. Zumindest ist er der peinsamste Teil der Legende um Sutton.
Die Wärter führen Sutton zurück zur Verwaltung. Ein Beamter stellt ihm zwei Schecks aus. Einen über 146 Dollar, der Lohn für siebzehn Jahre in unterschiedlichen Gefängnisjobs, abzüglich Steuern. Und einen über 40 Dollar, die Kosten für eine Busfahrkarte nach Manhattan. Jeder Haftentlassene bekommt Busgeld nach Manhattan. Sutton nimmt die Schecks - es ist also wirklich so weit. Sein Herz fängt an zu pochen. Sein Bein ebenfalls. Sie pochen sich wechselseitig an wie männliche und weibliche Hauptdarsteller in einer italienischen Oper.
Die Wärter führen ihn zurück in seine Zelle. Du hast fünfzehn Minuten, sagen sie und reichen ihm eine Einkaufstüte.
Er steht in der Mitte seiner Zelle, seinem 2,50 × 1,80 Meter großen Zuhause in den vergangenen siebzehn Jahren. Ist es möglich, dass er heute Nacht nicht hier schläft? Dass er in einem weichen Bett mit sauberen Laken und einem richtigen Kissen schläft, ohne gequälte Seelen über und unter ihm, die vor Ohnmacht, Wut und Raserei heulen, fluchen und flehen? Geräusche von Männern hinter Gittern sind mit nichts vergleichbar. Er stellt die Einkaufstüte auf den Schreibtisch und packt vorsichtig sein Romanmanuskript ein. Dann die Spiralblocks aus seinen Kursen in kreativem Schreiben. Dann die Ausgaben von Dante, Shakespeare, Platon. Dann Kerouac. Im Gefängnis schwört man sich ein Recht auf Leben. Ein Satz, der Sutton durch viele lange Nächte gerettet hat. Dann das Zitatelexikon mit dem berühmtesten Satz des berühmtesten Bankräubers Amerikas: Willie Sutton alias Slick Willie alias Willie the Actor.
Mit liebevoller Sorgfalt packt er den Ezra Pound ein. Nun kommst du aus einem Menschengewühl. Und den Tennyson. Komm zu mir in den Garten, Maud. Ich steh hier am Tor allein. Ihm steigen Tränen in die Augen. Wie immer. Schließlich packt er den gelben Notizblock ein, in den er geschrieben hatte, als die Wärter ihn holten. Und zwar nicht seinen Roman, den er vor kurzem beendet hat, sondern einen Abschiedsbrief, mit dessen Abfassen er eine Stunde nach der Ablehnung der Begnadigungskommission begonnen hatte. So geht es oft, denkt er. Der Tod steht vor deiner Tür, zieht sich die Hose hoch, zeigt mit dem Stock auf dich - und überreicht dir die Begnadigung.
Nachdem Sutton seine Zelle leergeräumt hat, lässt ihn der Vize ein paar Anrufe tätigen. Als Erstes wählt er die Nummer seiner Anwältin, Katherine. Sie ist außer sich vor Freude.
Wir haben es geschafft, Willie. Wir haben es endlich geschafft!
Und wie haben wir es geschafft, Katherine?
Sie waren es leid, gegen uns zu kämpfen. Es ist Weihnachten, Willie, und sie waren es einfach leid. Es war leichter aufzugeben.
Ich weiß, was in ihnen vorging, Katherine.
Und die Zeitungen haben mit Sicherheit auch ihren Teil dazu beigetragen, Willie. Sie waren auf deiner Seite.
Aus diesem Grund hat Katherine mit einer der größten Zeitungen eine Vereinbarung getroffen. Sie sagt auch, welche, aber Suttons Gedanken überschlagen sich, er kriegt den Namen nicht mit. Die Zeitung wird Sutton an Bord ihres Privatflugzeugs nach Manhattan bringen, ihn in ein Hotel einquartieren, und als Gegenleistung gibt er ihnen exklusiv seine Geschichte.
Leider bedeutet das, fügt Katherine hinzu, dass du den ersten Weihnachtstag mit einem Reporter verbringst und nicht mit der Familie. Ist das in Ordnung?
Sutton denkt an seine Familie. Er hat seit Jahren nicht mit ihnen gesprochen. Er denkt an Reporter - mit denen er noch nie gesprochen hat. Er mag keine Reporter. Trotzdem ist jetzt nicht die Zeit, um Ärger zu machen.
Das geht in Ordnung, Katherine.
Kennst du denn jemanden, der dich am Gefängnis abholen und zum Flughafen fahren kann?
Ich finde schon jemand.
Er legt auf, ruft Donald an, der beim zehnten Klingeln rangeht.
Donald? Ich bin's, Willie.
Wer ist da?
Willie. Was machst du gerade?
Oh. Hey. Ich trinke ein Bier und wollte mir gleich The Flying Nun ansehen.
Hör mal. Wie es aussieht, lassen sie mich heute Abend raus.
Sie lassen dich raus, oder du lässt dich selber raus?
Es ist sauber, Donald. Sie machen die Tür auf.
Ist die Hölle zugefroren?
Keine Ahnung. Aber der Teufel trägt definitiv einen Pullover. Kannst du mich am Eingang abholen?
Bei dem Dornröschending?
Ja.
Natürlich.
Sutton fragt Donald, ob er ihm ein paar Sachen mitbringen kann.
Was du willst, erwidert Donald. Schieß los.
Ein TV-Übertragungswagen aus Buffalo donnert zum Eingang. Ein Reporter springt heraus, fummelt an seinem Mikrophon. Er trägt einen Zweihundert-Dollar-Anzug, einen Kamelhaarmantel, graue Lederhandschuhe, silberne Manschettenknöpfe. Die Printreporter stoßen einander an. Manschettenknöpfe - hast du Töne?
Der Fernsehreporter schlendert zu seinen Kollegen von der Presse und wünscht allen frohe Weihnachten. Gleichfalls, murmeln sie. Dann herrscht Schweigen.
Stille Nacht, sagt der Fernsehreporter.
Niemand lacht.
Der Mitarbeiter von Newsweek fragt den Fernsehreporter, ob er heute Morgen Pete Hamill in der Post gelesen hat. Hamills als Brief an den Gouverneur gerichtete eloquente Verteidigung Suttons und sein Gesuch um Suttons Entlassung könnten der Grund dafür sein, dass sie alle hier versammelt sind. Hamill appellierte an Rockefellers Gerechtigkeitssinn. Wäre Willie Sutton ein Vorstandsmitglied von General Electric oder ein ehemaliger Wasserkommissar und nicht der Sohn eines irischen Schmieds, dann wäre er schon ein freier Mann.
Der Fernsehreporter erstarrt. Ihm ist klar, dass die Presseheinis glauben, er lese nicht - könne nicht lesen. Klar, sagt er, ich fand, Hamill hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Vor allem seine Äußerung über die Banken. Nicht wenige unter uns haben beim derzeitigen Hypothekenzinssatz den Eindruck, dass die Banken es sind, die uns ausrauben. Und bei der Bemerkung über Suttons Wiedervereinigung mit einer verlorenen Liebe hat es mir die Kehle zugeschnürt. Willie Sutton sollte noch einmal im Prospect Park sitzen und die Enten beobachten dürfen oder sich bei Nathan's einen Hotdog holen und eine alte Flamme auf einen Drink einladen.
Eine Diskussion entspinnt sich. Verdient Sutton es wirklich, frei zu sein? Er ist ein Gangster, sagt der Newsday-Reporter - warum die ganze Lobhudelei?
Weil er, sagt der Post-Reporter, in Teilen von Brooklyn ein Gott ist. Schau dir mal die Leute hier an.
Mittlerweile sind mehr als zwei Dutzend Reporter und zwei weitere Dutzend Zivilisten versammelt - Verbrecherfans, Polizeifunkabhörer, Neugierige. Schräge Vögel. Ghule.
Doch der Newsday-Reporter sagt wieder: Ich frage euch, warum?
Weil Sutton Banken ausgeraubt hat, sagt der Fernsehreporter, und wer zum Teufel hat was Gutes über Banken zu sagen? Sie sollten ihn nicht nur rauslassen, sie sollten ihn zum Ehrenbürger erklären.
Ich begreife nicht, sagt der Look-Reporter, warum Rockefeller, ein ehemaliger Banker, einen Bankräuber laufen lässt.
Rockefeller braucht die irischen Wählerstimmen, sagt der Reporter der Times Union. Ohne irische Wählerstimmen wirst du in New York nicht wiedergewählt, und Sutton ist wie Jimmy Walker und Michael Collins und ein paar Kennedys zusammen in einem großen irischen Eintopf.
Er ist ein verdammter Gauner, sagt der Newsday-Reporter, der möglicherweise betrunken ist.
Der Fernsehreporter schnaubt verächtlich. Unter dem Arm trägt er das Life-Magazin der vergangenen Woche, mit Charles Manson auf dem Titelbild. Er hält das Magazin hoch: Manson starrt ihnen böse entgegen, niemandem, allen.
Verglichen mit diesem Typen, sagt der Fernsehreporter, und den Hells Angels und den Soldaten, die all die Unschuldigen in My Lai abgeschlachtet haben, ist Willie Sutton eine Schmusekatze.
Klar, sagt der Newsday-Reporter, ein echter Pazifist. Der Gandhi der Gangster.
Die vielen Banken, sagt der Fernsehreporter, die vielen Gefängnisse, und der Junge hat nie einen Schuss abgefeuert. Hat nie einer Fliege was zuleide getan.
Der Fernsehreporter geht dem Newsday-Reporter langsam auf die Nerven. Und was ist mit Arnold Schuster?, fragt er.
Ach, sagt der Fernsehreporter, mit Schuster hat Sutton nichts zu tun.
Sagt wer?
Ich.
Und wer verdammt bist du?
Ich sag dir, wer ich nicht bin - ich bin kein ausgebrannter Schmierfink. Der Times-Reporter stellt sich zwischen die beiden. Ihr werdet euch doch wohl nicht darum prügeln, ob jemand gewaltlos ist oder nicht - an Weihnachten.
Warum nicht?
Weil ich dann drüber schreiben muss.
Die Unterhaltung schwenkt wieder zum Gefängnisdirektor. Ist dem Mann denn nicht klar, dass es jetzt fast minus 18 Grad hat? Oh, und ob ihm das klar ist. Der liebt das. Der ist auf dem Machttrip. Heutzutage sind alle auf dem Machttrip. Mailer, Nixon, Man- son, der Zodiac-Killer, die Cops - wir haben 1969, Mann, das Jahr des Machttrips. Wahrscheinlich beobachtet er sie gerade jetzt auf seiner Videoüberwachungsanlage, süffelt einen Brandy und lacht sich schlapp. Es reicht schon, dass sie in diesem gewaltigen Clusterfuck sitzen, aber müssen sie auch noch die Gelackmeierten eines kryptofaschistischen Machoidioten sein?
Ihr dürft gern in meinen Wagen, sagt der Fernsehreporter. Da ist es warm, und ihr könnt fernsehen. Gerade läuft Flying Nun.
Allgemeines Stöhnen.
Sutton liegt auf seiner Pritsche und wartet. Um sieben erscheint
Rechter Wärter an der Tür.
Tut mir leid, Sutton. Wird doch nichts.
Sir?
Linker Wärter erscheint hinter seinem Kollegen. Eben ist die neue Anweisung vom Vize gekommen, er sagt nein - Fehlanzeige.
Fehlanzeige? Warum?
Warum was?
Warum, Sir?
Rechter Wärter zuckt die Schultern. Irgendein Streit zwischen Rockefeller und der Begnadigungskommission. Sie können sich nicht einigen, wer die Verantwortung übernimmt oder wie die Pressemitteilung formuliert werden soll.
Dann werde ich nicht ...?
Nein.
Sutton betrachtet die Wände, die Gitter. Seine Handgelenke. Die violetten Adern, aufgeblasen und wurmartig. Er hätte es tun sollen, als er dazu die Gelegenheit hatte.
Rechter Wärter fängt an zu lachen. Linker Wärter ebenfalls. War nur Spaß, Sutton. Auf die Beine.
Sie sperren die Tür auf und führen ihn zum Schneider. Er legt die graue Gefängniskluft ab und zieht ein frisch gestärktes weißes Hemd an, eine neue blaue Krawatte, einen neuen schwarzen Anzug mit zweireihig geknöpfter Jacke. Dann die neuen schwarzen Socken und die neuen schwarzen Budapester. Er dreht sich zum Spiegel. Jetzt ist sie wieder da, die alte Verwegenheit.
Er sieht Schneider an. Wie seh ich aus?
Schneider klimpert mit seinen Münzen und Knöpfen, dann hält er den Daumen hoch.
Sutton wendet sich den Wärtern zu. Nichts.
Rechter Wärter führt Sutton allein durch den Times Square, dann an der Verwaltung vorbei in Richtung Hauptportal. Gott, ist das kalt. Sutton presst die Einkaufstüte mit seinen Habseligkeiten an die Brust und ignoriert den krampfartigen, brennenden Schmerz in seinem Bein. Die Arterie wird durch ein Plastikröhrchen offen gehalten, und er spürt, dass sie bald zusammenklappen wird wie ein Strohhalm.
Du musst operiert werden, hatte der Arzt nach dem Einbringen des Stents vor zwei Jahren gesagt.
Wenn ich mit der Operation warte, verliere ich dann mein Bein, Doc?
Nein, Willie, dann verlierst du nicht dein Bein, dann stirbst du.
Aber Sutton wollte warten. Er wollte nicht, dass ein Gefängnisarzt an ihm herumschnippelt. Einem Gefängnisarzt würde er nicht mal zutrauen, ein Konto zu eröffnen. Und wie es aussieht, war es die richtige Entscheidung. Vielleicht kann er die Operation in einem normalen Krankenhaus durchführen lassen und sie vom Erlös seines Romans bezahlen. Vorausgesetzt, jemand veröffentlicht ihn. Vorausgesetzt, ihm bleibt noch die Zeit dazu. Vorausgesetzt, er steht diese Nacht, diesen Augenblick durch. Und morgen.
Rechter Wärter führt Sutton um einen Metalldetektor, um einen Anmeldetisch und zu einer schwarzen Metalltür. Rechter Wärter sperrt sie auf. Sutton tritt vor. Er dreht sich zu Rechtem Wärter um, der ihn siebzehn Jahre lang herabgesetzt und schikaniert hat. Er hat Suttons Briefe zensiert, seine Bücher beschlagnahmt, seine Gesuche um Seife, Stifte und Toilettenpapier ignoriert - und er hat ihn geschlagen, wenn er das Sir am Ende eines Satzes vergessen hatte. Rechter Wärter macht sich gefasst - dies ist der Augenblick, in dem Gefangene sich gern etwas von der Seele reden. Aber Sutton lächelt, als würde sich etwas in ihm öffnen wie eine Blume. Frohe Weihnachten, Kleiner.
Der Kopf des Wärters schnellt zurück. Er wartet eine Sekunde. Zwei. Ja. Frohe Weihnachten, Willie. Alles Gute für dich.
Es ist kurz vor acht.
Rechter Wärter stößt die Tür auf, und hinaus marschiert Willie Sutton.
Ein Fotograf von Life ruft: Da ist er! Drei Dutzend Reporter strömen zusammen. Die schrägen Vögel und Ghule drängen vor. Fernsehkameras schwenken auf Suttons Gesicht. Lichter, heller als Suchscheinwerfer, blenden seine azurblauen Augen.
Wie fühlt es sich an, frei zu sein, Willie?
Werden Sie jemals wieder eine Bank ausrauben, Willie?
Was haben Sie Arnold Schusters Familie zu sagen?
Sutton zeigt auf den Vollmond und sagt: Schaut mal.
Drei Dutzend Reporter, zwei Dutzend Zivilisten und ein Erzverbrecher blicken in den Nachthimmel. Zum ersten Mal seit siebzehn Jahren sieht Sutton den Mond wieder von Angesicht zu Angesicht - es verschlägt ihm den Atem.
Schaut mal, sagt er wieder. Schaut euch die schöne klare Nacht an, die Gott für Willie gemacht hat.
Und dann sieht Sutton hinter den drängelnden Reportern einen Mann mit kürbisfarbenem Haar und auffälligen rötlich braunen Sommersprossen an einem Auto lehnen, einem roten Pontiac GTO, Baujahr 1967. Sutton winkt, und Donald eilt herbei. Sie geben sich die Hand. Donald schiebt mehrere Reporter beiseite und führt Sutton zu dem GTO. Als Sutton es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hat, knallt Donald die Tür zu und versetzt einem weiteren Reporter einen Stoß, nur so zum Spaß. Er rennt um das Auto herum, springt hinters Steuer, tritt das Gaspedal durch. Und schon sind sie unterwegs und wirbeln eine Welle aus nassem Schlamm, Schnee und Salz auf. Sie spritzt den Reporter von Newsday voll. Sein Gesicht, seine Brust, sein Hemd, seinen Mantel. Er blickt auf seine Kleider hinab, dann hoch zu seinen Kollegen.
Wie gesagt, ein Gauner.
Sutton schweigt. Und Donald lässt ihn schweigen. Donald weiß Bescheid. Donald hat Attica vor neun Monaten verlassen. Sie starren auf die vereiste Straße und den gefrorenen Wald, und Sutton versucht seine Gedanken zu ordnen. Nach ein paar Kilometern fragt er Donald, ob er besorgen konnte, was sie am Telefon besprochen hatten.
Ja, Willie.
Lebt sie noch?
Ich weiß es nicht. Aber ich hab ihre letzte bekannte Adresse rausgefunden.
Donald reicht ihm einen weißen Umschlag. Sutton hält ihn wie einen Kelch. Seine Erinnerung setzt ein. An Brooklyn. An Coney Island. An 1919. Noch nicht, mahnt er sich, noch nicht. Er stellt seinen Verstand ab, etwas, das er im Laufe der Jahre ganz gut gelernt hat. Zu gut, wie ein Gefängnispsychiater einmal sagte.
Er steckt den Umschlag in die Brusttasche seines neuen Anzugs. Zwanzig Jahre ist es her, dass er eine Brusttasche hatte. Es war immer seine liebste Tasche, die Stelle, wo er die wichtigen Sachen aufbewahrte. Verlobungsringe, emaillierte Zigarettenetuis, lederne Brieftaschen von Abercrombie. Revolver.
Donald fragt, wer sie ist und warum Sutton ihre Adresse braucht.
Das sag ich dir lieber nicht.
Zwischen uns gibt es doch keine Geheimnisse, Willie.
Zwischen uns gibt es nur Geheimnisse, Donald.
Ja. Du hast recht, Willie.
Sutton betrachtet Donald und erinnert sich, warum Donald im Knast war. Einen Monat nachdem er seine Arbeit auf einem Fangschiff verloren und zwei Wochen nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, sagte ein Mann in einer Bar zu ihm, er sehe fertig aus. Donald, der sich von dem Mann beleidigt fühlte, schlug fest zu, und der Mann beging den Fehler zurückzuschlagen. Donald, ein ehemaliger College-Ringer, nahm ihn in den Würgegriff und brach ihm das Genick.
Sutton schaltet das Radio ein. Er sucht Nachrichten, findet aber keine und bleibt schließlich bei einem Musiksender hängen. Die Musik ist stimmungsvoll, lebhaft - anders.
Was ist das, Donald?
Die Beatles.
Das sind also die Beatles.
Sie schweigen eine ganze Weile. Sie hören Lennon zu. Der Text erinnert Sutton an Ezra Pound. Er tätschelt die Einkaufstüte auf seinem Schoß.
Donald schaltet den GTO runter und dreht sich zu Willie. Hat der Name in dem Umschlag irgendwas mit du weißt schon wem zu tun?
Sutton sieht Donald an. Wem?
Du weißt schon. Schuster?
Nein. Natürlich nicht. Herrgott, Donald, wieso fragst du das?
Ich weiß nicht. Nur so ein Gefühl.
Nein, Donald. Nein.
Sutton steckt nachdenklich eine Hand in seine Brusttasche. Na ja, sagt er, vielleicht ja doch - wenn man um die Ecke denkt. Alle Wege führen irgendwann zu Schuster, stimmt's, Donald?
Donald nickt. Und fährt. Du siehst gut aus, Willie Boy.
Sie sagen, dass ich sterbe.
Quatsch. Du stirbst nie, verdammt.
Ja. Klar.
Du könntest nicht mal sterben, wenn du wolltest.
Hm. Du weißt gar nicht, wie recht du hast.
Donald zündet zwei Zigaretten an, reicht eine an Sutton weiter. Wie wär's mit einem Drink? Hast du noch Zeit vor deinem Flug?
Was für eine reizvolle Vorstellung. Ein Schluck Jameson, wie mein Daddo immer sagte.
Donald biegt vom Highway ab und parkt vor einer schäbigen Raststätte. Stechpalmenzweige und Weihnachtslichter hängen über der Bar. Seit seine geliebten Dodgers noch in Brooklyn waren, hat Sutton keine Weihnachtslichter mehr gesehen. Nur die augenversengenden Neonlichter im Gefängnis und die nackte Sechzig-Watt- Birne in seiner Zelle.
Sieh mal, Donald. Lichter. Man weiß, dass man in der Hölle war, wenn einem eine Kette mit winzigen Glühbirnen über einer miesen Bar schöner vorkommt als der Luna Park.
Donald deutet mit dem Kopf in Richtung Barfrau, ein junges blondes Ding in enger Paisleybluse und Minirock. Wo wir gerade von schön sprechen, sagt Donald.
Sutton starrt die Barfrau an. Als ich verschwunden bin, hatten sie noch keine Miniröcke, sagt er leise, respektvoll.
Du kommst in eine andere Welt zurück, Willie.
Donald bestellt ein Schlitz. Sutton einen Jameson. Der erste Schluck ist ein Segen. Der zweite ein rechter Haken. Sutton stürzt den Rest in einem brennenden Schluck hinunter, schlägt mit der Hand auf den Tresen und verlangt noch einen.
Auf dem Fernseher über der Bar laufen Nachrichten.
Unsere wichtigste Meldung heute Abend. Willie the Actor Sutton, der am schwersten zu fassende Bankräuber in der amerikanischen Geschichte, wurde aus der Attica Correctional Facility entlassen. In einer überraschenden Entscheidung von Gouverneur Nelson Rockefeller ...
Sutton starrt auf die Maserung der Thekenfläche und denkt: Nelson Rockefeller, Sohn von John D. Rockefeller jr., Enkel von John D. Rockefeller sr., enger Freund von - Noch nicht, mahnt er sich. Noch nicht.
Er greift in seine Brusttasche, berührt den Umschlag.
Jetzt erscheint Suttons Gesicht auf dem Bildschirm. Sein früheres Gesicht. Ein altes Polizeifoto. Keiner an der Bar erkennt ihn. Sutton lächelt Donald verschlagen an und zwinkert. Sie kennen mich nicht, Donald. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal in einem Raum voller Menschen war und keiner mich erkennt. Schönes Gefühl.
Donald bestellt noch eine Runde. Dann noch eine.
Ich hoffe, du hast Geld, sagt Sutton. Ich hab nur zwei Schecks von Gouverneur Rockefeller.
Die wahrscheinlich platzen, sagt Donald schleppend.
Sag mal, Donald. Soll ich dir einen Trick zeigen?
Immer.
Sutton hinkt an der Theke entlang. Und wieder zurück. Tada!
Donald blinzelt. Ich glaube, den kapier ich nicht.
Ich bin von hier nach da gelaufen, ohne dass mich ein Wärter schikaniert. Ohne dass mir ein Knacki blöd kommt. Drei Meter - ein halber Meter mehr als die Länge meiner verdammten Zelle. Und ich musste zu keinem Sir sagen, weder vorher noch nachher. Hast du schon mal so was Unglaubliches gesehen?
Donald lacht.
Ah, Donald - endlich frei sein. Richtig frei. Man kann dieses Gefühl keinem beschreiben, der nicht im Knast war.
Jeder sollte mal eine Weile absitzen, sagt Donald und unterdrückt einen Rülpser, damit er weiß, wie das ist.
Es wird Zeit. Willie schaut auf die Uhr über der Bar. Scheiße, Donald, wir müssen los.
Donald fährt über vereiste Nebenstraßen. Zweimal schlittern sie auf den Randstreifen. Beim dritten Mal landen sie fast in einer Schneewehe.
Kannst du überhaupt fahren, Donald?
Scheiße nein, Willie, wie kommst du denn darauf?
Sutton hält sich am Armaturenbrett fest. Er starrt auf die Lichter von Buffalo in der Ferne und erinnert sich, dass früher Schnellboote aus Kanada Alkohol hier runterbrachten.
In den 1920er Jahren, sagt Sutton, wurde die ganze Gegend hier von polnischen Gangs beherrscht.
Donald schnaubt verächtlich. Polnische Gangster! Was haben die schon gemacht? Leute überfallen und ihnen dann ihre Brieftaschen übergeben.
Für diese Bemerkung hätten sie dir die Zunge rausgeschnitten. Die Polen haben uns Iren wie Chorknaben aussehen lassen. Und die polnischen Cops waren die grausamsten von allen.
Schrecklich, sagt Donald mit triefendem Sarkasmus.
Wusstest du, dass Präsident Grover Cleveland hier oben Scharfrichter war?
Tatsächlich?
Es war Clevelands Job, dem Gefangenen die Schlinge um den Hals zu legen und ihn durch die Galgentür fallen zu lassen.
Job ist Job, sagt Donald.
Sie haben ihn den Henker von Buffalo genannt. Und dann ist sein Gesicht auf dem Tausend-Dollar-Schein gelandet.
Ich merke, du liest immer noch deine amerikanische Geschichte, Willie.
Sie erreichen einen Privatflugplatz. Ein junger Mann mit quadratischem Kopf und tiefem Grübchen im kantigen Kinn empfängt sie. Vermutlich der Schreiber. Er gibt Sutton die Hand und sagt seinen Namen, aber Sutton ist noch betrunkener als Donald und bekommt ihn nicht mit.
Freut mich, Kleiner.
Ganz meinerseits, Mr Sutton.
Schreiber hat dichtes braunes Haar, tiefschwarze Augen und ein strahlendes Pepsodentlächeln. Auf jeder glatten Wange prangt ein roter Fleck wie ein glühendes Stück Kohle, vielleicht von der Kälte, wahrscheinlicher aber von der guten Gesundheit. Noch beneidenswerter ist seine Nase. Dünn und gerade wie eine Klinge.
Es ist ein sehr kurzer Flug, erklärt er Sutton. Sind Sie bereit?
Sutton betrachtet die tiefhängenden Wolken, das Flugzeug. Er betrachtet Schreiber. Dann Donald.
Mr Sutton?
Tja, Kleiner. Die Sache ist die. Ich bin ehrlich gesagt noch nie geflogen.
Oh. Oh. Na ja. Es ist absolut sicher. Aber wenn Sie lieber bis morgen warten möchten.
Nein. Je früher ich nach New York komme, desto besser. Mach's gut, Donald.
Frohe Weihnachten, Willie.
Das Flugzeug hat vier Sitze. Zwei vorne, zwei hinten. Schreiber schnallt Sutton auf einem Rücksitz an und setzt sich anschließend vorne zum Piloten. Ein paar Schneeflocken fallen, als sie die Startbahn entlangrollen. Dann bleiben sie abrupt stehen, und der Pilot redet in das Bordfunkgerät, das Bordfunkgerät antwortet unter Knistern mit Zahlen und Codes, und plötzlich erinnert sich Sutton daran, wie er zum ersten Mal in einem Auto fuhr. Einem gestohlenen Auto. Das heißt, gekauft mit gestohlenem Geld. Gestohlen von Sutton. Er war fast achtzehn, und dieses neue Auto auf der Straße zu steuern war wie Fliegen. Und jetzt, fünfzig Jahre später, fliegt er gleich durch die Luft. Er spürt einen schmerzhaften Druck unterhalb des Herzens. Fliegen ist nicht sicher. Jeden Tag liest er in der Zeitung, dass wieder eine Maschine an einem Berggipfel zerschellt, auf einem Feld oder in einem See zu Bruch gegangen ist. Mit der Schwerkraft ist nicht zu scherzen. Die Schwerkraft ist eines der wenigen Gesetze, die Sutton nie gebrochen hat. Im Augenblick säße er lieber in Donalds GTO und würde über vereiste Nebenstraßen schlingern. Vielleicht kann er Donald dafür bezahlen, dass er ihn nach New York fährt. Oder vielleicht nimmt er den Bus. Oder er geht, verdammt, zu Fuß. Aber zuerst muss er aus diesem Flugzeug raus. Er fummelt an seinem Gurt.
Doch der Motor heult bereits auf, das Flugzeug bäumt sich auf wie ein Pferd und jagt kreischend die Startbahn entlang. Sutton denkt an die Astronauten. Er denkt an Lindbergh. Er denkt an den Glatzkopf in der roten langen Unterhose, der immer aus einer Kanone auf Coney Island abgeschossen wurde. Er schließt die Augen, sagt ein Gebet und umklammert die Einkaufstüte mit seinen Habseligkeiten. Als er die Augen wieder öffnet, steht der Vollmond direkt vor seinem Fenster und schaut ihn an wie Jackie Gleason.
Vierzig Minuten später erscheinen die ersten Lichter von Manhattan. Dann die grün-golden schimmernde Freiheitsstatue draußen im Hafen. Sutton presst sein Gesicht ans Fenster. Die einarmige Göttin. Sie winkt und lockt ihn zu sich. Ruft ihn nach Hause.
Das Flugzeug neigt sich seitwärts und segelt in Richtung LaGuardia. Die Landung ist sanft. Während sie langsam die Piste entlangrollen, dreht Schreiber sich zu Sutton um. Alles in Ordnung, Mr Sutton?
Meinetwegen können wir gleich noch mal, Kleiner.
Schreiber lächelt.
Seite an Seite gehen sie über die nasse, neblige Rollbahn zu einem wartenden Auto. Sutton denkt an Bogart und Claude Rains. Man hat ihm gesagt, er sehe ein bisschen wie Bogart aus.
Schreiber redet auf ihn ein. Mr Sutton? Haben Sie gehört? Ich nehme an, Ihre Anwältin hat Ihnen alles wegen morgen erklärt.
Ja, Kleiner.
Schreiber wirft einen Blick auf die Uhr. Eigentlich sollte ich sagen, wegen heute. Es ist ein Uhr morgens.
Ach wirklich, sagt Sutton. Für ihn hat Zeit jede Bedeutung verloren. Nicht, dass sie jemals eine hatte.
Sie wissen ja, Ihre Anwältin hat zugestimmt, dass Sie uns die Exklusivrechte an Ihrer Geschichte geben. Und wir hoffen natürlich, dass wir Ihre alten Reviere besuchen, die Schauplätze Ihrer, hm. Verbrechen.
Wo bleiben wir heute Nacht?
Im Plaza.
Aufwachen in Attica, einschlafen im Plaza. Das ist Amerika.
Aber, Mr Sutton, nach dem Einchecken muss ich Sie wirklich bitten, alles, was Sie wollen, über den Zimmerservice zu bestellen und keinesfalls das Hotel zu verlassen.
Sutton mustert Schreiber. Der Kleine ist noch keine fünfundzwanzig, schätzt Sutton, aber angezogen wie ein alter Knacker. Trenchcoat mit Pelzkragen, dunkelbrauner Anzug, Kaschmirschal, Schnürstiefel mit Querkappe. Er ist angezogen, denkt Sutton, wie ein verfluchter Banker.
Meine Ressortleiter möchten, dass wir Sie den ersten Tag nur für uns haben, Mr Sutton. Das heißt, niemand sonst darf Sie zitieren oder fotografieren. Niemand darf erfahren, wo Sie sind.
Mit anderen Worten, Kleiner, ich bin dein Gefangener.
Schreiber lacht nervös. Nein, so würde ich das nicht sagen.
Aber ich stehe unter deiner Obhut.
Nur für einen Tag, Mr Sutton.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Sie sehen sich in seiner mit Büchern gefüllten Zelle um. Er folgt ihrem Blick. Es ist nie gut, wenn die Wärter sich in deiner Zelle umsehen. Wenn sie wollen, finden sie immer was. Sie schauen erbost auf die Bücher am Boden, die Bücher auf dem Metallschrank, die Bücher am Kaltwasserbecken. Suttons Zelle ist die einzige in Attica, in der Ausgaben von Dante, Platon, Shakespeare und Freud stehen. Nein, seinen Freud haben sie konfisziert. Häftlinge dürfen keine Psychologiebücher besitzen. Der Direktor glaubt, sie könnten sich gegenseitig hypnotisieren.
Rechter Wärter grinst. Er stupst seinen Kollegen an - zieh dir das rein. Sein Roman! Wovon handelt er denn?
Ach, Sie wissen schon. Vom Leben, Sir.
Was zum Teufel weiß ein alter Knacki wie du schon vom Leben?
Sutton zuckt die Schultern. Sie haben recht, Sir. Aber was weiß überhaupt irgendjemand davon?
Es spricht sich schnell herum. Gegen Mittag sind bereits zehn, zwölf Zeitungsreporter da und stehen dichtgedrängt am Hauptportal, stampfen mit den Füßen, pusten sich auf die Finger. Einer sagt, er habe eben gehört, es gebe Schnee. Und nicht zu knapp. Mindestens zwanzig Zentimeter.
Sie stöhnen alle.
Es ist zu kalt zum Schneien, sagt der Veteran in der Gruppe, ein alter Haudegen einer Presseagentur in Hosenträgern und schwarzen orthopädischen Schuhen, der seit dem Scopes-Prozess bei UPI arbeitet. Er fluppt einen Spuckebatzen auf den gefrorenen Boden und blickt missmutig zu den Wolken, dann zum Hauptwachturm, der einige an das neue Dornröschenschloss in Disneyland erinnert.
Es ist zu kalt, um hier draußen zu stehen, sagt der Reporter der New York Post. Er nuschelt etwas Abfälliges über den Gefängnisdirektor, der den Pressevertretern dreimal den Zutritt zum Gefängnis verwehrt hat. Die Reporter könnten jetzt heißen Kaffee trinken. Sie könnten die Telefone benutzen, letzte Pläne für Weihnachten schmieden. Stattdessen will der Gefängnisdirektor irgendetwas beweisen. Warum, fragen sie alle, warum?
Weil der Gefängnisdirektor ein Arschloch ist, sagt der Reporter von Time, darum.
Der Reporter von Look hält Daumen und Zeigefinger knapp auseinander. Gib einem Bürokraten so viel Macht, sagt er, und dann Vorsicht. Zieh dich warm an.
Nicht nur Bürokraten sind so gestrickt, sagt der Reporter der New York Times. Alle Chefs werden irgendwann Faschisten. Das ist die menschliche Natur.
Die Reporter tauschen Horrorgeschichten über ihre Chefs und Ressortleiter aus, elende Schwachköpfe, die ihnen diesen gottverdammten Auftrag eingebrockt haben. Unter Journalisten gibt es einen neuen Ausdruck, der erst in diesem Jahr aus dem Krieg in Asien übernommen wurde und oft für solche Einsätze verwendet wird, Einsätze, bei denen man im Pulk wartet, gewöhnlich im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt, im vollen Bewusstsein, dass man nichts Nennenswertes erfährt und schon gar nichts, was der Rest nicht auch erfahren würde. Der Ausdruck heißt Clusterfuck. Jeder Reporter gerät hin und wieder in einen Clusterfuck, das gehört zum Job, aber ein Clusterfuck an Heiligabend? Vor der Attica Correctional Facility? Das ist uncool, sagt der Reporter von der Village Voice. Sehr uncool.
Besonders sauer sind die Reporter auf den Oberboss, Gouverneur Nelson Rockefeller. Der mit seiner Buddy-Holly-Brille und der chronischen Unentschiedenheit. Gouverneur Hamlet, sagt der Reporter von UPI und grinst in Richtung Mauer. Bringt er es oder nicht?
Er brüllt in Richtung Dornröschenschloss: Mach zu oder komm runter vom Pott, Nelson! Stuhlgang oder Abgang!
Die Reporter nicken, grummeln, nicken. Sie werden unruhig, genau wie die Häftlinge auf der anderen Seite der neun Meter hohen Mauer. Die Häftlinge wollen raus, die Reporter wollen rein, und Schuld geben beide Gruppen der Polizei. Frierend, müde, wütend und von der Gesellschaft geächtet, stehen beide Gruppen kurz vor dem Aufruhr. Und beide sehen nicht den schönen Mond, der langsam über dem Gefängnis aufgeht.
Ein Vollmond.
Die Wärter führen Sutton von seiner Zelle in Block D durch eine Gittertür in einen Tunnel und zur Kommandozentrale - von den Häftlingen Times Square genannt -, die zu allen Zellenblocks und Büros führt. Vom Times Square wird Sutton zum Büro des stellvertretenden Gefängnisdirektors gebracht. Es ist das zweite Mal, dass er in diesem Monat zum Vize gerufen wird. Letzte Woche teilte man ihm mit, dass sein Begnadigungsgesuch abgelehnt worden sei - ein böser Schlag. Sutton und seine Anwälte waren sich ihrer Sache so sicher gewesen. Sie hatten die Fürsprache prominenter Richter gewonnen, hatten Schwachstellen in den Schuldsprüchen entdeckt und Briefe von Ärzten gesammelt, die attestierten, dass Sutton todkrank war. Doch die dreiköpfige Begnadigungskommission sagte nein.
Der Vize sitzt an seinem Schreibtisch und schenkt sich die Mühe aufzublicken. Hallo, Willie.
Hallo, Sir.
Sieht so aus, als hätten wir Startfreigabe.
Sir?
Der Vize deutet mit wedelnder Hand über die verstreuten Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Das sind deine Papiere. Du wirst entlassen.
Sutton blinzelt und massiert sein Bein. Entlassen? Von wem, Sir?
Der Vize blickt auf und seufzt. Vom Leiter der Gefängnisbehörde. Oder von Rockefeller. Oder von beiden. Albany hat noch nicht entschieden, wie sie die Sache verkaufen wollen. Als Ex-Banker weiß der Gouverneur nicht so recht, ob er seinen Namen druntersetzen soll. Aber der Leiter der Gefängnisbehörde will sich nicht über den Begnadigungsausschuss hinwegsetzen. So oder so, sie lassen dich laufen.
Laufen? Warum?
Woher soll ich das wissen. Ist mir scheißegal.
Und wann, Sir?
Heute Abend. Wenn das Telefon aufhört zu klingeln und die Reporter mir nicht mehr im Nacken hängen, dass sie mein Gefängnis als privates Fernsehzimmer benutzen wollen. Wenn die verfluchten Formulare ausgefüllt sind.
Sutton mustert den Vize. Dann die Wärter. Soll das ein Scherz sein? Nein, sie wirken ganz ernst.
Der Vize wendet sich wieder seinen Papieren zu. Viel Glück, Willie.
Die Wärter führen Sutton zum Anstaltsschneider. Jeder Mann, der aus einem Gefängnis im Staat New York entlassen wird, bekommt einen Entlassungsanzug, eine mindestens hundert Jahre zurückreichende Tradition. Das letzte Mal hatte man Suttons Maße für einen Entlassungsanzug genommen, als Calvin Coolidge Präsident war.
Sutton steht vor dem dreiteiligen Spiegel des Schneiders. Ein Schock. In den letzten Jahren stand er nicht oft vor Spiegeln, und er kann nicht glauben, was er sieht. Da ist sein rundes Gesicht, das glatte graue Haar, die verhasste Nase - zu groß, zu breit, mit unterschiedlich großen Nasenlöchern -, und da ist die große rote Verdickung auf seinem Augenlid, die in jedem Polizeibericht und FBI- Flugblatt kurz nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt wurde. Aber das ist nicht er - unmöglich. Sutton hatte sich immer viel auf eine gewisse Verwegenheit in seinem Äußeren eingebildet, auch in Handschellen. Und selbst in Gefängniskluft war es ihm stets gelungen, elegant und weltgewandt zu erscheinen. Jetzt dagegen, mit achtundsechzig Jahren, sieht er in dem dreiteiligen Spiegel nichts mehr von Verwegenheit, Eleganz und Weltgewandtheit. Er ist ein Strichmännchen mit Tränensäcken. Er sieht aus wie Felix der Kater. Selbst der bleistiftdünne Schnurrbart, auf den er früher so stolz war, ähnelt den Schnurrhaaren des Cartoonkaters.
Der Schneider, mit einem grünen Maßband um den Hals, tritt zu Sutton. Er ist ein alter Italiener aus der Bronx mit zwei fingerhutgroßen Schneidezähnen. Beim Reden klimpert er mit einer Handvoll Knöpfen und Münzen in seiner Tasche.
Sie lassen dich also raus, Willie.
Sieht so aus.
Wie lange warst du hier?
Siebzehn Jahre.
Und wann hattest du das letzte Mal einen neuen Anzug?
Oh. Vor zwanzig Jahren. Wenn ich früher gut bei Kasse war, trug ich nur maßgeschneiderte Anzüge. Und Seidenhemden. Von D'Andrea Brothers.
Er erinnert sich noch an die Adresse: Fifth Avenue 587. Und an die Telefonnummer. Murray Hill 5-5332.
Ja, sagt Schneider, D'Andrea, die waren wirklich gut. Ich hab noch einen Smoking von D'Andrea. Steig mal auf das Podest.
Sutton gehorcht ächzend. Ein Anzug, sagt er. Mein Gott, und ich dachte, das nächste Mal nehmen sie für mein Leichenhemd Maß.
Ich mach keine Leichenhemden, sagt Schneider. Da sieht ja keiner meine Arbeit.
Sutton schaut stirnrunzelnd auf die drei gespiegelten Schneider. Reicht es nicht, wenn man gute Arbeit leistet? Muss man sie unbedingt sehen?
Schneider legt sein Maßband quer über Suttons Schultern, dann längs über den Arm. Zeig mir einen Künstler, sagt er, der nicht gelobt werden will.
Sutton nickt. So ging's mir früher auch mit meinen Banküberfällen.
Schneider betrachtet das Triptychon der gespiegelten Suttons und zwinkert dem mittleren zu. Dann legt er das Maßband über Suttons schlimmes Bein. Innenbeinlänge sechsundsiebzig, verkündet er. Jacke achtundvierzig.
Als ich hier ankam, hatte ich Größe fünfzig. Ich sollte sie verklagen.
Schneider lacht leise und hustet. Welche Farbe möchtest du, Willie?
Alles außer Grau.
Dann Schwarz. Ich bin froh, dass sie dich rauslassen, Willie. Du hast deine Schuld gezahlt.
Vergib uns unsere Schuld, sagt Willie, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Schneider bekreuzigt sich.
Ist das aus deinem Roman?, fragt Rechter Wärter.
Sutton und Schneider sehen sich an.
Schneider richtet eine Fingerpistole auf Sutton. Frohe Weihnachten, Willie.
Gleichfalls, Kumpel.
Sutton richtet eine Fingerpistole auf Schneider und spannt den Hahn. Peng.
Die Reporter unterhalten sich über Sex, Geld und aktuelle Ereignisse. Altamont, das irre Konzert, wo vier Hippies im Drogenrausch starben - wer ist schuld? Mick Jagger? Die Hells Angels? Dann plaudern sie über ihre erfolgreicheren Kollegen, angefangen bei Norman Mailer. Mailer kandidiert nicht nur als Bürgermeister von New York, er hat außerdem gerade eine Million Dollar Vorschuss für ein Buch über die Mondlandung gekriegt. Mailer - der Typ macht Geschichte zu Fiktion und Fiktion zu Geschichte, und dann bringt er sich noch überall selbst mit ein. Er spielt nach seinen eigenen Regeln, während seine regelgebundenen Kollegen nach Attica geschickt werden und sich die Eier abfrieren. Scheiß Mailer, da sind sich alle einig.
Und scheiß Mond.
Sie pusten sich auf die Finger, ziehen die Krägen hoch und schließen Wetten ab, ob der Gefängnisdirektor wohl jemals öffentlich als Transvestit entlarvt wird. Außerdem wetten sie darauf, was zuerst passiert - ob Sutton entlassen wird oder ob Sutton abkratzt. Der Reporter von der New York Post sagt, Sutton stehe nicht nur an der Schwelle des Todes, er läute auch schon die Glocke und streife sich die Füße auf der Matte ab. Der Reporter von Newsday sagt, die Arterie in Suttons Bein sei irreversibel verstopft, das wisse er von einem Arzt, der mit seinem Schwager Racquetball spielt. Der Reporter von Look sagt, er habe von einem befreundeten Cop in der Bronx gehört, dass Sutton immer noch überall in der Stadt Knete versteckt hält. Die Gefängnisbehörde lässt Sutton frei, und die Cops folgen ihm dann zum Geld.
Auch eine Möglichkeit, die Haushaltskrise zu lösen, sagt der Mann von der Times Union in Albany.
Die Reporter erzählen sich, was sie von Sutton wissen, geben Fakten und Geschichten weiter wie kalte Verpflegung, mit der sie die Nacht durchstehen müssen. Was sie nicht gelesen haben oder aus dem Fernsehen kennen, haben sie von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gehört. Sutton ist der erste Bankräuber in der Geschichte, dessen Wirkungskreis mehr als eine Generation umspannt, der erste mit einer Langzeitkarriere, die vier Jahrzehnte umfasst. In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften. Sutton war schlauer als Machine Gun Kelly, vernünftiger als Pretty Boy Floyd, sympathischer als Legs Diamond, friedfertiger als Dutch Schulz, romantischer als Bonnie und Clyde. Er sah Bankraub als hohe Kunst und übte ihn mit der zielstrebigen Leidenschaft eines Künstlers aus. Er glaubte an Analyse, Planung, harte Arbeit. Aber er war auch kreativ, ein Erneuerer, und wie alle großen Künstler erwies er sich als zäher Überlebender. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen, entwischte jahrelang Polizisten und FBI-Agenten. Er war eine Mischung aus Henry Ford und John Dillinger - mit einem Hauch Houdini, Picasso und Rasputin. Die Reporter wissen alles über seine elegante Kleidung, sein schelmisches Lächeln, seine Liebe zu guten Büchern, das übermütige Schimmern in seinen strahlend blauen Augen, so blau, dass sie in einer Pressemitteilung des FBI einmal als azurblau beschrieben wurden. Nur ein besonderer Bankräuber entlockt dem FBI solche lyrischen Worte.
Was die Reporter nicht wissen und was sie wie die meisten Amerikaner immer gern gewusst hätten: War der für seine Gewaltlosigkeit berühmte Sutton an dem brutalen Unterweltmord an Arnold Schuster beteiligt? Schuster, ein jung aussehender Vierundzwanzigjähriger aus Brooklyn, Baseball-Fan und Veteran der Küstenwache, stieg eines Nachmittags in die falsche U-Bahn und sah sich Sutton gegenüber, dem damals meistgesuchten Mann Amerikas. Drei Wochen später war Schuster tot, und der Mord an ihm ist vielleicht der peinsamste ungeklärte Fall in der New Yorker Kriminalgeschichte. Zumindest ist er der peinsamste Teil der Legende um Sutton.
Die Wärter führen Sutton zurück zur Verwaltung. Ein Beamter stellt ihm zwei Schecks aus. Einen über 146 Dollar, der Lohn für siebzehn Jahre in unterschiedlichen Gefängnisjobs, abzüglich Steuern. Und einen über 40 Dollar, die Kosten für eine Busfahrkarte nach Manhattan. Jeder Haftentlassene bekommt Busgeld nach Manhattan. Sutton nimmt die Schecks - es ist also wirklich so weit. Sein Herz fängt an zu pochen. Sein Bein ebenfalls. Sie pochen sich wechselseitig an wie männliche und weibliche Hauptdarsteller in einer italienischen Oper.
Die Wärter führen ihn zurück in seine Zelle. Du hast fünfzehn Minuten, sagen sie und reichen ihm eine Einkaufstüte.
Er steht in der Mitte seiner Zelle, seinem 2,50 × 1,80 Meter großen Zuhause in den vergangenen siebzehn Jahren. Ist es möglich, dass er heute Nacht nicht hier schläft? Dass er in einem weichen Bett mit sauberen Laken und einem richtigen Kissen schläft, ohne gequälte Seelen über und unter ihm, die vor Ohnmacht, Wut und Raserei heulen, fluchen und flehen? Geräusche von Männern hinter Gittern sind mit nichts vergleichbar. Er stellt die Einkaufstüte auf den Schreibtisch und packt vorsichtig sein Romanmanuskript ein. Dann die Spiralblocks aus seinen Kursen in kreativem Schreiben. Dann die Ausgaben von Dante, Shakespeare, Platon. Dann Kerouac. Im Gefängnis schwört man sich ein Recht auf Leben. Ein Satz, der Sutton durch viele lange Nächte gerettet hat. Dann das Zitatelexikon mit dem berühmtesten Satz des berühmtesten Bankräubers Amerikas: Willie Sutton alias Slick Willie alias Willie the Actor.
Mit liebevoller Sorgfalt packt er den Ezra Pound ein. Nun kommst du aus einem Menschengewühl. Und den Tennyson. Komm zu mir in den Garten, Maud. Ich steh hier am Tor allein. Ihm steigen Tränen in die Augen. Wie immer. Schließlich packt er den gelben Notizblock ein, in den er geschrieben hatte, als die Wärter ihn holten. Und zwar nicht seinen Roman, den er vor kurzem beendet hat, sondern einen Abschiedsbrief, mit dessen Abfassen er eine Stunde nach der Ablehnung der Begnadigungskommission begonnen hatte. So geht es oft, denkt er. Der Tod steht vor deiner Tür, zieht sich die Hose hoch, zeigt mit dem Stock auf dich - und überreicht dir die Begnadigung.
Nachdem Sutton seine Zelle leergeräumt hat, lässt ihn der Vize ein paar Anrufe tätigen. Als Erstes wählt er die Nummer seiner Anwältin, Katherine. Sie ist außer sich vor Freude.
Wir haben es geschafft, Willie. Wir haben es endlich geschafft!
Und wie haben wir es geschafft, Katherine?
Sie waren es leid, gegen uns zu kämpfen. Es ist Weihnachten, Willie, und sie waren es einfach leid. Es war leichter aufzugeben.
Ich weiß, was in ihnen vorging, Katherine.
Und die Zeitungen haben mit Sicherheit auch ihren Teil dazu beigetragen, Willie. Sie waren auf deiner Seite.
Aus diesem Grund hat Katherine mit einer der größten Zeitungen eine Vereinbarung getroffen. Sie sagt auch, welche, aber Suttons Gedanken überschlagen sich, er kriegt den Namen nicht mit. Die Zeitung wird Sutton an Bord ihres Privatflugzeugs nach Manhattan bringen, ihn in ein Hotel einquartieren, und als Gegenleistung gibt er ihnen exklusiv seine Geschichte.
Leider bedeutet das, fügt Katherine hinzu, dass du den ersten Weihnachtstag mit einem Reporter verbringst und nicht mit der Familie. Ist das in Ordnung?
Sutton denkt an seine Familie. Er hat seit Jahren nicht mit ihnen gesprochen. Er denkt an Reporter - mit denen er noch nie gesprochen hat. Er mag keine Reporter. Trotzdem ist jetzt nicht die Zeit, um Ärger zu machen.
Das geht in Ordnung, Katherine.
Kennst du denn jemanden, der dich am Gefängnis abholen und zum Flughafen fahren kann?
Ich finde schon jemand.
Er legt auf, ruft Donald an, der beim zehnten Klingeln rangeht.
Donald? Ich bin's, Willie.
Wer ist da?
Willie. Was machst du gerade?
Oh. Hey. Ich trinke ein Bier und wollte mir gleich The Flying Nun ansehen.
Hör mal. Wie es aussieht, lassen sie mich heute Abend raus.
Sie lassen dich raus, oder du lässt dich selber raus?
Es ist sauber, Donald. Sie machen die Tür auf.
Ist die Hölle zugefroren?
Keine Ahnung. Aber der Teufel trägt definitiv einen Pullover. Kannst du mich am Eingang abholen?
Bei dem Dornröschending?
Ja.
Natürlich.
Sutton fragt Donald, ob er ihm ein paar Sachen mitbringen kann.
Was du willst, erwidert Donald. Schieß los.
Ein TV-Übertragungswagen aus Buffalo donnert zum Eingang. Ein Reporter springt heraus, fummelt an seinem Mikrophon. Er trägt einen Zweihundert-Dollar-Anzug, einen Kamelhaarmantel, graue Lederhandschuhe, silberne Manschettenknöpfe. Die Printreporter stoßen einander an. Manschettenknöpfe - hast du Töne?
Der Fernsehreporter schlendert zu seinen Kollegen von der Presse und wünscht allen frohe Weihnachten. Gleichfalls, murmeln sie. Dann herrscht Schweigen.
Stille Nacht, sagt der Fernsehreporter.
Niemand lacht.
Der Mitarbeiter von Newsweek fragt den Fernsehreporter, ob er heute Morgen Pete Hamill in der Post gelesen hat. Hamills als Brief an den Gouverneur gerichtete eloquente Verteidigung Suttons und sein Gesuch um Suttons Entlassung könnten der Grund dafür sein, dass sie alle hier versammelt sind. Hamill appellierte an Rockefellers Gerechtigkeitssinn. Wäre Willie Sutton ein Vorstandsmitglied von General Electric oder ein ehemaliger Wasserkommissar und nicht der Sohn eines irischen Schmieds, dann wäre er schon ein freier Mann.
Der Fernsehreporter erstarrt. Ihm ist klar, dass die Presseheinis glauben, er lese nicht - könne nicht lesen. Klar, sagt er, ich fand, Hamill hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Vor allem seine Äußerung über die Banken. Nicht wenige unter uns haben beim derzeitigen Hypothekenzinssatz den Eindruck, dass die Banken es sind, die uns ausrauben. Und bei der Bemerkung über Suttons Wiedervereinigung mit einer verlorenen Liebe hat es mir die Kehle zugeschnürt. Willie Sutton sollte noch einmal im Prospect Park sitzen und die Enten beobachten dürfen oder sich bei Nathan's einen Hotdog holen und eine alte Flamme auf einen Drink einladen.
Eine Diskussion entspinnt sich. Verdient Sutton es wirklich, frei zu sein? Er ist ein Gangster, sagt der Newsday-Reporter - warum die ganze Lobhudelei?
Weil er, sagt der Post-Reporter, in Teilen von Brooklyn ein Gott ist. Schau dir mal die Leute hier an.
Mittlerweile sind mehr als zwei Dutzend Reporter und zwei weitere Dutzend Zivilisten versammelt - Verbrecherfans, Polizeifunkabhörer, Neugierige. Schräge Vögel. Ghule.
Doch der Newsday-Reporter sagt wieder: Ich frage euch, warum?
Weil Sutton Banken ausgeraubt hat, sagt der Fernsehreporter, und wer zum Teufel hat was Gutes über Banken zu sagen? Sie sollten ihn nicht nur rauslassen, sie sollten ihn zum Ehrenbürger erklären.
Ich begreife nicht, sagt der Look-Reporter, warum Rockefeller, ein ehemaliger Banker, einen Bankräuber laufen lässt.
Rockefeller braucht die irischen Wählerstimmen, sagt der Reporter der Times Union. Ohne irische Wählerstimmen wirst du in New York nicht wiedergewählt, und Sutton ist wie Jimmy Walker und Michael Collins und ein paar Kennedys zusammen in einem großen irischen Eintopf.
Er ist ein verdammter Gauner, sagt der Newsday-Reporter, der möglicherweise betrunken ist.
Der Fernsehreporter schnaubt verächtlich. Unter dem Arm trägt er das Life-Magazin der vergangenen Woche, mit Charles Manson auf dem Titelbild. Er hält das Magazin hoch: Manson starrt ihnen böse entgegen, niemandem, allen.
Verglichen mit diesem Typen, sagt der Fernsehreporter, und den Hells Angels und den Soldaten, die all die Unschuldigen in My Lai abgeschlachtet haben, ist Willie Sutton eine Schmusekatze.
Klar, sagt der Newsday-Reporter, ein echter Pazifist. Der Gandhi der Gangster.
Die vielen Banken, sagt der Fernsehreporter, die vielen Gefängnisse, und der Junge hat nie einen Schuss abgefeuert. Hat nie einer Fliege was zuleide getan.
Der Fernsehreporter geht dem Newsday-Reporter langsam auf die Nerven. Und was ist mit Arnold Schuster?, fragt er.
Ach, sagt der Fernsehreporter, mit Schuster hat Sutton nichts zu tun.
Sagt wer?
Ich.
Und wer verdammt bist du?
Ich sag dir, wer ich nicht bin - ich bin kein ausgebrannter Schmierfink. Der Times-Reporter stellt sich zwischen die beiden. Ihr werdet euch doch wohl nicht darum prügeln, ob jemand gewaltlos ist oder nicht - an Weihnachten.
Warum nicht?
Weil ich dann drüber schreiben muss.
Die Unterhaltung schwenkt wieder zum Gefängnisdirektor. Ist dem Mann denn nicht klar, dass es jetzt fast minus 18 Grad hat? Oh, und ob ihm das klar ist. Der liebt das. Der ist auf dem Machttrip. Heutzutage sind alle auf dem Machttrip. Mailer, Nixon, Man- son, der Zodiac-Killer, die Cops - wir haben 1969, Mann, das Jahr des Machttrips. Wahrscheinlich beobachtet er sie gerade jetzt auf seiner Videoüberwachungsanlage, süffelt einen Brandy und lacht sich schlapp. Es reicht schon, dass sie in diesem gewaltigen Clusterfuck sitzen, aber müssen sie auch noch die Gelackmeierten eines kryptofaschistischen Machoidioten sein?
Ihr dürft gern in meinen Wagen, sagt der Fernsehreporter. Da ist es warm, und ihr könnt fernsehen. Gerade läuft Flying Nun.
Allgemeines Stöhnen.
Sutton liegt auf seiner Pritsche und wartet. Um sieben erscheint
Rechter Wärter an der Tür.
Tut mir leid, Sutton. Wird doch nichts.
Sir?
Linker Wärter erscheint hinter seinem Kollegen. Eben ist die neue Anweisung vom Vize gekommen, er sagt nein - Fehlanzeige.
Fehlanzeige? Warum?
Warum was?
Warum, Sir?
Rechter Wärter zuckt die Schultern. Irgendein Streit zwischen Rockefeller und der Begnadigungskommission. Sie können sich nicht einigen, wer die Verantwortung übernimmt oder wie die Pressemitteilung formuliert werden soll.
Dann werde ich nicht ...?
Nein.
Sutton betrachtet die Wände, die Gitter. Seine Handgelenke. Die violetten Adern, aufgeblasen und wurmartig. Er hätte es tun sollen, als er dazu die Gelegenheit hatte.
Rechter Wärter fängt an zu lachen. Linker Wärter ebenfalls. War nur Spaß, Sutton. Auf die Beine.
Sie sperren die Tür auf und führen ihn zum Schneider. Er legt die graue Gefängniskluft ab und zieht ein frisch gestärktes weißes Hemd an, eine neue blaue Krawatte, einen neuen schwarzen Anzug mit zweireihig geknöpfter Jacke. Dann die neuen schwarzen Socken und die neuen schwarzen Budapester. Er dreht sich zum Spiegel. Jetzt ist sie wieder da, die alte Verwegenheit.
Er sieht Schneider an. Wie seh ich aus?
Schneider klimpert mit seinen Münzen und Knöpfen, dann hält er den Daumen hoch.
Sutton wendet sich den Wärtern zu. Nichts.
Rechter Wärter führt Sutton allein durch den Times Square, dann an der Verwaltung vorbei in Richtung Hauptportal. Gott, ist das kalt. Sutton presst die Einkaufstüte mit seinen Habseligkeiten an die Brust und ignoriert den krampfartigen, brennenden Schmerz in seinem Bein. Die Arterie wird durch ein Plastikröhrchen offen gehalten, und er spürt, dass sie bald zusammenklappen wird wie ein Strohhalm.
Du musst operiert werden, hatte der Arzt nach dem Einbringen des Stents vor zwei Jahren gesagt.
Wenn ich mit der Operation warte, verliere ich dann mein Bein, Doc?
Nein, Willie, dann verlierst du nicht dein Bein, dann stirbst du.
Aber Sutton wollte warten. Er wollte nicht, dass ein Gefängnisarzt an ihm herumschnippelt. Einem Gefängnisarzt würde er nicht mal zutrauen, ein Konto zu eröffnen. Und wie es aussieht, war es die richtige Entscheidung. Vielleicht kann er die Operation in einem normalen Krankenhaus durchführen lassen und sie vom Erlös seines Romans bezahlen. Vorausgesetzt, jemand veröffentlicht ihn. Vorausgesetzt, ihm bleibt noch die Zeit dazu. Vorausgesetzt, er steht diese Nacht, diesen Augenblick durch. Und morgen.
Rechter Wärter führt Sutton um einen Metalldetektor, um einen Anmeldetisch und zu einer schwarzen Metalltür. Rechter Wärter sperrt sie auf. Sutton tritt vor. Er dreht sich zu Rechtem Wärter um, der ihn siebzehn Jahre lang herabgesetzt und schikaniert hat. Er hat Suttons Briefe zensiert, seine Bücher beschlagnahmt, seine Gesuche um Seife, Stifte und Toilettenpapier ignoriert - und er hat ihn geschlagen, wenn er das Sir am Ende eines Satzes vergessen hatte. Rechter Wärter macht sich gefasst - dies ist der Augenblick, in dem Gefangene sich gern etwas von der Seele reden. Aber Sutton lächelt, als würde sich etwas in ihm öffnen wie eine Blume. Frohe Weihnachten, Kleiner.
Der Kopf des Wärters schnellt zurück. Er wartet eine Sekunde. Zwei. Ja. Frohe Weihnachten, Willie. Alles Gute für dich.
Es ist kurz vor acht.
Rechter Wärter stößt die Tür auf, und hinaus marschiert Willie Sutton.
Ein Fotograf von Life ruft: Da ist er! Drei Dutzend Reporter strömen zusammen. Die schrägen Vögel und Ghule drängen vor. Fernsehkameras schwenken auf Suttons Gesicht. Lichter, heller als Suchscheinwerfer, blenden seine azurblauen Augen.
Wie fühlt es sich an, frei zu sein, Willie?
Werden Sie jemals wieder eine Bank ausrauben, Willie?
Was haben Sie Arnold Schusters Familie zu sagen?
Sutton zeigt auf den Vollmond und sagt: Schaut mal.
Drei Dutzend Reporter, zwei Dutzend Zivilisten und ein Erzverbrecher blicken in den Nachthimmel. Zum ersten Mal seit siebzehn Jahren sieht Sutton den Mond wieder von Angesicht zu Angesicht - es verschlägt ihm den Atem.
Schaut mal, sagt er wieder. Schaut euch die schöne klare Nacht an, die Gott für Willie gemacht hat.
Und dann sieht Sutton hinter den drängelnden Reportern einen Mann mit kürbisfarbenem Haar und auffälligen rötlich braunen Sommersprossen an einem Auto lehnen, einem roten Pontiac GTO, Baujahr 1967. Sutton winkt, und Donald eilt herbei. Sie geben sich die Hand. Donald schiebt mehrere Reporter beiseite und führt Sutton zu dem GTO. Als Sutton es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hat, knallt Donald die Tür zu und versetzt einem weiteren Reporter einen Stoß, nur so zum Spaß. Er rennt um das Auto herum, springt hinters Steuer, tritt das Gaspedal durch. Und schon sind sie unterwegs und wirbeln eine Welle aus nassem Schlamm, Schnee und Salz auf. Sie spritzt den Reporter von Newsday voll. Sein Gesicht, seine Brust, sein Hemd, seinen Mantel. Er blickt auf seine Kleider hinab, dann hoch zu seinen Kollegen.
Wie gesagt, ein Gauner.
Sutton schweigt. Und Donald lässt ihn schweigen. Donald weiß Bescheid. Donald hat Attica vor neun Monaten verlassen. Sie starren auf die vereiste Straße und den gefrorenen Wald, und Sutton versucht seine Gedanken zu ordnen. Nach ein paar Kilometern fragt er Donald, ob er besorgen konnte, was sie am Telefon besprochen hatten.
Ja, Willie.
Lebt sie noch?
Ich weiß es nicht. Aber ich hab ihre letzte bekannte Adresse rausgefunden.
Donald reicht ihm einen weißen Umschlag. Sutton hält ihn wie einen Kelch. Seine Erinnerung setzt ein. An Brooklyn. An Coney Island. An 1919. Noch nicht, mahnt er sich, noch nicht. Er stellt seinen Verstand ab, etwas, das er im Laufe der Jahre ganz gut gelernt hat. Zu gut, wie ein Gefängnispsychiater einmal sagte.
Er steckt den Umschlag in die Brusttasche seines neuen Anzugs. Zwanzig Jahre ist es her, dass er eine Brusttasche hatte. Es war immer seine liebste Tasche, die Stelle, wo er die wichtigen Sachen aufbewahrte. Verlobungsringe, emaillierte Zigarettenetuis, lederne Brieftaschen von Abercrombie. Revolver.
Donald fragt, wer sie ist und warum Sutton ihre Adresse braucht.
Das sag ich dir lieber nicht.
Zwischen uns gibt es doch keine Geheimnisse, Willie.
Zwischen uns gibt es nur Geheimnisse, Donald.
Ja. Du hast recht, Willie.
Sutton betrachtet Donald und erinnert sich, warum Donald im Knast war. Einen Monat nachdem er seine Arbeit auf einem Fangschiff verloren und zwei Wochen nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, sagte ein Mann in einer Bar zu ihm, er sehe fertig aus. Donald, der sich von dem Mann beleidigt fühlte, schlug fest zu, und der Mann beging den Fehler zurückzuschlagen. Donald, ein ehemaliger College-Ringer, nahm ihn in den Würgegriff und brach ihm das Genick.
Sutton schaltet das Radio ein. Er sucht Nachrichten, findet aber keine und bleibt schließlich bei einem Musiksender hängen. Die Musik ist stimmungsvoll, lebhaft - anders.
Was ist das, Donald?
Die Beatles.
Das sind also die Beatles.
Sie schweigen eine ganze Weile. Sie hören Lennon zu. Der Text erinnert Sutton an Ezra Pound. Er tätschelt die Einkaufstüte auf seinem Schoß.
Donald schaltet den GTO runter und dreht sich zu Willie. Hat der Name in dem Umschlag irgendwas mit du weißt schon wem zu tun?
Sutton sieht Donald an. Wem?
Du weißt schon. Schuster?
Nein. Natürlich nicht. Herrgott, Donald, wieso fragst du das?
Ich weiß nicht. Nur so ein Gefühl.
Nein, Donald. Nein.
Sutton steckt nachdenklich eine Hand in seine Brusttasche. Na ja, sagt er, vielleicht ja doch - wenn man um die Ecke denkt. Alle Wege führen irgendwann zu Schuster, stimmt's, Donald?
Donald nickt. Und fährt. Du siehst gut aus, Willie Boy.
Sie sagen, dass ich sterbe.
Quatsch. Du stirbst nie, verdammt.
Ja. Klar.
Du könntest nicht mal sterben, wenn du wolltest.
Hm. Du weißt gar nicht, wie recht du hast.
Donald zündet zwei Zigaretten an, reicht eine an Sutton weiter. Wie wär's mit einem Drink? Hast du noch Zeit vor deinem Flug?
Was für eine reizvolle Vorstellung. Ein Schluck Jameson, wie mein Daddo immer sagte.
Donald biegt vom Highway ab und parkt vor einer schäbigen Raststätte. Stechpalmenzweige und Weihnachtslichter hängen über der Bar. Seit seine geliebten Dodgers noch in Brooklyn waren, hat Sutton keine Weihnachtslichter mehr gesehen. Nur die augenversengenden Neonlichter im Gefängnis und die nackte Sechzig-Watt- Birne in seiner Zelle.
Sieh mal, Donald. Lichter. Man weiß, dass man in der Hölle war, wenn einem eine Kette mit winzigen Glühbirnen über einer miesen Bar schöner vorkommt als der Luna Park.
Donald deutet mit dem Kopf in Richtung Barfrau, ein junges blondes Ding in enger Paisleybluse und Minirock. Wo wir gerade von schön sprechen, sagt Donald.
Sutton starrt die Barfrau an. Als ich verschwunden bin, hatten sie noch keine Miniröcke, sagt er leise, respektvoll.
Du kommst in eine andere Welt zurück, Willie.
Donald bestellt ein Schlitz. Sutton einen Jameson. Der erste Schluck ist ein Segen. Der zweite ein rechter Haken. Sutton stürzt den Rest in einem brennenden Schluck hinunter, schlägt mit der Hand auf den Tresen und verlangt noch einen.
Auf dem Fernseher über der Bar laufen Nachrichten.
Unsere wichtigste Meldung heute Abend. Willie the Actor Sutton, der am schwersten zu fassende Bankräuber in der amerikanischen Geschichte, wurde aus der Attica Correctional Facility entlassen. In einer überraschenden Entscheidung von Gouverneur Nelson Rockefeller ...
Sutton starrt auf die Maserung der Thekenfläche und denkt: Nelson Rockefeller, Sohn von John D. Rockefeller jr., Enkel von John D. Rockefeller sr., enger Freund von - Noch nicht, mahnt er sich. Noch nicht.
Er greift in seine Brusttasche, berührt den Umschlag.
Jetzt erscheint Suttons Gesicht auf dem Bildschirm. Sein früheres Gesicht. Ein altes Polizeifoto. Keiner an der Bar erkennt ihn. Sutton lächelt Donald verschlagen an und zwinkert. Sie kennen mich nicht, Donald. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal in einem Raum voller Menschen war und keiner mich erkennt. Schönes Gefühl.
Donald bestellt noch eine Runde. Dann noch eine.
Ich hoffe, du hast Geld, sagt Sutton. Ich hab nur zwei Schecks von Gouverneur Rockefeller.
Die wahrscheinlich platzen, sagt Donald schleppend.
Sag mal, Donald. Soll ich dir einen Trick zeigen?
Immer.
Sutton hinkt an der Theke entlang. Und wieder zurück. Tada!
Donald blinzelt. Ich glaube, den kapier ich nicht.
Ich bin von hier nach da gelaufen, ohne dass mich ein Wärter schikaniert. Ohne dass mir ein Knacki blöd kommt. Drei Meter - ein halber Meter mehr als die Länge meiner verdammten Zelle. Und ich musste zu keinem Sir sagen, weder vorher noch nachher. Hast du schon mal so was Unglaubliches gesehen?
Donald lacht.
Ah, Donald - endlich frei sein. Richtig frei. Man kann dieses Gefühl keinem beschreiben, der nicht im Knast war.
Jeder sollte mal eine Weile absitzen, sagt Donald und unterdrückt einen Rülpser, damit er weiß, wie das ist.
Es wird Zeit. Willie schaut auf die Uhr über der Bar. Scheiße, Donald, wir müssen los.
Donald fährt über vereiste Nebenstraßen. Zweimal schlittern sie auf den Randstreifen. Beim dritten Mal landen sie fast in einer Schneewehe.
Kannst du überhaupt fahren, Donald?
Scheiße nein, Willie, wie kommst du denn darauf?
Sutton hält sich am Armaturenbrett fest. Er starrt auf die Lichter von Buffalo in der Ferne und erinnert sich, dass früher Schnellboote aus Kanada Alkohol hier runterbrachten.
In den 1920er Jahren, sagt Sutton, wurde die ganze Gegend hier von polnischen Gangs beherrscht.
Donald schnaubt verächtlich. Polnische Gangster! Was haben die schon gemacht? Leute überfallen und ihnen dann ihre Brieftaschen übergeben.
Für diese Bemerkung hätten sie dir die Zunge rausgeschnitten. Die Polen haben uns Iren wie Chorknaben aussehen lassen. Und die polnischen Cops waren die grausamsten von allen.
Schrecklich, sagt Donald mit triefendem Sarkasmus.
Wusstest du, dass Präsident Grover Cleveland hier oben Scharfrichter war?
Tatsächlich?
Es war Clevelands Job, dem Gefangenen die Schlinge um den Hals zu legen und ihn durch die Galgentür fallen zu lassen.
Job ist Job, sagt Donald.
Sie haben ihn den Henker von Buffalo genannt. Und dann ist sein Gesicht auf dem Tausend-Dollar-Schein gelandet.
Ich merke, du liest immer noch deine amerikanische Geschichte, Willie.
Sie erreichen einen Privatflugplatz. Ein junger Mann mit quadratischem Kopf und tiefem Grübchen im kantigen Kinn empfängt sie. Vermutlich der Schreiber. Er gibt Sutton die Hand und sagt seinen Namen, aber Sutton ist noch betrunkener als Donald und bekommt ihn nicht mit.
Freut mich, Kleiner.
Ganz meinerseits, Mr Sutton.
Schreiber hat dichtes braunes Haar, tiefschwarze Augen und ein strahlendes Pepsodentlächeln. Auf jeder glatten Wange prangt ein roter Fleck wie ein glühendes Stück Kohle, vielleicht von der Kälte, wahrscheinlicher aber von der guten Gesundheit. Noch beneidenswerter ist seine Nase. Dünn und gerade wie eine Klinge.
Es ist ein sehr kurzer Flug, erklärt er Sutton. Sind Sie bereit?
Sutton betrachtet die tiefhängenden Wolken, das Flugzeug. Er betrachtet Schreiber. Dann Donald.
Mr Sutton?
Tja, Kleiner. Die Sache ist die. Ich bin ehrlich gesagt noch nie geflogen.
Oh. Oh. Na ja. Es ist absolut sicher. Aber wenn Sie lieber bis morgen warten möchten.
Nein. Je früher ich nach New York komme, desto besser. Mach's gut, Donald.
Frohe Weihnachten, Willie.
Das Flugzeug hat vier Sitze. Zwei vorne, zwei hinten. Schreiber schnallt Sutton auf einem Rücksitz an und setzt sich anschließend vorne zum Piloten. Ein paar Schneeflocken fallen, als sie die Startbahn entlangrollen. Dann bleiben sie abrupt stehen, und der Pilot redet in das Bordfunkgerät, das Bordfunkgerät antwortet unter Knistern mit Zahlen und Codes, und plötzlich erinnert sich Sutton daran, wie er zum ersten Mal in einem Auto fuhr. Einem gestohlenen Auto. Das heißt, gekauft mit gestohlenem Geld. Gestohlen von Sutton. Er war fast achtzehn, und dieses neue Auto auf der Straße zu steuern war wie Fliegen. Und jetzt, fünfzig Jahre später, fliegt er gleich durch die Luft. Er spürt einen schmerzhaften Druck unterhalb des Herzens. Fliegen ist nicht sicher. Jeden Tag liest er in der Zeitung, dass wieder eine Maschine an einem Berggipfel zerschellt, auf einem Feld oder in einem See zu Bruch gegangen ist. Mit der Schwerkraft ist nicht zu scherzen. Die Schwerkraft ist eines der wenigen Gesetze, die Sutton nie gebrochen hat. Im Augenblick säße er lieber in Donalds GTO und würde über vereiste Nebenstraßen schlingern. Vielleicht kann er Donald dafür bezahlen, dass er ihn nach New York fährt. Oder vielleicht nimmt er den Bus. Oder er geht, verdammt, zu Fuß. Aber zuerst muss er aus diesem Flugzeug raus. Er fummelt an seinem Gurt.
Doch der Motor heult bereits auf, das Flugzeug bäumt sich auf wie ein Pferd und jagt kreischend die Startbahn entlang. Sutton denkt an die Astronauten. Er denkt an Lindbergh. Er denkt an den Glatzkopf in der roten langen Unterhose, der immer aus einer Kanone auf Coney Island abgeschossen wurde. Er schließt die Augen, sagt ein Gebet und umklammert die Einkaufstüte mit seinen Habseligkeiten. Als er die Augen wieder öffnet, steht der Vollmond direkt vor seinem Fenster und schaut ihn an wie Jackie Gleason.
Vierzig Minuten später erscheinen die ersten Lichter von Manhattan. Dann die grün-golden schimmernde Freiheitsstatue draußen im Hafen. Sutton presst sein Gesicht ans Fenster. Die einarmige Göttin. Sie winkt und lockt ihn zu sich. Ruft ihn nach Hause.
Das Flugzeug neigt sich seitwärts und segelt in Richtung LaGuardia. Die Landung ist sanft. Während sie langsam die Piste entlangrollen, dreht Schreiber sich zu Sutton um. Alles in Ordnung, Mr Sutton?
Meinetwegen können wir gleich noch mal, Kleiner.
Schreiber lächelt.
Seite an Seite gehen sie über die nasse, neblige Rollbahn zu einem wartenden Auto. Sutton denkt an Bogart und Claude Rains. Man hat ihm gesagt, er sehe ein bisschen wie Bogart aus.
Schreiber redet auf ihn ein. Mr Sutton? Haben Sie gehört? Ich nehme an, Ihre Anwältin hat Ihnen alles wegen morgen erklärt.
Ja, Kleiner.
Schreiber wirft einen Blick auf die Uhr. Eigentlich sollte ich sagen, wegen heute. Es ist ein Uhr morgens.
Ach wirklich, sagt Sutton. Für ihn hat Zeit jede Bedeutung verloren. Nicht, dass sie jemals eine hatte.
Sie wissen ja, Ihre Anwältin hat zugestimmt, dass Sie uns die Exklusivrechte an Ihrer Geschichte geben. Und wir hoffen natürlich, dass wir Ihre alten Reviere besuchen, die Schauplätze Ihrer, hm. Verbrechen.
Wo bleiben wir heute Nacht?
Im Plaza.
Aufwachen in Attica, einschlafen im Plaza. Das ist Amerika.
Aber, Mr Sutton, nach dem Einchecken muss ich Sie wirklich bitten, alles, was Sie wollen, über den Zimmerservice zu bestellen und keinesfalls das Hotel zu verlassen.
Sutton mustert Schreiber. Der Kleine ist noch keine fünfundzwanzig, schätzt Sutton, aber angezogen wie ein alter Knacker. Trenchcoat mit Pelzkragen, dunkelbrauner Anzug, Kaschmirschal, Schnürstiefel mit Querkappe. Er ist angezogen, denkt Sutton, wie ein verfluchter Banker.
Meine Ressortleiter möchten, dass wir Sie den ersten Tag nur für uns haben, Mr Sutton. Das heißt, niemand sonst darf Sie zitieren oder fotografieren. Niemand darf erfahren, wo Sie sind.
Mit anderen Worten, Kleiner, ich bin dein Gefangener.
Schreiber lacht nervös. Nein, so würde ich das nicht sagen.
Aber ich stehe unter deiner Obhut.
Nur für einen Tag, Mr Sutton.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von J. R. Moehringer
J. R. Moehringer, geb. 1966 in New York geboren, studierte in Yale und ist Reporter bei der Los Angeles Times. 2000 gewann er den Pulitzer-Preis.Brigitte Jakobeit, Jg. 1955, lebt in Hamburg und übersetzt seit 1990 englischsprachige Literatur, darunter die Autobiographien von Miles Davis und Milos Forman sowie Bücher von John Boyne, Paula Fox, Alistair MacLeod, Audrey Niffenegger und Jonathan Safran Foer.
Bibliographische Angaben
- Autor: J. R. Moehringer
- 2013, 448 Seiten, Maße: 14,9 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Jakobeit, Brigitte
- Übersetzer: Brigitte Jakobeit
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2100000104529
Rezension zu „Knapp am Herz vorbei “
"ein großes Buch, das mitten ins Herz trifft." Jakob Strobel y Serra, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.3.2013
" Knapp am Herz vorbei ist ein Kunstwerk, so berührend ist es erzählt."
Korinna Hennig, Norddeutscher Rundfunk, NDR Kultur, 15.3.2012
"nichts anderes als große Literatur. [ ] Meister des Erzählens."
Peter Huber, Die Presse, 13.4.2013
"eine spannende, vergnügliche und manchmal auch tragische Lebensgeschichte." Roman Halfmann, Hessischer Rundfunk, hr-online.de, 18.3.2013
"Die vielen lebensklugen Ansichten des introvertierten Räubers erheben ihn zu einer literarischen Figur, die sich zu entdecken lohnt."
Annette Stiekele, Hamburger Abendblatt, 12.3.2013
"Die Geschichte ist so eindrücklich und gut erzählt, so dass man den Kriminellen richtig gern haben kann."
Susanne Sturzenegger, Schweizer Radio und Fernsehen, SRF 1 (BuchZeichen), 7.4.2013
"Moehringers Roman ist eine wunderbare Räuberpistole, bei der man spürt, dass ihm sein Held ans Herz gewachsen ist."
Rainer Holbe, Luxemburger Wort, 16.3.2013
"Faszinierend und spannend bis zum letzten Satz!"
Cosmopolitan, März 2013
Kommentar zu "Knapp am Herz vorbei"
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