Bonita Avenue
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Der niederländische Schriftsteller Peter Buwalda seziert in seinem Debüt „Bonita Avenue" das Beziehungsgeflecht einer Patchworkfamilie.
Dieses Buch gleicht einer Explosion, deren gewaltige Druckwelle die schönsten Sätze und Bilder fliegen und rauschen lässt und so eine packende, dramatische Geschichte formt. Peter Buwalda hat sie geschrieben. Drei Jahre hat sich der Schriftsteller zu Hause eingeschlossen, um sich voll und ganz seinem Erstling „Bonita Avenue" zu widmen. Seine Sprache ist klar, jeglicher überflüssige Ballast wurde abgeworfen, die Charaktere glitzern, das rund 600-seitige Buch ist klar strukturiert und liest sich flüssig und spannend wie ein Thriller. Buwaldas Debüt, das in den Niederlanden bereits zum Bestseller avancierte, ist eine echte literarische Entdeckung.
Scheinbare Perfektion
Dabei erzählt Buwalda noch nicht einmal eine auf den ersten Blick besonders originelle Geschichte. Aber es ist eine Geschichte, die an allem reißt, was das menschliche Leben ausmacht - an Identität, Erziehung, Abgründen, Lebenslügen, Geheimnissen, Generationskonflikten und einer scheinbar perfekten Patchworkfamilie, die auf die Probe gestellt wird. Man fühlt sich an Tolstois Satz Eröffnungssatz aus „Anna Karenina" erinnert, der diesen Roman wie einen Geist zum Leben erweckt zu haben scheint: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise."
Dunkle Geheimnisse und früheres Glück
Im Mittelpunkt der Handlung steht Siem Sigerius, ein Mann Mitte Fünfzig, dessen Leben so erfolgreich verläuft, dass es nahezu unheimlich ist. Er ist Mathematiker, der für seine Errungenschaften die Fields-Medaille, den Nobelpreis für Mathematiker, erhalten hat. Er ist Rektor einer Universität in den Niederlanden, er ist ein bürgerlicher Genussmensch, der Jazz liebt und auch einmal Meister im Judo war. Zudem soll er zum Minister für Erziehung und Wissenschaft ernannt werden. Er ist Stiefvater von Joni. Deren Mann Aaron, einen Fotografen, hat er wie seinen Sohn angenommen. Denn Wilbert, Siems eigener Sohn aus einer früheren Beziehung, ist ein Mörder; er hat seine Frau umgebracht. Um diese drei Personen spinnt Buwalda seine Geschichte, die sich vor dem Hintergrund der Explosion der Feuerwerksfabrik in Enschede im Jahr 2000 abspielt. Dieses Unglück, bei dem 23 Menschen starben und über 1.000 verletzt wurden, ist das Sinnbild für die Katastrophe, die sich in Siems scheinbar so glücklicher Familie anbahnt. Der Titel des Buches, „Bonita Avenue", rekurriert als Antipode zu Enschede auf die Straße im US-amerikanischen Kalifornien, wo die Familie in den 1980er-Jahren ihre wohl glücklichste Zeit verbrachte.
Akribisch und mit psychologischer Finesse
Von Kapitel zu Kapitel wechselt Buwalda die Erzählperspektive, auch die Zeiten und die Orte. So entwickelt der Schriftsteller, der sein Geld vor dem Debüt als Redakteur einer Literaturzeitschrift verdiente, eine unheilvolle Spirale, die sukzessive verdeutlicht, dass das Familienidyll vor allem ein Schein war. Denn jede Figur hütet Geheimnisse, die den anderen Familienmitgliedern unbekannt sind. Schritt für Schritt kommen diese ans Licht und zerstören das Vertrauen, das Siem, Joni und Aaron einst verband. Mit Akribie und psychologischer Finesse lotet Buwalda seine Figuren und das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen aus. Eine packende Geschichte. Eine Geschichte, die einfach erzählt werden musste.
'Bonita Avenue' - benannt nach einer Straße in Kalifornien, wo die Familie in früheren Jahren glücklich lebte - ist ein mitreißender, reich nuancierter, kraftvoll-bildhafter Roman über das Auseinanderbrechen einer Patchwork-Familie, über einen Vater, dessen Kinder die Erwartungen, die er an sie stellt, durchkreuzen, über Familiengeheimnisse, Wahrheit und Lüge, Schein und Sein.
Peter Buwalda ist die literarische Entdeckung in der niederländischen Literatur.
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Als Aaron an einem Sonntagnachmittag des Jahres 1996 von Joni Sigerius zum umgebauten Bauernhof ihrer Eltern mitgenommen wurde, um dort offiziell vorgestellt zu werden, gab ihr Vater ihm schmerzhaft fest die Hand. «Du hast das Foto gemacht», sagte er. Oder war es eine Frage?
Siem Sigerius war ein gedrungener, dunkel behaarter Mann mit einem Paar Ohren, auf das man unwillkürlich den Blick richtete; sie waren gekräuselt, sahen aus wie frittiert, und weil Aaron Judo gemacht hatte, wusste er, dass es Blumenkohlohren waren. Die bekam man davon, dass die groben Baumwollärmel ständig an ihnen entlangscheuerten, dass die Ohrmuscheln immer wieder zwischen harten Körpern und rauen Matten zusammengefaltet wurden, so sammelten sich Blut und Eiter zwischen dem Knorpel und der babyweichen Haut. Wer nichts dagegen unternahm, wurde die verhärteten Schwellungen und Beulen irgendwann nicht mehr los. An Aarons eigenem Kopf saßen zwei ganz normale, unversehrte Pfirsichohren; Blumenkohlohren waren den Champions vorbehalten, den monomanen Kerlen, die Abend für Abend über die Tatami rutschten. So ein Kräuselohr musste man sich verdienen, da steckten Mannjahre drin. Zweifellos trug Jonis Vater sie als Ehrenzeichen, als Beweis für Tatkraft und Männlichkeit. Wenn Aaron früher bei Turnieren einem solchen am Ohr markierten Tier gegenüberstand, bemächtigte Angst sich seiner; für ihn war ein Blumenkohlohr letztlich ein schlechtes Omen, er war ein mieser Wettkampfudoka. Um zu verbergen, dass er beeindruckt war, erwiderte er: «Ich mache laufend Fotos.>>
Sigerius' Ohren bewegten sich leicht. Sein kurzgeschnittenes Kraushaar bedeckte wie Filz den breiten, platten Schädel. Obwohl er Anzüge oder Cordhosen zu Poloshirts von Ralph Lauren trug, die Uniform der Arbeitgeber, der Arrivierten, hätte man ihn wegen seiner Ohren und des büffelartigen Körpers nicht für jemanden gehalten, der an der Spitze einer Universität stand, geschweige denn geglaubt, dass er als der größte niederländische Mathematiker seit Luitzen Brouwer galt. Einen Mann mit seiner körperlichen Erscheinung vermutete man eher auf dem Bau oder nachts an einer Autobahn, in einer fluoreszierenden Weste hinter einem Bottich mit Teer. «Du weißt genau, welches Foto ich meine>>, sagte er.
Joni, Jonis Schwester Janis, seine Frau Tineke, alle in dem großen Wohnzimmer wussten, welches Foto Sigerius meinte. Es handelte sich um das Foto, das ungefähr ein Jahr zuvor großformatig in der Zeitung der Tubantia University veröffentlicht worden war, der kleinen Campusuniversität in den Wäldern zwischen Hengelo und Enschede, deren Rector magnificus Sigerius war. Das Foto zeigte ihn am Ufer des Amsterdam-Rhein-Kanals, breitbeinig und mit nackten Füßen im schlammigen, plattgetretenen Gras, lediglich mit einer Krawatte bekleidet, unter seinem sich behutsam wölbenden Mittfünfzigerbauch war sein Geschlechtsteil deutlich zu sehen. Die Aufnahme fand sich in den Tagen danach auch in fast allen überregionalen Zeitungen, vom NRC Handelsblad bis De Telegraaf, und schließlich sogar in der Bild und einer Tageszeitung in Griechenland.
«Ich hab da so eine gewisse Ahnung>>, gab Aaron zu, wobei er sich fragte, ob Joni es ihrem Vater gesteckt hatte oder ob der ihn einfach wiedererkannte: den großen, kahlköpfigen Fotografen der Tubantia Weekly, der bei öffentlichen Auftritten mit seiner Spiegelreflexkamera den Rektor wie eine Schmeißfliege umschwirrte. Letztere Möglichkeit fand er schmeichelhafter, so wie jeder auf dem Campus es schmeichelhaft gefunden hätte, von dem charismatischen Mann bemerkt zu werden, der Aaron in diesem Moment die Hand drückte.
Seit seinem Amtsantritt im Jahr 1993 war Siem Sigerius der leuchtende Mittelpunkt der Tubantia University, eine gleißende Sonne, um die achttausend Studenten und hart arbeitende Akademiker ihre ruhigen Ellipsen drehten, erstaunt, aber dankbar, dass sie ausgerechnet ihren Campus wärmte und nicht die Regierungszentrale in Den Haag, wo Sigerius eine Berufung zum Staatssekretär abgelehnt hatte, oder eine der großen amerikanischen Universitäten, die um seine Gunst warben. Zum ersten Mal hatte Aaron Jonis Vater im Fernsehen gesehen, etliche Jahre zuvor, er wohnte noch bei seinen Eltern in Venlo. Im August nach seinem Abitur hatte irgendetwas ihn und seinen Bruder zu fanatischen Zuschauern der Talkshow Sommergäste werden lassen, und an einem dieser anregenden, lehrreichen Sonntagabende saß dem Moderator Peter van Ingen ein als Mathematiker arbeitender Judoka oder vielleicht auch ein Judo machender Mathematiker gegenüber, ein Mann jedenfalls, der von Wim Ruska über ruhelosen Jazz, Tokio 1964 und den Unterhaltungskünstler André van Duin zu Vorträgen über Primzahlen und Fermats letzten Satz wechseln konnte. Aaron erinnerte sich an einen Kurz-film, in dem ein redseliger Naturwissenschaftler es vermochte, eingeschworenen Geisteswissenschaftlern wie ihm und seinem Bruder das Gefühl zu geben, sie wüssten nun in etwa, was Quantenmechanik ist. (<<Richard Feynman>>, sagte Sigerius später, <<den hatten wir damals gerade zu Grabe getragen.>>) Er selbstrieb sich das stoppelige Kinn und erzählte von Computern, vom Weltall, von Maurits Escher, als wäre es verschwendete Zeit, jemals über etwas anderes zu reden. Offenbar hatte er Judokämpfe gegen Geesink und Ruska bestritten, doch in der Talkshow war er vor allem deshalb zu Gast, weil ihm die Fields-Medaille verliehen worden war, eine Auszeichnung, die van Ingen den Nobelpreis für Mathematik nannte.
Danach hatte Sigerius sich zum nationalen Hätschelwissenschaftler entwickelt. Regelmäßig trat der Rektor nach einem Arbeitstag auf dem Campus in einer Nachrichtensendung oder bei Barend & Van Dorp auf, wo er Aktuelles wissenschaftlich kommentierte, funkelnd intelligent und zugleich merkwürdig volksnah, nie brachte er ein Wort Fachchinesisch an. Als Fotograf der Weekly war Aaron dabei gewesen, als Sigerius die Leitung der Universität übernommen hatte, und was seine Kamera sah, sahen alle: Das war der Mann, den die Tubantia brauchte. Indem er einfach nur der war, der er war, erlöste er ihre vernachlässigte, sanft eingeschlummerte Calimero-Universität aus ihrem provinziellen Twenter Wartestand. Bereits in seiner Antrittsrede versprach er, die Tubantia zur führenden Forschungsuniversität der Niederlande zu machen, ein Satz, der am Abend in den Hauptnachrichten gesendet wurde. Er war ein Medienmagnet: Sobald irgendwo das Wort «Universität» fiel, erschienen seine Blumenkohlohren im Bild und verkündete ihr Rektor im Namen ihrer Universität seine Meinung über die Wettbewerbsfähigkeit der universitären Forschung in den Niederlanden, über Mädchen und Technik, über die Zukunft des Internets oder was auch immer. Es kostete ihn auch keine Mühe, internationale Spitzengelehrte anzulocken. Vielleicht war es schade, dass die Fields-Medaille kein wirklicher Nobelpreis war, natürlich war es schade, doch seine Aura mathematischer Genialität verzauberte Geldgeber, die in Grundlagenforschung investieren wollten, zahllose Abgeordnete, die Forschungsmittel vergaben, Telekommunikationsriesen und Chiphersteller, die ihre Laboratorien im Umfeld der Universität errichteten. Und vielleicht verzauberte er sogar Schüler, schließlich kannten auch die sein stoppeliges Gesicht aus dem Fernsehen; und nicht zu vergessen die Jeunesse dorée, denn alle Jahre wieder mussten die Nervensägen ins Twenter Provinznest gelockt werden, und wie beschwört man Kinder, wie verhext man sie?
Der Rattenfänger der Tubantia mit bloßem Gemächt. Er sagte: «Gute Arbeit», und ließ Aarons Hand los.
Das Foto war an einem Sonntagnachmittag in Houten aufgenommen worden, gleich nachdem die Varsity ausgetragen worden war, die traditionelle Studentenregatta mit Booten aller Universitäten. Blaauwbroek, der Chefredakteur der Weekly, hatte Aaron prophezeit, dass etwas Außergewöhnliches passieren werde: Das Tubantiaboot hatte einen olympischen Einer-Ruderer an Bord und einen Mann, der mit dem Holland-Achter in Atlanta antreten würde. Trotzdem war es bemerkenswert, dass ein Rector magnificus seinen freien Tag opferte, um sich in einem Reisebus voller trinkender Corpsstudenten zum Amsterdam-Rhein-Kanal bringen zu lassen. Während der unwichtigen Rennen beobachtete Aaron ihn aus dem Augenwinkel, zwischen Theke und hölzerner Tribüne im feuchten Gras des Vordeichs, in Gesellschaft eines rat pack von Berufsstudenten, den Siem- Sagern, dem klassischen Studententyp, der alles tat, um den Rektor für sich einzunehmen. Sigerius schien Gefallen an den Jungs zu finden. Er hatte sie aus ihren Häusern in der Stadt gelockt, sie waren zum Campus ausgeschwärmt, bemüht um studentische Aushilfsjobs in der Verwaltung oder bei der Studentenberatung, ihre Einladung zu Sigerius' alljährlicher Grillparty im Garten seines Bauernhofs kosteten sie in vollen Zügen aus. Aaron verspürte Neid. Spielte der Mann Theater, oder war er wirklich so guter Dinge?
Blaauwbroek hatte das richtige Gespür gehabt: Es wurde ein historischer Sonntagnachmittag für die Tubantia, zum ersten Mal in der hundertzwölfjährigen Geschichte der Regatta gewann ein Vierer mit Steuermann aus Enschede. Aaron stand auf der windigen Tribüne, als der Jubel um ihn herum ausbrach, eine Explosion aus heiseren Freudenschreien und knirschenden Plastikbierbechern, und weil Corpsstudenten sich immer gemäß der Tradition verhalten, zog der fanatische Kern der jungen Männer am Ufer blitzschnell die Kleider aus, um splitternackt zum Boot zu schwimmen - der Moment, als Aarons Blick auf den Rektor fiel, und was der tat, war alles andere als traditionell. Sigerius warf mit einer heftigen Bewegung seinen halbvollen Bierbecher ins Gras und überquerte die sumpfige Wiese in Richtung Ufer - Aaron war bereits von der Tribüne herabgestiegen und folgte, am Objektiv seiner Kamera drehend, dem Rektor, der sich grinsend seines Anzugs entledigte, alles zog er aus, das Hemd, die Socken, die Unterwäsche, alles bis auf den Schlips, einen Rudererschlips, natürlich hatte er sich eine Clubkrawatte aufschwatzen lassen, in jedem Lokal mit einer Schankgenehmigung war er Ehrenmitglied -, und kurz bevor er zum Kanal sprintete, um mit den Studenten hineinzuspringen, rief Aaron seinen Namen, «Sigerius!», und fotografierte ihn aus etwa vier Metern Entfernung, in voller Größe.
Jonis Vater hatte recht, es war gute Arbeit, war ein in jeder Hinsicht phantastisches Foto. Es besaß Dynamik, der Mann, der das Bild füllte, stand auf den Fußballen, ruderte mit den Armen durch die Luft, und obwohl sein Oberkörper bereits auf dem Weg zum glitzernden Wasserband im Hintergrund zu sein schien, schaute er mit rufendem Mund und furiosem Blick in die Linse. Die Nachmittagssonne tauchte den nackten Körper in scharfes Streiflicht, die Komposition wirkte sorgfältig durchdacht: Sigerius' ausgestreckte linke Hand deutete mehr oder weniger aufs Ruderboot auf dem Kanal in der Ferne, wie bei einem stilisierten Sportfoto, das griechisch-olympische Assoziationen weckt - doch das war lauter Fotografengeschwätz, es lag auf der Hand, warum die Tageszeitungen die Aufnahme haben mussten. Noch in Houten diskutierte er eine Viertelstunde lang mit einer PR¬Frau der Tubantia University, die meinte, das Foto müsse unbedingt von der Presseabteilung genehmigt werden, was natürlich nicht passierte. Im Gegenteil, am nächsten Morgen wurde er in der Redaktion empfangen, als wäre er Robert Capa. «Natürlich bringe ich das Foto», schnaufte Blaauwbroek, «das schicke ich im Panzerwagen zur Druckerei, und wenn es sein muss, schlage ich neben der Druckerpresse mein Lager auf.»
Seitdem tauchte der nackte Rektor überall auf: vergrößert über dem Tresen im Vereinsheim der Ruderer, auf T-Shirts eines studentischen Debattierclubs in der Stadt, auf dem Plakat für ein großes Sommerfest auf dem Campus. Aaron sah ihn auf Klotüren in Studentenwohnheimen. Und ob Zufall oder nicht, immer öfter war Sigerius Gegenstand wilder Spekulationen, bei den Burschenschaften am Oude Markt, bei Partys in den Wohn-heimen auf dem Campus. Angeblich war der Rector magnificus zusammen mit Ruska durch die Sowjetunion und China nach Japan gereist und hatte unterwegs russische Gasthäuser kurz und klein geschlagen; war er nach seinem Durchbruch als Mathematiker in einer amerikanischen Irrenanstalt mit Elektro-schocks behandelt worden; existierten Kinder aus einer früheren Ehe, die vollkommen verwahrlost aufgewachsen waren. Man brauchte sich das Foto nur etwas genauer anzusehen, und schon
griff die Verwirrung vom Papier auf einen über. Jeder konnte erkennen, dass sich das, worauf Sigerius' Ohren bereits verwiesen, unter den vornehmen zweiteiligen Anzügen - meistens dunkelblau, manchmal hellgrau oder mit Nadelstreifen - einfach fortsetzte, sich intensivierte; sein Körper, der so unschicklich enthüllt war, sah erschreckend zäh und sehnig aus, hart, unverwüstlich, <<gestählt>>, um es mit einem Sportlerausdruck zu sagen. Man musste sich eine Meinung zu diesem Körper bilden, ebenso zu den deutlich sichtbaren Tätowierungen auf der linken Brust: Auf der Höhe von Sigerius' Herz prangten in billiger dunkelblauer Seemannstinte zwei japanische Schriftzeichen - <<Judo>>, wie Aaron wusste. Von diesen Brandmalen ging eine bestürzende Wirkung aus, denn Tätowierungen waren anno 1995 nicht nur ziemlich selten, sie galten schlicht als ordinär. Und doch passten sie perfekt zu Sigerius' Körperlichkeit, zu dem Affenmenschen, der bei Sitzungen des Verwaltungsrats gern auf den Hinterbeinen seines Stuhls kippelte, bis er sich am Tischrand festhalten musste, und in Kaffeepausen seine Arme wie ein Trapezkünstler in den Schultergelenken rotieren ließ, sich dabei umsehend, als wollte er seine Gesprächspartner noch vor Beginn der nächsten Verhandlungsrunde verprügeln - dunkle Schlüssellöcher waren das, durch die der Campus einen kurzen Blick auf den früheren Sigerius werfen konnte, den Rabauken, den Kraftprotz, der seine Jungenbuchkarriere mit zwei Europameistertiteln im Judo begonnen hatte, den Raufbold, für den die Olympischen Spiele in München der Höhepunkt seines Lebens hätten werden sollen.
In Interviews war zu lesen, dass ihr Rektor genau wie Ruska 1972 Medaillenfavorit gewesen war, aber knapp einen Monat vor Beginn der Spiele das Schicksal zugeschlagen hatte: Um eine Puddingschnecke zu kaufen, hatte Sigerius in Utrecht die Biltstraat überquert, und mit dem Vorgeschmack der zarten Creme im Mund wurde er von einem Motorroller erfasst, dessen eisernes Trittbrett sich quer über seinen Unterschenkel schob: knack, Ende der Karriere als Spitzensportler. Was alle Journalisten, Studenten und Wissenschaftler immer wieder beschäftigte, war die Theorie, dass sich ohne diese nie gegessene Puddingschnecke das wirkliche Wunder in Sigerius' Laufbahn nie vollzogen hätte. Das Wunder der Antonius Matthaeuslaan, so nannte er selbst es nach der Utrechter Straße, in der er acht Monate lang, bis zur Leiste eingegipst, in einer kleinen Wohnung im Obergeschoss auf einem Bett gelegen hatte. Im dunklen Winter nach den Spielen von 1972 zog Jonis Vater, gebrochen und am Boden zerstört, aus einer Kiste mit Ausgaben der Boulevardzeitschriften Panorama und Libelle ein Aufgabenbuch der Niederländischen Mathematik-Olympiade hervor, das sich dorthin verirrt hatte, ein Büchlein voller überaus schwieriger Problemstellungen für überdurchschnittlich talentierte Gymnasiasten, und aus Langeweile rechnete er mit einem Bleistift auf dem Seitenrand daran herum. Am nächsten Morgen war er fertig.
Was an diesem Tag genau passiert ist, welche Gartentüren sich in Sigerius' traumatisiertem Sportlerhirn schlagartig öffneten, das ließ sich nur erraten; Fakt aber war, dass er nach nur drei Jahren an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Utrecht sein Studium mit Auszeichnung abschloss, erschreckend brillant promovierte und Anfang der achtziger Jahre mit seiner Familie nach Berkeley, Kalifornien, zog. Und da dann doch noch olympische Gipfel erklomm: In der knot theory, einem Zweig der Mathematik, der zu ergründen versucht, auf wie viele verschiedene Arten ein Tau geknotet sein kann - kürzer und einfacher konnte man seine Arbeit nicht zusammenfassen -, erzwang der Ramanujan aus dem Utrechter Stadtteil Tuinwijk einen Durchbruch, für den ihm 1986 während des alle vier Jahre stattfindenden Kongresses der International Mathematical Union die Fields-Medaille verliehen wurde.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
- Autor: Peter Buwalda
- 2013, 1. Auflage., 640 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Seferens, Gregor
- Übersetzer: Gregor Seferens
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 349800672X
- ISBN-13: 9783498006723
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