Sturmwarnung / Whisper Island Bd.1
Whisper Island
Ein nervenaufreibendes Katz- und Maus-Spiel - der neue Bestseller von Erfolgsautorin Elizabeth George.
Jeff Corrie hat seinen Geschäftspartner kaltblütig ermordet. Und seine Stieftochter Becca weiß davon. Jetzt ist er hinter ihr her, und...
Jeff Corrie hat seinen Geschäftspartner kaltblütig ermordet. Und seine Stieftochter Becca weiß davon. Jetzt ist er hinter ihr her, und...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Sturmwarnung / Whisper Island Bd.1 “
Ein nervenaufreibendes Katz- und Maus-Spiel - der neue Bestseller von Erfolgsautorin Elizabeth George.
Jeff Corrie hat seinen Geschäftspartner kaltblütig ermordet. Und seine Stieftochter Becca weiß davon. Jetzt ist er hinter ihr her, und ihre Mutter bringt sie auf eine geheimnisvolle, abgeschiedene Insel, wo sie sich bei einer Freundin verstecken soll. Doch als Becca dort ankommt, erfährt sie, dass die Freundin gestorben ist. Verzweifelt versucht sie, ihre Mutter zu erreichen. Ohne Erfolg!
Jeff Corrie hat seinen Geschäftspartner kaltblütig ermordet. Und seine Stieftochter Becca weiß davon. Jetzt ist er hinter ihr her, und ihre Mutter bringt sie auf eine geheimnisvolle, abgeschiedene Insel, wo sie sich bei einer Freundin verstecken soll. Doch als Becca dort ankommt, erfährt sie, dass die Freundin gestorben ist. Verzweifelt versucht sie, ihre Mutter zu erreichen. Ohne Erfolg!
Klappentext zu „Sturmwarnung / Whisper Island Bd.1 “
Ein nervenaufreibendes Katz- und Maus-Spiel - der neue Bestseller von Erfolgsautorin Elizabeth GeorgeJeff Corrie hat seinen Geschäftspartner kaltblütig ermordet. Und seine Stieftochter Becca weiß davon. Jetzt ist er hinter ihr her, und ihre Mutter bringt sie auf eine geheimnisvolle, abgeschiedene Insel, wo sie sich bei einer Freundin verstecken soll. Doch als Becca dort ankommt, erfährt sie, dass die Freundin gestorben ist. Verzweifelt versucht sie, ihre Mutter zu erreichen. Ohne Erfolg!
Lese-Probe zu „Sturmwarnung / Whisper Island Bd.1 “
Sturmwarnung von Elizabeth GeorgeWie alles begann
Der letzte Tag von Hannah Armstrongs Existenz war zunächst ein Tag wie jeder andere. Sie erreichte 94 von 100 Punkten in einem Mathetest und nahm eine Einladung zu einem Kinobesuch am Ende der Woche an. Sie konnte an diesem Tag früher nach Hause, weil eine ihrer Mannschaftskameradinnen beim Volleyball einen Schmetterball auf die Nase bekommen und alles vollgeblutet hatte. Der Coach brach das Training ab, und alle Spielerinnen verließen die Turnhalle. Das war Hannah ganz recht. Sie spielte sowieso nur Volleyball, weil ihre Mutter, die unbedingt wollte, dass Hannah abnahm, darauf bestand. Wie immer ging sie zu Fuß nach Hause. Sie trug ihr Audiogerät nicht, weil sie es außerhalb der Schule eigentlich nicht brauchte. Es sah aus wie ein iPod, gab aber keine Musik wieder. Stattdessen spielte es eine Art atmosphärisches Rauschen ab, das dafür sorgte, dass Hannah die unzusammenhängenden Gedanken anderer Leute nicht mehr hörte. Sie hatte diese abgehackten Gedanken, die sie selbst als Flüstern bezeichnete, seit ihrer frühesten Kindheit wahrgenommen. Dieses Flüstern drang jedoch wie ein schlecht eingestelltes Radio in ihren Kopf ein und machte für sie die Schule zum Albtraum. Deshalb hatte Hannahs Mom einen Apparat für sie anfertigen lassen, den sie AUD-Box nannte. Diese Box trug sie seit ihrem siebten Lebensjahr.
Zu Hause steuerte sie direkt auf die Treppe zu. Sie wollte gerade oben auf ihr Zimmer gehen, als sie sah, wie ihr Stiefvater verstohlen dort herausgeschlichen kam.
... mehr
Ihre Blicke trafen sich. Verdammt ... was macht sie ... wird sie ... warum hat sie nicht drangen Jeff Corries Gedanken abgerissen und scheinbar willkürlich in ihren Kopf ein, so wie es das Flüstern immer tat. Sie blinzelte und runzelte die Stirn, als sie die Wortfetzen hörte, und fragte sich, was ihr Stiefvater in ihrem Zimmer getrieben haben könnte, außer sich erneut zu vergewissern, dass sie ihrer Mutter nichts davon erzählen würde, wie sie ihm bei seinen neuesten zwielichtigen Geschäften half.
Es war nicht so, als hätte sie ihm helfen wollen. Aber Hannahs Mom war Jeff Corrie völlig verfallen, was hauptsächlich an seinem Aussehen und weniger an seinem Charakter lag, und hatte ihm - blind vor Leidenschaft - erzählt, was in Hannahs Kopf vorging, wenn sie die AUD-Box nicht trug. Es hatte nicht lange gedauert, bis er einen Weg gefunden hatte, seinen eigenen Nutzen aus Hannahs Gabe zu ziehen. Er beschloss, sie in seinem Investmentbüro »anzustellen«, damit sie Kaffee, Sandwiches und Erfrischungen brachte, sie auf dem Tisch anrichtete und gleichzeitig dem Flüstern seiner Kunden lauschte, um ihre Schwächen auszuspionieren. Auf diese Weise brachten er und sein Kumpel Connor alte Leute um ihr Geld. Es war ein großartiges Geschäftsmodell, mit dem sie Millionen kassierten.
Hannah hatte ihm nie helfen wollen. Sie wusste, dass es falsch war. Aber dieser Mann jagte ihr genauso Angst ein wie die Tatsache, dass sein Flüstern, das, was er sagte, und sein Blick nie dasselbe ausdrückten. Sie verstand nicht, was das bedeutete. Ihr war jedoch klar, dass es nichts Gutes verhieß. Deshalb erzählte sie niemandem davon. Sie tat einfach, was man ihr sagte, und wartete auf das, was auch immer als Nächstes passieren würde.
Sie hatte keine Ahnung, dass es genau an diesem Nachmittag passieren würde.
Jeff Corrie fragte: »Was machst du so früh zu Hause?« Er sah auf ihr rechtes Ohr, in dem sonst der einzelne Kopfhörer der AUD-Box steckte.
Hannah kramte die Box aus ihrer Tasche, klemmte sie am Bund ihrer Jeans fest und stöpselte sich den Hörer ins Ohr. Er kniff die Augen zusammen, bis er sah, wie sie die Lautstärke aufdrehte. Erst dann schien er sich zu entspannen.
»Das Training ist ausgefallen«, erwiderte sie.
»Dann mach deine Hausaufgaben«, sagte er.
Er ging an ihr vorbei die Treppe hinunter. Sie hörte, wie er schrie: »Laurel? Wo zum Teufel bist du? Hannah ist zu Hause.« Als müsste seine Frau deswegen irgendetwas unternehmen.
Hannah stellte ihren Rucksack in ihr Zimmer. Auf den ersten Blick sah alles genau so aus, wie sie es heute Morgen zurückgelassen hatte, nur dass jetzt ein Stapel frischer Handtücher auf ihrem Bett lag. Hatte Jeff ihn vielleicht dort hingelegt? Das wäre eine logische Erklärung. Trotzdem ging Hannah zum Nachttisch und überprüfte die Schublade.
Der schmale Streifen Tesafilm war abgerissen. Jemand hatte die Schublade geöffnet. Jemand hatte ihr Tagebuch gelesen.
Es reicht nicht, dachte sie, dass ich ihm und seinem Freund helfe. Jetzt will er auch noch meine Gedanken kontrollieren. Na, viel Glück, wenn du herausfinden willst, was ich von der ganzen Sache halte, Daddy Jeff, spottete Hannah insgeheim. Glaubst du allen Ernstes, ich würde aufschreiben, was ich wirklich denke, und es in meinem Zimmer liegen lassen, damit du es lesen kannst?
Sie ging aus ihrem Zimmer und die Treppe hinunter. Sie hörte, wie sich ihre Mom und Jeff Corrie in der Küche unterhielten. Als sie in die Küche kam, wandte sie ihnen sogleich den Rücken zu, um nicht mitansehen zu müssen, wie sich ihr Stiefvater an den Hals ihrer Mutter schmiegte.
Er raunte: »Wie wär's mit jetzt?« Laurel lachte und schob ihn scherzhaft von sich weg. Aber Hannah wusste, dass ihrer Mutter diese Spielchen gefielen. Sie liebte den Kerl. Und ihre Liebe war so taub und dumm, wie sie blind war.
Hannah sagte: »Hi, Mom.« Sie öffnete den Kühlschrank und nahm eine Tüte Milch heraus.
Laurel erwiderte: »Hey. Zu Jeff sagst du nicht Hallo?«
»Den habe ich oben schon gesehen«, sagte Hannah und fügte hinzu: »Hat er dir das nicht gesagt, Mom?«, nur um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Am liebsten hätte sie: Trau ihm nicht, trau ihm nicht! herausgeschrien. Aber sie durfte nur Andeutungen machen. Sie konnte nichts offen aussprechen.
Zwischen Laurel und Jeff trat einen Moment lang Schweigen ein. Die Kühlschranktür stand immer noch offen. Hannah verbarg sich dahinter und drehte die Lautstärke der AUD-Box herunter.
Er ist nicht ... er kann nicht ... das musste das Flüstern ihrer Mutter sein.
Sie versuchte, Jeff zu hören, aber da war nichts.
Dann veränderte sich alles, und Hannahs bisheriges Leben nahm ein jähes Ende.
... die kleine Schlampe kommt dahinter ... ein Einbruch ... Überraschung ... Connor ... sie wird es wissen, wenn sie hört, dass eine Waffe ... weil heutzutage tot nicht immer tot bedeutet ...
Die Tüte rutschte ihr aus den Fingern und Milch schwappte über den Boden. Sie wandte sich abrupt um und ihre Augen trafen Jeffs Blick.
»Tollpatsch«, sagte er, doch ihm ging etwas ganz anderes durch den Kopf.
Sein Blick wanderte zu Hannahs Ohr und dann zur AUD-Box an ihrer Hüfte.
Sie weiß es, war das Letzte, was Hannah hörte, bevor sie aus der Küche rannte.
TEIL I
DIE KLIPPE
Kapitel 1
Becca Kings Mutter Laurel hatte den Porsche-Geländewagen bei der erstbesten Gelegenheit verkauft, nachdem sie den kurvenreichen Abschnitt der Interstate fünf hinuntergefahren waren, der in Kalifornien als »The Grapevine« bekannt war. Sie verkaufte den Wagen unter Wert, aber Geld spielte keine Rolle. Aus San Diego zu verschwinden und den Porsche loszuwerden hingegen schon. Sie tauschte ihn gegen einen Jeep Wrangler, Baujahr 1998, und sobald sie die Bundesgrenze zwischen Kalifornien und Oregon überquert hatten, hielt sie gleich wieder nach einem Händler Ausschau, dem sie den Jeep andrehen konnte. Ein Toyota RAV4, Baujahr 1992, kam als Nächstes. Aber mit dem fuhren sie lediglich bis zur Grenze nach Washington. Dort stieß Laurel den Toyota so schnell wie möglich ab, stellte dabei sicher, dass alles legal lief, und kaufte einen 1988er Ford Explorer, mit dem Mutter und Tochter seither unterwegs waren. Becca stellte das Vorgehen ihrer Mutter kein einziges Mal infrage. Sie kannte den schrecklichen Grund, warum das alles notwendig war. Er war der gleiche, aus dem es Hannah Armstrong nicht mehr geben durfte. Denn sie und ihre Mutter waren auf der Flucht und ließen Haus, Schule und Namen zurück. Jetzt saßen sie in Mukilteo, Washington, im Explorer. Das Auto stand rückwärts in einer Parklücke vor Woody's Market, einem alten Laden mit Holzfußboden, direkt gegenüber von Whidbey Island, das auf der anderen Seite des Wassers lag.
Es war früh am Abend und ein schwerer Dunstschleier, der sich noch nicht gänzlich zu einem richtigen Nebel verdichtet hatte, hing zwischen dem Festland und der Insel. Von hier aus betrachtet, war Whidbey Island nichts weiter als ein riesiger, von hohen Nadelbäumen gekrönter Felsbrocken, an dessen Fuß sich ein paar wenige Häuser wie eine Lichterkette an der Küste entlangschlängelten. Für Becca, die ihr ganzes Leben in San Diego verbracht hatte, wirkte der Ort bedrohlich und fremd. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf dieser Insel, die so weit weg lag, ein neues Leben zu beginnen, damit ihr Stiefvater ihr nichts anhaben konnte. Laurel hingegen erschien die Insel wie ein Sicherheitsnetz, in dem sie ihre Tochter in der Obhut einer Freundin aus Kindertagen zurücklassen konnte, bis sie für sie beide einen dauerhaften Zufluchtsort in British Columbia eingerichtet hatte. Dort, glaubte sie, würde Jeff Corrie sie und Becca nicht aufspüren können.
Laurel war unglaublich erleichtert gewesen, dass ihre Freundin wegen Laurels langjährigem unkonventionellen Lebensstil keine Fragen gestellt hatte. Carol Quinn hatte sich nicht einmal überrascht darüber gezeigt, dass Laurel sie zwar darum bat, sich um ihre vierzehnjährige Tochter zu kümmern, ihr jedoch nicht einmal annähernd sagen konnte, für wie lange.
Anstatt irgendetwas zu hinterfragen, hatte Carol gesagt: »Kein Problem, bring sie zu mir, sie kann mir hier zur Hand gehen. Ich habe mich in letzter Zeit nicht sehr wohlgefühlt und könnte ein wenig Hilfe im Haus gebrauchen.«
»Aber wirst du es für dich behalten?«, hatte Laurel sie immer wieder gefragt.
»Bis ins Grab«, hatte Carol Quinn ihr versprochen. »Mach dir keine Sorgen, Laurel. Bring sie her.«
Jetzt ließ Laurel ihr Fenster ein paar Zentimeter herunter und bat Becca, dasselbe zu tun, damit die Windschutzscheibe nicht ständig beschlug. Es war Mitte September und ihr war überhaupt nicht klar gewesen, dass sich das Wetter so verändern würde. In Südkalifornien war der September der heißeste Monat des Jahres, die Hauptsaison für Waldbrände, die von Wüstenwinden angefacht wurden. Hier fühlte es sich jedoch bereits wie Winter an. Laurel zitterte und griff sich hinten aus dem Auto ein Sweatshirt, das auf dem Vorderrad von Beccas altem Zehn-Gang- Fahrrad lag.
Sie fragte: »Ist dir kalt?«
Becca schüttelte den Kopf. Sie atmete tief ein. Normalerweise tat sie das, um sich zu beruhigen, aber diesmal hatte es einen anderen Grund: Der Duft von Eiswaffeln lag in der Luft und er kam aus Woody's Market.
Sie waren schon im Laden gewesen. Becca hatte nach einem Eis gefragt, worauf Laurel automatisch entgegnet hatte: »In den Mund und direkt auf die Hüften.« Obwohl sie auf der Flucht vor einem Mörder waren, zählte sie immer noch unbeirrt die Kalorien, die ihre Tochter zu sich nahm. Aber Becca hatte Hunger. Sie hatten seit dem Mittagessen nichts mehr gegessen. Ein kleiner Imbiss würde ihre Oberschenkel bestimmt nicht wie Hefeteig aufgehen lassen.
Sie begann: »Mom ...« Ihr Magen knurrte.
Laurel wandte sich ihr zu. »Sag mir, wie du heißt.«
Sie waren diese Übung seit ihrer Flucht aus San Diego fünfmal am Tag durchgegangen, daher war Becca nicht sonderlich darauf erpicht, es schon wieder zu tun. Sie verstand, wie wichtig es war, aber sie war ja nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatte alles auswendig gelernt. Sie seufzte und wandte den Kopf ab. »Becca King«, antwortete sie.
»Und was ist deine wichtigste Aufgabe?«
»Carol Quinn im Haus zu helfen.«
»Tante Carol«, sagte Laurel. »Du sollst sie Tante Carol nennen.«
»Tante Carol, Tante Carol, Tante Carol«, wiederholte Becca.
»Sie weiß, dass du nur wenig Geld hast, bis ich dir mehr schicken kann«, erklärte Laurel. »Aber je mehr du ihr helfen kannst ... Du verdienst dir damit praktisch deinen Lebensunterhalt.«
»Ja«, sagte Becca. »Ich werde mein Leben in vorübergehender Knechtschaft fristen, weil du einen durchgeknallten Psychopathen geheiratet hast, Mom.«
Oh Gott, was hat er dir nur angetan, du bist doch mein einziges ...
»Es tut mir leid«, sagte Becca, als sie das schmerzerfüllte Flüstern ihrer Mutter hörte. »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«
»Verschwinde aus meinem Kopf«, gab Laurel zurück. »Und sag mir deinen Namen. Deinen ganzen Namen diesmal.«
Zu Beccas Rechten befanden sich ein großer Parkplatz und die Hauptstraße, die beim Fähranleger endete. Leute schlenderten zu einer Imbissbude neben dem Hafenbecken. Ein durch den Dunst leuchtendes Schild verkündete, dass die Imbissbude Ivar's hieß, und es hatte sich eine Schlange von Kunden gebildet, die sich etwas zu essen kauften. Beccas Magen meldete sich noch einmal knurrend zu Wort.
»Sag mir, wie du heißt, Becca«, wiederholte Laurel. »Es ist wirklich wichtig.«
Auch wenn ihre Stimme ganz ruhig klang, schwang in dem sanften Tonfall Los, komm schon, wir haben nur noch wenig Zeit, danach lasse ich dich in Ruhe mit und Becca konnte spüren, wie die Gedanken ihrer Mutter, die im Vergleich zum Flüstern anderer Leute immer klar und deutlich waren, auf sie zuströmten und in ihr Gehirn eindrangen. Sie wollte ihrer Mom sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Sie wollte ihr sagen, dass Jeff Corrie sie vielleicht vergessen würde. Aber sie wusste, dass die erste Aussage zwecklos und die zweite eine glatte Lüge war.
Becca drehte sich wieder zu ihrer Mutter. Ihre Blicke trafen sich, und Hört her meine Kinder und gebt gut acht auf Paul Reveres Ritt durch die dunkle Nacht kam von Laurel.
»Sehr witzig«, sagte Becca. »Es wäre schön gewesen, wenn du in der sechsten Klasse noch irgendwas anderes auswendig gelernt hättest.«
»Sag mir, wie du heißt«, wiederholte Laurel noch einmal.
»Ist ja gut, ist ja gut. Rebecca Dolores King.« Becca schnitt eine Grimasse. »Mein Gott. Muss es wirklich Dolores sein? Ich meine, wer heißt heutzutage schon Dolores?«
Laurel ignorierte die Frage. »Woher kommst du?«
Becca antwortete geduldig, weil Geduld in diesem Augenblick das einzig Vernünftige war: »San Luis Obispo. Davor Sun Valley, Idaho. Ich bin in Sun Valley geboren, aber ich bin weggezogen, als ich sieben war. Meine Familie ist damals nach San Luis Obispo umgezogen.«
»Warum bist du hier?«
»Ich wohne bei meiner Tante.«
»Wo sind deine Eltern?«
»Meine Mom ist bei einer Ausgrabung in ...« Becca runzelte die Stirn. Zum ersten Mal seit ihrer überstürzten Abreise aus Kalifornien konnte sie sich nicht daran erinnern. Es musste wohl daran liegen, dass sie so hungrig war, denn sie war nie in Topform, wenn sie Hunger oder Durst hatte. Sie sagte: »Verdammt. Ich kann mich nicht erinnern.«
Laurel ließ den Kopf gegen die Kopfstütze ihres Sitzes prallen. »Du musst dich erinnern. Es ist wichtig. Es geht um Leben und Tod. Wo sind deine Eltern?«
Becca sah ihre Mutter an und hoffte auf einen Hinweis, schnappte aber lediglich im April 75 am Achtzehnten des Monats, was kaum einer mehr in Erinnerung hat auf, was ihr keine große Hilfe war. Sie blickte zurück zu Ivar's Imbissbude. Eine gebeugt gehende Frau drehte sich gerade mit einer Schachtel in der Hand von der Theke weg, und sie sah so alt aus ... Da fiel es Becca wieder ein. Alt. Old.
»Olduvai-Schlucht«, platzte sie heraus. »Meine Mom ist bei einer Ausgrabung in der Olduvai-Schlucht.« Das war eine ausgemachte Lüge, aber kurz bevor sie vor Jeff Corrie geflohen waren, hatte Becca ein altes Buch darüber gelesen, wie ein ehrgeiziger Absolvent der Universität von Chicago Lucy alias Australopithecus afarensis in der Olduvai-Schlucht entdeckt hatte. Sie hatte selbst vorgeschlagen, aus ihrer Mutter eine Paläontologin zu machen. Sie fand, es klang romantisch.
Laurel nickte zufrieden. »Was ist mit deinem Vater? Wo ist dein Vater? Hast du keinen Vater?«
Becca verdrehte die Augen. Ihr war klar, dass dieses Fragespiel weitergehen würde, bis die Fähre kam, weil ihre Mutter auf keinen Fall an etwas anderes denken wollte. Vor allem wollte sie nicht darüber nachdenken, dass sie ihre Tochter in Gefahr gebracht hatte. Deshalb erwiderte sie: »Welchen Vater meinst du denn, Mom?«, griff in ihre Tasche, holte den einzelnen Kopfhörer ihrer AUD-Box hervor und steckte ihn sich ins Ohr. Sie drehte die Lautstärke auf und ihr Kopf füllte sich mit Rauschen, das sie beruhigte wie das Gefühl von Satin auf blanker Haut.
Laurel streckte die Hand aus und riss Becca den Kopfhörer aus dem Ohr. »Es tut mir leid, was passiert ist. Es tut mir leid, dass ich nicht so bin, wie du es gerne hättest. Das Dumme ist nur: Das ist niemand.«
Da stieg Becca aus dem Auto. Sie hatte genug Geld in ihrer Jeans, um sich etwas zu essen zu kaufen, und noch mehr Geld in ihrer Jackentasche. Sie hatte die feste Absicht, es auszugeben. In ihrem Rucksack war sogar noch mehr Geld, für den Fall, dass sie alles auf der Speisekarte ausprobieren wollte. Aber der Rucksack war mit ihrem Fahrrad im Kofferraum des Explorers und wenn sie versuchte, ihn zu holen, würde ihre Mutter sie bestimmt davon abhalten.
Becca überquerte die Straße. Linker Hand konnte sie die Fähre einfahren sehen, und sie blieb kurz stehen und beobachtete, wie sie immer näher kam. Als Laurel ihr eröffnet hatte, dass sie die Fähre nach Whidbey Island nehmen würde, hatte Becca an die einzige Fähre gedacht, auf der sie je gewesen war: ein offenes Boot in Newport Beach, Kalifornien. Das Ding, das sich ihnen jetzt näherte, war von einem ganz anderen Kaliber. Es war riesig, mit einem Innen- und Außenbereich und einem weit aufgerissenen Schlund an der Vorderseite, in den Autos einfahren konnten. Es war erleuchtet wie ein Flussdampfer und wurde von Möwen umkreist.
Die Schlange vor Ivar's Imbiss war kürzer geworden, als Becca dort ankam. Sie bestellte eine Muschelsuppe und vergewisserte sich vorher, dass sie nach Neuengland-Art mit Milch und Kartoffeln zubereitet war und somit schwindelerregend viele Kalorien hatte. Sie bat um einen zusätzlichen Beutel Cracker, die sie in der Suppe schwimmen ließ, und bezahlte mit Kleingeld. Sie legte sorgfältig eine Münze nach der anderen auf die Theke, und oh verdammt, was soll der Mist, du dummes Huhn? verriet ihr, dass die Verkäuferin darüber alles andere als erfreut war. Becca sah auch warum, als die Verkäuferin die Münzen mit Fingern ohne Fingernägel von der Theke fischen musste. Sie hatte sich die Nägel bis zum Nagelbett abgekaut. Es war ein hässlicher Anblick und Becca konnte der Verkäuferin ansehen, dass sie es hasste, sie zu zeigen.
Becca überlegte, sich zu entschuldigen, bedankte sich jedoch stattdessen nur und schlenderte mit ihrer Muschelsuppe hinüber zum Zeitungskiosk. Sie stellte die Plastikschüssel mit der Suppe ab und steckte den Löffel hinein, während sie zusah, wie sich die Fähre dem Festland näherte.
Das Essen entsprach nicht ihren Erwartungen. Sie hatte gedacht, dass es wie die Muschelsuppe ihres vorvorletzten Stiefvaters schmecken würde. Er hieß Pete und bereitete seine Suppe mit Mais zu, und Becca liebte Mais. Popcorn, Maiskolben, gefrorener Mais. Es spielte keine Rolle. Laurel behauptete, man füttere Kühe und Schweine mit Mais, damit sie fett wurden, aber da Laurel das über fast alles sagte, was Becca gerne aß, zerbrach sie sich darüber nicht weiter den Kopf.
Doch diese Muschelsuppe hier war einen Streit mit Laurel einfach nicht wert. Deshalb aß Becca sie nur zur Hälfte auf. Dann warf sie die Plastikschüssel in einen Mülleimer und rannte zurück zum Explorer.
Laurel telefonierte gerade. Ihr Gesicht sah ohne die übliche Sprühbräune grau und runzlig aus. Zum ersten Mal kam sie Becca alt vor, aber dann lächelte Laurel und nickte und fing an, auf die für sie typische Art loszuplappern, bei der niemand anderes zu Wort kam. Bestimmt redete sie gerade wieder auf Carol Quinn ein, dachte Becca. Ihre Mom hatte sie seit ihrer Flucht zweimal am Tag angerufen, um sicherzugehen, dass jedes kleinste Detail ihres Plans unwiderruflich in Stein gemeißelt war.
Ihre Blicke trafen sich und Becca hörte: niemand kommt zu Schaden, aber der Gedanke brach abrupt ab, so wie eine Radiosendung abrupt abbricht, wenn jemand den Sender wechselt, und was als Nächstes über den Äther kam, war: ein Licht wenn vom Land und zwei wenn von der See und ich am anderen Ufer werd stehn. Es war wie das Rauschen aus der AUD-Box und funktionierte genauso gut. Laurel sagte etwas in ihr Handy und beendete das Gespräch.
Becca setzte sich auf den Beifahrersitz. Ihre Mutter fragte scharf: »War das Muschelsuppe mit Kartoffeln, die du da gegessen hast?«
Becca erwiderte: »Ich hab sie nicht ganz aufgegessen.«
Dann reite ich los und schlage Alarm, in jedem Dorf und auf jeder Farm ersetzte, was Laurel eigentlich sagen wollte, doch es spielte keine Rolle und Becca teilte ihr das auch mit: »Hör auf damit«, sagte sie. »Ich weiß sowieso, was du denkst.«
Laurel entgegnete: »Lass uns jetzt nicht streiten.«
Sie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus und strich ihr durchs Haar. »Wenn die Fähre anlegt, wird Carol schon dort sein und auf dich warten«, sagte sie ruhig. »Sie hat einen Pick-up für das Fahrrad, mach dir deswegen also keine Sorgen. Sie weiß, wie du aussiehst, und falls sie noch nicht da sein sollte, wenn du ankommst, musst du einfach eine Weile warten. Sie wird dann sicher bald kommen. In Ordnung, Schatz? Hey, hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Becca hatte es gehört. Sie hatte die Worte gehört. Sie spürte auch die Gefühle, die in ihnen mitschwangen. Sie sagte: »Es ist nicht deine Schuld, Mom.«
»Es gibt mehr als eine Art von Schuld. Wenn du das noch nicht weißt, wirst du's bald herausfinden, glaub mir.«
Becca griff nach ihrem Rucksack im Kofferraum des Fords. Laurel sagte: »Wo ist deine Brille? Du musst sie jetzt aufsetzen.«
»Niemand schaut mich an.«
»Du musst sie aufsetzen. Du musst es dir angewöhnen. Wo ist die Extrapackung Haartönung? Wie viele Batterien für die AUD- Box hast du dabei? Wie heißt du? Wo ist deine Mutter?«
Becca blickte sie an. Hört her, meine Kinder, hört her, meine Kinder, aber es war völlig unnötig, dass Laurel, die sich gerade nicht einmal an die restlichen Zeilen erinnerte, das Gedicht ständig wiederholte. Denn Becca konnte ihr genau ansehen, was los war. Jeder hätte es ihr ansehen können. Ihre Mutter hatte furchtbare Angst. Sie folgte allein ihrem Instinkt, so wie sie es immer tat. Aber da das beim letzten Mal dazu geführt hatte, Jeff Corrie zu heiraten, vertraute sie ihrem Bauchgefühl nicht mehr.
Becca beruhigte sie. »Mom. Ich werde schon klarkommen.« Sie war überrascht, als sich Laurels Augen mit Tränen füllten. Ihre Mutter hatte kein einziges Mal geweint, seit sie San Diego verlassen hatten. Das letzte Mal hatte Becca sie in Tränen gesehen, nachdem sie erfahren hatte, wer Jeff Corrie wirklich war und was er getan hatte. »Wir können nicht zur Polizei gehen«, hatte ihre Mutter ihr schluchzend erklärt, »Gott im Himmel, Schatz, wer würde uns das glauben? Wir können nichts beweisen.«
Deshalb hatte sie diesen Plan geschmiedet. Sie waren geflohen und jetzt waren sie hier am Rand der Welt. Und von hier gab es kein Zurück mehr.
Becca nahm die Hand ihrer Mutter. »Hey, Mom. Hör mal zu, was ich weiß«, sagte sie.
»Was weißt du?
»Rebecca Dolores King, Mom. San Luis Obispo. Meine Tante Carol auf Whidbey Island. Carol Quinn. Olduvai-Schlucht.«
Laurel blickte über Beccas Schulter. Der Verkehrslärm zeigte an, dass die Fähre angekommen war und Fahrzeuge ausfuhren.
»Oh Gott«, flüsterte Laurel.
»Mom«, sagte Becca. »Es ist alles in Ordnung. Wirklich.«
Sie schob die Tür auf und ging zum Kofferraum. Ihre Mutter stieg aus und folgte ihr. Zusammen hoben sie ihr Fahrrad heraus und befestigten die beiden Satteltaschen. Becca setzte den schweren Rucksack auf, kramte vorher aber noch die Brille mit ihren völlig nutzlosen Fenstergläsern hervor und setzte sie auf.
»Karte der Insel?«, fragte ihre Mutter.
»Ist im Rucksack.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Und Carols Adresse? Nur für alle Fälle.«
»Die habe ich auch.«
»Wo ist das Handy? Denk dran, da ist nur eine begrenzte Anzahl Minuten drauf. Meine Nummer ist schon eingespeichert. Nur für Notfälle. Sonst nichts. Das ist wichtig. Das darfst du nicht vergessen.«
»Ich werd's nicht vergessen. Und es ist in meinem Rucksack, Mom. Und an alles andere habe ich auch gedacht. Die AUD-Box. Ersatzbatterien. Mehr Haartönung. Alles.«
»Wo ist deine Fahrkarte?«
»Hier. Mom, es ist alles da. Versprochen.«
Oh Gott, oh Gott, oh Gott.
»Ich geh jetzt besser«, sagte Becca, während sie den Strom der Fahrzeuge betrachtete, der sich jenseits des Fährhafens in Richtung Stadt ergoss.
»Schau mich an, Schatz«, sagte Laurel.
Becca wollte sie nicht ansehen. Sie hatte Angst und brauchte nicht noch mehr Angst zu hören. Aber da sie wusste, wie wichtig es war, ihre Mutter zu beruhigen, wandte sie ihr den Blick zu, als Laurel sie aufforderte: »Schau mir in die Augen. Sag mir, was du siehst. Sag mir, was du weißt.«
Und da war kein nächtlicher Ritt des Paul Revere mehr. Da war nur eine einzige Botschaft.
»Du kommst zurück«, erklärte Becca.
»Das werde ich«, versprach Laurel. »So schnell ich kann.«
Kapitel 2
Die Fußgänger und Radfahrer gingen als Erste an Bord. Sie waren eine recht große Gruppe, und Becca folgte ihnen. Die Passagiere mit Fahrrädern bewegten sich durch einen dreispurigen Tunnel auf einen Eingang an der Vorderseite der Fähre zu. Die Fußgänger steuerten auf eine Treppe zu. Einige kramten in ihren Taschen und Geldbörsen, woraus Becca schloss, dass es auf der oberen Etage etwas zu kaufen gab, vermutlich Essen oder heiße Getränke. Gegen beides hätte sie nichts einzuwenden gehabt, weil eine kühle Brise vom Wasser herüberwehte und sie vor Kälte zitterte und immer noch Hunger hatte. Im vorderen Bereich der Fähre stellten die Leute ihre Räder ab. Becca tat es ihnen gleich. Sie hatte vor, zurück zur Treppe zu gehen, um sich etwas zu essen zu besorgen, doch das plötzliche Dröhnen von Motorrädern ließ sie innehalten. Der Lärm verstärkte sich, weil die Motorräder durch den Fährtunnel kamen. Obwohl es nur vier waren, klang es, als wären es zwanzig, und ihnen folgte eine Reihe von Achtachsern. Dahinter kamen die Pkws, die sich in vier Spuren anordneten, jeweils zwei auf beiden Seiten des Haupttunnels. Der ohrenbetäubende Lärm wäre kein Problem gewesen, weil Becca ihre AUD-Box dabeihatte. Sie steckte sich den Kopfhörer ins Ohr, drehte die Lautstärke auf und konzentrierte sich auf das Rauschen, das die AUD-Box von sich gab. Aber in diesem Augenblick sah sie das erste Auto, das durch den Seitentunnel einfuhr und gleich neben ihrem Fahrrad zum Stehen kam. Es war ein Polizeiwagen.
Wenn einem sprichwörtlich das Blut in den Adern gefrieren kann, passierte Becca genau das in diesem Moment. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, was Jeff Corrie mit Sicherheit als Erstes unternommen hatte, als er feststellte, dass seine Frau und seine Stieftochter verschwunden waren: die Polizei rufen, sie beide als vermisst melden und die Öffentlichkeit alarmieren, um sie so schnell wie möglich zu finden, damit er Becca und das, was sein Flüstern ihr verraten hatte, für alle Zeiten auslöschen konnte. »Angriff ist die beste Verteidigung«, war schon immer Jeffs Lieblingsmotto gewesen, und wie hätte er besser in die Offensive gehen können? Becca konnte sich sogar vorstellen, wie das Flugblatt aussah, das er wohl entworfen hatte und wahrscheinlich überall verteilte. Es steckt bestimmt an einem Klemmbrett in dem Polizeiwagen, dachte sie bei sich, mit meinem und Moms Gesicht darauf.
Sie wandte sich langsam von dem Polizeiwagen ab, fest entschlossen, stur geradeaus zu schauen. Ein plötzliches Abwenden hätte womöglich Aufmerksamkeit erregt, und der Gedanke, sich keine zehn Minuten, nachdem sie ihre Mutter zurückgelassen hatte, zu verraten, war so schrecklich, dass sie das Gefühl hatte, Neonpfeile zeigten von der Decke der Fähre direkt auf sie hinunter, sodass der Polizist sicher gleich aus dem Wagen steigen und sie ausfragen würde.
Aber die Anspannung und die Ungewissheit, ob man sie bemerkt hatte, waren zu viel für Becca. Obwohl sie wusste, dass sie sich damit einem noch heftigeren Ansturm aussetzte, der wie Schlaghämmer in ihrem Kopf dröhnen würde, blieb ihr nichts anderes übrig: Sie drehte die AUD-Box leiser, um ein paar nützliche Informationen aufzuschnappen.
Es war fast unmöglich, irgendetwas deutlich zu hören. Da war: Nancy verdammt, und: das Abendessen wird nicht, und: Nagellack überall im verdammten Auto, und: habe mit meinem Chef über die Situation gesprochen, und: William muss zum Friseur, bis sie auf einmal von einer Wärme erfüllt wurde, die man als Allerletztes an diesem kalten, klammen Ort vermuten würde. Die Wärme wurde von einem Duft begleitet, der ebenso fehl am Platz war. Dort, wo ihr eigentlich Dieseldämpfe und Abgase von den Autos und Motorrädern in die Nase hätten steigen müssen, nahm sie den süßen Geruch von gekochten Früchten wahr. Der Duft war so stark, dass Becca zu dem Polizeiwagen herumwirbelte, noch bevor ihr richtig bewusst wurde, was sie tat.
Aber sie dachte nicht daran, was passieren könnte. Im Augenblick wollte sie nur herausfinden, wo diese Wärme und dieser Duft herkamen.
Da sah sie ihn zum ersten Mal, den Jungen, der ihr Leben völlig verändern würde. Er war etwa so alt wie sie und saß in dem Polizeiwagen. Er saß auf dem Beifahrersitz, nicht hinten, und unterhielt sich mit dem Polizisten. Sie blickten beide ernst, und der Kontrast zwischen ihnen hätte nicht größer sein können.
Der Junge war schwarz, tiefschwarz, und die Mitternachtsfarbe seiner Haut ließ den Polizisten neben ihm noch weißer erscheinen. Der Junge war außerdem völlig kahlköpfig, aber nicht, weil er krank war, sondern aus Überzeugung. Es stand ihm sehr gut, und im Gegensatz zu ihm hatte der Polizist eine Menge braun-grau meliertes Haar.
Copyright © 2013 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Ihre Blicke trafen sich. Verdammt ... was macht sie ... wird sie ... warum hat sie nicht drangen Jeff Corries Gedanken abgerissen und scheinbar willkürlich in ihren Kopf ein, so wie es das Flüstern immer tat. Sie blinzelte und runzelte die Stirn, als sie die Wortfetzen hörte, und fragte sich, was ihr Stiefvater in ihrem Zimmer getrieben haben könnte, außer sich erneut zu vergewissern, dass sie ihrer Mutter nichts davon erzählen würde, wie sie ihm bei seinen neuesten zwielichtigen Geschäften half.
Es war nicht so, als hätte sie ihm helfen wollen. Aber Hannahs Mom war Jeff Corrie völlig verfallen, was hauptsächlich an seinem Aussehen und weniger an seinem Charakter lag, und hatte ihm - blind vor Leidenschaft - erzählt, was in Hannahs Kopf vorging, wenn sie die AUD-Box nicht trug. Es hatte nicht lange gedauert, bis er einen Weg gefunden hatte, seinen eigenen Nutzen aus Hannahs Gabe zu ziehen. Er beschloss, sie in seinem Investmentbüro »anzustellen«, damit sie Kaffee, Sandwiches und Erfrischungen brachte, sie auf dem Tisch anrichtete und gleichzeitig dem Flüstern seiner Kunden lauschte, um ihre Schwächen auszuspionieren. Auf diese Weise brachten er und sein Kumpel Connor alte Leute um ihr Geld. Es war ein großartiges Geschäftsmodell, mit dem sie Millionen kassierten.
Hannah hatte ihm nie helfen wollen. Sie wusste, dass es falsch war. Aber dieser Mann jagte ihr genauso Angst ein wie die Tatsache, dass sein Flüstern, das, was er sagte, und sein Blick nie dasselbe ausdrückten. Sie verstand nicht, was das bedeutete. Ihr war jedoch klar, dass es nichts Gutes verhieß. Deshalb erzählte sie niemandem davon. Sie tat einfach, was man ihr sagte, und wartete auf das, was auch immer als Nächstes passieren würde.
Sie hatte keine Ahnung, dass es genau an diesem Nachmittag passieren würde.
Jeff Corrie fragte: »Was machst du so früh zu Hause?« Er sah auf ihr rechtes Ohr, in dem sonst der einzelne Kopfhörer der AUD-Box steckte.
Hannah kramte die Box aus ihrer Tasche, klemmte sie am Bund ihrer Jeans fest und stöpselte sich den Hörer ins Ohr. Er kniff die Augen zusammen, bis er sah, wie sie die Lautstärke aufdrehte. Erst dann schien er sich zu entspannen.
»Das Training ist ausgefallen«, erwiderte sie.
»Dann mach deine Hausaufgaben«, sagte er.
Er ging an ihr vorbei die Treppe hinunter. Sie hörte, wie er schrie: »Laurel? Wo zum Teufel bist du? Hannah ist zu Hause.« Als müsste seine Frau deswegen irgendetwas unternehmen.
Hannah stellte ihren Rucksack in ihr Zimmer. Auf den ersten Blick sah alles genau so aus, wie sie es heute Morgen zurückgelassen hatte, nur dass jetzt ein Stapel frischer Handtücher auf ihrem Bett lag. Hatte Jeff ihn vielleicht dort hingelegt? Das wäre eine logische Erklärung. Trotzdem ging Hannah zum Nachttisch und überprüfte die Schublade.
Der schmale Streifen Tesafilm war abgerissen. Jemand hatte die Schublade geöffnet. Jemand hatte ihr Tagebuch gelesen.
Es reicht nicht, dachte sie, dass ich ihm und seinem Freund helfe. Jetzt will er auch noch meine Gedanken kontrollieren. Na, viel Glück, wenn du herausfinden willst, was ich von der ganzen Sache halte, Daddy Jeff, spottete Hannah insgeheim. Glaubst du allen Ernstes, ich würde aufschreiben, was ich wirklich denke, und es in meinem Zimmer liegen lassen, damit du es lesen kannst?
Sie ging aus ihrem Zimmer und die Treppe hinunter. Sie hörte, wie sich ihre Mom und Jeff Corrie in der Küche unterhielten. Als sie in die Küche kam, wandte sie ihnen sogleich den Rücken zu, um nicht mitansehen zu müssen, wie sich ihr Stiefvater an den Hals ihrer Mutter schmiegte.
Er raunte: »Wie wär's mit jetzt?« Laurel lachte und schob ihn scherzhaft von sich weg. Aber Hannah wusste, dass ihrer Mutter diese Spielchen gefielen. Sie liebte den Kerl. Und ihre Liebe war so taub und dumm, wie sie blind war.
Hannah sagte: »Hi, Mom.« Sie öffnete den Kühlschrank und nahm eine Tüte Milch heraus.
Laurel erwiderte: »Hey. Zu Jeff sagst du nicht Hallo?«
»Den habe ich oben schon gesehen«, sagte Hannah und fügte hinzu: »Hat er dir das nicht gesagt, Mom?«, nur um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Am liebsten hätte sie: Trau ihm nicht, trau ihm nicht! herausgeschrien. Aber sie durfte nur Andeutungen machen. Sie konnte nichts offen aussprechen.
Zwischen Laurel und Jeff trat einen Moment lang Schweigen ein. Die Kühlschranktür stand immer noch offen. Hannah verbarg sich dahinter und drehte die Lautstärke der AUD-Box herunter.
Er ist nicht ... er kann nicht ... das musste das Flüstern ihrer Mutter sein.
Sie versuchte, Jeff zu hören, aber da war nichts.
Dann veränderte sich alles, und Hannahs bisheriges Leben nahm ein jähes Ende.
... die kleine Schlampe kommt dahinter ... ein Einbruch ... Überraschung ... Connor ... sie wird es wissen, wenn sie hört, dass eine Waffe ... weil heutzutage tot nicht immer tot bedeutet ...
Die Tüte rutschte ihr aus den Fingern und Milch schwappte über den Boden. Sie wandte sich abrupt um und ihre Augen trafen Jeffs Blick.
»Tollpatsch«, sagte er, doch ihm ging etwas ganz anderes durch den Kopf.
Sein Blick wanderte zu Hannahs Ohr und dann zur AUD-Box an ihrer Hüfte.
Sie weiß es, war das Letzte, was Hannah hörte, bevor sie aus der Küche rannte.
TEIL I
DIE KLIPPE
Kapitel 1
Becca Kings Mutter Laurel hatte den Porsche-Geländewagen bei der erstbesten Gelegenheit verkauft, nachdem sie den kurvenreichen Abschnitt der Interstate fünf hinuntergefahren waren, der in Kalifornien als »The Grapevine« bekannt war. Sie verkaufte den Wagen unter Wert, aber Geld spielte keine Rolle. Aus San Diego zu verschwinden und den Porsche loszuwerden hingegen schon. Sie tauschte ihn gegen einen Jeep Wrangler, Baujahr 1998, und sobald sie die Bundesgrenze zwischen Kalifornien und Oregon überquert hatten, hielt sie gleich wieder nach einem Händler Ausschau, dem sie den Jeep andrehen konnte. Ein Toyota RAV4, Baujahr 1992, kam als Nächstes. Aber mit dem fuhren sie lediglich bis zur Grenze nach Washington. Dort stieß Laurel den Toyota so schnell wie möglich ab, stellte dabei sicher, dass alles legal lief, und kaufte einen 1988er Ford Explorer, mit dem Mutter und Tochter seither unterwegs waren. Becca stellte das Vorgehen ihrer Mutter kein einziges Mal infrage. Sie kannte den schrecklichen Grund, warum das alles notwendig war. Er war der gleiche, aus dem es Hannah Armstrong nicht mehr geben durfte. Denn sie und ihre Mutter waren auf der Flucht und ließen Haus, Schule und Namen zurück. Jetzt saßen sie in Mukilteo, Washington, im Explorer. Das Auto stand rückwärts in einer Parklücke vor Woody's Market, einem alten Laden mit Holzfußboden, direkt gegenüber von Whidbey Island, das auf der anderen Seite des Wassers lag.
Es war früh am Abend und ein schwerer Dunstschleier, der sich noch nicht gänzlich zu einem richtigen Nebel verdichtet hatte, hing zwischen dem Festland und der Insel. Von hier aus betrachtet, war Whidbey Island nichts weiter als ein riesiger, von hohen Nadelbäumen gekrönter Felsbrocken, an dessen Fuß sich ein paar wenige Häuser wie eine Lichterkette an der Küste entlangschlängelten. Für Becca, die ihr ganzes Leben in San Diego verbracht hatte, wirkte der Ort bedrohlich und fremd. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf dieser Insel, die so weit weg lag, ein neues Leben zu beginnen, damit ihr Stiefvater ihr nichts anhaben konnte. Laurel hingegen erschien die Insel wie ein Sicherheitsnetz, in dem sie ihre Tochter in der Obhut einer Freundin aus Kindertagen zurücklassen konnte, bis sie für sie beide einen dauerhaften Zufluchtsort in British Columbia eingerichtet hatte. Dort, glaubte sie, würde Jeff Corrie sie und Becca nicht aufspüren können.
Laurel war unglaublich erleichtert gewesen, dass ihre Freundin wegen Laurels langjährigem unkonventionellen Lebensstil keine Fragen gestellt hatte. Carol Quinn hatte sich nicht einmal überrascht darüber gezeigt, dass Laurel sie zwar darum bat, sich um ihre vierzehnjährige Tochter zu kümmern, ihr jedoch nicht einmal annähernd sagen konnte, für wie lange.
Anstatt irgendetwas zu hinterfragen, hatte Carol gesagt: »Kein Problem, bring sie zu mir, sie kann mir hier zur Hand gehen. Ich habe mich in letzter Zeit nicht sehr wohlgefühlt und könnte ein wenig Hilfe im Haus gebrauchen.«
»Aber wirst du es für dich behalten?«, hatte Laurel sie immer wieder gefragt.
»Bis ins Grab«, hatte Carol Quinn ihr versprochen. »Mach dir keine Sorgen, Laurel. Bring sie her.«
Jetzt ließ Laurel ihr Fenster ein paar Zentimeter herunter und bat Becca, dasselbe zu tun, damit die Windschutzscheibe nicht ständig beschlug. Es war Mitte September und ihr war überhaupt nicht klar gewesen, dass sich das Wetter so verändern würde. In Südkalifornien war der September der heißeste Monat des Jahres, die Hauptsaison für Waldbrände, die von Wüstenwinden angefacht wurden. Hier fühlte es sich jedoch bereits wie Winter an. Laurel zitterte und griff sich hinten aus dem Auto ein Sweatshirt, das auf dem Vorderrad von Beccas altem Zehn-Gang- Fahrrad lag.
Sie fragte: »Ist dir kalt?«
Becca schüttelte den Kopf. Sie atmete tief ein. Normalerweise tat sie das, um sich zu beruhigen, aber diesmal hatte es einen anderen Grund: Der Duft von Eiswaffeln lag in der Luft und er kam aus Woody's Market.
Sie waren schon im Laden gewesen. Becca hatte nach einem Eis gefragt, worauf Laurel automatisch entgegnet hatte: »In den Mund und direkt auf die Hüften.« Obwohl sie auf der Flucht vor einem Mörder waren, zählte sie immer noch unbeirrt die Kalorien, die ihre Tochter zu sich nahm. Aber Becca hatte Hunger. Sie hatten seit dem Mittagessen nichts mehr gegessen. Ein kleiner Imbiss würde ihre Oberschenkel bestimmt nicht wie Hefeteig aufgehen lassen.
Sie begann: »Mom ...« Ihr Magen knurrte.
Laurel wandte sich ihr zu. »Sag mir, wie du heißt.«
Sie waren diese Übung seit ihrer Flucht aus San Diego fünfmal am Tag durchgegangen, daher war Becca nicht sonderlich darauf erpicht, es schon wieder zu tun. Sie verstand, wie wichtig es war, aber sie war ja nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatte alles auswendig gelernt. Sie seufzte und wandte den Kopf ab. »Becca King«, antwortete sie.
»Und was ist deine wichtigste Aufgabe?«
»Carol Quinn im Haus zu helfen.«
»Tante Carol«, sagte Laurel. »Du sollst sie Tante Carol nennen.«
»Tante Carol, Tante Carol, Tante Carol«, wiederholte Becca.
»Sie weiß, dass du nur wenig Geld hast, bis ich dir mehr schicken kann«, erklärte Laurel. »Aber je mehr du ihr helfen kannst ... Du verdienst dir damit praktisch deinen Lebensunterhalt.«
»Ja«, sagte Becca. »Ich werde mein Leben in vorübergehender Knechtschaft fristen, weil du einen durchgeknallten Psychopathen geheiratet hast, Mom.«
Oh Gott, was hat er dir nur angetan, du bist doch mein einziges ...
»Es tut mir leid«, sagte Becca, als sie das schmerzerfüllte Flüstern ihrer Mutter hörte. »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«
»Verschwinde aus meinem Kopf«, gab Laurel zurück. »Und sag mir deinen Namen. Deinen ganzen Namen diesmal.«
Zu Beccas Rechten befanden sich ein großer Parkplatz und die Hauptstraße, die beim Fähranleger endete. Leute schlenderten zu einer Imbissbude neben dem Hafenbecken. Ein durch den Dunst leuchtendes Schild verkündete, dass die Imbissbude Ivar's hieß, und es hatte sich eine Schlange von Kunden gebildet, die sich etwas zu essen kauften. Beccas Magen meldete sich noch einmal knurrend zu Wort.
»Sag mir, wie du heißt, Becca«, wiederholte Laurel. »Es ist wirklich wichtig.«
Auch wenn ihre Stimme ganz ruhig klang, schwang in dem sanften Tonfall Los, komm schon, wir haben nur noch wenig Zeit, danach lasse ich dich in Ruhe mit und Becca konnte spüren, wie die Gedanken ihrer Mutter, die im Vergleich zum Flüstern anderer Leute immer klar und deutlich waren, auf sie zuströmten und in ihr Gehirn eindrangen. Sie wollte ihrer Mom sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Sie wollte ihr sagen, dass Jeff Corrie sie vielleicht vergessen würde. Aber sie wusste, dass die erste Aussage zwecklos und die zweite eine glatte Lüge war.
Becca drehte sich wieder zu ihrer Mutter. Ihre Blicke trafen sich, und Hört her meine Kinder und gebt gut acht auf Paul Reveres Ritt durch die dunkle Nacht kam von Laurel.
»Sehr witzig«, sagte Becca. »Es wäre schön gewesen, wenn du in der sechsten Klasse noch irgendwas anderes auswendig gelernt hättest.«
»Sag mir, wie du heißt«, wiederholte Laurel noch einmal.
»Ist ja gut, ist ja gut. Rebecca Dolores King.« Becca schnitt eine Grimasse. »Mein Gott. Muss es wirklich Dolores sein? Ich meine, wer heißt heutzutage schon Dolores?«
Laurel ignorierte die Frage. »Woher kommst du?«
Becca antwortete geduldig, weil Geduld in diesem Augenblick das einzig Vernünftige war: »San Luis Obispo. Davor Sun Valley, Idaho. Ich bin in Sun Valley geboren, aber ich bin weggezogen, als ich sieben war. Meine Familie ist damals nach San Luis Obispo umgezogen.«
»Warum bist du hier?«
»Ich wohne bei meiner Tante.«
»Wo sind deine Eltern?«
»Meine Mom ist bei einer Ausgrabung in ...« Becca runzelte die Stirn. Zum ersten Mal seit ihrer überstürzten Abreise aus Kalifornien konnte sie sich nicht daran erinnern. Es musste wohl daran liegen, dass sie so hungrig war, denn sie war nie in Topform, wenn sie Hunger oder Durst hatte. Sie sagte: »Verdammt. Ich kann mich nicht erinnern.«
Laurel ließ den Kopf gegen die Kopfstütze ihres Sitzes prallen. »Du musst dich erinnern. Es ist wichtig. Es geht um Leben und Tod. Wo sind deine Eltern?«
Becca sah ihre Mutter an und hoffte auf einen Hinweis, schnappte aber lediglich im April 75 am Achtzehnten des Monats, was kaum einer mehr in Erinnerung hat auf, was ihr keine große Hilfe war. Sie blickte zurück zu Ivar's Imbissbude. Eine gebeugt gehende Frau drehte sich gerade mit einer Schachtel in der Hand von der Theke weg, und sie sah so alt aus ... Da fiel es Becca wieder ein. Alt. Old.
»Olduvai-Schlucht«, platzte sie heraus. »Meine Mom ist bei einer Ausgrabung in der Olduvai-Schlucht.« Das war eine ausgemachte Lüge, aber kurz bevor sie vor Jeff Corrie geflohen waren, hatte Becca ein altes Buch darüber gelesen, wie ein ehrgeiziger Absolvent der Universität von Chicago Lucy alias Australopithecus afarensis in der Olduvai-Schlucht entdeckt hatte. Sie hatte selbst vorgeschlagen, aus ihrer Mutter eine Paläontologin zu machen. Sie fand, es klang romantisch.
Laurel nickte zufrieden. »Was ist mit deinem Vater? Wo ist dein Vater? Hast du keinen Vater?«
Becca verdrehte die Augen. Ihr war klar, dass dieses Fragespiel weitergehen würde, bis die Fähre kam, weil ihre Mutter auf keinen Fall an etwas anderes denken wollte. Vor allem wollte sie nicht darüber nachdenken, dass sie ihre Tochter in Gefahr gebracht hatte. Deshalb erwiderte sie: »Welchen Vater meinst du denn, Mom?«, griff in ihre Tasche, holte den einzelnen Kopfhörer ihrer AUD-Box hervor und steckte ihn sich ins Ohr. Sie drehte die Lautstärke auf und ihr Kopf füllte sich mit Rauschen, das sie beruhigte wie das Gefühl von Satin auf blanker Haut.
Laurel streckte die Hand aus und riss Becca den Kopfhörer aus dem Ohr. »Es tut mir leid, was passiert ist. Es tut mir leid, dass ich nicht so bin, wie du es gerne hättest. Das Dumme ist nur: Das ist niemand.«
Da stieg Becca aus dem Auto. Sie hatte genug Geld in ihrer Jeans, um sich etwas zu essen zu kaufen, und noch mehr Geld in ihrer Jackentasche. Sie hatte die feste Absicht, es auszugeben. In ihrem Rucksack war sogar noch mehr Geld, für den Fall, dass sie alles auf der Speisekarte ausprobieren wollte. Aber der Rucksack war mit ihrem Fahrrad im Kofferraum des Explorers und wenn sie versuchte, ihn zu holen, würde ihre Mutter sie bestimmt davon abhalten.
Becca überquerte die Straße. Linker Hand konnte sie die Fähre einfahren sehen, und sie blieb kurz stehen und beobachtete, wie sie immer näher kam. Als Laurel ihr eröffnet hatte, dass sie die Fähre nach Whidbey Island nehmen würde, hatte Becca an die einzige Fähre gedacht, auf der sie je gewesen war: ein offenes Boot in Newport Beach, Kalifornien. Das Ding, das sich ihnen jetzt näherte, war von einem ganz anderen Kaliber. Es war riesig, mit einem Innen- und Außenbereich und einem weit aufgerissenen Schlund an der Vorderseite, in den Autos einfahren konnten. Es war erleuchtet wie ein Flussdampfer und wurde von Möwen umkreist.
Die Schlange vor Ivar's Imbiss war kürzer geworden, als Becca dort ankam. Sie bestellte eine Muschelsuppe und vergewisserte sich vorher, dass sie nach Neuengland-Art mit Milch und Kartoffeln zubereitet war und somit schwindelerregend viele Kalorien hatte. Sie bat um einen zusätzlichen Beutel Cracker, die sie in der Suppe schwimmen ließ, und bezahlte mit Kleingeld. Sie legte sorgfältig eine Münze nach der anderen auf die Theke, und oh verdammt, was soll der Mist, du dummes Huhn? verriet ihr, dass die Verkäuferin darüber alles andere als erfreut war. Becca sah auch warum, als die Verkäuferin die Münzen mit Fingern ohne Fingernägel von der Theke fischen musste. Sie hatte sich die Nägel bis zum Nagelbett abgekaut. Es war ein hässlicher Anblick und Becca konnte der Verkäuferin ansehen, dass sie es hasste, sie zu zeigen.
Becca überlegte, sich zu entschuldigen, bedankte sich jedoch stattdessen nur und schlenderte mit ihrer Muschelsuppe hinüber zum Zeitungskiosk. Sie stellte die Plastikschüssel mit der Suppe ab und steckte den Löffel hinein, während sie zusah, wie sich die Fähre dem Festland näherte.
Das Essen entsprach nicht ihren Erwartungen. Sie hatte gedacht, dass es wie die Muschelsuppe ihres vorvorletzten Stiefvaters schmecken würde. Er hieß Pete und bereitete seine Suppe mit Mais zu, und Becca liebte Mais. Popcorn, Maiskolben, gefrorener Mais. Es spielte keine Rolle. Laurel behauptete, man füttere Kühe und Schweine mit Mais, damit sie fett wurden, aber da Laurel das über fast alles sagte, was Becca gerne aß, zerbrach sie sich darüber nicht weiter den Kopf.
Doch diese Muschelsuppe hier war einen Streit mit Laurel einfach nicht wert. Deshalb aß Becca sie nur zur Hälfte auf. Dann warf sie die Plastikschüssel in einen Mülleimer und rannte zurück zum Explorer.
Laurel telefonierte gerade. Ihr Gesicht sah ohne die übliche Sprühbräune grau und runzlig aus. Zum ersten Mal kam sie Becca alt vor, aber dann lächelte Laurel und nickte und fing an, auf die für sie typische Art loszuplappern, bei der niemand anderes zu Wort kam. Bestimmt redete sie gerade wieder auf Carol Quinn ein, dachte Becca. Ihre Mom hatte sie seit ihrer Flucht zweimal am Tag angerufen, um sicherzugehen, dass jedes kleinste Detail ihres Plans unwiderruflich in Stein gemeißelt war.
Ihre Blicke trafen sich und Becca hörte: niemand kommt zu Schaden, aber der Gedanke brach abrupt ab, so wie eine Radiosendung abrupt abbricht, wenn jemand den Sender wechselt, und was als Nächstes über den Äther kam, war: ein Licht wenn vom Land und zwei wenn von der See und ich am anderen Ufer werd stehn. Es war wie das Rauschen aus der AUD-Box und funktionierte genauso gut. Laurel sagte etwas in ihr Handy und beendete das Gespräch.
Becca setzte sich auf den Beifahrersitz. Ihre Mutter fragte scharf: »War das Muschelsuppe mit Kartoffeln, die du da gegessen hast?«
Becca erwiderte: »Ich hab sie nicht ganz aufgegessen.«
Dann reite ich los und schlage Alarm, in jedem Dorf und auf jeder Farm ersetzte, was Laurel eigentlich sagen wollte, doch es spielte keine Rolle und Becca teilte ihr das auch mit: »Hör auf damit«, sagte sie. »Ich weiß sowieso, was du denkst.«
Laurel entgegnete: »Lass uns jetzt nicht streiten.«
Sie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus und strich ihr durchs Haar. »Wenn die Fähre anlegt, wird Carol schon dort sein und auf dich warten«, sagte sie ruhig. »Sie hat einen Pick-up für das Fahrrad, mach dir deswegen also keine Sorgen. Sie weiß, wie du aussiehst, und falls sie noch nicht da sein sollte, wenn du ankommst, musst du einfach eine Weile warten. Sie wird dann sicher bald kommen. In Ordnung, Schatz? Hey, hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Becca hatte es gehört. Sie hatte die Worte gehört. Sie spürte auch die Gefühle, die in ihnen mitschwangen. Sie sagte: »Es ist nicht deine Schuld, Mom.«
»Es gibt mehr als eine Art von Schuld. Wenn du das noch nicht weißt, wirst du's bald herausfinden, glaub mir.«
Becca griff nach ihrem Rucksack im Kofferraum des Fords. Laurel sagte: »Wo ist deine Brille? Du musst sie jetzt aufsetzen.«
»Niemand schaut mich an.«
»Du musst sie aufsetzen. Du musst es dir angewöhnen. Wo ist die Extrapackung Haartönung? Wie viele Batterien für die AUD- Box hast du dabei? Wie heißt du? Wo ist deine Mutter?«
Becca blickte sie an. Hört her, meine Kinder, hört her, meine Kinder, aber es war völlig unnötig, dass Laurel, die sich gerade nicht einmal an die restlichen Zeilen erinnerte, das Gedicht ständig wiederholte. Denn Becca konnte ihr genau ansehen, was los war. Jeder hätte es ihr ansehen können. Ihre Mutter hatte furchtbare Angst. Sie folgte allein ihrem Instinkt, so wie sie es immer tat. Aber da das beim letzten Mal dazu geführt hatte, Jeff Corrie zu heiraten, vertraute sie ihrem Bauchgefühl nicht mehr.
Becca beruhigte sie. »Mom. Ich werde schon klarkommen.« Sie war überrascht, als sich Laurels Augen mit Tränen füllten. Ihre Mutter hatte kein einziges Mal geweint, seit sie San Diego verlassen hatten. Das letzte Mal hatte Becca sie in Tränen gesehen, nachdem sie erfahren hatte, wer Jeff Corrie wirklich war und was er getan hatte. »Wir können nicht zur Polizei gehen«, hatte ihre Mutter ihr schluchzend erklärt, »Gott im Himmel, Schatz, wer würde uns das glauben? Wir können nichts beweisen.«
Deshalb hatte sie diesen Plan geschmiedet. Sie waren geflohen und jetzt waren sie hier am Rand der Welt. Und von hier gab es kein Zurück mehr.
Becca nahm die Hand ihrer Mutter. »Hey, Mom. Hör mal zu, was ich weiß«, sagte sie.
»Was weißt du?
»Rebecca Dolores King, Mom. San Luis Obispo. Meine Tante Carol auf Whidbey Island. Carol Quinn. Olduvai-Schlucht.«
Laurel blickte über Beccas Schulter. Der Verkehrslärm zeigte an, dass die Fähre angekommen war und Fahrzeuge ausfuhren.
»Oh Gott«, flüsterte Laurel.
»Mom«, sagte Becca. »Es ist alles in Ordnung. Wirklich.«
Sie schob die Tür auf und ging zum Kofferraum. Ihre Mutter stieg aus und folgte ihr. Zusammen hoben sie ihr Fahrrad heraus und befestigten die beiden Satteltaschen. Becca setzte den schweren Rucksack auf, kramte vorher aber noch die Brille mit ihren völlig nutzlosen Fenstergläsern hervor und setzte sie auf.
»Karte der Insel?«, fragte ihre Mutter.
»Ist im Rucksack.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Und Carols Adresse? Nur für alle Fälle.«
»Die habe ich auch.«
»Wo ist das Handy? Denk dran, da ist nur eine begrenzte Anzahl Minuten drauf. Meine Nummer ist schon eingespeichert. Nur für Notfälle. Sonst nichts. Das ist wichtig. Das darfst du nicht vergessen.«
»Ich werd's nicht vergessen. Und es ist in meinem Rucksack, Mom. Und an alles andere habe ich auch gedacht. Die AUD-Box. Ersatzbatterien. Mehr Haartönung. Alles.«
»Wo ist deine Fahrkarte?«
»Hier. Mom, es ist alles da. Versprochen.«
Oh Gott, oh Gott, oh Gott.
»Ich geh jetzt besser«, sagte Becca, während sie den Strom der Fahrzeuge betrachtete, der sich jenseits des Fährhafens in Richtung Stadt ergoss.
»Schau mich an, Schatz«, sagte Laurel.
Becca wollte sie nicht ansehen. Sie hatte Angst und brauchte nicht noch mehr Angst zu hören. Aber da sie wusste, wie wichtig es war, ihre Mutter zu beruhigen, wandte sie ihr den Blick zu, als Laurel sie aufforderte: »Schau mir in die Augen. Sag mir, was du siehst. Sag mir, was du weißt.«
Und da war kein nächtlicher Ritt des Paul Revere mehr. Da war nur eine einzige Botschaft.
»Du kommst zurück«, erklärte Becca.
»Das werde ich«, versprach Laurel. »So schnell ich kann.«
Kapitel 2
Die Fußgänger und Radfahrer gingen als Erste an Bord. Sie waren eine recht große Gruppe, und Becca folgte ihnen. Die Passagiere mit Fahrrädern bewegten sich durch einen dreispurigen Tunnel auf einen Eingang an der Vorderseite der Fähre zu. Die Fußgänger steuerten auf eine Treppe zu. Einige kramten in ihren Taschen und Geldbörsen, woraus Becca schloss, dass es auf der oberen Etage etwas zu kaufen gab, vermutlich Essen oder heiße Getränke. Gegen beides hätte sie nichts einzuwenden gehabt, weil eine kühle Brise vom Wasser herüberwehte und sie vor Kälte zitterte und immer noch Hunger hatte. Im vorderen Bereich der Fähre stellten die Leute ihre Räder ab. Becca tat es ihnen gleich. Sie hatte vor, zurück zur Treppe zu gehen, um sich etwas zu essen zu besorgen, doch das plötzliche Dröhnen von Motorrädern ließ sie innehalten. Der Lärm verstärkte sich, weil die Motorräder durch den Fährtunnel kamen. Obwohl es nur vier waren, klang es, als wären es zwanzig, und ihnen folgte eine Reihe von Achtachsern. Dahinter kamen die Pkws, die sich in vier Spuren anordneten, jeweils zwei auf beiden Seiten des Haupttunnels. Der ohrenbetäubende Lärm wäre kein Problem gewesen, weil Becca ihre AUD-Box dabeihatte. Sie steckte sich den Kopfhörer ins Ohr, drehte die Lautstärke auf und konzentrierte sich auf das Rauschen, das die AUD-Box von sich gab. Aber in diesem Augenblick sah sie das erste Auto, das durch den Seitentunnel einfuhr und gleich neben ihrem Fahrrad zum Stehen kam. Es war ein Polizeiwagen.
Wenn einem sprichwörtlich das Blut in den Adern gefrieren kann, passierte Becca genau das in diesem Moment. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, was Jeff Corrie mit Sicherheit als Erstes unternommen hatte, als er feststellte, dass seine Frau und seine Stieftochter verschwunden waren: die Polizei rufen, sie beide als vermisst melden und die Öffentlichkeit alarmieren, um sie so schnell wie möglich zu finden, damit er Becca und das, was sein Flüstern ihr verraten hatte, für alle Zeiten auslöschen konnte. »Angriff ist die beste Verteidigung«, war schon immer Jeffs Lieblingsmotto gewesen, und wie hätte er besser in die Offensive gehen können? Becca konnte sich sogar vorstellen, wie das Flugblatt aussah, das er wohl entworfen hatte und wahrscheinlich überall verteilte. Es steckt bestimmt an einem Klemmbrett in dem Polizeiwagen, dachte sie bei sich, mit meinem und Moms Gesicht darauf.
Sie wandte sich langsam von dem Polizeiwagen ab, fest entschlossen, stur geradeaus zu schauen. Ein plötzliches Abwenden hätte womöglich Aufmerksamkeit erregt, und der Gedanke, sich keine zehn Minuten, nachdem sie ihre Mutter zurückgelassen hatte, zu verraten, war so schrecklich, dass sie das Gefühl hatte, Neonpfeile zeigten von der Decke der Fähre direkt auf sie hinunter, sodass der Polizist sicher gleich aus dem Wagen steigen und sie ausfragen würde.
Aber die Anspannung und die Ungewissheit, ob man sie bemerkt hatte, waren zu viel für Becca. Obwohl sie wusste, dass sie sich damit einem noch heftigeren Ansturm aussetzte, der wie Schlaghämmer in ihrem Kopf dröhnen würde, blieb ihr nichts anderes übrig: Sie drehte die AUD-Box leiser, um ein paar nützliche Informationen aufzuschnappen.
Es war fast unmöglich, irgendetwas deutlich zu hören. Da war: Nancy verdammt, und: das Abendessen wird nicht, und: Nagellack überall im verdammten Auto, und: habe mit meinem Chef über die Situation gesprochen, und: William muss zum Friseur, bis sie auf einmal von einer Wärme erfüllt wurde, die man als Allerletztes an diesem kalten, klammen Ort vermuten würde. Die Wärme wurde von einem Duft begleitet, der ebenso fehl am Platz war. Dort, wo ihr eigentlich Dieseldämpfe und Abgase von den Autos und Motorrädern in die Nase hätten steigen müssen, nahm sie den süßen Geruch von gekochten Früchten wahr. Der Duft war so stark, dass Becca zu dem Polizeiwagen herumwirbelte, noch bevor ihr richtig bewusst wurde, was sie tat.
Aber sie dachte nicht daran, was passieren könnte. Im Augenblick wollte sie nur herausfinden, wo diese Wärme und dieser Duft herkamen.
Da sah sie ihn zum ersten Mal, den Jungen, der ihr Leben völlig verändern würde. Er war etwa so alt wie sie und saß in dem Polizeiwagen. Er saß auf dem Beifahrersitz, nicht hinten, und unterhielt sich mit dem Polizisten. Sie blickten beide ernst, und der Kontrast zwischen ihnen hätte nicht größer sein können.
Der Junge war schwarz, tiefschwarz, und die Mitternachtsfarbe seiner Haut ließ den Polizisten neben ihm noch weißer erscheinen. Der Junge war außerdem völlig kahlköpfig, aber nicht, weil er krank war, sondern aus Überzeugung. Es stand ihm sehr gut, und im Gegensatz zu ihm hatte der Polizist eine Menge braun-grau meliertes Haar.
Copyright © 2013 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
... weniger
Autoren-Porträt von Elizabeth George
Die Amerikanerin Elizabeth George hatte von Jugend an ein ausgeprägtes Faible für die britische Krimitradition. Psychologische Raffinesse, präziser Spannungsaufbau und ein unfehlbarer Sinn für Dramatik charakterisieren ihre Bücher. Ausgezeichnet mit dem Anthony Award, dem Agatha Award und dem Grand Prix de Litérature Policière. Die Autorin lebt in Huntington Beach/Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth George
- 2013, 6. Aufl., 448 Seiten, Maße: 12,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Arlt, Bettina; Lecker, Ann
- Übersetzer: Ann Lecker, Bettina Arlt
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802591224
- ISBN-13: 9783802591228
Kommentare zu "Sturmwarnung / Whisper Island Bd.1"
0 Gebrauchte Artikel zu „Sturmwarnung / Whisper Island Bd.1“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Sturmwarnung / Whisper Island Bd.1".
Kommentar verfassen