Hüter des Todes
Thriller
Der Sudd: ein lebensfeindliches Sumpfgebiet an der Grenze zu Ägypten. Dort soll das Grab des ägyptischen Pharao Narmer liegen. Forscher und Multimillionär Porter Stone schart ein Team Wissenschaftler um sich. Doch ein Mitarbeiter nach dem anderen kommt bei unerklärlichen Zwischenfällen ums Leben...
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Produktinformationen zu „Hüter des Todes “
Der Sudd: ein lebensfeindliches Sumpfgebiet an der Grenze zu Ägypten. Dort soll das Grab des ägyptischen Pharao Narmer liegen. Forscher und Multimillionär Porter Stone schart ein Team Wissenschaftler um sich. Doch ein Mitarbeiter nach dem anderen kommt bei unerklärlichen Zwischenfällen ums Leben...
Klappentext zu „Hüter des Todes “
Der Sudd, das Sumpfgebiet an der Grenze zu Ägypten, ist eine lebensfeindliche Welt. In seinen undurchdringlichen Tiefen vermutet der Forscher und Multimillionär Porter Stone das Grab des legendären ersten ägyptischen Pharaos Narmer, der das zweigeteilte Reich am Nil einte. Auf einer riesigen Forschungsplattform schart Stone hochkarätige Wissenschaftler um sich, darunter Techniker, Chemiker, Biologen und Nahtodforscher, aber auch den Enigmatologen Jeremy Logan. Doch dann stirbt der erste Taucher im schlammigen Sumpf. Ein Mitarbeiter nach dem anderen kommt bei unerklärlichen Zwischenfällen ums Leben; das Grab scheint mit allen Mitteln der uralten ägyptischen Hochkultur gesichert zu sein. Bald muss Logan erfahren, dass die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig ist ...
Lese-Probe zu „Hüter des Todes “
Hüter des Todes von Lincoln ChildProlog
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Der Arzt schenkte sich im Pausenraum einen Becher Kaffee ein, griff nach dem Kaffeeweißer, der auf dem Tresen stand, entschied sich aber schließlich für einen Schuss Sojamilch aus dem alten Laborkühlschrank. Er rührte den Kaffee mit einem Plastikstäbchen um, während er über den hellen Linoleumboden schlurfte und auf eine Sitzgruppe zuging. Durch die Tür drangen die üblichen Geräusche - das Klappern von Rollstühlen und Tragen, das Piepsen und Meckern von Apparaturen, das eintönige Geleier aus der Gegensprechanlage des Krankenhauses.
Deguello, ein Assistenzarzt im dritten Jahr, hatte seine schlaksigen Gliedmaßen über zwei der fadenscheinigen Sessel ausgestreckt. Typisch für einen Assistenzarzt, dachte der Doktor, diese Fähigkeit, augenblicklich in Schlaf zu fallen, sei es im Stehen oder Liegen, egal, wie unbequem die Haltung auch sein mochte. Als er sich in einen freien Sessel daneben sinken ließ, unterbrach der Assistenzarzt sein leises Schnarchen und öffnete ein einzelnes Auge.
«Hey, Doc», murmelte er. «Wie spät ist es?»
Der Doktor warf einen Blick auf die Industrieuhr an der gegenüberliegendenWand über einer Reihe von Spinden. «Viertel vor elf», sagte er.
«Gütiger», stöhnte Deguello. «Das bedeutet, ich habe nur zehn Minuten geschlafen.»
«Immerhin zehn Minuten», erwiderte der Doktor und trank einen Schluck Kaffee. «Es ist eine ruhige Nacht.»
Deguello schloss das Auge wieder. «Zwei Herzinfarkte, ein offener Schädelbruch, ein NotKaiserschnitt, zwei Schussverletzungen, eine davon schwer. Eine Verbrennung dritten Grades. Ein Messerstich mit Nierenpenetration. Ein einfacher und ein mehrfacher Knochenbruch. Ein alter Mann mit Schlaganfall. Eine OxycodonVergiftung. Eine Überdosis Meth. Eine Überdosis Amphetamin. Und alles innerhalb der ...» Er rechnete kurz nach. «Alles innerhalb der letzten neunzig Minuten.»
Der Arzt nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. «Wie ich bereits sagte - eine ruhige Nacht. Sehen Sie es positiv. Wenigstens hängen Sie nicht mehr am Mass General in der Weiterbildung fest.»
Der Assistenzarzt schwieg für einen Moment. «Ich verstehe das einfach nicht, Doc», murmelte er dann. «Warum machen Sie das? Warum opfern Sie jeden zweiten Freitag für die Notaufnahme? Ich meine, hey, ich habe keine andere Wahl. Aber Sie sind ein fertig ausgebildeter Anästhesist.»
Der Arzt leerte seinen Becher und warf ihn in den Abfalleimer. «Etwas weniger Neugier in Gegenwart Ihrer Vorgesetzten, bitte sehr.» Er schob sich aus dem Sessel. «Zurück ins Gefecht.»
Draußen auf dem Gang blickte er sich um. Es war tatsächlich relativ ruhig. Er wollte gerade auf den zentralen Aufnahmeschalter am anderen Ende zusteuern, als es unvermittelt laut und hektisch wurde. Die Oberschwester kam ihm im Laufschritt entgegen. «Ein Autounfall», rief sie ihm zu. «Ein Opfer, kommt gerade herein. Ich habe Schockraum Zwo reserviert. »
Der Arzt wandte sich sofort in Richtung des genannten Saals. Im gleichen Moment glitten die Türen surrend auseinander, und ein Team von Sanitätern rollte eine Trage herein, gefolgt von zwei Polizeibeamten. Der Arzt sah sofort, dass es ernst war - die Gesichter der Sanitäter, das Blut auf ihren Kitteln, die Dringlichkeit ihrer Bewegungen - all das sprach eine deutliche Sprache.
«Weiblich, Anfang dreißig!», bellte einer der Sanitäter. «Reagiert nicht mehr!»
Der Doktor winkte sie zu sich herein und wandte sich an einen Arzt im Praktikum, der neben ihm auf Anweisung wartete. «Wir brauchen Nahtbestecke.» Der AiP nickte und joggte los.
«Und holen Sie Deguello und Corbin!», rief der Doktor ihm hinterher.
Die Sanitäter rollten die Trage bereits in Schockraum Zwo und neben den Operationstisch. «Auf mein Kommando», sagte eine Schwester. «Vorsicht mit der Halskrause. Eins, zwei, drei!»
Die bewusstlose Patientin wurde auf den Tisch gehievt und die Trage weggeschoben. Der Doktor erhaschte einen flüchtigen Blick auf blasse weiße Haut, zimtfarbenes Haar, eine Bluse, früher weiß, jetzt blutgetränkt. Auch auf dem Boden war Blut, eine rote Tropfspur führte bis in den Gang nach draußen.
Im Kopf des Arztes begann eine Alarmglocke zu schrillen, etwas durchzuckte ihn wie ein kalter elektrischer Strom.
«Ein betrunkener Fahrer hat sie voll an der Seite erwischt», sagte einer der Sanitäter neben ihm. «Wir haben sie auf dem Weg hierher kodiert.»
Assistenzärzte strömten herein, gefolgt von Deguello. «Haben Sie eine Blutgruppe?», fragte der Doktor.
Der Sanitäter nickte. «Null negativ.»
Es wurde fieberhaft gearbeitet, Infusionsschläuche wurden gelegt, Monitore angeschlossen, ein Reanimationswagen rollte herbei. Der Arzt wandte sich an einen Assistenten. «Rufen Sie die Blutbank an. Drei Einheiten.» Er dachte an die Blutspur auf dem Linoleum. «Nein, verlangen Sie vier.»
«Ozwei ist voll!», rief eine der Schwestern, als Corbin dazukam.
Deguello trat an den Kopfteil des Tisches und musterte mit zusammengekniffenen Augen das bewusstlose Opfer. «Sieht zyanotisch aus», bemerkte er.
«Schaffen Sie eine BlutgasMaschine her», drängte der Doktor. Seine Aufmerksamkeit war auf den Unterleib der Frau gerichtet, inzwischen entblößt und glänzend nass vor Blut. Hastig zog er den notdürftigen Verband beiseite. Eine grässliche offene Wunde, hastig vernäht von den Sanitätern. Sie blutete unablässig weiter. Der Doktor drehte sich zu einer Schwester um und gab ihr ein Zeichen. Sie tupfte das Blut weg, und er untersuchte die Stelle erneut.
«Massives Abdominaltrauma», sagte er. «Möglicherweise supiner subpulmonaler Pneumothorax. Wir müssen eine perikardiale Punktion vornehmen.»
Er wandte sich dem Sanitäter zu. «Wie zum Teufel ist das passiert? Hatte das Auto keinen Airbag?»
«Untendurch gerutscht», antwortete der Mann. «Das Armaturenbrett ist in der Mitte durchgebrochen wie ein dürrer Zweig und hat sie aufgespießt. Sie mussten sie von oben mit den Klauen befreien. Ein schlimmer Anblick, Doc - ihr Porsche war total zerquetscht vom SUV dieses besoffenen Bastards. »
Porsche. Der kleine kalte Strom in seinem Hinterkopf wurde stärker. Er richtete sich auf, versuchte einen Blick auf das Gesicht des Opfers zu erhaschen, doch Deguello war imWeg. «Signifikantes stumpfes Trauma», sagte Deguello. «Wir brauchen eine CT vom Schädel.»
«Blutdruck ist runter auf achtzig zu fünfunddreißig!», sagte eine Schwester. «Pulsoxymetrie neunundsiebzig.»
«Druck aufrechterhalten!», befahl Deguello.
Der Blutverlust war zu groß, die Verletzungen zu schwer: Sie hatten eine Minute, höchstens zwei, um die Verwundete zu retten. Eine weitere Schwester kam mit Blutbeuteln herein und hängte sie sofort an das Infusionsgestell.
«Das wird nicht reichen», sagte der Doktor. «Wir brauchen einen größeren Infusionstropf. Sie blutet zu schnell aus.»
«Ein Milligramm Epi», sagte Corbin zu einem Assistenten. Die Schwester drehte sich zum Nähwagen um, packte eine größere Infusionsnadel, zog die schlaffe Hand der Bewusstlosen zu sich, um die Nadel einzuführen. Dabei fiel der Blick des Doktors auf die Hand: schlank, sehr blass, mit einem einfachen Ring - einem PlatinEhering mit einem wunderschönen Sternsaphir, whiskeyfarben auf schwarzem Grund. Aus Sri Lanka und sehr teuer. Er wusste es, weil er ihn gekauft hatte.
Unvermittelt übertönte ein scharfer Alarm alle Geräusche im Schockraum. «Herzstillstand!», rief eine Schwester.
Für einen Moment stand der Doktor nur reglos da, paralysiert von Entsetzen und Ungläubigkeit. Deguello wandte sich an einen der Assistenten, und jetzt konnte der Doktor auch das Gesicht der Frau sehen. Die Haare verfilzt und durcheinander, die Augen offen und ins Leere starrend, Mund und Nase vom Beatmungsgerät verdeckt.
Sein Mund war trocken. «Jennifer ...», krächzte er.
«Lebenszeichen werden schwächer!», rief die Schwester.
«Wir brauchen Lidocain!», rief Corbin. «Lido! Sofort!»
Und dann, so schnell wie sie gekommen war, wich die Erstarrung wieder von ihm. Der Doktor drehte sich zu einer der Notfallschwestern um. «Defibrillator!», rief er.
Sie rannte in eine Ecke des Raums und rollte den Wagen herbei. «Lädt auf!»
Ein Assistent trat an den Tisch, injizierte der Bewusstlosen das Lidocain, trat zurück. Der Doktor packte die Paddles, kaum imstande, die eigenen zitternden Hände zu kontrollieren. Das konnte nicht sein. Das musste ein Albtraum sein, nur ein schlimmer Traum, nichts weiter. Er würde aufwachen und sich im Pausenraum wiederfinden, zusammengesunken, mit Deguello im Sessel nebenan.
«Geladen!», rief die Schwester.
«Zurücktreten!» Der Doktor hörte die verzweifelte Schärfe in seiner Stimme.Während die anderen zurücktraten, platzierte er die Paddles auf ihrer nackten, blutüberströmten Brust und löste den Stromstoß aus. Jennifers Körper bäumte sich auf und fiel auf den Tisch zurück.
«Nichts», rief die Schwester am Monitor.
«Neu laden!», befahl der Doktor. Ein neues Signal, ein dunkles, beharrliches Piepen, legte sich über die Kakophonie von Geräuschen.
«Hypovolämischer Schock ...», murmelte Deguello. «Wir hatten von Anfang an keine Chance.»
Sie haben keine Ahnung, dachte der Doktor, und es klang wie aus einer Entfernung von einer Million Meilen. Sie verstehen nicht. Er spürte, wie sich eine einzelne Träne im Augenwinkel sammelte und über seine Wange rann.
«Geladen!», meldete die Schwester am Defibrillator.
Er setzte die Paddles auf. Jennifer bäumte sich ein weiteres Mal auf, lag dann wieder still.
«Keine Reaktion», sagte der Assistenzarzt neben ihm.
«Das war's», sagte Corbin mit einem Seufzer. «Schätze, Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende getan, Ethan.»
Der Arzt ignorierte ihn, warf die Paddles beiseite und begann mit einer Herzmassage. Er spürte ihren Körper, unempfänglich und kalt unter den hektischen Bewegungen seiner Hände.
«Pupillen geweitet und ohne Reaktion», meldete die zuständige Schwester.
Doch der Doktor achtete nicht auf sie, während seine Herzmassage zunehmend schneller und verzweifelter wurde.
Die Geräusche im Schockraum, eben noch hektisch und laut, erstarben nun nach und nach. «Keinerlei Herzaktivität», sagte die Schwester.
«Sie sollten sie für tot erklären», sagte Corbin.
«Nein!», schrie der Doktor schrill.
Der ganze Raum bemerkte den Schmerz und die Verzweiflung in seiner Stimme.
«Ethan?», fragte Corbin unsicher.
Statt einer Antwort fing der Doktor an zu weinen.
Alle rings um ihn verstummten. Einige starrten ihn verständnislos an, andere sahen verlegen zur Seite. Alle, bis auf einen der Assistenten, der zur Tür und leise den Korridor hinunter ging. Der Doktor weinte weiter. Er wusste, wohin der Mann wollte. Er ging ein Leichentuch holen.
1
Drei Jahre später
Jeremy Logan war in Westport aufgewachsen, unterrichtete gegenwärtig an der Yale University und hatte eigentlich geglaubt, sich einigermaßen auszukennen in seinem Heimatstaat Connecticut. Doch er war sich sicher, die Landschaft, die er nun durchfuhr, zum ersten Mal zu sehen. Sie war eine Offenbarung. Er war von Groton aus nach Osten gefahren - genau wie es in der gemailtenWegbeschreibung stand -, dann auf die US 1 abgebogen und schließlich kurz hinter Stonington auf die US 1 Alternate. Immer entlang der grauen Atlantikküste hatte erWequetequock passiert, war über eine Brücke gefahren, die aussah, als wäre sie so alt wie New England, und dann scharf nach rechts auf eine asphaltierte, jedoch nicht ausgeschilderte Straße eingebogen. Augenblicklich hatte er die MiniMalls und die Touristenmotels hinter sich gelassen. Er fuhr an einer verträumten Bucht vorbei, in der Fischerboote vor Anker tanzten, und erreichte ein verschlafenes Dorf. Es verfügte über einen Gemischtwarenladen und einen Shop für Fischereigeräte, außerdem gab es eine Episkopalkirche, deren Kirchturm drei Nummern zu groß war, und grau geschieferte Häuser mit ordentlichen, weiß gestrichenen Jägerzäunen davor. Es waren weder überdimensionierte SUVs noch ortsfremde Nummernschilder zu sehen, und die Menschen auf den Bänken oder an den Fenstern ihrer Häuser winkten Jeremy zu, als er an ihnen vorüberfuhr. Die Aprilsonne war stark, und die Seeluft hatte einen frischen, sauberen Biss. Ein Schild über dem Eingang zum Postamt informierte ihn darüber, dass er in Pevensey Point angekommen war, einhundertzweiundachtzig Einwohner. Irgendetwas an der kleinen Ortschaft ließ ihn an Herman Melville denken.
«Karen», murmelte er. «Wenn du dieses Dorf gesehen hättest, du hättest im Leben nicht zugelassen, dass wir uns dieses Sommercottage in Hyannis kaufen.»
Obwohl seine Frau Jahre zuvor an Krebs gestorben war, unterhielt sich Logan auch heute noch gelegentlich mit ihr. Natürlich war es üblicherweise mehr Monolog als Dialog - wenn auch nicht immer. Zuerst hatte er darauf geachtet, es nur zu tun, wenn er sicher war, dass ihn niemand hörte. Doch dann - als das, was zunächst als eine Art intellektuelles Hobby angefangen hatte, zunehmend zu seinem Beruf wurde - hatte er sich nicht mehr so sehr um Diskretion bemüht. Dieser Tage, und seinem Broterwerb nach zu urteilen, erwarteten die Leute geradezu, dass er ein wenig eigenartig war.
Drei Kilometer hinter dem Ort zweigte rechts eine schmale Straße ab, genau wie in der Wegbeschreibung angegeben. Logan fand sich in einem spärlichen Wald aus Strauchkiefern wieder, mit sandigem Untergrund, der bald gelbbraunen Dünen wich. Die Dünen endeten an einer Stahlbrücke, die zu einer niedrigen, langgestreckten Insel führte. Selbst aus dieser Entfernung konnte Logan erkennen, dass auf der Insel im Fishers Island Sound wenigstens ein Dutzend Gebäude standen, alle errichtet aus dem gleichen rötlich braunen Sandstein. Im Zentrum erhoben sich parallel wie Dominosteine drei große fünfstöckige Gebäude, die an Schlafhäuser erinnerten. Am Ende der Insel, und teilweise durch andere Gebäude verdeckt, befand sich eine verlassene Landepiste. Und hinter allem lag der Ozean. Am Horizont war Rhode Island als dunkelgrüne Linie zu erkennen.
Logan fuhr den letzten Kilometer und hielt an einem Torhaus vor der Brücke. Er zeigte dem Wachmann die ausgedruckte EMail, und der Wachmann lächelte und winkte ihn durch. Auf einem einzelnen, ebenso hochwertigen wie dezenten Schild neben dem Torhaus prangte die Aufschrift «CTS».
Er überquerte die Brücke, passierte ein Außengebäude und lenkte den Wagen auf einen überraschend großen Parkplatz. Dort standen mindestens einhundert Fahrzeuge, und es gab Platz für noch einmal die gleiche Anzahl. Er steuerte seinen Wagen in eine freie Parklücke und schaltete den Motor ab. Anstatt auszusteigen, hielt er jedoch inne und nahm noch einmal die EMail zur Hand.
Jeremy,
ich freue mich - und bin erleichtert -, dass du zugesagt hast. Ich weiß deine Flexibilität zu schätzen, denn wie ich bereits erwähnte, kann niemand sagen, wie lang deine Untersuchungen dauern werden. Wie dem auch sei, du erhältst eine Mindestvergütung von zwei Wochensätzen, zum von dir genannten Tarif. Bitte entschuldige, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Details verraten kann, aber das bist du wahrscheinlich gewohnt. Und ich muss gestehen, ich kann es kaum erwarten, dich nach all der Zeit wiederzusehen.
Im Anhang findest du die Wegbeschreibung zum Center. Ich erwarte dich am Morgen des 18., irgendwann zwischen zehn Uhr und mittags wäre prima. Noch eine Sache: Sobald du beim Projekt mit an Bord bist, wirst du feststellen, dass es schwierig ist, Anrufe nach draußen zu tätigen, also solltest du alle wichtigen Angelegenheiten erledigt haben, bevor du losfährst.
Ich freue mich auf den 18.!
Liebe Grüße,
E. R.
Logan warf einen Blick auf seine Armbanduhr: halb zwölf. Er drehte die EMail in den Händen. Du wirst feststellen, dass es schwierig ist, Anrufe nach draußen zu tätigen ... Warum denn das? Gab es etwa jenseits der malerischen Ortschaft von Pevensey Point keine Mobilfunkmasten mehr?Wie auch immer, es stimmte, was in der EMail stand: Er war «daran gewöhnt».
Er hievte den Seesack vom Beifahrersitz, steckte die EMail ein und stieg aus.
Der Empfangsbereich war in einem der zentralen, schlafhausähnlichen Gebäude untergebracht und erinnerte Logan an das Wartezimmer einer Arztpraxis: ein halbes Dutzend leere Sessel, Tische voller Magazine und Zeitungen, ein Sammelsurium anonymer Ölgemälde an beigefarbenen Wänden, ein einzelner Empfangstresen, besetzt mit einer Frau Mitte dreißig. Hinter ihr an der Wand prangten die drei Buchstaben CTS, immer noch ohne jeden Hinweis, wofür sie standen.
Logan nannte der Frau seinen Namen, und sie musterte ihn im Gegenzug mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen. Er rechnete mit einer längeren Wartezeit und setzte sich in einen der freien Sessel, doch kaum hatte er eine aktuelle Ausgabe der Harvard Medical Review zur Hand genommen, öffnete sich gegenüber dem Empfang bereits eine Tür, und Ethan Rush kam zum Vorschein.
«Jeremy!», sagte er mit breitem Grinsen und streckte Logan die Hand entgegen. «Ich bin dir ja so dankbar, dass du gekommen bist.»
«Hallo, Ethan», erwiderte Logan und schüttelte seinem Gegenüber die Hand. «Schön, dich mal wieder zu sehen.»
Er hatte Rush seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Johns Hopkins. Rush hatte damals an der medizinischen Fakultät studiert, er selbst war bereits im Hauptstudium gewesen. Doch der Mann, der nun vor ihm stand, hatte sich eine bemerkenswerte Jugendlichkeit bewahrt - lediglich ein filigranes Fältchenmuster in den Augenwinkeln verriet sein fortgeschrittenes Alter. Und doch schien es Logan, als würde der simple Akt des Händeschüttelns zwei wesentliche Dinge über Rush preisgeben: ein erschütterndes, das ganze Leben verändernde Ereignis und eine unbeirrbare, beinahe besessene Hingabe an eine Sache.
Dr. Rush blickte auf Logans Seesack. «Hast du nicht mehr Gepäck dabei?»
«Im Kofferraum.»
«Gib mir die Schlüssel. Ich sorge dafür, dass jemand es für dich holen geht.»
«Es ist ein Lotus Elan S4.»
Rush stieß einen Pfiff aus. «Der Roadster? Welches Baujahr? »
«1968.»
«Sehr chic. Ich werde sicherstellen, dass sie ihn mit Samthandschuhen anfassen.»
Logan kramte in seiner Tasche und gab Rush die Schlüssel, der sie seinerseits mit ein paar geflüsterten Instruktionen an die Rezeptionistin weiterreichte. Dann wandte er sich um und bedeutete Logan, ihm durch die offene Tür zu folgen.
Sie stiegen in einen Aufzug und fuhren in das oberste Stockwerk. Rush führte ihn durch einen langen Korridor, in dem der schwache Geruch von Reinigungsmitteln und Chemikalien hing. Erneut fühlte sich Logan an eine Arztpraxis erinnert - und doch schien es keine Patienten zu geben. Die wenigen Personen, denen sie begegneten, trugen gewöhnliche Straßenkleidung und erfreuten sich offensichtlich bester Gesundheit. Im Vorbeigehen spähte Logan neugierig durch offene Türen in die dahinterliegenden Zimmer. Er sah Konferenzräume, einen großen, leeren Vorlesungssaal mit Sitzplätzen für mindestens hundert Personen, Labors voller Apparaturen und Computer, eine Präsenzbibliothek mit gebundenen Zeitschriften und diversen Leseplätzen. Außerdem bemerkte er mehrere seltsame, auf den ersten Blick identische Räume, jeder ausgestattet mit einem einzelnen schmalen Bett und Hunderten, wenn nicht Tausenden dünner Drähte, die in Überwachungsmonitoren endeten. Andere Türen waren geschlossen und die kleinen eingelassenen Fenster mit Vorhängen bedeckt. Sie begegneten einer Gruppe von Männern und Frauen in weißen Laborkitteln, die Rush zunickten und Logan neugierig anstarrten.
Vor einer Tür mit der Aufschrift «Direktor» blieben sie stehen. Rush öffnete die Tür und winkte Logan durch ein Vorzimmer mit zwei Sekretärinnen und überquellenden Bücherregalen in ein kleines Büro dahinter. Es war geschmackvoll eingerichtet und genauso minimalistisch, wie das Vorzimmer überfrachtet war. An drei der vier Wände hingen postmoderne Gemälde in kühlen Blau und Grautönen. Die vierte Wand bestand wohl aus einer großen Fensterfront, gegenwärtig verdeckt durch Jalousien.
In der Mitte des Zimmers stand ein auf Hochglanz polierter Tisch aus Teak, flankiert von zwei hohen Ledersesseln. Rush setzte sich in einen davon und lud Logan ein, im anderen Platz zu nehmen.
Übersetzung: Axel Merz
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Der Arzt schenkte sich im Pausenraum einen Becher Kaffee ein, griff nach dem Kaffeeweißer, der auf dem Tresen stand, entschied sich aber schließlich für einen Schuss Sojamilch aus dem alten Laborkühlschrank. Er rührte den Kaffee mit einem Plastikstäbchen um, während er über den hellen Linoleumboden schlurfte und auf eine Sitzgruppe zuging. Durch die Tür drangen die üblichen Geräusche - das Klappern von Rollstühlen und Tragen, das Piepsen und Meckern von Apparaturen, das eintönige Geleier aus der Gegensprechanlage des Krankenhauses.
Deguello, ein Assistenzarzt im dritten Jahr, hatte seine schlaksigen Gliedmaßen über zwei der fadenscheinigen Sessel ausgestreckt. Typisch für einen Assistenzarzt, dachte der Doktor, diese Fähigkeit, augenblicklich in Schlaf zu fallen, sei es im Stehen oder Liegen, egal, wie unbequem die Haltung auch sein mochte. Als er sich in einen freien Sessel daneben sinken ließ, unterbrach der Assistenzarzt sein leises Schnarchen und öffnete ein einzelnes Auge.
«Hey, Doc», murmelte er. «Wie spät ist es?»
Der Doktor warf einen Blick auf die Industrieuhr an der gegenüberliegendenWand über einer Reihe von Spinden. «Viertel vor elf», sagte er.
«Gütiger», stöhnte Deguello. «Das bedeutet, ich habe nur zehn Minuten geschlafen.»
«Immerhin zehn Minuten», erwiderte der Doktor und trank einen Schluck Kaffee. «Es ist eine ruhige Nacht.»
Deguello schloss das Auge wieder. «Zwei Herzinfarkte, ein offener Schädelbruch, ein NotKaiserschnitt, zwei Schussverletzungen, eine davon schwer. Eine Verbrennung dritten Grades. Ein Messerstich mit Nierenpenetration. Ein einfacher und ein mehrfacher Knochenbruch. Ein alter Mann mit Schlaganfall. Eine OxycodonVergiftung. Eine Überdosis Meth. Eine Überdosis Amphetamin. Und alles innerhalb der ...» Er rechnete kurz nach. «Alles innerhalb der letzten neunzig Minuten.»
Der Arzt nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. «Wie ich bereits sagte - eine ruhige Nacht. Sehen Sie es positiv. Wenigstens hängen Sie nicht mehr am Mass General in der Weiterbildung fest.»
Der Assistenzarzt schwieg für einen Moment. «Ich verstehe das einfach nicht, Doc», murmelte er dann. «Warum machen Sie das? Warum opfern Sie jeden zweiten Freitag für die Notaufnahme? Ich meine, hey, ich habe keine andere Wahl. Aber Sie sind ein fertig ausgebildeter Anästhesist.»
Der Arzt leerte seinen Becher und warf ihn in den Abfalleimer. «Etwas weniger Neugier in Gegenwart Ihrer Vorgesetzten, bitte sehr.» Er schob sich aus dem Sessel. «Zurück ins Gefecht.»
Draußen auf dem Gang blickte er sich um. Es war tatsächlich relativ ruhig. Er wollte gerade auf den zentralen Aufnahmeschalter am anderen Ende zusteuern, als es unvermittelt laut und hektisch wurde. Die Oberschwester kam ihm im Laufschritt entgegen. «Ein Autounfall», rief sie ihm zu. «Ein Opfer, kommt gerade herein. Ich habe Schockraum Zwo reserviert. »
Der Arzt wandte sich sofort in Richtung des genannten Saals. Im gleichen Moment glitten die Türen surrend auseinander, und ein Team von Sanitätern rollte eine Trage herein, gefolgt von zwei Polizeibeamten. Der Arzt sah sofort, dass es ernst war - die Gesichter der Sanitäter, das Blut auf ihren Kitteln, die Dringlichkeit ihrer Bewegungen - all das sprach eine deutliche Sprache.
«Weiblich, Anfang dreißig!», bellte einer der Sanitäter. «Reagiert nicht mehr!»
Der Doktor winkte sie zu sich herein und wandte sich an einen Arzt im Praktikum, der neben ihm auf Anweisung wartete. «Wir brauchen Nahtbestecke.» Der AiP nickte und joggte los.
«Und holen Sie Deguello und Corbin!», rief der Doktor ihm hinterher.
Die Sanitäter rollten die Trage bereits in Schockraum Zwo und neben den Operationstisch. «Auf mein Kommando», sagte eine Schwester. «Vorsicht mit der Halskrause. Eins, zwei, drei!»
Die bewusstlose Patientin wurde auf den Tisch gehievt und die Trage weggeschoben. Der Doktor erhaschte einen flüchtigen Blick auf blasse weiße Haut, zimtfarbenes Haar, eine Bluse, früher weiß, jetzt blutgetränkt. Auch auf dem Boden war Blut, eine rote Tropfspur führte bis in den Gang nach draußen.
Im Kopf des Arztes begann eine Alarmglocke zu schrillen, etwas durchzuckte ihn wie ein kalter elektrischer Strom.
«Ein betrunkener Fahrer hat sie voll an der Seite erwischt», sagte einer der Sanitäter neben ihm. «Wir haben sie auf dem Weg hierher kodiert.»
Assistenzärzte strömten herein, gefolgt von Deguello. «Haben Sie eine Blutgruppe?», fragte der Doktor.
Der Sanitäter nickte. «Null negativ.»
Es wurde fieberhaft gearbeitet, Infusionsschläuche wurden gelegt, Monitore angeschlossen, ein Reanimationswagen rollte herbei. Der Arzt wandte sich an einen Assistenten. «Rufen Sie die Blutbank an. Drei Einheiten.» Er dachte an die Blutspur auf dem Linoleum. «Nein, verlangen Sie vier.»
«Ozwei ist voll!», rief eine der Schwestern, als Corbin dazukam.
Deguello trat an den Kopfteil des Tisches und musterte mit zusammengekniffenen Augen das bewusstlose Opfer. «Sieht zyanotisch aus», bemerkte er.
«Schaffen Sie eine BlutgasMaschine her», drängte der Doktor. Seine Aufmerksamkeit war auf den Unterleib der Frau gerichtet, inzwischen entblößt und glänzend nass vor Blut. Hastig zog er den notdürftigen Verband beiseite. Eine grässliche offene Wunde, hastig vernäht von den Sanitätern. Sie blutete unablässig weiter. Der Doktor drehte sich zu einer Schwester um und gab ihr ein Zeichen. Sie tupfte das Blut weg, und er untersuchte die Stelle erneut.
«Massives Abdominaltrauma», sagte er. «Möglicherweise supiner subpulmonaler Pneumothorax. Wir müssen eine perikardiale Punktion vornehmen.»
Er wandte sich dem Sanitäter zu. «Wie zum Teufel ist das passiert? Hatte das Auto keinen Airbag?»
«Untendurch gerutscht», antwortete der Mann. «Das Armaturenbrett ist in der Mitte durchgebrochen wie ein dürrer Zweig und hat sie aufgespießt. Sie mussten sie von oben mit den Klauen befreien. Ein schlimmer Anblick, Doc - ihr Porsche war total zerquetscht vom SUV dieses besoffenen Bastards. »
Porsche. Der kleine kalte Strom in seinem Hinterkopf wurde stärker. Er richtete sich auf, versuchte einen Blick auf das Gesicht des Opfers zu erhaschen, doch Deguello war imWeg. «Signifikantes stumpfes Trauma», sagte Deguello. «Wir brauchen eine CT vom Schädel.»
«Blutdruck ist runter auf achtzig zu fünfunddreißig!», sagte eine Schwester. «Pulsoxymetrie neunundsiebzig.»
«Druck aufrechterhalten!», befahl Deguello.
Der Blutverlust war zu groß, die Verletzungen zu schwer: Sie hatten eine Minute, höchstens zwei, um die Verwundete zu retten. Eine weitere Schwester kam mit Blutbeuteln herein und hängte sie sofort an das Infusionsgestell.
«Das wird nicht reichen», sagte der Doktor. «Wir brauchen einen größeren Infusionstropf. Sie blutet zu schnell aus.»
«Ein Milligramm Epi», sagte Corbin zu einem Assistenten. Die Schwester drehte sich zum Nähwagen um, packte eine größere Infusionsnadel, zog die schlaffe Hand der Bewusstlosen zu sich, um die Nadel einzuführen. Dabei fiel der Blick des Doktors auf die Hand: schlank, sehr blass, mit einem einfachen Ring - einem PlatinEhering mit einem wunderschönen Sternsaphir, whiskeyfarben auf schwarzem Grund. Aus Sri Lanka und sehr teuer. Er wusste es, weil er ihn gekauft hatte.
Unvermittelt übertönte ein scharfer Alarm alle Geräusche im Schockraum. «Herzstillstand!», rief eine Schwester.
Für einen Moment stand der Doktor nur reglos da, paralysiert von Entsetzen und Ungläubigkeit. Deguello wandte sich an einen der Assistenten, und jetzt konnte der Doktor auch das Gesicht der Frau sehen. Die Haare verfilzt und durcheinander, die Augen offen und ins Leere starrend, Mund und Nase vom Beatmungsgerät verdeckt.
Sein Mund war trocken. «Jennifer ...», krächzte er.
«Lebenszeichen werden schwächer!», rief die Schwester.
«Wir brauchen Lidocain!», rief Corbin. «Lido! Sofort!»
Und dann, so schnell wie sie gekommen war, wich die Erstarrung wieder von ihm. Der Doktor drehte sich zu einer der Notfallschwestern um. «Defibrillator!», rief er.
Sie rannte in eine Ecke des Raums und rollte den Wagen herbei. «Lädt auf!»
Ein Assistent trat an den Tisch, injizierte der Bewusstlosen das Lidocain, trat zurück. Der Doktor packte die Paddles, kaum imstande, die eigenen zitternden Hände zu kontrollieren. Das konnte nicht sein. Das musste ein Albtraum sein, nur ein schlimmer Traum, nichts weiter. Er würde aufwachen und sich im Pausenraum wiederfinden, zusammengesunken, mit Deguello im Sessel nebenan.
«Geladen!», rief die Schwester.
«Zurücktreten!» Der Doktor hörte die verzweifelte Schärfe in seiner Stimme.Während die anderen zurücktraten, platzierte er die Paddles auf ihrer nackten, blutüberströmten Brust und löste den Stromstoß aus. Jennifers Körper bäumte sich auf und fiel auf den Tisch zurück.
«Nichts», rief die Schwester am Monitor.
«Neu laden!», befahl der Doktor. Ein neues Signal, ein dunkles, beharrliches Piepen, legte sich über die Kakophonie von Geräuschen.
«Hypovolämischer Schock ...», murmelte Deguello. «Wir hatten von Anfang an keine Chance.»
Sie haben keine Ahnung, dachte der Doktor, und es klang wie aus einer Entfernung von einer Million Meilen. Sie verstehen nicht. Er spürte, wie sich eine einzelne Träne im Augenwinkel sammelte und über seine Wange rann.
«Geladen!», meldete die Schwester am Defibrillator.
Er setzte die Paddles auf. Jennifer bäumte sich ein weiteres Mal auf, lag dann wieder still.
«Keine Reaktion», sagte der Assistenzarzt neben ihm.
«Das war's», sagte Corbin mit einem Seufzer. «Schätze, Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende getan, Ethan.»
Der Arzt ignorierte ihn, warf die Paddles beiseite und begann mit einer Herzmassage. Er spürte ihren Körper, unempfänglich und kalt unter den hektischen Bewegungen seiner Hände.
«Pupillen geweitet und ohne Reaktion», meldete die zuständige Schwester.
Doch der Doktor achtete nicht auf sie, während seine Herzmassage zunehmend schneller und verzweifelter wurde.
Die Geräusche im Schockraum, eben noch hektisch und laut, erstarben nun nach und nach. «Keinerlei Herzaktivität», sagte die Schwester.
«Sie sollten sie für tot erklären», sagte Corbin.
«Nein!», schrie der Doktor schrill.
Der ganze Raum bemerkte den Schmerz und die Verzweiflung in seiner Stimme.
«Ethan?», fragte Corbin unsicher.
Statt einer Antwort fing der Doktor an zu weinen.
Alle rings um ihn verstummten. Einige starrten ihn verständnislos an, andere sahen verlegen zur Seite. Alle, bis auf einen der Assistenten, der zur Tür und leise den Korridor hinunter ging. Der Doktor weinte weiter. Er wusste, wohin der Mann wollte. Er ging ein Leichentuch holen.
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Drei Jahre später
Jeremy Logan war in Westport aufgewachsen, unterrichtete gegenwärtig an der Yale University und hatte eigentlich geglaubt, sich einigermaßen auszukennen in seinem Heimatstaat Connecticut. Doch er war sich sicher, die Landschaft, die er nun durchfuhr, zum ersten Mal zu sehen. Sie war eine Offenbarung. Er war von Groton aus nach Osten gefahren - genau wie es in der gemailtenWegbeschreibung stand -, dann auf die US 1 abgebogen und schließlich kurz hinter Stonington auf die US 1 Alternate. Immer entlang der grauen Atlantikküste hatte erWequetequock passiert, war über eine Brücke gefahren, die aussah, als wäre sie so alt wie New England, und dann scharf nach rechts auf eine asphaltierte, jedoch nicht ausgeschilderte Straße eingebogen. Augenblicklich hatte er die MiniMalls und die Touristenmotels hinter sich gelassen. Er fuhr an einer verträumten Bucht vorbei, in der Fischerboote vor Anker tanzten, und erreichte ein verschlafenes Dorf. Es verfügte über einen Gemischtwarenladen und einen Shop für Fischereigeräte, außerdem gab es eine Episkopalkirche, deren Kirchturm drei Nummern zu groß war, und grau geschieferte Häuser mit ordentlichen, weiß gestrichenen Jägerzäunen davor. Es waren weder überdimensionierte SUVs noch ortsfremde Nummernschilder zu sehen, und die Menschen auf den Bänken oder an den Fenstern ihrer Häuser winkten Jeremy zu, als er an ihnen vorüberfuhr. Die Aprilsonne war stark, und die Seeluft hatte einen frischen, sauberen Biss. Ein Schild über dem Eingang zum Postamt informierte ihn darüber, dass er in Pevensey Point angekommen war, einhundertzweiundachtzig Einwohner. Irgendetwas an der kleinen Ortschaft ließ ihn an Herman Melville denken.
«Karen», murmelte er. «Wenn du dieses Dorf gesehen hättest, du hättest im Leben nicht zugelassen, dass wir uns dieses Sommercottage in Hyannis kaufen.»
Obwohl seine Frau Jahre zuvor an Krebs gestorben war, unterhielt sich Logan auch heute noch gelegentlich mit ihr. Natürlich war es üblicherweise mehr Monolog als Dialog - wenn auch nicht immer. Zuerst hatte er darauf geachtet, es nur zu tun, wenn er sicher war, dass ihn niemand hörte. Doch dann - als das, was zunächst als eine Art intellektuelles Hobby angefangen hatte, zunehmend zu seinem Beruf wurde - hatte er sich nicht mehr so sehr um Diskretion bemüht. Dieser Tage, und seinem Broterwerb nach zu urteilen, erwarteten die Leute geradezu, dass er ein wenig eigenartig war.
Drei Kilometer hinter dem Ort zweigte rechts eine schmale Straße ab, genau wie in der Wegbeschreibung angegeben. Logan fand sich in einem spärlichen Wald aus Strauchkiefern wieder, mit sandigem Untergrund, der bald gelbbraunen Dünen wich. Die Dünen endeten an einer Stahlbrücke, die zu einer niedrigen, langgestreckten Insel führte. Selbst aus dieser Entfernung konnte Logan erkennen, dass auf der Insel im Fishers Island Sound wenigstens ein Dutzend Gebäude standen, alle errichtet aus dem gleichen rötlich braunen Sandstein. Im Zentrum erhoben sich parallel wie Dominosteine drei große fünfstöckige Gebäude, die an Schlafhäuser erinnerten. Am Ende der Insel, und teilweise durch andere Gebäude verdeckt, befand sich eine verlassene Landepiste. Und hinter allem lag der Ozean. Am Horizont war Rhode Island als dunkelgrüne Linie zu erkennen.
Logan fuhr den letzten Kilometer und hielt an einem Torhaus vor der Brücke. Er zeigte dem Wachmann die ausgedruckte EMail, und der Wachmann lächelte und winkte ihn durch. Auf einem einzelnen, ebenso hochwertigen wie dezenten Schild neben dem Torhaus prangte die Aufschrift «CTS».
Er überquerte die Brücke, passierte ein Außengebäude und lenkte den Wagen auf einen überraschend großen Parkplatz. Dort standen mindestens einhundert Fahrzeuge, und es gab Platz für noch einmal die gleiche Anzahl. Er steuerte seinen Wagen in eine freie Parklücke und schaltete den Motor ab. Anstatt auszusteigen, hielt er jedoch inne und nahm noch einmal die EMail zur Hand.
Jeremy,
ich freue mich - und bin erleichtert -, dass du zugesagt hast. Ich weiß deine Flexibilität zu schätzen, denn wie ich bereits erwähnte, kann niemand sagen, wie lang deine Untersuchungen dauern werden. Wie dem auch sei, du erhältst eine Mindestvergütung von zwei Wochensätzen, zum von dir genannten Tarif. Bitte entschuldige, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Details verraten kann, aber das bist du wahrscheinlich gewohnt. Und ich muss gestehen, ich kann es kaum erwarten, dich nach all der Zeit wiederzusehen.
Im Anhang findest du die Wegbeschreibung zum Center. Ich erwarte dich am Morgen des 18., irgendwann zwischen zehn Uhr und mittags wäre prima. Noch eine Sache: Sobald du beim Projekt mit an Bord bist, wirst du feststellen, dass es schwierig ist, Anrufe nach draußen zu tätigen, also solltest du alle wichtigen Angelegenheiten erledigt haben, bevor du losfährst.
Ich freue mich auf den 18.!
Liebe Grüße,
E. R.
Logan warf einen Blick auf seine Armbanduhr: halb zwölf. Er drehte die EMail in den Händen. Du wirst feststellen, dass es schwierig ist, Anrufe nach draußen zu tätigen ... Warum denn das? Gab es etwa jenseits der malerischen Ortschaft von Pevensey Point keine Mobilfunkmasten mehr?Wie auch immer, es stimmte, was in der EMail stand: Er war «daran gewöhnt».
Er hievte den Seesack vom Beifahrersitz, steckte die EMail ein und stieg aus.
Der Empfangsbereich war in einem der zentralen, schlafhausähnlichen Gebäude untergebracht und erinnerte Logan an das Wartezimmer einer Arztpraxis: ein halbes Dutzend leere Sessel, Tische voller Magazine und Zeitungen, ein Sammelsurium anonymer Ölgemälde an beigefarbenen Wänden, ein einzelner Empfangstresen, besetzt mit einer Frau Mitte dreißig. Hinter ihr an der Wand prangten die drei Buchstaben CTS, immer noch ohne jeden Hinweis, wofür sie standen.
Logan nannte der Frau seinen Namen, und sie musterte ihn im Gegenzug mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen. Er rechnete mit einer längeren Wartezeit und setzte sich in einen der freien Sessel, doch kaum hatte er eine aktuelle Ausgabe der Harvard Medical Review zur Hand genommen, öffnete sich gegenüber dem Empfang bereits eine Tür, und Ethan Rush kam zum Vorschein.
«Jeremy!», sagte er mit breitem Grinsen und streckte Logan die Hand entgegen. «Ich bin dir ja so dankbar, dass du gekommen bist.»
«Hallo, Ethan», erwiderte Logan und schüttelte seinem Gegenüber die Hand. «Schön, dich mal wieder zu sehen.»
Er hatte Rush seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Johns Hopkins. Rush hatte damals an der medizinischen Fakultät studiert, er selbst war bereits im Hauptstudium gewesen. Doch der Mann, der nun vor ihm stand, hatte sich eine bemerkenswerte Jugendlichkeit bewahrt - lediglich ein filigranes Fältchenmuster in den Augenwinkeln verriet sein fortgeschrittenes Alter. Und doch schien es Logan, als würde der simple Akt des Händeschüttelns zwei wesentliche Dinge über Rush preisgeben: ein erschütterndes, das ganze Leben verändernde Ereignis und eine unbeirrbare, beinahe besessene Hingabe an eine Sache.
Dr. Rush blickte auf Logans Seesack. «Hast du nicht mehr Gepäck dabei?»
«Im Kofferraum.»
«Gib mir die Schlüssel. Ich sorge dafür, dass jemand es für dich holen geht.»
«Es ist ein Lotus Elan S4.»
Rush stieß einen Pfiff aus. «Der Roadster? Welches Baujahr? »
«1968.»
«Sehr chic. Ich werde sicherstellen, dass sie ihn mit Samthandschuhen anfassen.»
Logan kramte in seiner Tasche und gab Rush die Schlüssel, der sie seinerseits mit ein paar geflüsterten Instruktionen an die Rezeptionistin weiterreichte. Dann wandte er sich um und bedeutete Logan, ihm durch die offene Tür zu folgen.
Sie stiegen in einen Aufzug und fuhren in das oberste Stockwerk. Rush führte ihn durch einen langen Korridor, in dem der schwache Geruch von Reinigungsmitteln und Chemikalien hing. Erneut fühlte sich Logan an eine Arztpraxis erinnert - und doch schien es keine Patienten zu geben. Die wenigen Personen, denen sie begegneten, trugen gewöhnliche Straßenkleidung und erfreuten sich offensichtlich bester Gesundheit. Im Vorbeigehen spähte Logan neugierig durch offene Türen in die dahinterliegenden Zimmer. Er sah Konferenzräume, einen großen, leeren Vorlesungssaal mit Sitzplätzen für mindestens hundert Personen, Labors voller Apparaturen und Computer, eine Präsenzbibliothek mit gebundenen Zeitschriften und diversen Leseplätzen. Außerdem bemerkte er mehrere seltsame, auf den ersten Blick identische Räume, jeder ausgestattet mit einem einzelnen schmalen Bett und Hunderten, wenn nicht Tausenden dünner Drähte, die in Überwachungsmonitoren endeten. Andere Türen waren geschlossen und die kleinen eingelassenen Fenster mit Vorhängen bedeckt. Sie begegneten einer Gruppe von Männern und Frauen in weißen Laborkitteln, die Rush zunickten und Logan neugierig anstarrten.
Vor einer Tür mit der Aufschrift «Direktor» blieben sie stehen. Rush öffnete die Tür und winkte Logan durch ein Vorzimmer mit zwei Sekretärinnen und überquellenden Bücherregalen in ein kleines Büro dahinter. Es war geschmackvoll eingerichtet und genauso minimalistisch, wie das Vorzimmer überfrachtet war. An drei der vier Wände hingen postmoderne Gemälde in kühlen Blau und Grautönen. Die vierte Wand bestand wohl aus einer großen Fensterfront, gegenwärtig verdeckt durch Jalousien.
In der Mitte des Zimmers stand ein auf Hochglanz polierter Tisch aus Teak, flankiert von zwei hohen Ledersesseln. Rush setzte sich in einen davon und lud Logan ein, im anderen Platz zu nehmen.
Übersetzung: Axel Merz
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Lincoln Child
Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin's Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston entwickelte er 1995 das Romanprojekt "Das Relikt", das innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum begeisterte. Child lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lincoln Child
- 2013, 2. Aufl., 384 Seiten, Maße: 13,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Axel Merz
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250541
- ISBN-13: 9783805250542
- Erscheinungsdatum: 16.07.2013
Pressezitat
Wie Dan Brown mit Pharaonen. Kirkus Reviews
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