Verborgene Träume / Erben des Blutes Bd.2
Roman
Die Werwölfin Lyra Black ist die zukünftige Anführerin ihres Packs. Als sie von anderen Wölfen angegriffen wird, kommt ihr der vampirische Katzenwandler Jaden Harrison zu Hilfe. Obwohl sich beide zueinander hingezogen fühlen, bedroht eine uralte Macht ihre Liebe.
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Produktinformationen zu „Verborgene Träume / Erben des Blutes Bd.2 “
Die Werwölfin Lyra Black ist die zukünftige Anführerin ihres Packs. Als sie von anderen Wölfen angegriffen wird, kommt ihr der vampirische Katzenwandler Jaden Harrison zu Hilfe. Obwohl sich beide zueinander hingezogen fühlen, bedroht eine uralte Macht ihre Liebe.
Klappentext zu „Verborgene Träume / Erben des Blutes Bd.2 “
Die Werwölfin Lyra Black ist die zukünftige Anführerin ihres Packs. Als sie von anderen Wölfen angegriffen wird, kommt ihr der vampirische Katzenwandler Jaden Harrison zu Hilfe. Beide fühlen sich augenblicklich zueinander hingezogen, doch eine uralte Macht erhebt sich und bedroht ihre Liebe.
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Erben des Blutes - Verborgene Träume von Kendra Leigh Castle 1
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Tipton, Massachusetts
In einer Nacht, in der am Himmel der noch zarte Bogen des aufgehenden Monds zu sehen war, zu einem Zeitpunkt, als selbst die abenteuerlustigsten Menschen ins Bett gefallen und in Schlaf gesunken waren, strich einsam ein Kater über den Platz in der Stadtmitte. Er war groß, so groß wie ein Rotfuchs. Sein glattes pechschwarzes Fell glänzte im Licht der Straßenlaternen, und er bewegte sich rasch und geschmeidig, wenn auch ohne Ziel. Der Blick seiner wie blaue Glut funkelnden Augen war stur auf den Weg vor ihm gerichtet. Der Kater hatte in seinem langen Leben schon die unterschiedlichsten Namen gehabt. Seit mehr als einem Jahrhundert hieß er jetzt schlicht nur noch Jaden oder - noch schlichter - »Katze«. Wenn nötig, hörte er auf beides; aber weder auf das eine noch das andere, wenn er damit durchkommen konnte.
An diesem Abend, in der verführerischen Stille der Nacht, hörte Jaden nur auf sich selbst.
Langsam strich er durch die Stadt und genoss die Ruhe und die gesegnete Abwesenheit menschlicher Wesen mit all ihren Geräuschen, Gefühlen und Komplikationen. Vor dem dunklen Fenster eines Schönheitssalons blieb er stehen und ließ den Blick über das Schild wandern, auf dem HOCH ERFREUT stand. Er hob den Kopf und schnüffelte. Die Luft war feucht, und es roch nach Regen. Jaden spürte, dass der Sommer bald auch in diese Ecke Neuenglands kommen würde, aber er wusste auch, dass Anfang Mai immer noch mit Nachtfrost zu rechnen war, der den frischen Trieben seinen tödlichen Kuss gab.
Tödliche Küsse, dachte Jaden und peitschte mit dem Schwanz über den Boden. Ja, mit denen kannte er sich aus. Wenn man ein Vampir war, noch dazu ein niederer Katzengestaltwandler, gehörten tödliche Küsse quasi zum Alltag.
Verdammt. Eigentlich hatte er diesen spätnächtlichen Spaziergang doch unternommen, um den Kopf freizubekommen.
Die Verwandlung ging so einfach vonstatten wie Atmen. Es dauerte keine Sekunde, schon stand Jaden auf zwei statt auf vier Beinen. Seine Kleidung war auf magische Art wie immer tadellos, was er nie ganz verstanden, aber immer zu schätzen gewusst hatte. Er vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und ging weiter die Straße entlang, den Blick auf den Boden gerichtet. Jahrelang hatte er im Geheimen seine Wut gegen die Ptolemy genährt, seine adeligen Meister, die mit »Haustieren« wie ihm ziemlich gnadenlos umgegangen waren; doch in letzter Zeit schien sich seine ganze Wut ausschließlich gegen sich selbst zu richten.
Jaden hatte jetzt, was er sich vermeintlich immer gewünscht hatte: Freunde, ein Zuhause und, wichtiger noch, seine Freiheit. Die Ptolemy gab es noch immer, aber zurzeit waren sie ziemlich eingeschüchtert. Seinem Geschlecht dagegen, den so oft geschmähten Cait Sith, war eine unglaubliche Ehre zuteil geworden. Sie durften eine Adelsdynastie neu mitbegründen, die vor vielen Jahrhunderten ausgestorben war, jetzt aber in Gestalt einer einzigen menschlichen Frau, in deren Adern das Blut dieser Dynastie floss, wiederauferstanden war.
Die sieben Monate, in denen Jaden dieser Frau, Lily, geholfen hatte, sich gegen die Ptolemy zu behaupten, waren wie im Flug vergangen. Noch nicht so lange war es dagegen her, dass der Rat der Vampire Lilys Plan, wenn auch widerwillig, zugestimmt hatte, und erst seit diesem Tag war Jaden wirklich und wahrhaftig frei. Ob Lilys Entscheidung klug war, hätte Jaden nicht sagen können - die Cait Sith waren ein nur schwer zu bändigender Haufen.
Aber er war dankbar, genau wie die anderen Cait Sith, und das war nicht zu unterschätzen.
Jaden rieb über sein Schlüsselbein, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dort, unter mehreren Schichten Kleidung, befand sich sein Mal, das Symbol seiner Dynastie. Bis vor Kurzem war dieses Mal ein Knäuel ineinander verschlungener Katzen gewesen. Aber ein Schluck von Lilys kraftvollem Blut hatte gereicht, es zu verändern. Jetzt stellte es auch das Pentagramm und die Schlange der Lilim dar. Zusammen mit diesem Mal hatte er neue Fähigkeiten erhalten, die er noch ausprobierte, und eine neue Rolle in einer Welt, in der man ihn sonst stets übersehen hatte. Jaden wusste, dass ihn das eigentlich fröhlich stimmen sollte. Zum ersten Mal in seinem langen Leben war er kein Paria mehr. Er war sein eigener Herr. Was wollte er mehr? Und dennoch ...
In ihm war eine Leere, die wie eine offene Wunde schmerzte. Irgendetwas fehlte. Wenn er nur gewusst hätte, was.
Eine sanfte Brise strich durch sein Haar, und Jaden stieg ein Hauch von etwas in die Nase, das zugleich fremd und vertraut war.
Dann hörte er die Stimmen.
»Jetzt kannst du dich nirgendwo mehr verkriechen, nicht wahr?« Die raue männliche Stimme troff vor Selbstzufriedenheit. Ihr Besitzer kicherte bösartig. »Jetzt bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als mich zu akzeptieren. Ich habe dich erwischt, also habe ich ein Recht darauf.«
Eine weibliche Stimme antwortete, und bei ihrem tiefen, melodiösen Klang lief Jaden ein angenehmer Schauer über den Rücken.
»Du hast kein Recht auf mich. Und dass du mich jagst, als wäre ich ein Beutetier, ändert daran auch nichts.«
Jaden war sich ziemlich sicher, dass er diese Stimme schon einmal gehört hatte, auch wenn er sie nicht gleich einordnen konnte. Was er allerdings durchaus einordnen konnte, war der Geruch, bei dem sich ihm die Nackenhaare aufstellten und Adrenalin durch seine Adern schoss.
Werwölfe.
Jaden verzog die Mundwinkel und unterdrückte das instinktive Bedürfnis, laut zu fauchen. Die Vampire hatten die Wölfe, die sie als unzivilisierte Wilde betrachteten, unter Androhung der Todesstrafe aus ihren Städten verbannt. Doch ihr moschusähnlicher Geruch löste eine Reaktion in ihm aus, die er nur schwer unter Kontrolle bekam. Es gab nur zwei Möglichkeiten: fliehen oder kämpfen. Fliehen wäre das Einfachere gewesen. Aber das hier war jetzt sein Territorium, Vampirterritorium. Diese Wölfe hatten echt Nerven, sich hier herumzutreiben!
Jaden hatte sich schon in Bewegung gesetzt, bevor er zu Ende gedacht hatte. Lautlos glitten seine Füße über den Boden, während er auf den Parkplatz zueilte, der hinter dem Gebäude lag. An einer dunklen Stelle blieb er stehen und lauschte.
»Du kannst es auf die sanfte oder auf die harte Tour haben, Süße. Aber nehmen wirst du mich, so oder so. Dagegen kannst du nichts tun.«
Die Frau gab ein tiefes Knurren von sich. Eine Warnung. »Ich ordne mich doch nicht irgendeinem dahergelaufenen Typen unter, dem es nur um seinen sozialen Aufstieg geht. Ich will keinen Mann.«
Diesmal klang die Stimme des Manns bösartig und bedrohlich, als hätte die Bestie in ihm die Oberhand gewonnen. »Meine Familie ist durchaus gut genug, um eine Verbindung mit einem Alphatier einzugehen. Sei froh, dass ich es bin, Lyra. Ich bin nicht so rücksichtslos wie manch anderer. Und wir wissen doch beide, dass das Rudel niemals ein weibliches Alphatier akzeptieren wird. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man den Schwachen die Führung überlassen könnte.«
Lyra ... Jetzt fiel bei Jaden der Groschen, und ihm wurde ganz flau im Magen.
Er kannte sie. Und die kurze Begegnung mit ihr hatte ihm eine der mieseren Stimmungen seines unnatürlichen Lebens beschert.
Er dachte zurück an das Sichere Haus in Chicago, das voller Vampire gewesen war, die in Schwierigkeiten steckten oder auf der Flucht waren. Und in jener Nacht war es auch das Versteck einer Werwölfin mit spitzer Zunge und unangenehmem Auftreten gewesen. Rogan, der Besitzer des Sicheren Hauses, hatte beiläufig erwähnt, sie sei ein zukünftiges Alphatier ... gleich nachdem Jaden darauf bestanden hatte, dass sie das Zimmer verließ.
Lyra war zwar gegangen, hatte sich die Beleidigung aber nicht wortlos gefallen lassen. Und jetzt war sie hier, am Sitz der Lilim. Es war kaum zu glauben. Kurz fragte Jaden sich, ob Lyra ihm wohl hierher gefolgt war, um ihre kurze Auseinandersetzung blutig zu Ende zu bringen. Typisch Werwolf, grausam und unvernünftig. Aber als er endlich einen Blick auf Lyra und den Mann werfen konnte, der sie da gerade anpöbelte, wurde ihm klar, dass Lyra ein viel größeres Problem hatte als einen eventuellen Groll gegen ihn.
Jaden blieb im Schutz der Dunkelheit, mit der er in seiner menschlichen Gestalt fast genauso gut verschmolz wie als Katze. Jetzt konnte er den großen, muskelbepackten Neandertaler, der wie erwartet selbstgefällig grinste, deutlich ausmachen. Ein Raubtier. Das wusste Jaden sofort, schließlich war er selbst eins. Lyra sah er nur von hinten, aber auch so erkannte er sie sofort. Sie war groß und schlank, ihr Haar eine wilde dunkle Mähne, durch die sich einige platinblonde Strähnen zogen und das ihr bis fast zur Taille reichte. Besorgt betrachtete er sie von oben bis unten ... Er konnte nur hoffen, dass seine Reaktion auf sie beim letzten Mal bloß eine dumme Anwandlung gewesen war. Damals hatte er es problemlos als solche abtun können. Wenn man ununterbrochen in Lebensgefahr schwebte, passierten einem schon mal merkwürdige Dinge. Jedenfalls konnte er sich noch gut erinnern, wie das seinem Ärger auf sie zusätzlich Nahrung gegeben hatte.
Und auch diesmal, genau wie damals, erweckte sie eine unerklärliche Begierde in ihm, wie das noch keiner Frau je gelungen war.
In Jadens plötzliche Erregung mischte sich ein Anflug von Blutdurst, und diese Mischung aus Lust und Bedürfnissen schnürte ihm schier die Kehle zu. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts, ohne seine Deckung aufzugeben, und versuchte verzweifelt, nicht vom Mann zur Bestie zu werden. Da war nicht nur ihr kurzes Zusammentreffen gewesen. Obwohl er alles versucht hatte, um es auszublenden, hatte er von ihr geträumt ... von ineinander verschlungenen Körpern, die bissen, sich umklammerten, leckten ...
Ich kann doch nicht ernsthaft eine Werwölfin begehren, dachte Jaden entsetzt. Abgesehen davon, dass es beiden Rassen verboten war, kam es ihm auch einfach falsch vor. Außerdem - ging es ihm denn nicht auch so schon dreckig genug?
Nur gut, dass der Neandertaler ihn gleich wieder von seinen trüben Gedanken ablenkte. Der Werwolf bewegte sich geschmeidig und blitzschnell, was Jaden ihm bei seinem gedrungenen Körperbau gar nicht zugetraut hätte. Seine Hand schoss vor und riss etwas von Lyras Hals. Dann ließ er den Gegenstand vor ihrem Gesicht hin- und herpendeln, einen silbernen Anhänger an einem Lederband, wie Jaden jetzt erkennen konnte. Sie griff danach, aber der Werwolf hob es in der Manier des typischen Pausenhofrüpels weit über seinen Kopf.
»Wie kannst du es wagen?«
»Das ist doch bloß eine alte Halskette«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Wenn du sie unbedingt wiederhaben willst, dann hol sie dir doch.«
Die hilflose Wut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Mein Vater - «
»Ist nicht hier, habe ich recht? Niemand ist hier.« Der Neandertaler krümmte den Zeigefinger zum Zeichen, dass sie näher kommen solle. Er wusste, er hatte gewonnen, das drückte seine Haltung deutlich aus. »Ich habe ein Hotelzimmer. Wir können es aber auch gleich hier machen. Wie du willst.«
Sein Grinsen war widerlich. Sie schien das genauso zu sehen.
»Nie im Leben, Mark.«
Lyra spannte die Muskeln an und machte sich bereit zur Flucht. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Nur wusste der Mann leider auch, dass ihr nichts anderes blieb als ein Fluchtversuch. Und Lyra war zwar schneller, aber lange nicht so kräftig wie er.
Jaden fauchte durch seine zusammengebissenen Zähne hindurch. Er war kein Held. Aber auch wenn er nur ein Unterschichtvampir war, eine Gossenkatze mit einer gewissen Begabung für die Jagd, gab es unter seinesgleichen doch unausgesprochene Regeln. Und irgendetwas in Lyras Stimme, diese hilflose Wut von jemandem, der sich gegen ein unabwendbares Schicksal auflehnt, berührte etwas ganz tief in ihm. Jahrhundertelang hatte er sich von Leuten herumschubsen lassen müssen, gegen die er nicht hatte ankämpfen können. In all den Jahren hatte es nie jemanden geschert, was er wollte.
Wenn er sich da jetzt einmischte, konnte er nur hoffen, dass die Götter ihm gnädig waren.
Lyra drehte sich blitzschnell um und rannte erstaunlich graziös los. Der Mann, den sie Mark genannt hatte, reagierte genauso schnell. Er packte eine Handvoll ihres wunderbaren Haars und riss daran, dass ihr Kopf nach hinten flog. Als sie vor Schmerz aufschrie, brüllte er vor Lachen. Dann waren seine Hände plötzlich überall auf ihrem Körper, betatschten sie, zerrten an ihrer Kleidung ...
Ein Blick in Lyras wilde, angsterfüllte Augen, und nichts konnte Jaden mehr zurückhalten. Bösartig knurrend sprang er aus seiner Deckung. Mit ausgefahrenen und gefletschten Zähnen landete er direkt vor den Kämpfenden. Sein überraschendes Auftauchen lenkte Mark wie erhofft einen Moment lang ab. Lyra konnte sich losreißen, aber sie war nicht schnell genug. Mark verpasste ihr einen Schlag auf den Kopf, und Jaden musste mit ansehen, wie sie schockiert aufschluchzte und auf die Knie sank. Der Anblick zerriss ihm schier das Herz.
Dennoch hatte er zumindest teilweise sein Ziel erreicht: Der Werwolf konnte Lyra nicht mehr als Schild benutzen.
Kaum hatte Mark kapiert, wer da vor ihm stand, verwandelte sich seine Verblüffung in unwillkürlichen Hass.
Auch er bleckte jetzt die Zähne und funkelte Jaden kampflustig an. Tief aus seiner Kehle drang ein Knurrlaut, dann stürzte er sich auf seinen Gegner, die Fingernägel bereits zu Klauen ausgefahren. Jaden fauchte, duckte sich weg und wartete auf seine Chance. Er wusste aus Erfahrung, dass Werwölfe mehr mit roher Gewalt als mit Verstand kämpften. Gegen einen Vampir zogen sie fast immer den Kürzeren.
Das war auch diesmal nicht anders.
Mark holte aus und schlug zu. Wieder duckte Jaden sich weg, fuhr nun seinerseits die Krallen aus und riss dem Werwolf die empfindliche Haut am Bauch auf. Die dünnen Blutrinnsale, die sein Hemd dunkel färbten, schienen Jadens Gegner erst richtig in Rage zu versetzen. Blindlings stürzte er sich auf ihn und fand sich im nächsten Moment mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt wieder. Jaden konnte sich das Lachen nicht verkneifen, aber selbst für seine Ohren klang es hohl und unangenehm.
»Tja ... Da geht heute wohl einer allein nach Hause.«
Mit blutigem Gesicht rappelte sich der Werwolf auf und knurrte seinen Peiniger wütend an.
»Verpiss dich, Blutsauger. Das hier ist eine Sache unter Werwölfen. «
»Ach wirklich?«, erwiderte Jaden. »Ich hatte eher den Eindruck, da führt sich einer auf wie der typische Widerling.« Rasch warf er Lyra einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Sie hatte sich in eine sitzende Position hochgerappelt und hielt sich den Kopf. Jaden hatte keine Ahnung, wie schwer sie verletzt war. Typisch Wolf, eine Frau gewinnen zu wollen, indem man ihr wehtat. Höchste Zeit, diesen Drecksack davonzujagen und Lyra zu verarzten.
Dass sein Herz bei diesem Gedanken ins Stolpern geriet, versuchte er möglichst auszublenden.
»Hau ab«, sagte er leise, aber drohend. »Oder ich bringe dich um.«
Mark schnaubte. »So ein schmächtiger kleiner Blutsauger wie du? Ich glaube kaum - «
Unsanft wurde er mitten im Satz von zwei Tritten unterbrochen. Der eine traf ihn in den Magen, der andere am Kopf. Letzterer sorgte dafür, dass er wie ein Sack zu Boden sank und nur noch ein leises Stöhnen von sich gab. Diesmal kam er nicht wieder auf die Beine.
Jaden starrte einen Moment auf ihn hinunter. Am liebsten hätte er ihm sicherheitshalber noch einen weiteren Tritt verpasst. Aber der blöde Kerl würde sich auch so schon ziemlich lausig fühlen, wenn er am Morgen mit dem Gesicht nach unten auf dem Parkplatz erwachte. So befriedigend es auch wäre, ihn umzubringen - letztlich wäre es nur Zeitverschwendung.
Außerdem würde Jaden sich trotz seines verwirrenden Interesses an Lyra nicht zu etwas hinreißen lassen, das die Lilim in einen Kampf mit irgendeinem dahergelaufenen Werwolfrudel verwickelte.
Immerhin hatte er erreicht, dass sie jetzt quasi allein waren. Jaden ging neben Lyra in die Hocke, und als ihm ihr verführerischer Geruch in die Nase drang, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Wie Äpfel, dachte er. Süße Äpfel, wie man sie für Kuchen hernimmt, gemischt mit etwas Erdigem. Seltsamerweise hatte er weder das Bedürfnis, davonzulaufen, noch zu fauchen und zu spucken. Nur gut, dass er ihr letztes Mal nicht so nahe gekommen war. Sonst hätte er vielleicht etwas wirklich Dummes getan.
Wobei das, was er soeben getan hatte, auch nicht gerade unter die Rubrik »klug« fiel.
»Lyra?«, sagte er fragend und versuchte, seine Stimme möglichst beruhigend klingen zu lassen. Er war sich nicht sicher, ob ihm das so gut gelang ... Schadensbegrenzung hatte er schon lange nicht mehr praktiziert. Normalerweise war er eher derjenige, der den Schaden anrichtete. »Alles in Ordnung? Brauchst du einen Arzt?« Wölfe heilten sich selbst, das wusste er, aber es brauchte seine Zeit, und das konnte bei einer größeren Wunde gefährlich sein.
Sie gab keine Antwort, rührte sich auch nach wie vor nicht, und Jadens Sorge wuchs. Das Bedürfnis, sie zu berühren, wurde übermächtig. Vorsichtig streckte er die Hand nach ihr aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als sie plötzlich den Kopf hob und ihn ansah. Was immer er zu sehen erwartet hatte - Angst, Verwirrung, vielleicht sogar ein wenig Dankbarkeit -, nichts davon zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, aus dem ihm wutblitzende Augen wie Feuer in der Dunkelheit entgegenfunkelten.
»Wag es ja nicht, mich anzufassen, Katze«, sagte sie. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
2
Und sie hatte geglaubt, schlimmer könne es in dieser Nacht nicht mehr kommen.
Lyra starrte ihren Möchtegernretter genervt an. Es war komisch anzusehen, wie überrascht er darüber war, dass sie nicht mit den Wimpern klimperte und ihm atemlos dankte. Genau das erwarteten diese Vamps doch immer: rückhaltlose Bewunderung. Und dank ihres Talents, menschliche Gehirne zu manipulieren, bekamen sie die meist auch. Vor allem Vamps, die so gut aussahen wie dieser mit seinen großen, unschuldigen blauen Augen und diesem Gesicht, bei dem man sofort auf sündige Gedanken kam. Glücklicherweise waren Werwölfe immun gegen den speziellen Blutsauger-Charme.
Nicht, dass dieser hier bei ihrer letzten Begegnung versucht hätte, seinen Charme spielen zu lassen. Musste unter allen Vamps ausgerechnet er sich heute Abend in ihre Angelegenheiten mischen?
Ruckartig zog er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Als Lyra sah, wie sich sein Gesichtsausdruck von offensichtlich echter Sorge in Gereiztheit verwandelte, fühlte sie sich einen Moment lang ein wenig schuldig. Aber er verdiente es nicht anders, fand sie. Als sie vor ein paar Monaten in diesem rattenverseuchten Sicheren Vampirhaus untergeschlüpft war, hatte er quasi behauptet, es stehe ihr nicht zu, sich im gleichen Raum wie er aufzuhalten. Sie hatte rasch kapiert, dass die anderen Bewohner des Hauses größtenteils Freunde von ihm waren, die sich ebenfalls auf der Flucht befanden - noch so ein Katzenvamp und eine menschliche Frau, die einen recht netten Eindruck gemacht hatte, trotz ihres zweifelhaften Geschmacks bezüglich ihrer Begleiter.
Aber dieser hier - dieser hier war ein Katzenvampirarschloch der Güteklasse eins.
Das zu wissen, machte es ihr leichter, in diese großen blauen Augen zu schauen und ihm zu sagen, wohin er sich scheren solle. Wäre er kein Vamp gewesen, hätte sie sein gutes Aussehen vielleicht in Versuchung geführt, aber das hätte nur wieder Ärger gegeben, und davon hatte sie bereits mehr als genug.
»Zuvorkommend wie eh und je«, murmelte er und erhob sich derart anmutig, dass sich Lyra, die im selben Moment aufstand, trotz ihres sonst so ausgeprägten Selbstbewusstseins auf einmal regelrecht tollpatschig vorkam.
Blöde Vampire.
»Ja, wo ich doch allen Grund habe, mich dir gegenüber zuvorkommend zu verhalten«, raunzte sie ihn an. »Erst verjagst du mich aus eurem supergeheimen Vampirtreffen, weil ich der falschen Spezies angehöre, und jetzt machst du hier einen auf Macho und schlägst diesen Idioten bewusstlos, mit dem ich auch allein fertig geworden wäre.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, weil es sie irritierte, wie sein Blick zu ihrem Busen und dann rasch wieder weg glitt. Sie hatte fast den Eindruck ... aber das war Schwachsinn. Vamps standen nicht auf Werwölfe. Sie jagten sie, und daran würde sich auch nie etwas ändern.
Dennoch verleitete ihre krankhafte Neugier sie dazu, ihre Brüste mit den verschränkten Armen nach oben und zusammenzupressen und sie vorwitzig aus ihrer ärmellosen Bluse herauslugen zu lassen. Wahrhaftig wanderte sein Blick immer wieder dorthin und schnell wieder weg, als wolle er eigentlich nicht hinschauen, könne es aber nicht lassen. Lyra legte den Kopf auf die Seite und betrachtete ihn genauer. Erstaunt stellte sie fest, dass ihr Retter offensichtlich wirklich auf sie stand. Sogar ganz rot war er geworden. Seine Nasenflügel bebten leicht, als würde er etwas riechen. Beute vielleicht.
Als sich ihre Blicke schließlich begegneten, lag in seinen Augen eine derartige Trauer und gleichzeitig so viel Hunger, dass ihr der Atem stockte. Sie ließ die Arme sinken, denn plötzlich fühlte sie sich sehr unwohl, dass sie so mit ihm gespielt hatte. Jede Lektion, die sie jemals gelernt hatte, alles, was ihr Rudel sie gelehrt hatte, fiel ihr schlagartig wieder ein.
Mit einem Vamp Spielchen zu spielen, selbst mit einem einzelnen und offensichtlich wohlgesinnten wie diesem, war nichts anderes als ein Spiel mit dem Feuer. Wo immer Wölfe und Vampire aufeinandertrafen, floss Blut. Und meistens - so ungerecht das auch sein mochte - war es vor allem das der Wölfe.
Es war zwar nur ein schwacher Trost, aber der Vampir schien sich plötzlich genauso unwohl in seiner Haut zu fühlen wie sie. Er wandte das Gesicht ab und starrte auf Mark hinunter, der noch immer den Schlaf der verdientermaßen Bewusstlosen schlief. Diese rasche Bewegung löste irgendetwas in ihr aus, und einen Moment lang erlaubte sie sich, seinen perfekten, geschmeidigen Körper zu betrachten, der in einer eng sitzenden schwarzen Jeans, abgestoßenen schwarzen Stiefeln und einem militärisch wirkenden hochgeschlossenen Mantel steckte. Das kinnlange pechschwarze Haar trug er hinter die Ohren zurückgekämmt, was die klaren Linien seines Gesichts noch zusätzlich betonte.
Statt eines jahrhundertealten Vampirs hätte er genauso gut ein junger, düsterer Rockstar sein können. Und, stellte Lyra voller Entsetzen fest - bei seinem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
»Soso, du wärest also spielend mit ihm fertig geworden?« Der Vamp stieß den reglos auf dem Bauch liegenden Werwolf mit der Stiefelspitze an, und jetzt fiel Lyra auch wieder sein Name ein. Sie erinnerte sich, dass die menschliche Frau den Namen auf eine Art ausgesprochen hatte, wie man das bei unartigen kleinen Kindern macht. Bei dem Gedanken daran hätte sie beinahe gelächelt.
»Ja, das wäre ich, Jaden«, erwiderte sie und genoss seine Überraschung, dass sie seinen Namen kannte. Für jemanden, der so alt war, wie er sein musste, war das ein seltsamer Name, fand sie. Er klang ziemlich modern. Vermutlich hatte er sich irgendwann umbenannt. Lyra hatte gehört, dass Vampire das gelegentlich taten. Da sie so lange lebten, hatten sie manchmal die Nase voll von dem Namen, den sie bei ihrer Geburt bekommen hatten. Vielleicht sollte sie auch ... aber im Grunde gefiel es ihr, dass sie sonst niemanden mit dem Namen Lyra kannte.
»Da habe ich damals wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen «, sagte Jaden. »Statt so auf mich loszugehen, solltest du lieber ein bisschen Dankbarkeit zeigen. Gegen diesen Typen da hättest du keine Chance gehabt. Ich habe alles beobachtet. In dem Moment, als er dich an den Haaren gepackt hat, hattest du verloren.«
Sie mochte ihn ja vielleicht irgendwie attraktiv gefunden haben, aber dieses Gefühl verflüchtigte sich schlagartig. War er also doch nur ein arroganter Vampir. Dass er recht hatte, änderte daran gar nichts. Tatsache blieb, dass er und seinesgleichen einfach keinen Respekt vor ihr und ihren Leuten hatten.
»Mir wäre schon noch was eingefallen«, knurrte sie und trat näher auf ihn zu. »Ich brauche keinen Retter in Katzenvampirgestalt, der meint, ich müsste ihm vor lauter Dankbarkeit die Pfoten lecken.«
Jaden runzelte die Stirn und lächelte sie spöttisch an. Er wusste genau, dass sie ihn gebraucht hatte ... oder irgendjemand anderen. Aber das ging ihr total gegen den Strich. Man hielt sie sowieso schon für ungeeignet als Anführerin, nur weil sie eine Frau war. Ihr ganzes Leben war es immer nur darum gegangen, Stärke zu beweisen, zu schauen, was die Männer des Rudels taten, um es dann besser zu machen. Dass man sie vor einem einzelnen Wolf retten musste, nur weil sie einen Moment lang nicht aufgepasst hatte, war zutiefst erniedrigend. Das einzig Gute war, dass ihr Rudel nie etwas davon erfahren würde. Und Marks Rudel vermutlich genauso wenig. Rasch warf sie einen Blick auf den Bewusstlosen und hätte bei seinem Anblick beinahe verächtlich den Mund verzogen. Sie würde nicht die Einzige sein, die nicht wollte, dass diese Geschichte bekannt wurde.
»Dann betrachte ich das jetzt mal als deine Art, mir zu danken, nachdem mehr offensichtlich nicht drin ist«, sagte Jaden.
»Mach doch, was du willst«, erwiderte Lyra. »Hauptsache, du verschwindest. Ich bin nicht in der Stimmung zu reden, und - sei froh - auf Katzenjagd habe ich gerade auch keine Lust. Das könnte sich allerdings ändern.« Aus irgendeinem Grund schien ihn das zu amüsieren, also kniff Lyra die Augen zusammen und forderte ihn nochmals auf zu verschwinden.
Sie hatte eigentlich erwartet, dass er jetzt, wo es keine weitere Heldentat mehr zu vollbringen gab, endlich abziehen würde. Doch zu ihrer Überraschung blieb er. Und zu ihrer noch größeren Überraschung drehte auch sie sich nicht um und ging, was sie - wie sie genau wusste - eigentlich hätte tun sollen. So nah, wie sie jetzt vor ihm stand, konnte sie seinen Geruch deutlich wahrnehmen. Er roch unverwechselbar nach Vampir, ein Geruch wie ein seltenes, uraltes Gewürz, den er selbst vermutlich gar nicht wahrnahm. Genau wie man ihr bei verschiedenen denkwürdigen Gelegenheiten erklärt - oder besser gesagt: ihr entgegengeknurrt - hatte, dass ihre Gattung nach wildem Tiermoschus stinke. Immer waren es die Vamps, die so taten, als hätte sie sich im Abfall gewälzt. Sie selbst konnte am Wolfsgeruch nichts Verkehrtes finden.
Aber Jaden reagierte nicht normal auf sie, schreckte nicht vor ihr zurück, als hätte sie eine schreckliche Krankheit. Er verhielt sich, als wäre er ... interessiert. Und das hatte etwas in ihr ausgelöst, musste Lyra feststellen, zumal sie ihn auch nicht unbedingt als eine Beleidigung ihrer Sinne empfand. Für sie roch er angenehm. Richtig angenehm. So angenehm, dass sie sich am liebsten auf den Rücken gewälzt und ...
Rasch trat sie einen Schritt zurück und holte tief Luft. Ihr war klar, was da gerade mit ihr passierte. Ihre Haut war auf einmal ganz warm, ihr Herz schlug schneller, und sie sog gierig Jadens Vampirgeruch ein. Ihre Brustwarzen hatten sich aufgerichtet, und das lag nicht an der Kälte. Sie war erregt, und alles in ihr verlangte danach, dass sie ihn nahm, für ihn ihren Hals entblößte, ihn hinter sich schob, um sich von ihm ... von ihm ...
Lyra schnaubte und starrte Jaden an, als wäre er der Höllenhund höchstpersönlich, eine mystische Bestie, die sie zur Strafe für ihre Treulosigkeit ihrem Rudel gegenüber in die Unterwelt verschleppen würde. Er starrte unverwandt zurück, aus Augen, die jetzt viel katzenhafter wirkten. Die Pupillen waren erweitert und hatten eine längliche Form angenommen, die Iriden leuchteten intensiv blau. Als er zwei Schritte auf sie zutrat und nun so nah vor ihr stand, dass sie seinen Atem an ihrem Gesicht spürte, wusste sie, dass sie in großen Schwierigkeiten steckte.
Allein ihr Stolz hielt sie davon ab, zurückzuweichen. Trotzig blieb sie stehen, selbst als er den Blick seiner ungewöhnlichen Augen auf ihre Lippen richtete. Nervös fuhr sie mit der Zunge darüber. Jadens Kinnmuskeln spannten sich an. Es war nicht unbedingt ein Vorteil, stellte sie fest, dass Jaden höchstens drei Zentimeter größer war als sie. Immer war es ihr zuwider gewesen, wie die Männer ihrer Gattung ihre Größe und Muskelkraft eingesetzt hatten, um sie einzuschüchtern, obwohl sie mit ihren gut ein Meter siebzig auch nicht gerade klein war. Aber ein Gutes hatte dieser Größenunterschied immer gehabt: Wenn diese Männer ihr auf die Pelle gerückt waren, hatte sich ihr Mund nicht so nah an ihrem befunden. Jaden brauchte sich nur noch ein wenig vorzubeugen, und schon hatte er sie.
Das durfte nicht passieren. Allerdings war der Gedanke daran viel verführerischer, als er das hätte sein dürfen. Ihre Haut prickelte angenehm. Ihre Finger zuckten, weil sie sich am liebsten in seine Schultern, in sein Haar gekrallt hätten.
»Du bist mir echt eine«, sagte er leise, und sein britischer Dialekt stellte mit den Muskeln tief unten in ihrem Bauch schreckliche, verbotene Dinge an. »Glaubst, mir auf meinem eigenen Territorium befehlen zu können, wohin ich gehen soll. Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein, Lyra. Du weißt doch, dass die Wölfe aus unseren Städten verbannt worden sind, und diese Stadt gehört jetzt den Lilim. Schon zum zweiten Mal treffe ich dich an einem Ort, wo ich jedes Recht hätte, dich in Stücke zu reißen.«
Das war eine Drohung, aber Lyra wusste sofort, dass sie nicht ernst gemeint war. Jaden hatte nicht vor, sie umzubringen, genauso wenig wie sie vorhatte, ihn anzugreifen. Aber ihr war durchaus klar, dass diese Situation irgendwie aufgelöst werden und sie von ihm wegkommen musste, koste es, was es wolle. Und tatsächlich brachten seine nächsten Worte ihre sowieso schon angespannten Nerven der Zerreißprobe ein weiteres Stück näher.
Er legte den Kopf auf die Seite, was ihm das Aussehen einer neugierigen und nicht gerade wohlgesinnten Katze verlieh.
»Was treibst du überhaupt hier in der Gegend? Erst versteckst du dich in diesem Sicheren Haus in Chicago, und jetzt kreuzt du auf einmal in einer kleinen Stadt in Massachusetts auf, die zufällig der Sitz der neuesten Vampirdynastie ist. Worauf bist du aus?« Er rückte ihr noch ein bisschen näher. »Du spionierst, um deinem Anführer erzählen zu können, wie eine Dynastie nur aus Katzen aussieht, stimmt's? Hast du geglaubt, wir merken es nicht, dass du dich hier rumtreibst? Oder versteckst du dich etwa hier? Vor was läufst du davon, Lyra?«
Lyra schluckte. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, und die Worte wollten einfach nicht kommen. Er würde sowieso glauben, was er glauben wollte, ganz egal was sie sagte.
Seine Gattung hatte ihre noch nie verstanden und würde es auch nie. Auch die Verzweiflung, gegen die sie ankämpfte, würde er nie verstehen, genauso wenig wie ihre Suche nach Ideen oder wenigstens Fitzelchen von Ideen, die ihr irgendwie weiterhelfen würden.
Wirklich schade, dass sie nun nicht länger bleiben konnte. Sie hatte gehofft, irgendwie zu Lily vordringen zu können - natürlich ohne dass Lily sie sah -, um sich ein Bild davon zu machen, wie eine Frau mit so viel Macht und Verantwortung umging. Gab es irgendein Geheimnis, wie sie auftrat, sich bewegte, redete? Wie hatte sie sich einfach derart viel nehmen können, ohne dass die Männer versucht hatten, es ihr streitig zu machen? Die Gerüchte, die sie über den Aufstieg der menschlichen Frau in die höchsten Ränge der Vampirgesellschaft gehört hatte, stimmten. Aber so verrückt die Gründe für die Wölfe auch geklungen hatten - jetzt wusste Lyra, dass auch der Rest der Wahrheit entsprach. Dies hier war jetzt eine Cait-Sith-Dynastie. Eine Dynastie aus Katzengestaltwandlern, egal was für einen Namen sie jetzt trugen. Und falls es eine noch vergiftetere Beziehung als die zwischen seiner und ihrer Gattung gab, dann hatte sie davon zumindest noch nie gehört.
Hier würde sie keine Hilfe finden, schon gar nicht, nachdem ihre Anwesenheit sowohl von einem Cait als auch von einem ihrer unerwünschten Verehrer entdeckt worden war. Wenn Mark sie hier aufgetrieben hatte, würde das anderen ebenfalls gelingen. Darin wurden sie immer besser, je näher die Prüfung rückte. Also würde sie erneut die Flucht ergreifen. Aber diesmal ging es nach Hause, denn allmählich musste sie sich ernsthaft vorbereiten. Allein. Aufsässig schob Lyra das Kinn vor und starrte Jaden in die Augen. »Wohin ich gehe und was ich tue, geht dich nichts an. Aber ›dein‹ Territorium überlasse ich dir gern. Hier gibt es nichts, was für mich von Interesse ist.«
Sie drehte sich um und bekam gerade noch mit, wie seine Augen gefährlich aufblitzten. Eine Hand legte sich um ihren Arm, mit einem Griff, in dem eine Menge kontrollierte Kraft lag. Jaden riss sie so ruckartig zurück, dass sie gegen ihn prallte. Einen kurzen, heißen Moment lang spürte sie jeden Muskel seiner großen, schlanken Gestalt. Sofort wollte sich alles in ihr an ihn schmiegen, wollte diese zwei Körper zu einem Ganzen zusammenschmelzen.
Jaden presste den Mund gegen ihr Ohr und rieb kurz den Kopf an ihrem Haar, wie eine Katze, die ihren Besitz mit ihrem Duft markiert. Sie versuchte, sich dagegen zu wehren - niemand hatte das Recht, sie zu besitzen, und er schon gar nicht! Aber ein leichter Druck seiner kräftigen Hand reichte, sie bewegungsunfähig zu machen.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Lyra«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wovor läufst du davon?« Eine einfache Frage, gestellt von einem Fremden, und dennoch hätte sie ihm
© 2013 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Tipton, Massachusetts
In einer Nacht, in der am Himmel der noch zarte Bogen des aufgehenden Monds zu sehen war, zu einem Zeitpunkt, als selbst die abenteuerlustigsten Menschen ins Bett gefallen und in Schlaf gesunken waren, strich einsam ein Kater über den Platz in der Stadtmitte. Er war groß, so groß wie ein Rotfuchs. Sein glattes pechschwarzes Fell glänzte im Licht der Straßenlaternen, und er bewegte sich rasch und geschmeidig, wenn auch ohne Ziel. Der Blick seiner wie blaue Glut funkelnden Augen war stur auf den Weg vor ihm gerichtet. Der Kater hatte in seinem langen Leben schon die unterschiedlichsten Namen gehabt. Seit mehr als einem Jahrhundert hieß er jetzt schlicht nur noch Jaden oder - noch schlichter - »Katze«. Wenn nötig, hörte er auf beides; aber weder auf das eine noch das andere, wenn er damit durchkommen konnte.
An diesem Abend, in der verführerischen Stille der Nacht, hörte Jaden nur auf sich selbst.
Langsam strich er durch die Stadt und genoss die Ruhe und die gesegnete Abwesenheit menschlicher Wesen mit all ihren Geräuschen, Gefühlen und Komplikationen. Vor dem dunklen Fenster eines Schönheitssalons blieb er stehen und ließ den Blick über das Schild wandern, auf dem HOCH ERFREUT stand. Er hob den Kopf und schnüffelte. Die Luft war feucht, und es roch nach Regen. Jaden spürte, dass der Sommer bald auch in diese Ecke Neuenglands kommen würde, aber er wusste auch, dass Anfang Mai immer noch mit Nachtfrost zu rechnen war, der den frischen Trieben seinen tödlichen Kuss gab.
Tödliche Küsse, dachte Jaden und peitschte mit dem Schwanz über den Boden. Ja, mit denen kannte er sich aus. Wenn man ein Vampir war, noch dazu ein niederer Katzengestaltwandler, gehörten tödliche Küsse quasi zum Alltag.
Verdammt. Eigentlich hatte er diesen spätnächtlichen Spaziergang doch unternommen, um den Kopf freizubekommen.
Die Verwandlung ging so einfach vonstatten wie Atmen. Es dauerte keine Sekunde, schon stand Jaden auf zwei statt auf vier Beinen. Seine Kleidung war auf magische Art wie immer tadellos, was er nie ganz verstanden, aber immer zu schätzen gewusst hatte. Er vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und ging weiter die Straße entlang, den Blick auf den Boden gerichtet. Jahrelang hatte er im Geheimen seine Wut gegen die Ptolemy genährt, seine adeligen Meister, die mit »Haustieren« wie ihm ziemlich gnadenlos umgegangen waren; doch in letzter Zeit schien sich seine ganze Wut ausschließlich gegen sich selbst zu richten.
Jaden hatte jetzt, was er sich vermeintlich immer gewünscht hatte: Freunde, ein Zuhause und, wichtiger noch, seine Freiheit. Die Ptolemy gab es noch immer, aber zurzeit waren sie ziemlich eingeschüchtert. Seinem Geschlecht dagegen, den so oft geschmähten Cait Sith, war eine unglaubliche Ehre zuteil geworden. Sie durften eine Adelsdynastie neu mitbegründen, die vor vielen Jahrhunderten ausgestorben war, jetzt aber in Gestalt einer einzigen menschlichen Frau, in deren Adern das Blut dieser Dynastie floss, wiederauferstanden war.
Die sieben Monate, in denen Jaden dieser Frau, Lily, geholfen hatte, sich gegen die Ptolemy zu behaupten, waren wie im Flug vergangen. Noch nicht so lange war es dagegen her, dass der Rat der Vampire Lilys Plan, wenn auch widerwillig, zugestimmt hatte, und erst seit diesem Tag war Jaden wirklich und wahrhaftig frei. Ob Lilys Entscheidung klug war, hätte Jaden nicht sagen können - die Cait Sith waren ein nur schwer zu bändigender Haufen.
Aber er war dankbar, genau wie die anderen Cait Sith, und das war nicht zu unterschätzen.
Jaden rieb über sein Schlüsselbein, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dort, unter mehreren Schichten Kleidung, befand sich sein Mal, das Symbol seiner Dynastie. Bis vor Kurzem war dieses Mal ein Knäuel ineinander verschlungener Katzen gewesen. Aber ein Schluck von Lilys kraftvollem Blut hatte gereicht, es zu verändern. Jetzt stellte es auch das Pentagramm und die Schlange der Lilim dar. Zusammen mit diesem Mal hatte er neue Fähigkeiten erhalten, die er noch ausprobierte, und eine neue Rolle in einer Welt, in der man ihn sonst stets übersehen hatte. Jaden wusste, dass ihn das eigentlich fröhlich stimmen sollte. Zum ersten Mal in seinem langen Leben war er kein Paria mehr. Er war sein eigener Herr. Was wollte er mehr? Und dennoch ...
In ihm war eine Leere, die wie eine offene Wunde schmerzte. Irgendetwas fehlte. Wenn er nur gewusst hätte, was.
Eine sanfte Brise strich durch sein Haar, und Jaden stieg ein Hauch von etwas in die Nase, das zugleich fremd und vertraut war.
Dann hörte er die Stimmen.
»Jetzt kannst du dich nirgendwo mehr verkriechen, nicht wahr?« Die raue männliche Stimme troff vor Selbstzufriedenheit. Ihr Besitzer kicherte bösartig. »Jetzt bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als mich zu akzeptieren. Ich habe dich erwischt, also habe ich ein Recht darauf.«
Eine weibliche Stimme antwortete, und bei ihrem tiefen, melodiösen Klang lief Jaden ein angenehmer Schauer über den Rücken.
»Du hast kein Recht auf mich. Und dass du mich jagst, als wäre ich ein Beutetier, ändert daran auch nichts.«
Jaden war sich ziemlich sicher, dass er diese Stimme schon einmal gehört hatte, auch wenn er sie nicht gleich einordnen konnte. Was er allerdings durchaus einordnen konnte, war der Geruch, bei dem sich ihm die Nackenhaare aufstellten und Adrenalin durch seine Adern schoss.
Werwölfe.
Jaden verzog die Mundwinkel und unterdrückte das instinktive Bedürfnis, laut zu fauchen. Die Vampire hatten die Wölfe, die sie als unzivilisierte Wilde betrachteten, unter Androhung der Todesstrafe aus ihren Städten verbannt. Doch ihr moschusähnlicher Geruch löste eine Reaktion in ihm aus, die er nur schwer unter Kontrolle bekam. Es gab nur zwei Möglichkeiten: fliehen oder kämpfen. Fliehen wäre das Einfachere gewesen. Aber das hier war jetzt sein Territorium, Vampirterritorium. Diese Wölfe hatten echt Nerven, sich hier herumzutreiben!
Jaden hatte sich schon in Bewegung gesetzt, bevor er zu Ende gedacht hatte. Lautlos glitten seine Füße über den Boden, während er auf den Parkplatz zueilte, der hinter dem Gebäude lag. An einer dunklen Stelle blieb er stehen und lauschte.
»Du kannst es auf die sanfte oder auf die harte Tour haben, Süße. Aber nehmen wirst du mich, so oder so. Dagegen kannst du nichts tun.«
Die Frau gab ein tiefes Knurren von sich. Eine Warnung. »Ich ordne mich doch nicht irgendeinem dahergelaufenen Typen unter, dem es nur um seinen sozialen Aufstieg geht. Ich will keinen Mann.«
Diesmal klang die Stimme des Manns bösartig und bedrohlich, als hätte die Bestie in ihm die Oberhand gewonnen. »Meine Familie ist durchaus gut genug, um eine Verbindung mit einem Alphatier einzugehen. Sei froh, dass ich es bin, Lyra. Ich bin nicht so rücksichtslos wie manch anderer. Und wir wissen doch beide, dass das Rudel niemals ein weibliches Alphatier akzeptieren wird. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man den Schwachen die Führung überlassen könnte.«
Lyra ... Jetzt fiel bei Jaden der Groschen, und ihm wurde ganz flau im Magen.
Er kannte sie. Und die kurze Begegnung mit ihr hatte ihm eine der mieseren Stimmungen seines unnatürlichen Lebens beschert.
Er dachte zurück an das Sichere Haus in Chicago, das voller Vampire gewesen war, die in Schwierigkeiten steckten oder auf der Flucht waren. Und in jener Nacht war es auch das Versteck einer Werwölfin mit spitzer Zunge und unangenehmem Auftreten gewesen. Rogan, der Besitzer des Sicheren Hauses, hatte beiläufig erwähnt, sie sei ein zukünftiges Alphatier ... gleich nachdem Jaden darauf bestanden hatte, dass sie das Zimmer verließ.
Lyra war zwar gegangen, hatte sich die Beleidigung aber nicht wortlos gefallen lassen. Und jetzt war sie hier, am Sitz der Lilim. Es war kaum zu glauben. Kurz fragte Jaden sich, ob Lyra ihm wohl hierher gefolgt war, um ihre kurze Auseinandersetzung blutig zu Ende zu bringen. Typisch Werwolf, grausam und unvernünftig. Aber als er endlich einen Blick auf Lyra und den Mann werfen konnte, der sie da gerade anpöbelte, wurde ihm klar, dass Lyra ein viel größeres Problem hatte als einen eventuellen Groll gegen ihn.
Jaden blieb im Schutz der Dunkelheit, mit der er in seiner menschlichen Gestalt fast genauso gut verschmolz wie als Katze. Jetzt konnte er den großen, muskelbepackten Neandertaler, der wie erwartet selbstgefällig grinste, deutlich ausmachen. Ein Raubtier. Das wusste Jaden sofort, schließlich war er selbst eins. Lyra sah er nur von hinten, aber auch so erkannte er sie sofort. Sie war groß und schlank, ihr Haar eine wilde dunkle Mähne, durch die sich einige platinblonde Strähnen zogen und das ihr bis fast zur Taille reichte. Besorgt betrachtete er sie von oben bis unten ... Er konnte nur hoffen, dass seine Reaktion auf sie beim letzten Mal bloß eine dumme Anwandlung gewesen war. Damals hatte er es problemlos als solche abtun können. Wenn man ununterbrochen in Lebensgefahr schwebte, passierten einem schon mal merkwürdige Dinge. Jedenfalls konnte er sich noch gut erinnern, wie das seinem Ärger auf sie zusätzlich Nahrung gegeben hatte.
Und auch diesmal, genau wie damals, erweckte sie eine unerklärliche Begierde in ihm, wie das noch keiner Frau je gelungen war.
In Jadens plötzliche Erregung mischte sich ein Anflug von Blutdurst, und diese Mischung aus Lust und Bedürfnissen schnürte ihm schier die Kehle zu. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts, ohne seine Deckung aufzugeben, und versuchte verzweifelt, nicht vom Mann zur Bestie zu werden. Da war nicht nur ihr kurzes Zusammentreffen gewesen. Obwohl er alles versucht hatte, um es auszublenden, hatte er von ihr geträumt ... von ineinander verschlungenen Körpern, die bissen, sich umklammerten, leckten ...
Ich kann doch nicht ernsthaft eine Werwölfin begehren, dachte Jaden entsetzt. Abgesehen davon, dass es beiden Rassen verboten war, kam es ihm auch einfach falsch vor. Außerdem - ging es ihm denn nicht auch so schon dreckig genug?
Nur gut, dass der Neandertaler ihn gleich wieder von seinen trüben Gedanken ablenkte. Der Werwolf bewegte sich geschmeidig und blitzschnell, was Jaden ihm bei seinem gedrungenen Körperbau gar nicht zugetraut hätte. Seine Hand schoss vor und riss etwas von Lyras Hals. Dann ließ er den Gegenstand vor ihrem Gesicht hin- und herpendeln, einen silbernen Anhänger an einem Lederband, wie Jaden jetzt erkennen konnte. Sie griff danach, aber der Werwolf hob es in der Manier des typischen Pausenhofrüpels weit über seinen Kopf.
»Wie kannst du es wagen?«
»Das ist doch bloß eine alte Halskette«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Wenn du sie unbedingt wiederhaben willst, dann hol sie dir doch.«
Die hilflose Wut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Mein Vater - «
»Ist nicht hier, habe ich recht? Niemand ist hier.« Der Neandertaler krümmte den Zeigefinger zum Zeichen, dass sie näher kommen solle. Er wusste, er hatte gewonnen, das drückte seine Haltung deutlich aus. »Ich habe ein Hotelzimmer. Wir können es aber auch gleich hier machen. Wie du willst.«
Sein Grinsen war widerlich. Sie schien das genauso zu sehen.
»Nie im Leben, Mark.«
Lyra spannte die Muskeln an und machte sich bereit zur Flucht. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Nur wusste der Mann leider auch, dass ihr nichts anderes blieb als ein Fluchtversuch. Und Lyra war zwar schneller, aber lange nicht so kräftig wie er.
Jaden fauchte durch seine zusammengebissenen Zähne hindurch. Er war kein Held. Aber auch wenn er nur ein Unterschichtvampir war, eine Gossenkatze mit einer gewissen Begabung für die Jagd, gab es unter seinesgleichen doch unausgesprochene Regeln. Und irgendetwas in Lyras Stimme, diese hilflose Wut von jemandem, der sich gegen ein unabwendbares Schicksal auflehnt, berührte etwas ganz tief in ihm. Jahrhundertelang hatte er sich von Leuten herumschubsen lassen müssen, gegen die er nicht hatte ankämpfen können. In all den Jahren hatte es nie jemanden geschert, was er wollte.
Wenn er sich da jetzt einmischte, konnte er nur hoffen, dass die Götter ihm gnädig waren.
Lyra drehte sich blitzschnell um und rannte erstaunlich graziös los. Der Mann, den sie Mark genannt hatte, reagierte genauso schnell. Er packte eine Handvoll ihres wunderbaren Haars und riss daran, dass ihr Kopf nach hinten flog. Als sie vor Schmerz aufschrie, brüllte er vor Lachen. Dann waren seine Hände plötzlich überall auf ihrem Körper, betatschten sie, zerrten an ihrer Kleidung ...
Ein Blick in Lyras wilde, angsterfüllte Augen, und nichts konnte Jaden mehr zurückhalten. Bösartig knurrend sprang er aus seiner Deckung. Mit ausgefahrenen und gefletschten Zähnen landete er direkt vor den Kämpfenden. Sein überraschendes Auftauchen lenkte Mark wie erhofft einen Moment lang ab. Lyra konnte sich losreißen, aber sie war nicht schnell genug. Mark verpasste ihr einen Schlag auf den Kopf, und Jaden musste mit ansehen, wie sie schockiert aufschluchzte und auf die Knie sank. Der Anblick zerriss ihm schier das Herz.
Dennoch hatte er zumindest teilweise sein Ziel erreicht: Der Werwolf konnte Lyra nicht mehr als Schild benutzen.
Kaum hatte Mark kapiert, wer da vor ihm stand, verwandelte sich seine Verblüffung in unwillkürlichen Hass.
Auch er bleckte jetzt die Zähne und funkelte Jaden kampflustig an. Tief aus seiner Kehle drang ein Knurrlaut, dann stürzte er sich auf seinen Gegner, die Fingernägel bereits zu Klauen ausgefahren. Jaden fauchte, duckte sich weg und wartete auf seine Chance. Er wusste aus Erfahrung, dass Werwölfe mehr mit roher Gewalt als mit Verstand kämpften. Gegen einen Vampir zogen sie fast immer den Kürzeren.
Das war auch diesmal nicht anders.
Mark holte aus und schlug zu. Wieder duckte Jaden sich weg, fuhr nun seinerseits die Krallen aus und riss dem Werwolf die empfindliche Haut am Bauch auf. Die dünnen Blutrinnsale, die sein Hemd dunkel färbten, schienen Jadens Gegner erst richtig in Rage zu versetzen. Blindlings stürzte er sich auf ihn und fand sich im nächsten Moment mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt wieder. Jaden konnte sich das Lachen nicht verkneifen, aber selbst für seine Ohren klang es hohl und unangenehm.
»Tja ... Da geht heute wohl einer allein nach Hause.«
Mit blutigem Gesicht rappelte sich der Werwolf auf und knurrte seinen Peiniger wütend an.
»Verpiss dich, Blutsauger. Das hier ist eine Sache unter Werwölfen. «
»Ach wirklich?«, erwiderte Jaden. »Ich hatte eher den Eindruck, da führt sich einer auf wie der typische Widerling.« Rasch warf er Lyra einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Sie hatte sich in eine sitzende Position hochgerappelt und hielt sich den Kopf. Jaden hatte keine Ahnung, wie schwer sie verletzt war. Typisch Wolf, eine Frau gewinnen zu wollen, indem man ihr wehtat. Höchste Zeit, diesen Drecksack davonzujagen und Lyra zu verarzten.
Dass sein Herz bei diesem Gedanken ins Stolpern geriet, versuchte er möglichst auszublenden.
»Hau ab«, sagte er leise, aber drohend. »Oder ich bringe dich um.«
Mark schnaubte. »So ein schmächtiger kleiner Blutsauger wie du? Ich glaube kaum - «
Unsanft wurde er mitten im Satz von zwei Tritten unterbrochen. Der eine traf ihn in den Magen, der andere am Kopf. Letzterer sorgte dafür, dass er wie ein Sack zu Boden sank und nur noch ein leises Stöhnen von sich gab. Diesmal kam er nicht wieder auf die Beine.
Jaden starrte einen Moment auf ihn hinunter. Am liebsten hätte er ihm sicherheitshalber noch einen weiteren Tritt verpasst. Aber der blöde Kerl würde sich auch so schon ziemlich lausig fühlen, wenn er am Morgen mit dem Gesicht nach unten auf dem Parkplatz erwachte. So befriedigend es auch wäre, ihn umzubringen - letztlich wäre es nur Zeitverschwendung.
Außerdem würde Jaden sich trotz seines verwirrenden Interesses an Lyra nicht zu etwas hinreißen lassen, das die Lilim in einen Kampf mit irgendeinem dahergelaufenen Werwolfrudel verwickelte.
Immerhin hatte er erreicht, dass sie jetzt quasi allein waren. Jaden ging neben Lyra in die Hocke, und als ihm ihr verführerischer Geruch in die Nase drang, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Wie Äpfel, dachte er. Süße Äpfel, wie man sie für Kuchen hernimmt, gemischt mit etwas Erdigem. Seltsamerweise hatte er weder das Bedürfnis, davonzulaufen, noch zu fauchen und zu spucken. Nur gut, dass er ihr letztes Mal nicht so nahe gekommen war. Sonst hätte er vielleicht etwas wirklich Dummes getan.
Wobei das, was er soeben getan hatte, auch nicht gerade unter die Rubrik »klug« fiel.
»Lyra?«, sagte er fragend und versuchte, seine Stimme möglichst beruhigend klingen zu lassen. Er war sich nicht sicher, ob ihm das so gut gelang ... Schadensbegrenzung hatte er schon lange nicht mehr praktiziert. Normalerweise war er eher derjenige, der den Schaden anrichtete. »Alles in Ordnung? Brauchst du einen Arzt?« Wölfe heilten sich selbst, das wusste er, aber es brauchte seine Zeit, und das konnte bei einer größeren Wunde gefährlich sein.
Sie gab keine Antwort, rührte sich auch nach wie vor nicht, und Jadens Sorge wuchs. Das Bedürfnis, sie zu berühren, wurde übermächtig. Vorsichtig streckte er die Hand nach ihr aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als sie plötzlich den Kopf hob und ihn ansah. Was immer er zu sehen erwartet hatte - Angst, Verwirrung, vielleicht sogar ein wenig Dankbarkeit -, nichts davon zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, aus dem ihm wutblitzende Augen wie Feuer in der Dunkelheit entgegenfunkelten.
»Wag es ja nicht, mich anzufassen, Katze«, sagte sie. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
2
Und sie hatte geglaubt, schlimmer könne es in dieser Nacht nicht mehr kommen.
Lyra starrte ihren Möchtegernretter genervt an. Es war komisch anzusehen, wie überrascht er darüber war, dass sie nicht mit den Wimpern klimperte und ihm atemlos dankte. Genau das erwarteten diese Vamps doch immer: rückhaltlose Bewunderung. Und dank ihres Talents, menschliche Gehirne zu manipulieren, bekamen sie die meist auch. Vor allem Vamps, die so gut aussahen wie dieser mit seinen großen, unschuldigen blauen Augen und diesem Gesicht, bei dem man sofort auf sündige Gedanken kam. Glücklicherweise waren Werwölfe immun gegen den speziellen Blutsauger-Charme.
Nicht, dass dieser hier bei ihrer letzten Begegnung versucht hätte, seinen Charme spielen zu lassen. Musste unter allen Vamps ausgerechnet er sich heute Abend in ihre Angelegenheiten mischen?
Ruckartig zog er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Als Lyra sah, wie sich sein Gesichtsausdruck von offensichtlich echter Sorge in Gereiztheit verwandelte, fühlte sie sich einen Moment lang ein wenig schuldig. Aber er verdiente es nicht anders, fand sie. Als sie vor ein paar Monaten in diesem rattenverseuchten Sicheren Vampirhaus untergeschlüpft war, hatte er quasi behauptet, es stehe ihr nicht zu, sich im gleichen Raum wie er aufzuhalten. Sie hatte rasch kapiert, dass die anderen Bewohner des Hauses größtenteils Freunde von ihm waren, die sich ebenfalls auf der Flucht befanden - noch so ein Katzenvamp und eine menschliche Frau, die einen recht netten Eindruck gemacht hatte, trotz ihres zweifelhaften Geschmacks bezüglich ihrer Begleiter.
Aber dieser hier - dieser hier war ein Katzenvampirarschloch der Güteklasse eins.
Das zu wissen, machte es ihr leichter, in diese großen blauen Augen zu schauen und ihm zu sagen, wohin er sich scheren solle. Wäre er kein Vamp gewesen, hätte sie sein gutes Aussehen vielleicht in Versuchung geführt, aber das hätte nur wieder Ärger gegeben, und davon hatte sie bereits mehr als genug.
»Zuvorkommend wie eh und je«, murmelte er und erhob sich derart anmutig, dass sich Lyra, die im selben Moment aufstand, trotz ihres sonst so ausgeprägten Selbstbewusstseins auf einmal regelrecht tollpatschig vorkam.
Blöde Vampire.
»Ja, wo ich doch allen Grund habe, mich dir gegenüber zuvorkommend zu verhalten«, raunzte sie ihn an. »Erst verjagst du mich aus eurem supergeheimen Vampirtreffen, weil ich der falschen Spezies angehöre, und jetzt machst du hier einen auf Macho und schlägst diesen Idioten bewusstlos, mit dem ich auch allein fertig geworden wäre.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, weil es sie irritierte, wie sein Blick zu ihrem Busen und dann rasch wieder weg glitt. Sie hatte fast den Eindruck ... aber das war Schwachsinn. Vamps standen nicht auf Werwölfe. Sie jagten sie, und daran würde sich auch nie etwas ändern.
Dennoch verleitete ihre krankhafte Neugier sie dazu, ihre Brüste mit den verschränkten Armen nach oben und zusammenzupressen und sie vorwitzig aus ihrer ärmellosen Bluse herauslugen zu lassen. Wahrhaftig wanderte sein Blick immer wieder dorthin und schnell wieder weg, als wolle er eigentlich nicht hinschauen, könne es aber nicht lassen. Lyra legte den Kopf auf die Seite und betrachtete ihn genauer. Erstaunt stellte sie fest, dass ihr Retter offensichtlich wirklich auf sie stand. Sogar ganz rot war er geworden. Seine Nasenflügel bebten leicht, als würde er etwas riechen. Beute vielleicht.
Als sich ihre Blicke schließlich begegneten, lag in seinen Augen eine derartige Trauer und gleichzeitig so viel Hunger, dass ihr der Atem stockte. Sie ließ die Arme sinken, denn plötzlich fühlte sie sich sehr unwohl, dass sie so mit ihm gespielt hatte. Jede Lektion, die sie jemals gelernt hatte, alles, was ihr Rudel sie gelehrt hatte, fiel ihr schlagartig wieder ein.
Mit einem Vamp Spielchen zu spielen, selbst mit einem einzelnen und offensichtlich wohlgesinnten wie diesem, war nichts anderes als ein Spiel mit dem Feuer. Wo immer Wölfe und Vampire aufeinandertrafen, floss Blut. Und meistens - so ungerecht das auch sein mochte - war es vor allem das der Wölfe.
Es war zwar nur ein schwacher Trost, aber der Vampir schien sich plötzlich genauso unwohl in seiner Haut zu fühlen wie sie. Er wandte das Gesicht ab und starrte auf Mark hinunter, der noch immer den Schlaf der verdientermaßen Bewusstlosen schlief. Diese rasche Bewegung löste irgendetwas in ihr aus, und einen Moment lang erlaubte sie sich, seinen perfekten, geschmeidigen Körper zu betrachten, der in einer eng sitzenden schwarzen Jeans, abgestoßenen schwarzen Stiefeln und einem militärisch wirkenden hochgeschlossenen Mantel steckte. Das kinnlange pechschwarze Haar trug er hinter die Ohren zurückgekämmt, was die klaren Linien seines Gesichts noch zusätzlich betonte.
Statt eines jahrhundertealten Vampirs hätte er genauso gut ein junger, düsterer Rockstar sein können. Und, stellte Lyra voller Entsetzen fest - bei seinem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
»Soso, du wärest also spielend mit ihm fertig geworden?« Der Vamp stieß den reglos auf dem Bauch liegenden Werwolf mit der Stiefelspitze an, und jetzt fiel Lyra auch wieder sein Name ein. Sie erinnerte sich, dass die menschliche Frau den Namen auf eine Art ausgesprochen hatte, wie man das bei unartigen kleinen Kindern macht. Bei dem Gedanken daran hätte sie beinahe gelächelt.
»Ja, das wäre ich, Jaden«, erwiderte sie und genoss seine Überraschung, dass sie seinen Namen kannte. Für jemanden, der so alt war, wie er sein musste, war das ein seltsamer Name, fand sie. Er klang ziemlich modern. Vermutlich hatte er sich irgendwann umbenannt. Lyra hatte gehört, dass Vampire das gelegentlich taten. Da sie so lange lebten, hatten sie manchmal die Nase voll von dem Namen, den sie bei ihrer Geburt bekommen hatten. Vielleicht sollte sie auch ... aber im Grunde gefiel es ihr, dass sie sonst niemanden mit dem Namen Lyra kannte.
»Da habe ich damals wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen «, sagte Jaden. »Statt so auf mich loszugehen, solltest du lieber ein bisschen Dankbarkeit zeigen. Gegen diesen Typen da hättest du keine Chance gehabt. Ich habe alles beobachtet. In dem Moment, als er dich an den Haaren gepackt hat, hattest du verloren.«
Sie mochte ihn ja vielleicht irgendwie attraktiv gefunden haben, aber dieses Gefühl verflüchtigte sich schlagartig. War er also doch nur ein arroganter Vampir. Dass er recht hatte, änderte daran gar nichts. Tatsache blieb, dass er und seinesgleichen einfach keinen Respekt vor ihr und ihren Leuten hatten.
»Mir wäre schon noch was eingefallen«, knurrte sie und trat näher auf ihn zu. »Ich brauche keinen Retter in Katzenvampirgestalt, der meint, ich müsste ihm vor lauter Dankbarkeit die Pfoten lecken.«
Jaden runzelte die Stirn und lächelte sie spöttisch an. Er wusste genau, dass sie ihn gebraucht hatte ... oder irgendjemand anderen. Aber das ging ihr total gegen den Strich. Man hielt sie sowieso schon für ungeeignet als Anführerin, nur weil sie eine Frau war. Ihr ganzes Leben war es immer nur darum gegangen, Stärke zu beweisen, zu schauen, was die Männer des Rudels taten, um es dann besser zu machen. Dass man sie vor einem einzelnen Wolf retten musste, nur weil sie einen Moment lang nicht aufgepasst hatte, war zutiefst erniedrigend. Das einzig Gute war, dass ihr Rudel nie etwas davon erfahren würde. Und Marks Rudel vermutlich genauso wenig. Rasch warf sie einen Blick auf den Bewusstlosen und hätte bei seinem Anblick beinahe verächtlich den Mund verzogen. Sie würde nicht die Einzige sein, die nicht wollte, dass diese Geschichte bekannt wurde.
»Dann betrachte ich das jetzt mal als deine Art, mir zu danken, nachdem mehr offensichtlich nicht drin ist«, sagte Jaden.
»Mach doch, was du willst«, erwiderte Lyra. »Hauptsache, du verschwindest. Ich bin nicht in der Stimmung zu reden, und - sei froh - auf Katzenjagd habe ich gerade auch keine Lust. Das könnte sich allerdings ändern.« Aus irgendeinem Grund schien ihn das zu amüsieren, also kniff Lyra die Augen zusammen und forderte ihn nochmals auf zu verschwinden.
Sie hatte eigentlich erwartet, dass er jetzt, wo es keine weitere Heldentat mehr zu vollbringen gab, endlich abziehen würde. Doch zu ihrer Überraschung blieb er. Und zu ihrer noch größeren Überraschung drehte auch sie sich nicht um und ging, was sie - wie sie genau wusste - eigentlich hätte tun sollen. So nah, wie sie jetzt vor ihm stand, konnte sie seinen Geruch deutlich wahrnehmen. Er roch unverwechselbar nach Vampir, ein Geruch wie ein seltenes, uraltes Gewürz, den er selbst vermutlich gar nicht wahrnahm. Genau wie man ihr bei verschiedenen denkwürdigen Gelegenheiten erklärt - oder besser gesagt: ihr entgegengeknurrt - hatte, dass ihre Gattung nach wildem Tiermoschus stinke. Immer waren es die Vamps, die so taten, als hätte sie sich im Abfall gewälzt. Sie selbst konnte am Wolfsgeruch nichts Verkehrtes finden.
Aber Jaden reagierte nicht normal auf sie, schreckte nicht vor ihr zurück, als hätte sie eine schreckliche Krankheit. Er verhielt sich, als wäre er ... interessiert. Und das hatte etwas in ihr ausgelöst, musste Lyra feststellen, zumal sie ihn auch nicht unbedingt als eine Beleidigung ihrer Sinne empfand. Für sie roch er angenehm. Richtig angenehm. So angenehm, dass sie sich am liebsten auf den Rücken gewälzt und ...
Rasch trat sie einen Schritt zurück und holte tief Luft. Ihr war klar, was da gerade mit ihr passierte. Ihre Haut war auf einmal ganz warm, ihr Herz schlug schneller, und sie sog gierig Jadens Vampirgeruch ein. Ihre Brustwarzen hatten sich aufgerichtet, und das lag nicht an der Kälte. Sie war erregt, und alles in ihr verlangte danach, dass sie ihn nahm, für ihn ihren Hals entblößte, ihn hinter sich schob, um sich von ihm ... von ihm ...
Lyra schnaubte und starrte Jaden an, als wäre er der Höllenhund höchstpersönlich, eine mystische Bestie, die sie zur Strafe für ihre Treulosigkeit ihrem Rudel gegenüber in die Unterwelt verschleppen würde. Er starrte unverwandt zurück, aus Augen, die jetzt viel katzenhafter wirkten. Die Pupillen waren erweitert und hatten eine längliche Form angenommen, die Iriden leuchteten intensiv blau. Als er zwei Schritte auf sie zutrat und nun so nah vor ihr stand, dass sie seinen Atem an ihrem Gesicht spürte, wusste sie, dass sie in großen Schwierigkeiten steckte.
Allein ihr Stolz hielt sie davon ab, zurückzuweichen. Trotzig blieb sie stehen, selbst als er den Blick seiner ungewöhnlichen Augen auf ihre Lippen richtete. Nervös fuhr sie mit der Zunge darüber. Jadens Kinnmuskeln spannten sich an. Es war nicht unbedingt ein Vorteil, stellte sie fest, dass Jaden höchstens drei Zentimeter größer war als sie. Immer war es ihr zuwider gewesen, wie die Männer ihrer Gattung ihre Größe und Muskelkraft eingesetzt hatten, um sie einzuschüchtern, obwohl sie mit ihren gut ein Meter siebzig auch nicht gerade klein war. Aber ein Gutes hatte dieser Größenunterschied immer gehabt: Wenn diese Männer ihr auf die Pelle gerückt waren, hatte sich ihr Mund nicht so nah an ihrem befunden. Jaden brauchte sich nur noch ein wenig vorzubeugen, und schon hatte er sie.
Das durfte nicht passieren. Allerdings war der Gedanke daran viel verführerischer, als er das hätte sein dürfen. Ihre Haut prickelte angenehm. Ihre Finger zuckten, weil sie sich am liebsten in seine Schultern, in sein Haar gekrallt hätten.
»Du bist mir echt eine«, sagte er leise, und sein britischer Dialekt stellte mit den Muskeln tief unten in ihrem Bauch schreckliche, verbotene Dinge an. »Glaubst, mir auf meinem eigenen Territorium befehlen zu können, wohin ich gehen soll. Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein, Lyra. Du weißt doch, dass die Wölfe aus unseren Städten verbannt worden sind, und diese Stadt gehört jetzt den Lilim. Schon zum zweiten Mal treffe ich dich an einem Ort, wo ich jedes Recht hätte, dich in Stücke zu reißen.«
Das war eine Drohung, aber Lyra wusste sofort, dass sie nicht ernst gemeint war. Jaden hatte nicht vor, sie umzubringen, genauso wenig wie sie vorhatte, ihn anzugreifen. Aber ihr war durchaus klar, dass diese Situation irgendwie aufgelöst werden und sie von ihm wegkommen musste, koste es, was es wolle. Und tatsächlich brachten seine nächsten Worte ihre sowieso schon angespannten Nerven der Zerreißprobe ein weiteres Stück näher.
Er legte den Kopf auf die Seite, was ihm das Aussehen einer neugierigen und nicht gerade wohlgesinnten Katze verlieh.
»Was treibst du überhaupt hier in der Gegend? Erst versteckst du dich in diesem Sicheren Haus in Chicago, und jetzt kreuzt du auf einmal in einer kleinen Stadt in Massachusetts auf, die zufällig der Sitz der neuesten Vampirdynastie ist. Worauf bist du aus?« Er rückte ihr noch ein bisschen näher. »Du spionierst, um deinem Anführer erzählen zu können, wie eine Dynastie nur aus Katzen aussieht, stimmt's? Hast du geglaubt, wir merken es nicht, dass du dich hier rumtreibst? Oder versteckst du dich etwa hier? Vor was läufst du davon, Lyra?«
Lyra schluckte. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, und die Worte wollten einfach nicht kommen. Er würde sowieso glauben, was er glauben wollte, ganz egal was sie sagte.
Seine Gattung hatte ihre noch nie verstanden und würde es auch nie. Auch die Verzweiflung, gegen die sie ankämpfte, würde er nie verstehen, genauso wenig wie ihre Suche nach Ideen oder wenigstens Fitzelchen von Ideen, die ihr irgendwie weiterhelfen würden.
Wirklich schade, dass sie nun nicht länger bleiben konnte. Sie hatte gehofft, irgendwie zu Lily vordringen zu können - natürlich ohne dass Lily sie sah -, um sich ein Bild davon zu machen, wie eine Frau mit so viel Macht und Verantwortung umging. Gab es irgendein Geheimnis, wie sie auftrat, sich bewegte, redete? Wie hatte sie sich einfach derart viel nehmen können, ohne dass die Männer versucht hatten, es ihr streitig zu machen? Die Gerüchte, die sie über den Aufstieg der menschlichen Frau in die höchsten Ränge der Vampirgesellschaft gehört hatte, stimmten. Aber so verrückt die Gründe für die Wölfe auch geklungen hatten - jetzt wusste Lyra, dass auch der Rest der Wahrheit entsprach. Dies hier war jetzt eine Cait-Sith-Dynastie. Eine Dynastie aus Katzengestaltwandlern, egal was für einen Namen sie jetzt trugen. Und falls es eine noch vergiftetere Beziehung als die zwischen seiner und ihrer Gattung gab, dann hatte sie davon zumindest noch nie gehört.
Hier würde sie keine Hilfe finden, schon gar nicht, nachdem ihre Anwesenheit sowohl von einem Cait als auch von einem ihrer unerwünschten Verehrer entdeckt worden war. Wenn Mark sie hier aufgetrieben hatte, würde das anderen ebenfalls gelingen. Darin wurden sie immer besser, je näher die Prüfung rückte. Also würde sie erneut die Flucht ergreifen. Aber diesmal ging es nach Hause, denn allmählich musste sie sich ernsthaft vorbereiten. Allein. Aufsässig schob Lyra das Kinn vor und starrte Jaden in die Augen. »Wohin ich gehe und was ich tue, geht dich nichts an. Aber ›dein‹ Territorium überlasse ich dir gern. Hier gibt es nichts, was für mich von Interesse ist.«
Sie drehte sich um und bekam gerade noch mit, wie seine Augen gefährlich aufblitzten. Eine Hand legte sich um ihren Arm, mit einem Griff, in dem eine Menge kontrollierte Kraft lag. Jaden riss sie so ruckartig zurück, dass sie gegen ihn prallte. Einen kurzen, heißen Moment lang spürte sie jeden Muskel seiner großen, schlanken Gestalt. Sofort wollte sich alles in ihr an ihn schmiegen, wollte diese zwei Körper zu einem Ganzen zusammenschmelzen.
Jaden presste den Mund gegen ihr Ohr und rieb kurz den Kopf an ihrem Haar, wie eine Katze, die ihren Besitz mit ihrem Duft markiert. Sie versuchte, sich dagegen zu wehren - niemand hatte das Recht, sie zu besitzen, und er schon gar nicht! Aber ein leichter Druck seiner kräftigen Hand reichte, sie bewegungsunfähig zu machen.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Lyra«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wovor läufst du davon?« Eine einfache Frage, gestellt von einem Fremden, und dennoch hätte sie ihm
© 2013 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Kendra Leigh Castle
Kendra Leigh Castle ist im kalten Norden New Yorks aufgewachsen, wo sie dank endlos langer Winter ihre Liebe zum Lesen entdeckte. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Maryland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kendra Leigh Castle
- 2013, 1. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Mrugalla, Katrin; Betzenbichler, Richard
- Übersetzer: Katrin Mrugalla, Richard Betzenbichler
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802586530
- ISBN-13: 9783802586538
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