Kirschsommer
Roman. Originalausgabe
Jule hat Liebeskummer und hütet das Haus ihrer Großmutter, inklusive Kirschgarten. Im Keller von Oma Mielchen stößt Jule auf ein ganz besonderes Kirschglas - und auf einen Liebesbrief aus dem Jahr 1945. Welches Familiengeheimnis...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kirschsommer “
Jule hat Liebeskummer und hütet das Haus ihrer Großmutter, inklusive Kirschgarten. Im Keller von Oma Mielchen stößt Jule auf ein ganz besonderes Kirschglas - und auf einen Liebesbrief aus dem Jahr 1945. Welches Familiengeheimnis verbirgt sich dahinter? Und kann es Jule helfen, ihr Herz zu heilen?
Klappentext zu „Kirschsommer “
Auch damals blühten die Kirschen.Endlich Sommer! Nur bei Jule herrscht schlechte Stimmung. Stress mit dem Freund, Stress in der Agentur. Als dann noch ihre geliebte Oma ins Krankenhaus kommt, quartiert Jule sich kurzerhand in Mielchens altem Haus an der Elbe ein. Sie macht sich im Garten nützlich, pflückt Kirschen und kümmert sich bereitwillig um den Übernachtungsgast. Denn Sebastian Hofstetten ist ihr gleich sympathisch. Der junge Klimaforscher untersucht mit Hilfe von Obst aus alten Weckgläsern die Veränderungen des Wetters. Jule will ihm helfen und sieht sich im Vorratskeller ihrer Oma einmal genauer um. Je weiter sie nach hinten vordringt, desto älter werden die Gläser. Und dann findet sie ganz unvermittelt einen Brief aus dem Jahr 1945. Jule hat den Namen des Schreibers noch nie gehört. Doch sie kennt die Adressatin ...
Auch damals blühten die Kirschen.
Endlich Sommer! Nur bei Jule herrscht schlechte Stimmung. Stress mit dem Freund, Stress in der Agentur. Als dann noch ihre geliebte Oma ins Krankenhaus kommt, quartiert Jule sich kurzerhand in Mielchens altem Haus an der Elbe ein. Sie macht sich im Garten nützlich, pflückt Kirschen und kümmert sich bereitwillig um den Übernachtungsgast. Denn Sebastian Hofstetten ist ihr gleich sympathisch. Der junge Klimaforscher untersucht mit Hilfe von Obst aus alten Weckgläsern die Veränderungen des Wetters. Jule will ihm helfen und sieht sich im Vorratskeller ihrer Oma einmal genauer um. Je weiter sie nach hinten vordringt, desto älter werden die Gläser. Und dann findet sie ganz unvermittelt einen Brief aus dem Jahr 1945. Jule hat den Namen des Schreibers noch nie gehört. Doch sie kennt die Adressatin ...
Endlich Sommer! Nur bei Jule herrscht schlechte Stimmung. Stress mit dem Freund, Stress in der Agentur. Als dann noch ihre geliebte Oma ins Krankenhaus kommt, quartiert Jule sich kurzerhand in Mielchens altem Haus an der Elbe ein. Sie macht sich im Garten nützlich, pflückt Kirschen und kümmert sich bereitwillig um den Übernachtungsgast. Denn Sebastian Hofstetten ist ihr gleich sympathisch. Der junge Klimaforscher untersucht mit Hilfe von Obst aus alten Weckgläsern die Veränderungen des Wetters. Jule will ihm helfen und sieht sich im Vorratskeller ihrer Oma einmal genauer um. Je weiter sie nach hinten vordringt, desto älter werden die Gläser. Und dann findet sie ganz unvermittelt einen Brief aus dem Jahr 1945. Jule hat den Namen des Schreibers noch nie gehört. Doch sie kennt die Adressatin ...
Lese-Probe zu „Kirschsommer “
Kirschsommer von Anneke MohnAlles auf Anfang
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Jule hatte die Fensterscheiben heruntergekurbelt, damit der Fahrtwind die Hitze aus dem Wagen trieb. Die Sonne stand hoch am Himmel, und links und rechts zogen unzählige kleine Obstbäume vorbei, die schwer an reifen Kirschen und den ersten, noch grünen Äpfeln trugen.
Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist, dachte Jule. Dabei hatte sie für den heutigen Tag ganz andere Pläne gehabt. Eigentlich wollte sie jetzt nämlich mit ihrem Freund im Flugzeug sitzen und den Atlantik überqueren. Aber stattdessen saß sie nun in ihrem uralten roten Käfer und fuhr durch die Elbmarschen in das Heimatdorf ihrer Oma. Allein.
Schon vor Monaten hatten Tom und sie die Tickets gebucht. Sie wollten zuerst für ein paar Tage ihre Mutter in Montreal besuchen und dann durch Kanada reisen - vier ganze Wochen lang! Jule hatte sich so darauf gefreut. Endlich mal wieder ein längerer Urlaub. Bis vor kurzem hatte sie sich von diesen Wochen mit Tom noch so einiges erhofft. Zum Beispiel, dass sie ihren Freund daran erinnern würden, wie schön es war, das Leben gemeinsam zu verbringen, statt immer nur zu mailen, zu telefonieren und sich am Wochenende zu sehen. Vielleicht hätten sie ja in Kanada auch endlich über ihre gemeinsame Zukunft gesprochen. Wohl kaum. Jule trat das Gaspedal durch. Reines Wunschdenken. Denn es war alles anders gekommen: Vor einigen Tagen hatten Tom und sie einen furchtbaren Streit gehabt, wie so oft in letzter Zeit. Sie hatten den Entschluss gefasst, erst mal Pause voneinander zu machen. Ob sie überhaupt eine gemeinsame Zukunft haben würden, stand in den Sternen.
Am Tag nach dem Streit hatte Jule beschlossen, trotzdem nach Kanada zu fliegen. Dann eben allein. Wie lange hatte sie ihre Mutter nicht gesehen? Und vielleicht täte es ihr ja auch ganz gut, mal in Ruhe über alles nachzudenken. Über ihr Leben, ihre Beziehung, ihren Job.
Aber auch dieser Plan hatte sich nun erledigt. Denn gestern war Jules Oma beim Kirschenpflücken von der Leiter gefallen und mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus gekommen. Und da Jule das einzige Familienmitglied weit und breit war, konnte nur sie sich um Oma Mielchen, das Haus und den Garten kümmern.
Jule fuhr am Ortsschild von Buxtehude vorbei und hielt Ausschau nach einem Wegweiser zum Krankenhaus.
Ihre Großmutter war inzwischen über achtzig, bewirtschaftete aber wie eh und je ihren üppigen Obstgarten, beschnitt die Sträucher und jätete Unkraut, pflanzte und pflückte, kochte Marmelade ein und backte Kuchen. Und in den Sommermonaten beherbergte sie in ihrem Gästezimmer ab und zu auch noch zahlende Gäste, um ihre Rente aufzubessern. Eine Nachbarin, die in einer Pension in Jork arbeitete, gab gelegentlich Mielchens Adresse weiter, wenn bei ihnen keine Betten mehr frei waren. Aber öfter als ein paar Mal im Jahr kam das nicht vor.
Jule war immer wieder beeindruckt, wie viel Mielchen schuftete. Einfach mal die Füße hochlegen und faul auf der Terrasse sitzen, das konnte ihre Oma nicht. Außer wenn sie einen besonders spannenden Krimi las. Es dürfte eine ziemliche Herausforderung für sie sein, untätig im Krankenhaus herumzuliegen und zu warten, dass der Bruch verheilte. Zum Glück schien sie ihren Sturz ganz gut verkraftet zu haben. Jedenfalls hatte sie am Telefon kaum anders geklungen als sonst. Als Jule gestern Abend anbot, ihren Urlaub zu verschieben und erst mal ins Alte Land zu kommen, um die dringendsten Angelegenheiten für sie zu regeln, hatte ihre Oma energisch abgelehnt. Aber Jule war froh, sich durchgesetzt zu haben. Und ihre Mutter hatte sie am Telefon darin bestärkt, denn Mielchen überschätzte sich und ihre Kräfte manchmal - eine Eigenschaft, die bei allen Frauen der Familie einigermaßen ausgeprägt war. Auch Jules Mutter Senta war so ein Arbeitstier und jagte als Regisseurin von einer Theaterproduktion zur anderen. Und wenn Jule es recht bedachte, gönnte auch sie selbst sich nur sehr selten eine Pause.
Seit vier Jahren war Jule Redakteurin bei der Antonia, einer Frauenzeitschrift. Sie war zuständig für die Rubrik «Persönlich». Am Tag zuvor war sie nach München geflogen, morgens hin und abends zurück, um eine junge Schauspielerin zu interviewen, die mit ihrem ersten Film schlagartig berühmt geworden war, und nun kam ihr zweiter in die Kinos. Jule liebte es, immer wieder neue Leute zu treffen, die etwas Spannendes machten. Allerdings war dieser interessantere Teil ihres Jobs in letzter Zeit viel zu kurz gekommen. Sie hatte sich auf den Termin gefreut - obwohl er leider ausgerechnet am letzten Tag vor ihrem Urlaub stattfinden musste. Aber das Interview sollte unbedingt schon in der nächsten Ausgabe erscheinen. Es blieb also kaum Zeit, den Mitschnitt abzutippen und freigeben zu lassen. Da Jule aber nicht vorhatte, diese Arbeit im Urlaub zu machen - so verrückt war sie dann doch nicht - , hatte sie mit den Knöpfen ihrer Kopfhörer im Ohr am Münchner Flughafen gesessen und das Interview in ihren Laptop getippt. Und genau in dem Moment hatte Mielchens Nachbarin Inken auf dem Handy angerufen und Jule von dem Unfall berichtet.
Jule folgte den Schildern durch das Städtchen, fuhr knatternd an windschiefen Fachwerkhäusern vorbei und schließlich auf den Parkplatz der Klinik. Als sie auf den Eingang zueilte, sah sie hoch am Himmel ganz klein ein Flugzeug silbrig glänzen. Jule seufzte. Dieser Sommer würde definitiv anders verlaufen als geplant.
Mielchen lag allein in einem großen, leeren Zimmer. Das Kopfteil ihres Bettes war angewinkelt, ihr rechtes Bein steckte in einem beeindruckenden Gips und hing in einer Schlaufe über dem Bett. Sie trug ein hellblaues Baumwollnachthemd mit kurzen Ärmeln, aus denen ihre braungebrannten Arme hervorsahen, und ihr schlohweißer Pagenkopf war etwas in Unordnung geraten. Als sie Jule erblickte, versuchte sie sofort, sich aufzurichten.
«Julchen, endlich!» Sie winkte ihre Enkelin mit ausgestrecktem Arm zu sich heran. «Du musst mir hier raushelfen. Bist du mit dem Wagen da?»
Jule beugte sich zu ihrer Oma hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Jetzt mal langsam, eins nach dem andern. Wie geht's dir denn?»
«Na, wie soll es einem mit so einem Klotz am Bein schon gehen?» Sie klopfte auf den schmalen Streifen der Matratze neben sich. «Aber jetzt ist ja meine Lieblingsenkelin da. Na, dann setz dich erst mal und erzähl.»
Jule musste lächeln. Mit diesen Worten war sie früher jeden Sommer begrüßt worden, wenn sie - die einzige Enkelin - die Ferien bei Mielchen und Fritz im Alten Land verbracht hatte. Froh, dass ihre Oma jedenfalls nicht mehr türmen zu wollen schien, streifte Jule ihre Tasche ab und setzte sich zu ihr. Zeit hatte sie schließlich genug.
Mielchen musterte sie von den locker zusammengesteckten rotblonden Haaren über die dünne weiße Bluse und die Jeans bis zu den Ballerinas. «Du siehst so schmal aus. Und blass bist du!»
«Danke für die Blumen», sagte Jule trocken. Damit, wie es ihr ging, fing sie jetzt lieber gar nicht erst an. «Aber du bist hier die Patientin! Wie konnte das denn überhaupt passieren? », fragte sie.
«Na, ich stand auf der Leiter und war am Kirschenpflücken, und da ist die Sprosse, auf der ich stand, durchgebrochen », erklärte Mielchen leicht unwirsch. «Und dann lag ich da. Zum Glück war die kleine Mia nebenan im Garten und hat sofort Inken geholt. Aber der Korb mit den Kirschen ist mir runtergefallen, die liegen nun alle verstreut auf dem Rasen. Die müssten dringend aufgelesen werden, bevor sie schimmeln. Und die restlichen Kirschen am Baum müssen gepflückt werden! Und den Garten wollte ich noch wässern, schließlich sieht es nicht gerade nach Regen aus. Ach, es gibt dermaßen viel zu tun, ich kann hier nicht so untätig rumliegen! »
Oje, stöhnte Jule innerlich. So leicht ließ Mielchen sich wohl doch nicht beruhigen.
«Und die Wäsche muss ich noch abnehmen, die hängt jetzt schon seit zwei Tagen draußen. Außerdem steht meine Vespa noch vor dem Haus, und - »
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine Schwester trat ein und stellte ein Tablett mit einer Tasse Kaffee und einem kleinen Stück Topfkuchen auf den Nachttisch.
Mielchen hielt inne, und Jule stand auf, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Als die Schwester die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, sagte sie: «Mielchen, bei dir zu Hause ist also einiges zu tun. Gut. Aber du wirst ja noch eine Weile hier bleiben müssen. Ich kann mich doch erst mal um das Wichtigste kümmern.»
Skeptisch sah Mielchen ihre Enkelin an. «Aber es ist ja wirklich alles stehen und liegen geblieben und - ach je! Morgen kommt ja auch noch ein Übernachtungsgast! Den hätte ich beinahe vergessen. Dafür ist auch noch alles Mögliche vorzubereiten.»
«Hat Inken dir wieder jemanden geschickt?», fragte Jule.
Mielchen nickte. «Er kommt morgen gegen Mittag, und ich habe das Zimmer noch gar nicht herrichten können. Das Bett muss bezogen werden. Und ich räume ja immer das Bad oben frei und benutze dann selbst das kleine unten neben der Küche. Oben im Bad müsste ich aber dringend noch mal ein bisschen sauber machen ...» Mielchen versuchte erneut, sich aufzurichten. «Es geht nicht anders. Wir müssen los!»
Jule winkte ab. «Darum kümmere ich mich.»
«Aber du weißt doch gar nicht - »
«Du musst dir keine Gedanken machen. Ich schaffe das schon.»
Mielchen sah sie nachdenklich an. Ob ihr langsam klarwurde, dass sie das Krankenhaus doch nicht mitsamt Gipsbein verlassen sollte, um zu Hause Wäsche abzunehmen? So ganz überzeugt wirkte sie noch nicht.
«Ich bin erwachsen, Oma», sagte Jule und nickte bekräftigend. «Du kannst dich auf mich verlassen.»
«Und du stellst auch ein paar Blumen ins Gästezimmer? »
«Natürlich.»
Mielchen lehnte sich zurück, allerdings nur, um sich sofort wieder vorzubeugen. «Aber wenn nun - »
«Mielchen!», sagte Jule, um einen strengen Ton bemüht. «Ich kümmere mich um alles! Du musst erst mal wieder gesund werden, das ist das Wichtigste.»
«Hm», brummte Mielchen.
Ihre Oma schien nachzudenken. Jetzt musste sie dranbleiben. «Ich kümmere mich um den Garten, und ich spreche wegen des Übernachtungsgastes mit Inken», fuhr Jule fort. «Vielleicht weiß die ja noch eine andere Lösung.»
Mielchen seufzte. «Ach, Julchen ... na gut. Anders wird es wohl nicht gehen.»
«Sieht so aus, ja. Und wenn alle Stricke reißen, bleibe ich einfach ein paar Tage hier und helfe aus.»
«Papperlapapp! Kommt gar nicht in Frage. Was wird denn dann aus deinem Urlaub?», fragte Mielchen entrüstet. «Wolltest du nicht mit Tom nach Kanada?»
Wie soll ich ihr das bloß erklären? Das Konzept «Beziehungspause » dürfte ihr relativ fremd sein.
Mielchen und Tom waren sich in den letzten Jahren immer mal wieder begegnet und mochten sich sehr. Jule wollte ihre Oma nicht noch weiter beunruhigen.
«Ja, also, den Urlaub ... Also, den haben wir ... verschoben. » Das war eigentlich sogar die Wahrheit. Tom und sie hatten den gemeinsamen Urlaub, wie auch alle anderen gemeinsamen Pläne, erst einmal - verschoben. Genau.
«Ich könnte also gut bei dir schlafen, wo ich schon mal hier bin. Morgen Vormittag besuche ich dich wieder, und dann sehen wir weiter, ja?»
«Hm.» Mit beiden Händen strich Mielchen die Bettdecke vor sich glatt. «Na gut ... Das ist ... wirklich lieb von dir, Julchen. Ach, es tut mir so leid, dass ich dir das alles aufbürde! »
«Das macht gar nichts, wirklich.»
«Aber wenn du eine Frage hast, rufst du an, ja? Die Nummer von dem Apparat da hast du schon, nicht?»
Jule nickte.
«Gut.» Mielchen dachte einen Moment nach. «Sag, Jule ... Inken war so gut, mir gestern Nachthemd und Toilettentasche einzupacken, aber mir fehlen ein paar Dinge. Sei du doch so gut und bring mir meine Zigaretten mit, wenn du morgen kommst, ja? Sie müssten im Wintergarten auf dem Tisch liegen. Und den Krimi vom Nachttisch auch, bitte.»
Jule atmete innerlich auf. Mielchen schien verstanden zu haben, dass sie eine Weile im Krankenhaus bleiben musste. Leicht würde ihr das nicht fallen, aber wenn Jule dafür sorgte, dass ihre Oma genug zu lesen hatte, würde die Zeit für sie sicher wie im Flug vergehen.
Mielchen war eine Vielleserin, die ohne ihre Bücher genau so wenig leben konnte wie ohne ihren Garten. Und am allerliebsten las sie dicke Krimis. Mielchen hatte jahrzehntelang in einer kleinen Buchhandlung in Buxtehude gearbeitet. Ein Glücksfall für beide Seiten. Denn Mielchen hatte ihre Tochter Senta sehr früh bekommen und sich ihr lange - aus Sentas Sicht viel zu lange - ausschließlich gewidmet. Erst mit Mitte dreißig hatte sie beschlossen, eine Ausbildung zu machen. Damals war Senta schon fast mit der Schule fertig gewesen und hatte die Berufstätigkeit ihrer Mutter als Befreiung empfunden. Noch Jahre später schimpfte sie: «Mutti war eine derartige Glucke - sie saß noch zum Brüten auf dem Ei, als das Küken schon längst geschlüpft war! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie froh ich war, als sie anfing zu arbeiten!»
Vielleicht rührte der Freiheitsdrang von Jules Mutter daher. Senta hatte es immer wieder von der Familie fort und ins Ausland gezogen, und sie hasste es, sich reinreden zu lassen. Vor allem von ihrer Mutter.
Jule ließ sich von Mielchen den Haustürschlüssel geben, verabschiedete sich unter einem Hagel weiterer Anweisungen zu den Themen Garten und Gästezimmer und stieß beim Öffnen der Tür fast gegen ein zweites Bett, das gerade hereingerollt wurde.
Auf dem Weg zum Auto fragte sich Jule, wie es sein konnte, dass Mielchen all die Arbeit in Haus und Garten ganz allein bewältigte. Obwohl Jule rund fünfzig Jahre jünger war als ihre Oma, hätte sie selbst sich schon bei dem Gedanken an all das, was jetzt zu tun war, am liebsten ins Bett gelegt. Mielchen dagegen schien es kaum Mühe zu machen, zwischen all der Arbeit noch mal eben mit ihrer alten Vespa über die Dörfer zu brettern, um Gemeindebriefe auszutragen, ihre selbstgekochte Marmelade zum Nachbarn zu bringen, der sie für sie auf dem Markt verkaufte, und abends noch eine Hühnersuppe für die Damen ihres Krimi-Kreises auf den Tisch zu zaubern. Natürlich selbst gemacht. Und natürlich tagte der Krimi-Kreis immer bei ihr. Die türkisfarbene Vespa war Mielchens ganzer Stolz, seit sie sich das Ding in den sechziger Jahren von ihrem ersten selbstverdienten Geld angeschafft hatte. Noch heute sagte sie bei jeder Gelegenheit: «Es ist kein Moped, sondern eine Vespa! Und ich war die Erste in der ganzen Gegend, die eine hatte!» Es grenzte allerdings an ein Wunder, dass nie jemand zu Schaden gekommen war, denn defensives Fahren war wirklich nicht Mielchens Stärke. Jule bewunderte die nie versiegende Energie ihrer Oma. Sie selbst war nach den arbeitsreichen und aufreibenden letzten Monaten mit Tom einfach nur urlaubsreif. Als sie vom Parkplatz rollte, fiel ihr ein, dass sie eigentlich noch mit dem behandelnden Arzt hatte sprechen wollen. Aber ihre Oma machte einen so guten Eindruck - das Gespräch konnte sie auch morgen noch führen.
Am Nachmittag kam Jule an dem reetgedeckten, mit Efeu bewachsenen Häuschen ihrer Großmutter an, das im Dörfchen Königreich gleich hinter dem Deich der Este lag, einem schmalen Nebenfluss der Elbe. Die roten Backsteine wurden von weißen Balken in große Quadrate gefasst, und die Fassade sprang nach oben hin leicht vor. Die Fenster waren von weißen Sprossen unterteilt, und die dunkelgrünen Rahmen hatten innen einen schmalen weißen Rand, wie bei fast allen alten Häusern im Dorf.
Jule angelte ihre Tasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes und stieg aus. Die Luft war hier spürbar milder als in Hamburg, und es roch sogar ein bisschen nach Meer.
Bei ihren früheren Besuchen war sie immer durch den Garten zur Hintertür gegangen, die zwischen Küche und Wintergarten ins Haus führte und eigentlich immer offen stand. Aber heute folgte sie dem von niedrigen Buchsbaumhecken gesäumten Weg zur dunkelgrün gestrichenen Haustür mit dem kleinen Fenster, über dem sich ein schmiedeeisernes Gitter wölbte.
Jule schloss auf und betrat die Diele. Sie stellte die Tasche neben die Treppe, schleuderte ihre Ballerinas von den Füßen und ging über den angenehm kühlen Steinfußboden an der Küche vorbei bis ans Ende des Flurs. Dort entriegelte sie die Hintertür, betrat die warmen Holzbohlen der Terrasse und ließ den Blick durch den Garten schweifen.
Schon als Kind hatte Jule dieses Fleckchen Erde geliebt, aber jetzt, nachdem sie monatelang in der Stadt festgesteckt hatte, wirkte die Aussicht auf sie geradezu überwältigend. Alles stand in voller Blüte. Die duftenden Rosen glänzten rosa und rot in der Sonne, und unter dem Pflaumenbaum neben der Terrasse hatte sich ein Teppich aus winzigen blauen Blumen ausgebreitet. Hinten an dem weißen Jägerzaun, der den Garten von den Obstfeldern trennte, leuchtete ein Meer aus hochaufgeschossenen Malven, buschigem Phlox und zarten Wicken in Pink- und Lilatönen, und in der rechten Ecke des Gartens stand die alte Linde, deren mächtiger Stamm von einer Sitzbank umschlossen wurde. Aber der ganze Stolz ihrer Oma war der große Kirschbaum, der mitten im Garten stand und voller roter Kirschen hing. Jule wusste: Egal aus welchem Fenster des Hauses man sah, der Blick schien immer auf diesen Baum zu fallen. Am schönsten war er Ende April, Anfang Mai anzusehen, wenn er voller weißen Blüten war, als wäre der Schnee noch einmal zurückgekommen.
Erst weiß wie Schnee, dann grün wie Klee, dann rot wie Blut - schmeckt allen Kindern gut, hatte ihr Opa früher immer gesagt und sie dann zum Kirschkernweitspucken animiert.
Jule beschloss, dass ihre neuen Aufgaben noch etwas warten konnten, und ging die zwei Stufen in den Garten hinunter. Barfuß lief sie über den Rasen zum Kirschbaum. Von einem der unteren Äste pflückte sie einen Kirschenzwilling, knipste die Früchte mit den Zähnen vom Stiel und biss hinein. Die kleinen Herzkirschen waren fest, wunderbar saftig, süß und sauer zugleich. Als sie nur noch die Kerne im Mund hatte, ging sie zum Zaun und spuckte sie über die Blumen hinweg bis aufs Feld.
Ja! Das waren bestimmt sechs Meter.
Sie konnte es also noch. Stundenlang hatte sie als Kind mit ihrem Opa Kirschkernweitspucken geübt und immer gehofft, dass auf dem damals noch brachliegenden Feld irgendwann ein kleiner Kirschbaum wachsen würde - bis ihr Großvater sie darüber belehrt hatte, dass das so einfach gar nicht ging, weil der Sprössling veredelt werden müsse, um zu einem starken, tragenden Baum werden zu können. Inzwischen wuchsen dort jede Menge Obstbäume.
Jule sah sich um. Der Korb, von dem ihre Oma gesprochen hatte, war nirgends zu sehen, und es lagen auch nicht besonders viele Kirschen unter dem Baum. Außer der zerbrochenen Sprosse der Leiter, die noch am Stamm lehnte, war von ihrem Unfall keine Spur mehr.
Nachdem sie noch ein paar Kirschen gepflückt hatte, ging Jule zu der Linde hinüber und setzte sich auf die raue Bank, die ihr Großvater noch wenige Monate vor seinem Tod rund um den Baumstamm gebaut hatte. An die warme Rinde gelehnt, sah sie über die Felder und hing ihren Gedanken nach. Hier bei Mielchen und Fritz war ihr Kindheitsparadies gewesen. Hier in der hinteren Ecke des Gartens hatte sie sich in den Sommerferien im Gebüsch mit Kisten und Decken eine Laube eingerichtet und aus Gras, Kräutern und Wasser Suppe für ihre Puppen gekocht. Wenn es ihr zu heiß wurde, war sie durch den Rasensprenger gelaufen, oder ihr Opa hatte sie mit dem Gartenschlauch nass gespritzt. In diesen Wochen war Jule von ihren Großeltern immer auf eine Weise umhegt worden, wie sie es von ihrer Mutter kaum kannte. Mielchen kochte ihr zum Mittagessen ihre Leibspeisen: Klößchensuppe, Kartoffelpuffer mit Apfelmus oder Pfannkuchen mit Kirschen und Sahne. Alle paar Tage wurde frischer Obstkuchen mit Streuseln aufgetischt, außerdem gab es frische Zitronenlimo, sooft sie wollte. Nur den breiigen Wurzeleintopf, den Opa Fritz so liebte, mochte Jule nicht. Aber in diesem Punkt kannte Mielchen kein Pardon: Es wurde gegessen, was auf den Tisch kam.
Im Alltag bei ihrer Mutter war es natürlich nicht ganz so idyllisch gewesen. Senta hatte nach der frühen Scheidung von Jules Vater viel im Theater gearbeitet, erst als Regieassistentin, später dann als verantwortliche Regisseurin. Sie war ständig unterwegs oder saß bis tief in die Nacht mit Schauspielern und Kollegen zusammen, um dann am nächsten Morgen zu verschlafen. Jule würde nie vergessen, wie ihre Mutter sie morgens mehr als einmal in letzter Minute im Pyjama, mit wilden Haaren und übergroßer Sonnenbrille in dem knallroten Käfer zur Schule gebracht hatte, den heute sie fuhr. «Benimm dich, sonst bringe ich dich in diesem Aufzug bis in die Klasse», hatte Senta sie gewarnt, weil sie genau wusste, wie peinlich Jule ein solcher Auftritt gewesen wäre. Ihrer Mutter dagegen war so schnell gar nichts peinlich. Aber Jule hatte derartige Strafen immer zu vermeiden gewusst, indem sie sich benahm. Sie war ein braves Kind gewesen, manchmal vielleicht zu brav. Was allerdings auch daran liegen mochte, dass Senta schlicht und einfach von ihr erwartete, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Schon sehr früh war Jule dafür verantwortlich gewesen, dass die Schulaufgaben erledigt waren und sie alles dabeihatte - vom Turnbeutel über das Pausenbrot bis zum Hausschlüssel. Rückblickend fand Jule eigentlich nicht, dass es ihr geschadet hatte. Auch wenn sie ihre Schulfreundinnen immer ein bisschen um die ordentlich gekleideten Mütter und die belegten Brote in ihren Tupperdosen beneidet hatte - dafür trug sie immer fünfzig Pfennig bei sich, um etwas beim Bäcker zu kaufen. Und darum beneideten ihre Mitschülerinnen sie. Außerdem hatte sie hier bei Mielchen und Fritz, in diesem Garten, in diesem Dorf, alles erlebt, was zu einer unbeschwerten Kindheit gehörte.
Vielleicht sollte sie tatsächlich ein paar Tage hier bleiben. Einfach ein bisschen ausspannen. Sie steckte sich die letzten beiden Kirschen in den Mund, die sie noch in der Hand hielt, und ließ sich den Geschmack des Sommers auf der Zunge zergehen.
Der Himmel über dem Alten Land war von einem tiefen, fast unwirklichen Blau. Jule beobachtete einen Raubvogel, der hoch oben seine Kreise zog. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Wann hatte sie diesen Duft zuletzt in der Nase gehabt? Je länger Jule die Augen geschlossen hielt, desto mehr nahm sie wahr. Sie hörte Bienen summen und Vögel zwitschern. Irgendwo raschelte es. Und ab und zu strich der Wind über ihre Haut und ließ die Blätter über ihr leise rauschen.
Erst als von irgendwoher das Klappern von Tellern zu hören war, schlug Jule die Augen wieder auf. Offenbar war sie eingedöst. Sie streckte sich. Es duftete nach Essen, und Jule merkte, dass sie Hunger hatte. Großen Hunger. Sie stand auf und ging ins Haus.
Im Kühlschrank fanden sich Käse und Wurst, Joghurt und sogar ein noch fast vollständiger Kirschstreuselkuchen. Aber Jule hatte Appetit auf ein richtiges Essen und beschloss, in Mielchens stets gut gefüllte Gefriertruhe zu sehen, die im Keller stand. Sie ging in die Diele, öffnete die Tür zur Kellertreppe, drehte am Lichtschalter und ging die kühlen, steilen Betonstufen hinunter, die ihr von Kindheit an so vertraut waren.
Die Gefriertruhe stand im ersten der beiden niedrigen Räume. Jule öffnete die Klappe und studierte die Etiketten, die auf den Gefrierbeuteln und den großen und kleinen Tupperdosen klebten. Die Handschrift ihrer Oma war gut zu lesen: Zupfkuchen. Hochzeitssuppe. Hühnerfrikassee! Jule nahm eine mittlere Portion und schloss den Deckel wieder. Auf dem Regal neben der Treppe standen die Vorräte an Reis und Nudeln, Mehl und Zucker, Kaffee und Tee. Viel zu viel für eine Person eigentlich, aber Mielchen gehörte zur Kriegsgeneration und hortete alles, was sich gut aufbewahren ließ. Jule beschloss, das Frikassee ohne Reis oder Kartoffeln zu essen, das dauerte ihr sonst zu lange. Sie ging wieder nach oben und nahm eine Kasserolle aus dem offenen Schrank neben dem Ofen. In der Küche hatte sich über die Jahre kaum etwas verändert, Jule musste also nicht lange suchen. Sie hielt den verschlossenen Tupper von allen Seiten unter fließend heißes Wasser, damit sich der gefrorene Block schneller vom Rand löste. Dann ließ sie ihn in die Kasserolle rutschen und stellte diese auf den Herd. Jule starrte in den Topf und wartete, dass es etwas zu rühren gab. Plötzlich verspürte sie einen derartigen Heißhunger, als hätte sie tagelang nichts gegessen. Aber wenn sie so darüber nachdachte, war die letzte Mahlzeit tatsächlich länger her. Das Frühstück hatte heute nur aus einem kleinen Joghurt bestanden - mehr hatte ihr Kühlschrank nicht mehr hergegeben -, und das Mittagessen war sogar ganz ausgefallen. Zum Abendessen hatte es gestern im Flugzeug nur ein pappiges Käsebaguette gegeben, und zu Hause war sie wegen der anstehenden Telefonate mit Mielchen, ihrer Mutter und ihrer besten Freundin Gesa nicht mehr dazu gekommen, sich etwas zu machen. Überhaupt waren die letzten Tage nervenaufreibend gewesen. Nach dem Streit mit Tom hatte sie sich tagsüber in die Arbeit gestürzt und in den Nächten wenig geschlafen. Bis nach Mitternacht hatte sie gestern mit Gesa telefoniert, die sich noch mehr über Tom aufgeregt hatte als Jule selbst.
Noch immer kam Jule diese Trennung auf Probe wie ein schlechter Traum vor. Gerade hatte sie doch noch von einer gemeinsamen Zukunft mit Tom geträumt. Und jetzt das. Aber es gab leider gute Gründe für diese Pause. Jule seufzte. Es war alles kompliziert.
Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und trank einen Schluck. Ein paar Tage in Mielchens Idylle würden ihr guttun. Keine Meetings, keine Mails, kein Mann. Sie trat ans Fenster und sah in den Garten.
Was war denn das? Unter dem Kirschbaum lag ein riesiger, zottiger Hund. Und auf der Leiter stand jemand. Durch die Blätter hindurch konnte Jule nur ein altes Paar Turnschuhe und zerschlissene Jeans erkennen.
In Oma Mielchens Kirschbaum steckte - ein Mann.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Jule hatte die Fensterscheiben heruntergekurbelt, damit der Fahrtwind die Hitze aus dem Wagen trieb. Die Sonne stand hoch am Himmel, und links und rechts zogen unzählige kleine Obstbäume vorbei, die schwer an reifen Kirschen und den ersten, noch grünen Äpfeln trugen.
Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist, dachte Jule. Dabei hatte sie für den heutigen Tag ganz andere Pläne gehabt. Eigentlich wollte sie jetzt nämlich mit ihrem Freund im Flugzeug sitzen und den Atlantik überqueren. Aber stattdessen saß sie nun in ihrem uralten roten Käfer und fuhr durch die Elbmarschen in das Heimatdorf ihrer Oma. Allein.
Schon vor Monaten hatten Tom und sie die Tickets gebucht. Sie wollten zuerst für ein paar Tage ihre Mutter in Montreal besuchen und dann durch Kanada reisen - vier ganze Wochen lang! Jule hatte sich so darauf gefreut. Endlich mal wieder ein längerer Urlaub. Bis vor kurzem hatte sie sich von diesen Wochen mit Tom noch so einiges erhofft. Zum Beispiel, dass sie ihren Freund daran erinnern würden, wie schön es war, das Leben gemeinsam zu verbringen, statt immer nur zu mailen, zu telefonieren und sich am Wochenende zu sehen. Vielleicht hätten sie ja in Kanada auch endlich über ihre gemeinsame Zukunft gesprochen. Wohl kaum. Jule trat das Gaspedal durch. Reines Wunschdenken. Denn es war alles anders gekommen: Vor einigen Tagen hatten Tom und sie einen furchtbaren Streit gehabt, wie so oft in letzter Zeit. Sie hatten den Entschluss gefasst, erst mal Pause voneinander zu machen. Ob sie überhaupt eine gemeinsame Zukunft haben würden, stand in den Sternen.
Am Tag nach dem Streit hatte Jule beschlossen, trotzdem nach Kanada zu fliegen. Dann eben allein. Wie lange hatte sie ihre Mutter nicht gesehen? Und vielleicht täte es ihr ja auch ganz gut, mal in Ruhe über alles nachzudenken. Über ihr Leben, ihre Beziehung, ihren Job.
Aber auch dieser Plan hatte sich nun erledigt. Denn gestern war Jules Oma beim Kirschenpflücken von der Leiter gefallen und mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus gekommen. Und da Jule das einzige Familienmitglied weit und breit war, konnte nur sie sich um Oma Mielchen, das Haus und den Garten kümmern.
Jule fuhr am Ortsschild von Buxtehude vorbei und hielt Ausschau nach einem Wegweiser zum Krankenhaus.
Ihre Großmutter war inzwischen über achtzig, bewirtschaftete aber wie eh und je ihren üppigen Obstgarten, beschnitt die Sträucher und jätete Unkraut, pflanzte und pflückte, kochte Marmelade ein und backte Kuchen. Und in den Sommermonaten beherbergte sie in ihrem Gästezimmer ab und zu auch noch zahlende Gäste, um ihre Rente aufzubessern. Eine Nachbarin, die in einer Pension in Jork arbeitete, gab gelegentlich Mielchens Adresse weiter, wenn bei ihnen keine Betten mehr frei waren. Aber öfter als ein paar Mal im Jahr kam das nicht vor.
Jule war immer wieder beeindruckt, wie viel Mielchen schuftete. Einfach mal die Füße hochlegen und faul auf der Terrasse sitzen, das konnte ihre Oma nicht. Außer wenn sie einen besonders spannenden Krimi las. Es dürfte eine ziemliche Herausforderung für sie sein, untätig im Krankenhaus herumzuliegen und zu warten, dass der Bruch verheilte. Zum Glück schien sie ihren Sturz ganz gut verkraftet zu haben. Jedenfalls hatte sie am Telefon kaum anders geklungen als sonst. Als Jule gestern Abend anbot, ihren Urlaub zu verschieben und erst mal ins Alte Land zu kommen, um die dringendsten Angelegenheiten für sie zu regeln, hatte ihre Oma energisch abgelehnt. Aber Jule war froh, sich durchgesetzt zu haben. Und ihre Mutter hatte sie am Telefon darin bestärkt, denn Mielchen überschätzte sich und ihre Kräfte manchmal - eine Eigenschaft, die bei allen Frauen der Familie einigermaßen ausgeprägt war. Auch Jules Mutter Senta war so ein Arbeitstier und jagte als Regisseurin von einer Theaterproduktion zur anderen. Und wenn Jule es recht bedachte, gönnte auch sie selbst sich nur sehr selten eine Pause.
Seit vier Jahren war Jule Redakteurin bei der Antonia, einer Frauenzeitschrift. Sie war zuständig für die Rubrik «Persönlich». Am Tag zuvor war sie nach München geflogen, morgens hin und abends zurück, um eine junge Schauspielerin zu interviewen, die mit ihrem ersten Film schlagartig berühmt geworden war, und nun kam ihr zweiter in die Kinos. Jule liebte es, immer wieder neue Leute zu treffen, die etwas Spannendes machten. Allerdings war dieser interessantere Teil ihres Jobs in letzter Zeit viel zu kurz gekommen. Sie hatte sich auf den Termin gefreut - obwohl er leider ausgerechnet am letzten Tag vor ihrem Urlaub stattfinden musste. Aber das Interview sollte unbedingt schon in der nächsten Ausgabe erscheinen. Es blieb also kaum Zeit, den Mitschnitt abzutippen und freigeben zu lassen. Da Jule aber nicht vorhatte, diese Arbeit im Urlaub zu machen - so verrückt war sie dann doch nicht - , hatte sie mit den Knöpfen ihrer Kopfhörer im Ohr am Münchner Flughafen gesessen und das Interview in ihren Laptop getippt. Und genau in dem Moment hatte Mielchens Nachbarin Inken auf dem Handy angerufen und Jule von dem Unfall berichtet.
Jule folgte den Schildern durch das Städtchen, fuhr knatternd an windschiefen Fachwerkhäusern vorbei und schließlich auf den Parkplatz der Klinik. Als sie auf den Eingang zueilte, sah sie hoch am Himmel ganz klein ein Flugzeug silbrig glänzen. Jule seufzte. Dieser Sommer würde definitiv anders verlaufen als geplant.
Mielchen lag allein in einem großen, leeren Zimmer. Das Kopfteil ihres Bettes war angewinkelt, ihr rechtes Bein steckte in einem beeindruckenden Gips und hing in einer Schlaufe über dem Bett. Sie trug ein hellblaues Baumwollnachthemd mit kurzen Ärmeln, aus denen ihre braungebrannten Arme hervorsahen, und ihr schlohweißer Pagenkopf war etwas in Unordnung geraten. Als sie Jule erblickte, versuchte sie sofort, sich aufzurichten.
«Julchen, endlich!» Sie winkte ihre Enkelin mit ausgestrecktem Arm zu sich heran. «Du musst mir hier raushelfen. Bist du mit dem Wagen da?»
Jule beugte sich zu ihrer Oma hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Jetzt mal langsam, eins nach dem andern. Wie geht's dir denn?»
«Na, wie soll es einem mit so einem Klotz am Bein schon gehen?» Sie klopfte auf den schmalen Streifen der Matratze neben sich. «Aber jetzt ist ja meine Lieblingsenkelin da. Na, dann setz dich erst mal und erzähl.»
Jule musste lächeln. Mit diesen Worten war sie früher jeden Sommer begrüßt worden, wenn sie - die einzige Enkelin - die Ferien bei Mielchen und Fritz im Alten Land verbracht hatte. Froh, dass ihre Oma jedenfalls nicht mehr türmen zu wollen schien, streifte Jule ihre Tasche ab und setzte sich zu ihr. Zeit hatte sie schließlich genug.
Mielchen musterte sie von den locker zusammengesteckten rotblonden Haaren über die dünne weiße Bluse und die Jeans bis zu den Ballerinas. «Du siehst so schmal aus. Und blass bist du!»
«Danke für die Blumen», sagte Jule trocken. Damit, wie es ihr ging, fing sie jetzt lieber gar nicht erst an. «Aber du bist hier die Patientin! Wie konnte das denn überhaupt passieren? », fragte sie.
«Na, ich stand auf der Leiter und war am Kirschenpflücken, und da ist die Sprosse, auf der ich stand, durchgebrochen », erklärte Mielchen leicht unwirsch. «Und dann lag ich da. Zum Glück war die kleine Mia nebenan im Garten und hat sofort Inken geholt. Aber der Korb mit den Kirschen ist mir runtergefallen, die liegen nun alle verstreut auf dem Rasen. Die müssten dringend aufgelesen werden, bevor sie schimmeln. Und die restlichen Kirschen am Baum müssen gepflückt werden! Und den Garten wollte ich noch wässern, schließlich sieht es nicht gerade nach Regen aus. Ach, es gibt dermaßen viel zu tun, ich kann hier nicht so untätig rumliegen! »
Oje, stöhnte Jule innerlich. So leicht ließ Mielchen sich wohl doch nicht beruhigen.
«Und die Wäsche muss ich noch abnehmen, die hängt jetzt schon seit zwei Tagen draußen. Außerdem steht meine Vespa noch vor dem Haus, und - »
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine Schwester trat ein und stellte ein Tablett mit einer Tasse Kaffee und einem kleinen Stück Topfkuchen auf den Nachttisch.
Mielchen hielt inne, und Jule stand auf, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Als die Schwester die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, sagte sie: «Mielchen, bei dir zu Hause ist also einiges zu tun. Gut. Aber du wirst ja noch eine Weile hier bleiben müssen. Ich kann mich doch erst mal um das Wichtigste kümmern.»
Skeptisch sah Mielchen ihre Enkelin an. «Aber es ist ja wirklich alles stehen und liegen geblieben und - ach je! Morgen kommt ja auch noch ein Übernachtungsgast! Den hätte ich beinahe vergessen. Dafür ist auch noch alles Mögliche vorzubereiten.»
«Hat Inken dir wieder jemanden geschickt?», fragte Jule.
Mielchen nickte. «Er kommt morgen gegen Mittag, und ich habe das Zimmer noch gar nicht herrichten können. Das Bett muss bezogen werden. Und ich räume ja immer das Bad oben frei und benutze dann selbst das kleine unten neben der Küche. Oben im Bad müsste ich aber dringend noch mal ein bisschen sauber machen ...» Mielchen versuchte erneut, sich aufzurichten. «Es geht nicht anders. Wir müssen los!»
Jule winkte ab. «Darum kümmere ich mich.»
«Aber du weißt doch gar nicht - »
«Du musst dir keine Gedanken machen. Ich schaffe das schon.»
Mielchen sah sie nachdenklich an. Ob ihr langsam klarwurde, dass sie das Krankenhaus doch nicht mitsamt Gipsbein verlassen sollte, um zu Hause Wäsche abzunehmen? So ganz überzeugt wirkte sie noch nicht.
«Ich bin erwachsen, Oma», sagte Jule und nickte bekräftigend. «Du kannst dich auf mich verlassen.»
«Und du stellst auch ein paar Blumen ins Gästezimmer? »
«Natürlich.»
Mielchen lehnte sich zurück, allerdings nur, um sich sofort wieder vorzubeugen. «Aber wenn nun - »
«Mielchen!», sagte Jule, um einen strengen Ton bemüht. «Ich kümmere mich um alles! Du musst erst mal wieder gesund werden, das ist das Wichtigste.»
«Hm», brummte Mielchen.
Ihre Oma schien nachzudenken. Jetzt musste sie dranbleiben. «Ich kümmere mich um den Garten, und ich spreche wegen des Übernachtungsgastes mit Inken», fuhr Jule fort. «Vielleicht weiß die ja noch eine andere Lösung.»
Mielchen seufzte. «Ach, Julchen ... na gut. Anders wird es wohl nicht gehen.»
«Sieht so aus, ja. Und wenn alle Stricke reißen, bleibe ich einfach ein paar Tage hier und helfe aus.»
«Papperlapapp! Kommt gar nicht in Frage. Was wird denn dann aus deinem Urlaub?», fragte Mielchen entrüstet. «Wolltest du nicht mit Tom nach Kanada?»
Wie soll ich ihr das bloß erklären? Das Konzept «Beziehungspause » dürfte ihr relativ fremd sein.
Mielchen und Tom waren sich in den letzten Jahren immer mal wieder begegnet und mochten sich sehr. Jule wollte ihre Oma nicht noch weiter beunruhigen.
«Ja, also, den Urlaub ... Also, den haben wir ... verschoben. » Das war eigentlich sogar die Wahrheit. Tom und sie hatten den gemeinsamen Urlaub, wie auch alle anderen gemeinsamen Pläne, erst einmal - verschoben. Genau.
«Ich könnte also gut bei dir schlafen, wo ich schon mal hier bin. Morgen Vormittag besuche ich dich wieder, und dann sehen wir weiter, ja?»
«Hm.» Mit beiden Händen strich Mielchen die Bettdecke vor sich glatt. «Na gut ... Das ist ... wirklich lieb von dir, Julchen. Ach, es tut mir so leid, dass ich dir das alles aufbürde! »
«Das macht gar nichts, wirklich.»
«Aber wenn du eine Frage hast, rufst du an, ja? Die Nummer von dem Apparat da hast du schon, nicht?»
Jule nickte.
«Gut.» Mielchen dachte einen Moment nach. «Sag, Jule ... Inken war so gut, mir gestern Nachthemd und Toilettentasche einzupacken, aber mir fehlen ein paar Dinge. Sei du doch so gut und bring mir meine Zigaretten mit, wenn du morgen kommst, ja? Sie müssten im Wintergarten auf dem Tisch liegen. Und den Krimi vom Nachttisch auch, bitte.»
Jule atmete innerlich auf. Mielchen schien verstanden zu haben, dass sie eine Weile im Krankenhaus bleiben musste. Leicht würde ihr das nicht fallen, aber wenn Jule dafür sorgte, dass ihre Oma genug zu lesen hatte, würde die Zeit für sie sicher wie im Flug vergehen.
Mielchen war eine Vielleserin, die ohne ihre Bücher genau so wenig leben konnte wie ohne ihren Garten. Und am allerliebsten las sie dicke Krimis. Mielchen hatte jahrzehntelang in einer kleinen Buchhandlung in Buxtehude gearbeitet. Ein Glücksfall für beide Seiten. Denn Mielchen hatte ihre Tochter Senta sehr früh bekommen und sich ihr lange - aus Sentas Sicht viel zu lange - ausschließlich gewidmet. Erst mit Mitte dreißig hatte sie beschlossen, eine Ausbildung zu machen. Damals war Senta schon fast mit der Schule fertig gewesen und hatte die Berufstätigkeit ihrer Mutter als Befreiung empfunden. Noch Jahre später schimpfte sie: «Mutti war eine derartige Glucke - sie saß noch zum Brüten auf dem Ei, als das Küken schon längst geschlüpft war! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie froh ich war, als sie anfing zu arbeiten!»
Vielleicht rührte der Freiheitsdrang von Jules Mutter daher. Senta hatte es immer wieder von der Familie fort und ins Ausland gezogen, und sie hasste es, sich reinreden zu lassen. Vor allem von ihrer Mutter.
Jule ließ sich von Mielchen den Haustürschlüssel geben, verabschiedete sich unter einem Hagel weiterer Anweisungen zu den Themen Garten und Gästezimmer und stieß beim Öffnen der Tür fast gegen ein zweites Bett, das gerade hereingerollt wurde.
Auf dem Weg zum Auto fragte sich Jule, wie es sein konnte, dass Mielchen all die Arbeit in Haus und Garten ganz allein bewältigte. Obwohl Jule rund fünfzig Jahre jünger war als ihre Oma, hätte sie selbst sich schon bei dem Gedanken an all das, was jetzt zu tun war, am liebsten ins Bett gelegt. Mielchen dagegen schien es kaum Mühe zu machen, zwischen all der Arbeit noch mal eben mit ihrer alten Vespa über die Dörfer zu brettern, um Gemeindebriefe auszutragen, ihre selbstgekochte Marmelade zum Nachbarn zu bringen, der sie für sie auf dem Markt verkaufte, und abends noch eine Hühnersuppe für die Damen ihres Krimi-Kreises auf den Tisch zu zaubern. Natürlich selbst gemacht. Und natürlich tagte der Krimi-Kreis immer bei ihr. Die türkisfarbene Vespa war Mielchens ganzer Stolz, seit sie sich das Ding in den sechziger Jahren von ihrem ersten selbstverdienten Geld angeschafft hatte. Noch heute sagte sie bei jeder Gelegenheit: «Es ist kein Moped, sondern eine Vespa! Und ich war die Erste in der ganzen Gegend, die eine hatte!» Es grenzte allerdings an ein Wunder, dass nie jemand zu Schaden gekommen war, denn defensives Fahren war wirklich nicht Mielchens Stärke. Jule bewunderte die nie versiegende Energie ihrer Oma. Sie selbst war nach den arbeitsreichen und aufreibenden letzten Monaten mit Tom einfach nur urlaubsreif. Als sie vom Parkplatz rollte, fiel ihr ein, dass sie eigentlich noch mit dem behandelnden Arzt hatte sprechen wollen. Aber ihre Oma machte einen so guten Eindruck - das Gespräch konnte sie auch morgen noch führen.
Am Nachmittag kam Jule an dem reetgedeckten, mit Efeu bewachsenen Häuschen ihrer Großmutter an, das im Dörfchen Königreich gleich hinter dem Deich der Este lag, einem schmalen Nebenfluss der Elbe. Die roten Backsteine wurden von weißen Balken in große Quadrate gefasst, und die Fassade sprang nach oben hin leicht vor. Die Fenster waren von weißen Sprossen unterteilt, und die dunkelgrünen Rahmen hatten innen einen schmalen weißen Rand, wie bei fast allen alten Häusern im Dorf.
Jule angelte ihre Tasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes und stieg aus. Die Luft war hier spürbar milder als in Hamburg, und es roch sogar ein bisschen nach Meer.
Bei ihren früheren Besuchen war sie immer durch den Garten zur Hintertür gegangen, die zwischen Küche und Wintergarten ins Haus führte und eigentlich immer offen stand. Aber heute folgte sie dem von niedrigen Buchsbaumhecken gesäumten Weg zur dunkelgrün gestrichenen Haustür mit dem kleinen Fenster, über dem sich ein schmiedeeisernes Gitter wölbte.
Jule schloss auf und betrat die Diele. Sie stellte die Tasche neben die Treppe, schleuderte ihre Ballerinas von den Füßen und ging über den angenehm kühlen Steinfußboden an der Küche vorbei bis ans Ende des Flurs. Dort entriegelte sie die Hintertür, betrat die warmen Holzbohlen der Terrasse und ließ den Blick durch den Garten schweifen.
Schon als Kind hatte Jule dieses Fleckchen Erde geliebt, aber jetzt, nachdem sie monatelang in der Stadt festgesteckt hatte, wirkte die Aussicht auf sie geradezu überwältigend. Alles stand in voller Blüte. Die duftenden Rosen glänzten rosa und rot in der Sonne, und unter dem Pflaumenbaum neben der Terrasse hatte sich ein Teppich aus winzigen blauen Blumen ausgebreitet. Hinten an dem weißen Jägerzaun, der den Garten von den Obstfeldern trennte, leuchtete ein Meer aus hochaufgeschossenen Malven, buschigem Phlox und zarten Wicken in Pink- und Lilatönen, und in der rechten Ecke des Gartens stand die alte Linde, deren mächtiger Stamm von einer Sitzbank umschlossen wurde. Aber der ganze Stolz ihrer Oma war der große Kirschbaum, der mitten im Garten stand und voller roter Kirschen hing. Jule wusste: Egal aus welchem Fenster des Hauses man sah, der Blick schien immer auf diesen Baum zu fallen. Am schönsten war er Ende April, Anfang Mai anzusehen, wenn er voller weißen Blüten war, als wäre der Schnee noch einmal zurückgekommen.
Erst weiß wie Schnee, dann grün wie Klee, dann rot wie Blut - schmeckt allen Kindern gut, hatte ihr Opa früher immer gesagt und sie dann zum Kirschkernweitspucken animiert.
Jule beschloss, dass ihre neuen Aufgaben noch etwas warten konnten, und ging die zwei Stufen in den Garten hinunter. Barfuß lief sie über den Rasen zum Kirschbaum. Von einem der unteren Äste pflückte sie einen Kirschenzwilling, knipste die Früchte mit den Zähnen vom Stiel und biss hinein. Die kleinen Herzkirschen waren fest, wunderbar saftig, süß und sauer zugleich. Als sie nur noch die Kerne im Mund hatte, ging sie zum Zaun und spuckte sie über die Blumen hinweg bis aufs Feld.
Ja! Das waren bestimmt sechs Meter.
Sie konnte es also noch. Stundenlang hatte sie als Kind mit ihrem Opa Kirschkernweitspucken geübt und immer gehofft, dass auf dem damals noch brachliegenden Feld irgendwann ein kleiner Kirschbaum wachsen würde - bis ihr Großvater sie darüber belehrt hatte, dass das so einfach gar nicht ging, weil der Sprössling veredelt werden müsse, um zu einem starken, tragenden Baum werden zu können. Inzwischen wuchsen dort jede Menge Obstbäume.
Jule sah sich um. Der Korb, von dem ihre Oma gesprochen hatte, war nirgends zu sehen, und es lagen auch nicht besonders viele Kirschen unter dem Baum. Außer der zerbrochenen Sprosse der Leiter, die noch am Stamm lehnte, war von ihrem Unfall keine Spur mehr.
Nachdem sie noch ein paar Kirschen gepflückt hatte, ging Jule zu der Linde hinüber und setzte sich auf die raue Bank, die ihr Großvater noch wenige Monate vor seinem Tod rund um den Baumstamm gebaut hatte. An die warme Rinde gelehnt, sah sie über die Felder und hing ihren Gedanken nach. Hier bei Mielchen und Fritz war ihr Kindheitsparadies gewesen. Hier in der hinteren Ecke des Gartens hatte sie sich in den Sommerferien im Gebüsch mit Kisten und Decken eine Laube eingerichtet und aus Gras, Kräutern und Wasser Suppe für ihre Puppen gekocht. Wenn es ihr zu heiß wurde, war sie durch den Rasensprenger gelaufen, oder ihr Opa hatte sie mit dem Gartenschlauch nass gespritzt. In diesen Wochen war Jule von ihren Großeltern immer auf eine Weise umhegt worden, wie sie es von ihrer Mutter kaum kannte. Mielchen kochte ihr zum Mittagessen ihre Leibspeisen: Klößchensuppe, Kartoffelpuffer mit Apfelmus oder Pfannkuchen mit Kirschen und Sahne. Alle paar Tage wurde frischer Obstkuchen mit Streuseln aufgetischt, außerdem gab es frische Zitronenlimo, sooft sie wollte. Nur den breiigen Wurzeleintopf, den Opa Fritz so liebte, mochte Jule nicht. Aber in diesem Punkt kannte Mielchen kein Pardon: Es wurde gegessen, was auf den Tisch kam.
Im Alltag bei ihrer Mutter war es natürlich nicht ganz so idyllisch gewesen. Senta hatte nach der frühen Scheidung von Jules Vater viel im Theater gearbeitet, erst als Regieassistentin, später dann als verantwortliche Regisseurin. Sie war ständig unterwegs oder saß bis tief in die Nacht mit Schauspielern und Kollegen zusammen, um dann am nächsten Morgen zu verschlafen. Jule würde nie vergessen, wie ihre Mutter sie morgens mehr als einmal in letzter Minute im Pyjama, mit wilden Haaren und übergroßer Sonnenbrille in dem knallroten Käfer zur Schule gebracht hatte, den heute sie fuhr. «Benimm dich, sonst bringe ich dich in diesem Aufzug bis in die Klasse», hatte Senta sie gewarnt, weil sie genau wusste, wie peinlich Jule ein solcher Auftritt gewesen wäre. Ihrer Mutter dagegen war so schnell gar nichts peinlich. Aber Jule hatte derartige Strafen immer zu vermeiden gewusst, indem sie sich benahm. Sie war ein braves Kind gewesen, manchmal vielleicht zu brav. Was allerdings auch daran liegen mochte, dass Senta schlicht und einfach von ihr erwartete, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Schon sehr früh war Jule dafür verantwortlich gewesen, dass die Schulaufgaben erledigt waren und sie alles dabeihatte - vom Turnbeutel über das Pausenbrot bis zum Hausschlüssel. Rückblickend fand Jule eigentlich nicht, dass es ihr geschadet hatte. Auch wenn sie ihre Schulfreundinnen immer ein bisschen um die ordentlich gekleideten Mütter und die belegten Brote in ihren Tupperdosen beneidet hatte - dafür trug sie immer fünfzig Pfennig bei sich, um etwas beim Bäcker zu kaufen. Und darum beneideten ihre Mitschülerinnen sie. Außerdem hatte sie hier bei Mielchen und Fritz, in diesem Garten, in diesem Dorf, alles erlebt, was zu einer unbeschwerten Kindheit gehörte.
Vielleicht sollte sie tatsächlich ein paar Tage hier bleiben. Einfach ein bisschen ausspannen. Sie steckte sich die letzten beiden Kirschen in den Mund, die sie noch in der Hand hielt, und ließ sich den Geschmack des Sommers auf der Zunge zergehen.
Der Himmel über dem Alten Land war von einem tiefen, fast unwirklichen Blau. Jule beobachtete einen Raubvogel, der hoch oben seine Kreise zog. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Wann hatte sie diesen Duft zuletzt in der Nase gehabt? Je länger Jule die Augen geschlossen hielt, desto mehr nahm sie wahr. Sie hörte Bienen summen und Vögel zwitschern. Irgendwo raschelte es. Und ab und zu strich der Wind über ihre Haut und ließ die Blätter über ihr leise rauschen.
Erst als von irgendwoher das Klappern von Tellern zu hören war, schlug Jule die Augen wieder auf. Offenbar war sie eingedöst. Sie streckte sich. Es duftete nach Essen, und Jule merkte, dass sie Hunger hatte. Großen Hunger. Sie stand auf und ging ins Haus.
Im Kühlschrank fanden sich Käse und Wurst, Joghurt und sogar ein noch fast vollständiger Kirschstreuselkuchen. Aber Jule hatte Appetit auf ein richtiges Essen und beschloss, in Mielchens stets gut gefüllte Gefriertruhe zu sehen, die im Keller stand. Sie ging in die Diele, öffnete die Tür zur Kellertreppe, drehte am Lichtschalter und ging die kühlen, steilen Betonstufen hinunter, die ihr von Kindheit an so vertraut waren.
Die Gefriertruhe stand im ersten der beiden niedrigen Räume. Jule öffnete die Klappe und studierte die Etiketten, die auf den Gefrierbeuteln und den großen und kleinen Tupperdosen klebten. Die Handschrift ihrer Oma war gut zu lesen: Zupfkuchen. Hochzeitssuppe. Hühnerfrikassee! Jule nahm eine mittlere Portion und schloss den Deckel wieder. Auf dem Regal neben der Treppe standen die Vorräte an Reis und Nudeln, Mehl und Zucker, Kaffee und Tee. Viel zu viel für eine Person eigentlich, aber Mielchen gehörte zur Kriegsgeneration und hortete alles, was sich gut aufbewahren ließ. Jule beschloss, das Frikassee ohne Reis oder Kartoffeln zu essen, das dauerte ihr sonst zu lange. Sie ging wieder nach oben und nahm eine Kasserolle aus dem offenen Schrank neben dem Ofen. In der Küche hatte sich über die Jahre kaum etwas verändert, Jule musste also nicht lange suchen. Sie hielt den verschlossenen Tupper von allen Seiten unter fließend heißes Wasser, damit sich der gefrorene Block schneller vom Rand löste. Dann ließ sie ihn in die Kasserolle rutschen und stellte diese auf den Herd. Jule starrte in den Topf und wartete, dass es etwas zu rühren gab. Plötzlich verspürte sie einen derartigen Heißhunger, als hätte sie tagelang nichts gegessen. Aber wenn sie so darüber nachdachte, war die letzte Mahlzeit tatsächlich länger her. Das Frühstück hatte heute nur aus einem kleinen Joghurt bestanden - mehr hatte ihr Kühlschrank nicht mehr hergegeben -, und das Mittagessen war sogar ganz ausgefallen. Zum Abendessen hatte es gestern im Flugzeug nur ein pappiges Käsebaguette gegeben, und zu Hause war sie wegen der anstehenden Telefonate mit Mielchen, ihrer Mutter und ihrer besten Freundin Gesa nicht mehr dazu gekommen, sich etwas zu machen. Überhaupt waren die letzten Tage nervenaufreibend gewesen. Nach dem Streit mit Tom hatte sie sich tagsüber in die Arbeit gestürzt und in den Nächten wenig geschlafen. Bis nach Mitternacht hatte sie gestern mit Gesa telefoniert, die sich noch mehr über Tom aufgeregt hatte als Jule selbst.
Noch immer kam Jule diese Trennung auf Probe wie ein schlechter Traum vor. Gerade hatte sie doch noch von einer gemeinsamen Zukunft mit Tom geträumt. Und jetzt das. Aber es gab leider gute Gründe für diese Pause. Jule seufzte. Es war alles kompliziert.
Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und trank einen Schluck. Ein paar Tage in Mielchens Idylle würden ihr guttun. Keine Meetings, keine Mails, kein Mann. Sie trat ans Fenster und sah in den Garten.
Was war denn das? Unter dem Kirschbaum lag ein riesiger, zottiger Hund. Und auf der Leiter stand jemand. Durch die Blätter hindurch konnte Jule nur ein altes Paar Turnschuhe und zerschlissene Jeans erkennen.
In Oma Mielchens Kirschbaum steckte - ein Mann.
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Autoren-Porträt von Anneke Mohn
Anneke Mohn ist in Niedersachsen aufgewachsen, lebt mit ihrer Familie in Hamburg und sammelte unterwegs selbst einige Patchworkerfahrungen. Sie war in den Lektoraten verschiedener Buchverlage tätig und arbeitet heute als Übersetzerin und Autorin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anneke Mohn
- 2013, 5. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499259311
- ISBN-13: 9783499259319
- Erscheinungsdatum: 22.05.2013
Rezension zu „Kirschsommer “
Zum Lachen, zum Weinen und rettungslos romantisch ... Lesen! Anne Hertz
Pressezitat
Zum Lachen, zum Weinen und rettungslos romantisch ... Lesen! Anne Hertz
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