Die Hummerschwestern
Roman
In einem kleinen Haus in New Brunswick/Kanada leben die Schwestern Idella und Avis nach dem Tod ihrer Mutter allein mit ihrem chaotischen Vater. Über sieben Jahrzehnte begleiten wir die Schwestern bis nach Maine, wo Idella in ihrem Gemischtwarenladen...
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Produktinformationen zu „Die Hummerschwestern “
In einem kleinen Haus in New Brunswick/Kanada leben die Schwestern Idella und Avis nach dem Tod ihrer Mutter allein mit ihrem chaotischen Vater. Über sieben Jahrzehnte begleiten wir die Schwestern bis nach Maine, wo Idella in ihrem Gemischtwarenladen kauzige Einheimische bedient, während ihr Mann anderen Frauen nachstellt. Und wo Avis an einem stürmischen Wintertag etwas ganz Entscheidendes verliert.
Klappentext zu „Die Hummerschwestern “
Ein Fleckchen Erde wird zur ganzen Welt.New Brunswick, Kanada. Ein kleines Haus am Rande einer zerklüfteten Steilküste. Hier leben die Schwestern Idella und Avis nach dem Tod der Mutter allein mit ihrem chaotischen Vater. In einer Welt, die aus nichts als Kartoffelfarmen, Hummerfallen, rauen Männern und harter Arbeit zu bestehen scheint. Wäre da nicht die liebenswerte Maddie, das französischsprachige Dienstmädchen, das sich nach einer Familie sehnt. Und der schrullige Doktor, der ein schreckliches Geheimnis hütet. Und natürlich Avis' störrische Kuh Bossy, die eines Tages beinahe im Schlamm versinkt. Über sieben Jahrzehnte hinweg begleiten wir die unvergesslichen Schwestern von Kanada nach Neuengland, wo Idella in ihrem Gemischtwarenladen in Maine kauzige Einheimische bedient, während ihr Mann anderen Frauen nachstellt. Und wo Avis an einem stürmischen Wintertag etwas ganz Entscheidendes verliert ...
Lese-Probe zu „Die Hummerschwestern “
Die Hummerschwestern von Beverly Jensen Deutsch von Beate Brammertz
Teil eins
Fort
Chaleur-Bucht, New Brunswick
April 1916
Sie hatten ihre Schuhe mit den Schnürsenkeln an eine einsame Ulme gehängt, bevor sie in den Wald hinterm Feld gingen. Beide Mädchen waren froh, sie los zu sein und den kühlen Morast des Frühlings unter ihren nackten Fußsohlen zu spüren. Während des langen kanadischen Winters waren ihre Füße gewachsen. Ihre Schuhe, abgelegte Kleidungsstücke entfernter Cousinen, waren immer noch von den Abdrücken der fremden Füße geformt und engten ihre Zehen ein.
»Wie weit wollen wir noch reingehen, Della? Meine Füße frieren.«
»Du möchtest doch Maiblumen für Mutter pflücken, oder?«
»Ja.« Avis hatte sich auf einen morschen Baumstamm gehockt, die Knie gespreizt wie die Beine eines Grashüpfers.
»Dann los.« Idella schob sich einen Himbeerzweig aus dem Gesicht und ging weiter.
»An mir kleben überall diese verdammten Kletten.«
Idella drehte sich um. »Gott, du siehst aus wie ein Stachelschwein. « Sie begann, die dornigen Büschel aus den Falten von Avis' Kleid zu zupfen.
Auch das Kleid war schon von irgendeiner Cousine getragen - wahrscheinlich von einem der Mädchen von Tante Eva aus Maine. Avis wrang den Rock wie einen Waschlappen aus, um an die Stacheln zu gelangen, die sich in ihre mageren Beine bohrten. »Ich hab genug an mir, um einen ganzen Kübel vollzubekommen.«
»Du hast sogar welche im Haar.«
»Wie kommt es, dass du keine hast?«
... mehr
»Ich pass auf, wo ich hintrete.« Idella blickte nach vorne. »Komm weiter. Es ist schon bald Zeit zum Abendessen.«
»Wird Mutter noch viel runder?«
»Ich glaube, das geht gar nicht. Das Baby kommt jeden Augenblick.«
»Dann werde ich nicht länger das Baby sein«, sagte Avis.
»Du bist fast sechs. Du bist kein Baby mehr.«
Sie marschierten nebeneinanderher, schoben buschige Sträucher zurück, stiegen über Wurzeln und umgestürzte Bäume und matschige Pfützen, von denen der Geruch nach Frühling aufstieg, bis sie eine kleine Lichtung erreichten. Avis lehnte sich gegen einen großen, moosbedeckten Stein. Idella ging in die Hocke und suchte unter den raschelnden Pflanzenresten des Vorjahres nach grünen Trieben.
»Mutter hat gesagt, man soll am Rand von Lichtungen nach ihnen suchen.«
Avis rümpfte die Nase. »Irgendwas ist hier in der Nähe gestorben. Es stinkt.«
»Deine Füße. Du bist in was getreten.«
Avis hob den Fuß an die Nase und lachte. »Oh, stimmt. Willst du mal riechen?« Sie streckte das Bein in Idellas Richtung.
»Hör auf!« Idella ließ den Blick über die Lichtung schweifen, die fast vollständig von Himbeersträuchern bedeckt war. Sie ging am Rand entlang zu etwas, das zwischen den niedrigen Steinen wie ein Blaubeerbusch aussah. Da bemerkte sie die kleinen weißen Blüten. »Avis, da sind Maiblumen!«
Avis rannte ihr hinterher. »Wo? Wo sind welche?«
Beide Mädchen beugten sich über die kleine Stellemit Blumen, die wie winzige Motten zwischen den Rankgewächsen herumflatterten. »Mutter sagt, wenn sie etwas Sonne abkriegen, öffnen sie sich zum Maifeiertag. Jetzt sind sie zu, weil kein Licht da ist.« Sanft betastete Idella eine Blüte. »Ganz kleine weiße Dinger...«
Avis streckte sich, um einen Stängel abzubrechen. »Lass uns welche pflücken.«
»Nein!« Idella packte ihre Hand. »Sie würden verwelken. Wir holen sie morgen früh. Dann ist Maifeiertag.«
»Was, wenn sie fort sind?Was, wenn sie jemand pflückt?«
»Wer soll sie denn pflücken?« Idella stand auf. »Und tritt nicht drauf. Es sind nicht viele.«
»Wofür hältst du mich, für ein Pferd?«
»Manchmal schon.«
Avis lachte, hielt einen Fuß über die Blumen und streckte das Bein zur Seite. »Pssssss!«
»Avis!« Idella kicherte und hob ihren Rocksaum. Sie galoppierte voraus. »Oder vielleicht auch für einen Hornochsen!«
Avis prustete.Wenn sie über etwas lachte, platzte es einfach so aus ihr heraus. Dad nannte es »Nasenpupse«, und wenn er das sagte, prustete Avis noch lauter.
»Jetzt komm schon!«, rief Idella über die Schulter. »Das Abendessen, wir sind spät dran.«
Atemlos und lachend, sich gegenseitig zwickend und kneifend und mit Wörtern beschimpfend, die sie die Männer hatten benutzen hören - »verfluchte Scheiße«, »Armleuchter «, »verdammter Franzmann« -, tauchten die Mädchen triumphierend aus dem Wald auf. Der Himmel dehnte sich milchig weiß. Es dämmerte. Licht sickerte durch die Wolken, hinterließ sanfte graue Streifen und blauschwarze Kleckse. Die Mädchen hasteten weiter, um vor der Dunkelheit zu Hause zu sein. Sie fanden ihre zurückgelassenen Schuhe, die wie betrunkene Krähen an ihren Schnürsenkeln baumelten, und rannten über die flachen, kratzigen Felder zum Abendessen nach Hause.
»Wo zum Teufel habt ihr beide gesteckt?« Dad stand mitten in der Küche, groß und aufrecht wie eine Heugabel. Sie waren viel zu spät. »Noch fünf Minuten länger, und es würde kein Abendessen für euch zwei geben, verdammt noch mal.«
»Lass sie in Ruhe, Bill.« Mutter trug langsam die Teller zum Tisch. Siemusste sie weit vor sich halten, so groß war ihr Bauch. »Della, du deckst den Tisch zu Ende.«
Mutters Stimme klang erschöpft. Dad setzte sich an den Tisch. Dalton, mit zwölf der Älteste und der einzige Junge, saß bereits auf seinem Platz, starrte nach unten, obwohl nichts vor ihm stand. Niemand sagte etwas. Jeder spürte, dass es besser wäre zu schweigen. Immer noch schwer atmend vom Laufen, verteilte Idella die Teller und setzte sich auf ihren Stuhl. Mutter, die vor dem Ofen stand, drehte sich zu Dad um. »Bring bitte den Topf für mich zum Tisch, Bill.«
Dann ging sie in ihre Vorratskammer, eine kleine Nische, die vom Hauptraum abging, und kam mit Dads großem Messer zurück. »Hier ist dein verdammtes Messer.« Sie legte es vor ihn hin. »Und jetzt gib mir deinen Teller, Della - den von Avis auch.« Idella reichte Mutter die Teller, und diese schöpfte Eintopf erst auf den einen, dann auf den anderen und reichte sie zurück. Es war Hühncheneintopf mit Karotten und Kartoffeln. Das war etwas Besonderes, ein Huhn zu schlachten. »Und jetzt, Dalton, gib mir deinen.«
Dad schnappte sich den Teller, als er bei ihm ankam. »Ich arbeite den ganzen verfluchten Tag, reiße mir den Arsch auf und muss wie ein gottverdammter Hund warten? Du würdest diesen faulen Bastard füttern, bevor du mir einen Topf zum Pissen gibst.«
»Beruhig dich, du wirst schon nicht verhungern.« Am Abend musste es einen Streit gegeben haben. Mutter nahm Dad Daltons Teller ab und häufte Eintopf darauf. Idella fürchtete, dass ihr Zuspätkommen der Auslöser gewesen war.
»Jetzt reich mir deinen Teller, Bill.« Sie gab eine Schöpfkelle nach der anderen auf Dads Teller. »Du verdammter Spinner.«
Sie aßen schweigend. Die einzigen Geräusche waren Dads und Daltons Kauen und das Kratzen ihrer Gabeln auf den Tellern.
»Nun iss schon, Della«, sagte Mutter leise.
Idella spießte ein Stück Karotte auf. Sie konnte nie viel essen, wenn Dad schlechte Laune hatte. Dann versuchte sie sich völlig still zu verhalten.
»Wo zum Teufel seid ihr zwei gewesen?«
»Mach doch kein Fass auf, Bill.« Mutters Stimme war müde.
»Ich frag doch bloß, was in Herrgotts Namen sie gemacht haben, während wir hier gesessen und auf sie gewartet haben.« Dad wandte sich an Idella. »Wo seid ihr gewesen, Della?«
»Wir waren spazieren. Im Wald.« Je länger Dad sie ansah, desto mehr beschlich sie das Gefühl, weiterreden zu müssen. »Wir haben...Wir haben etwas gesucht.«
»Es ist ein Geheimnis«, sagte Avis, den Mund voll Eintopf, da sie nicht zu kauen gewagt hatte, seit Dad sie angesprochen hatte. »Es ist ein Geheimnis.«
»Ein Geheimnis?« Dad wandte sich an Avis. »Was für ein Geheimnis?« Idella war unsicher, ob Dad sie jetzt auf den Arm nahm, aber das vermochte sie nie genau zu sagen. Das war es, was es so schwierig machte. Avis gelang es besser als jedem anderen, ihn aus seiner schlechten Laune zu reißen. »Von wem habt ihr das Geheimnis?«
Mutter stand auf. »Lass sie in Ruhe, Bill. Wenn sie ein Geheimnis haben, lass es ihnen. Sie haben weiß Gott sonst nicht viel.« Sie ging zur Speisekammer und kam mit einem Laib Brot zurück.
Auf einmal veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie gab ein erschrockenes Geräusch von sich. Langsam legte sie das Brot ab, löste die Schürze, faltete sie und legte sie über den Stuhl. Sie blickte zu Dad, die Hand auf ihrem geschwollenen Bauch. »Bill, meine Fruchtblase ist geplatzt.« Sie drehte sich zu Idella um. »Della, Liebling, du und Avis beendet euer Abendessen und geht dann ins Bett. Das Baby wird bald kommen.« Idella nickte. Mutter ging ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Idella sah eine klare Pfütze an der Stelle, wo Mutter gerade noch gestanden hatte, und eine Tropfspur hinter ihr. Sie hatte ein Leck. Irgendwo in ihr drinnen musste ein Beutel mit Wasser gewesen sein, und der war gerade geplatzt. Dad stand auf, folgte Mutter ins Zimmer und schloss die Tür.
»Es dauert nichtmehr lange. Noch ein hungriges Maul, das gestopft werden muss.« Dalton streckte sich und nahm das Brot. Er riss sich ein großes Stück ab.
Dad kam aus dem Schlafzimmer. »Dalton, geh und hol Elsie. Sag ihr, das Baby kommt. Ich hole Mrs. Jaegel.« Ausnahmsweise rannte Dalton einmal, um einer Anordnung seines Vaters Folge zu leisten. Dad ging hinaus, um das Pferd vor den Wagen zu spannen und die Hebamme zu holen. Mrs. Jaegel wohnte ein Stück weiter die Straße hinauf.
Die Schwestern saßen am Tisch, wagten nicht, sich von ihren Stühlen zu rühren. Mrs. Doncaster, die auf der angrenzenden Farm lebte, kam mit Dalton zurückgerannt. In den Armen hatte sie Stoffreste und Laken. Die Säume von alten Kleidern und zerrissene Arbeitshemden waren vor ihrem breiten Oberkörper zusammengerafft. Sie sah aus, als würde sie die Kleidung zum Waschen tragen, doch Idella wusste, dass sie für das Baby waren. Fürs Fruchtwasser.
Mrs. Doncaster lächelte. »Gerade eben habe ich ein Baby zum Schlafen gebracht, und jetzt muss ich mich um das nächste kümmern.« Ihr Baby, Austin, war drei Monate alt. Mutter war mitten in der Nacht zu ihr hinübergegangen und hatte bei seiner Geburt geholfen.
Mrs. Doncaster sah die Pfütze, die Mutter auf dem Boden hinterlassen hatte. »Della, Süße, nimm den Lumpen hier und wisch das auf. Du bist ein großes Mädchen.« Sie warf einen Lappen auf den Boden und nahm den Rest des Bündels mit ins Schlafzimmer.
Das Fruchtwasser färbte den Lumpen blassgelb. Es war warm und roch süßlich.
»Wofür ist eigentlich das Wasser?«, fragte Avis, die immer noch am Tisch saß.
»Keine Ahnung.« Idella wischte die dünne Spur auf, die zum Schlafzimmer führte. »Vielleicht für das Baby, zum Trinken. «
»Es sieht aus wie Pipi.« Avis lachte. »Als würde es Pipi trinken. «
Mrs. Doncaster kam aus dem Schlafzimmer. »Wir werden um Mitternacht ein neues Baby haben.« Sie bückte sich und nahm Idella den Lappen aus der Hand. »Und jetzt esst euer Abendessen auf. Eure Mom wird beschäftigt sein. Vielleicht ist das die letzte anständige Mahlzeit, die ihr in nächster Zeit auf den Tisch bekommt, wenn ichmich in euremVater nicht täusche.« Sie legte alle benutzten Lappen in die blecherne Abwaschschüssel und rollte die Ärmel hoch.
»Ich kann kochen.« Idella setzte sich wieder an den Tisch. »Ich kann Parker House Rolls machen.«
»Was du nicht sagst.« Mrs. Doncaster war mit der Küchenpumpe beschäftigt. Sie füllte die Schüssel mit Wasser, schrubbte dann ihre Hände mit der Laugenseife.
»Ich werde im Juli acht. Ich bin jetzt schon mehr acht als sieben.«
»Aber du bist dürr wie ein Grashalm, also werdet ihr Mädchen jetzt das Abendessen aufessen.« Sie beobachteten, wie Mrs. Doncaster ihre Arme bis hoch zu den Ellbogen abschrubbte und dann im Schlafzimmer verschwand. Ihre muntere Stimme drang durch die geschlossene Tür.
Niemand bekam einen weiteren Bissen herunter. Es war einfach zu aufregend.
Der Wagen fuhr vor dem Haus vor. Dad kam herein, gefolgt von Mrs. Jaegel, einer kleinen, gedrungenen Frau. Sie hatte einen schwarzen Koffer bei sich, der dieselbe quadratische Form hatte wie sie, nur kleiner. Mrs. Jaeger ging geradewegs ins Schlafzimmer, wobei sie Mrs. Doncaster zunickte, die in die Küche zurückgekehrt war.
»Ihr geht's gut, Bill.« Mrs. Doncaster lächelte Dad zu.
»Du bist ein Geschenk des Himmels, Elsie.« Dad ging zum Tisch, nahm seinen Teller und aß seinen Eintopf im Stehen auf. »Das verfluchte Baby stört mich schon jetzt beim Essen. Und heute Nacht werde ich wahrscheinlich auch noch wenig Schlaf bekommen.« Er brach sich ein großes Stück Brot ab und eilte zur Tür. »Du weißt, wo ich zu finden bin.«
»Nicht so schnell, mein Lieber. Füll die Waschzuber und kümmere dich ums Feuer.Wenigstens ein bisschen Hilfe solltest du sein.«
»Na komm schon, Elsie, lass mich verflucht noch mal in die Scheune. Ihr Frauen kümmert euch doch am besten selber um alles.«
»Himmelherrgott, Bill, das ist jetzt das vierte Mal, und du bist immer noch zu nichts nütze.«
»Ich hab am Anfang meinen Teil beigetragen.« Beide lachten.
»Das zumindest ist dir gelungen. Und jetzt kümmere dich umsWasser, dann kannst du in die Scheune verschwinden.«
Dad kam mit dem großen Blechzuber zurück, den sie zum Baden benutzten, und einem Eimer, den sie zum Putzen der Böden hernahmen. Er stellte die Wanne auf den Ofen, legte Holz nach und schürte das Feuer. Dann ging er zur Pumpe am Spülbecken, füllte den Eimer und goss dasWasser in den Zuber, bis er fast voll war.
»Ihr Mädchen geht jetzt nach oben. Della, du bringst Avis ins Bett. Tu, was deine Mutter sonst tut. Kommt ja nicht wieder runter und stört die Frauen.« Ein spitzer Schrei drang aus dem Schlafzimmer. »Na los«, sagte Dad. »Raus!«
Wenn Dad einen Befehl gab, wurde nicht lange gezögert. Die Mädchen rannten die Treppe hinauf und in ihr Schlafzimmer. Sie hörten die Tür zuknallen, als Dad in die Scheune ging.
»Es tut weh, ein Baby zu kriegen.« Avis rollte sich mit angewinkelten Knien auf dem Bett von einer Seite zur anderen und stöhnte jämmerlich.
Idella setzte sich neben sie aufs Bett. »Hör auf, Avis.«
»Ich will zuhören.« Avis schlich aus dem Zimmer und kauerte sich auf dem oberen Treppenabsatz zusammen.
Da die Tür nun offen stand, konnte Idella hören, wie Mrs. Doncaster am Ofen herumhantierte. Auf einmal vernahm sie das rasche Klackern von Schritten. »Ich könnte schwören, ich hätte eine Maus gesehen.«Mrs. Doncaster stand unten an der Treppe. Avis huschte ins Zimmer und schloss die Tür.
»Wegen dir kriegen wir noch Ärger.«
Avis hüpfte ins Bett zurück.
»Komm her«, sagte Idella. »Ich bürste dir die Haare.«
Avis setzte sich still hin. Idella bürstete ihr die kastanienbraunen Haare, die denselben Farbton wie Mutters hatten.
»Ich habe eine Idee, wie wir es nennen könnten«, sagte Idella. »Wenn es ein Mädchen ist.«
»Wie meinst du das?«
»Mutter hat gesagt, dass ich vielleicht beim Aussuchen vom Namen helfen darf.« Avis drehte sich um und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an, wie immer, wenn sie wütend war. »Wenn es morgen geboren wird, am Maifeiertag... « Idella machte eine Pause und lächelte scheu. »Ich dachte, vielleicht...Daisy May! Wie May Day rückwärts.«
Avis kniff die Lippen zusammen, dass sich ihr Mund kräuselte. »Daisy May! Das ist bescheuert! Das klingt wie der Name einer Kuh.«
»Nun, wie würdest du es denn nennen?«
»Dumpfbacke!« Avis gackerte.
»Jetzt im Ernst. Und hör auf, das Stroh aus der Matratze zu zupfen.«
»Wenn es ein Mädchen ist«, fragte Avis, legte sich auf den Rücken und ließ die Beine über den Bettrand baumeln, »wird es dann hier bei uns schlafen?«
»Es bekommt kein eigenes Zimmer!«
»Drei in einem Zimmer.« Avis stöhnte. »Was auch immer es wird, ich finde, Dalton sollte seines mit ihm teilen.«
Idella kletterte ins Bett. Die Mädchen verstummten und lauschten auf die Geräusche von unten.
»Della«, fragte Avis, »denkst du, das Baby wird uns in die Quere kommen?«
»Wobei?«
»Dabei, ihr das Körbchen zu geben. Was, wenn sie es am Türknauf nicht bemerkt?«
»Sie wird es bemerken.« Idella drehte sich zum Fenster. »Das wird sie schon. Schlaf jetzt.«
Sie war müde. Avis wälzte sich unruhig hin und her und weckte sie, kurz bevor sie in den Schlaf glitt, mit ihrem Flüstern: »Schläfst du, Della?« Sie gab keine Antwort und tat so, als wäre sie bereits eingeschlafen. Und wenig später war sie es auch.
»Della! Wach auf!« Avis zerrte an ihr. »Es ist da! Ich hab das Baby schreien gehört. Ich war die ganze Zeit wach.« Avis rannte zur Tür und öffnete sie.
Idella erhob sich mit schweren Gliedern aus dem Bett und stellte sich hinter sie in den Türrahmen. Da war es! Ein dünner, schwacher Schrei, der kaum die Treppe heraufdrang.
»Es hört sich wie ein Lamm an. Bäääääh«, flüsterte Avis.
Die Schlafzimmertür im Erdgeschoss ging auf. »Ich sage Bill, dass er noch ein Mädchen hat.« Es war die Stimme von Mrs. Jaegel. »Er ist wahrscheinlich in der Scheune.«
»Hoffentlich ist er nüchtern«, sagte Mrs. Doncaster. »Er wollte einen Jungen. Geh, erzähl es ihm. Und Dalton auch, wenn du ihn siehst. Ein sonderbares Kind.«
Mrs. Doncaster kam mit einer Lampe zum unteren Treppenabsatz und blickte zu den beiden Mädchen hoch. »Ich hab mir schon gedacht, dass ich euch Frechdachse dort oben gehört habe. Kommt schon runter. Eure Mutter möchte, dass ihre Mädchen ihre neue Babyschwester kennenlernen. Beeilt euch, aber seid leise.«
»Welchen Tag haben wir heute, Mrs. Doncaster?«, fragte Idella. »Wann ist ihr Geburtstag?«
»Nun, das Baby ist am ersten Mai geboren, Della. Kurz nach Mitternacht.« Mrs. Doncaster hielt die Lampe hoch, während sie auf Zehenspitzen die Treppe hinabschlichen. Ihre Schatten glitten neben ihnen über die Wand. Mrs. Doncaster hielt mit einem mahnenden Finger an den Lippen inne.
»Eure Mutter ist sehr müde. Das Baby ist schnell gekommen, aber es hat ihrem Körper trotzdem viel abverlangt.«
Die Mädchen folgten Mrs. Doncaster ins Schlafzimmer. Die Lampe am Bett war zu einem sanften Flackern gedimmt. Mutter saß in die Kissen gelehnt da, das Haar hing ihr lose den Rücken herab. Sie hielt das Baby vor sich. Doch es war so eingewickelt, dass sie fast nichts von ihm sahen.
»Alle meine Mädchen. Zum ersten Mal zusammen.« Mutter lächelte. Man kann ihr Lächeln sehen, dachte Idella, egal wie trüb das Licht ist. Die Mädchen beugten sich, so weit es ging, über das Baby, um einen Blick darauf zu erhaschen. Seine winzigen Hände waren an Mutter gepresst. Sein Gesicht war verkniffen. »Sie sieht aus wie eine Walnuss«, sagte Idella.
»Oh, Della.« Mutter lächelte wieder. »Ich kann sie kaum lang genug wachhalten. Sie schläft den Schlaf der Neugeborenen. «
»Darf ich sie anfassen?« Idella konnte die Augen nicht von den winzigen Fingern lösen.
»Ihr könnt sie beide ganz vorsichtig anfassen. Ihr dürft nur nicht an mir herumdrücken, meine Süßen. Kommt nicht an meinen Bauch.«
Idella strich mit einem Finger über die Wange des Babys. Sie fühlte sich weich wie warme Butter an. Avis legte die Handfläche sanft auf den kleinen Kopf und zog sie dann schnell wieder zurück. »Er ist nass!«, sagte sie.
»Das stimmt.« Mutter umarmte sie, so gut es ihr gelang. »Und nun ist es höchste Zeit, dass alle zurück ins Bett gehen.«
Mrs. Doncaster trat vor. »Kommt schon, Mädchen, ich bring euch hoch.«
»Wo ist Bill?«, fragteMutter, alsMrs. Doncaster gerade die Tür schloss. »Elsie, hol Bill. Er sollte hier sein.«
»Mrs. Jaegel ist zu ihm gegangen, um ihm Bescheid zu geben, meine Liebe.« Siemachte eine Pause. »Bei dir dort unten alles in Ordnung?«
Mutter nickte. »Bin nur auf einmal so schrecklich müde.« Sie winkte ihnen matt mit der Hand und warf ihnen einen Kuss zu, lehnte sich dann ins Kissen zurück und schloss die Augen.
»Euer Vater...« Kopfschüttelnd scheuchte Mrs. Doncaster Avis und Idella die Treppe hinauf. Sie murmelte leise vor sich hin, während sie hinter ihnen herging, doch Idella konnte hören, was sie sagte. »Verdammter Narr, wenn er sich besoffen hat.« Sie beobachtete, wie die Mädchen ins Bett schlüpften. »Und jetzt will ich bis morgen früh keinen Pieps aus diesem Zimmer hören«, mahnte sie und schloss sanft die Schlafzimmertür.
Avis und Idella lagen da und starrten an die Decke. »Glaubst du, er ist betrunken?«, wollte Avis wissen.
»Schon möglich.«
»Glaubst du, es liegt daran, weil's ein Mädchen ist?«
»Vielleicht.«
»Vielleicht wollte er gar keine Babys mehr.«
»Zu spät. Es ist da.« Idella drehte sich zum Fenster und zog sich die Decke bis über die Schultern.
»Lass das.« Avis zog die Decke zurück. »Ich bin auch noch hier.«
Die Tür unten ging auf. Die Mädchen lauschten. Dad durchquerte die Küche. Die Schritte eines Mannes klingen anders, dachte Idella. Sie landen so schwer auf dem Fußboden.
»Er geht ins Schlafzimmer«, sagte Avis, die wieder flach dalag.
»Falls er betrunken ist, brüllt er zumindest nicht«, flüsterte Idella.
»Ich hoffe, er ist es nicht.« Avis strampelte die Decke beiseite. »Es sieht irgendwie komisch aus, findest du nicht?«
»Ich habe nicht viel vom Gesicht gesehen.« Idella hatten die Runzeln im Gesicht beunruhigt. Sie wusste, dass Babys manchmal nicht richtig herauskamen.
»Bist du müde?« Avis setzte sich auf.
»Vielleicht.« Idella rollte sich noch fester zusammen.
»Ich nicht«, sagte Avis. Aber sie legte sich hin, und schon bald hörte Idella die vertrauten Geräusche ihres langsamen gleichmäßigen Atems.
Idella konnte ihre Gedanken nicht zur Ruhe bringen, selbst als sie die Augen lange geschlossen hielt. Sie schlug sie auf und starrte aus dem Fenster. Die Bäume wiegten sich und machten leise Geräusche, die Äste waren jetzt mit winzigen Knospen übersät. Sie konnte förmlich spüren, wie voll das Haus war. Es war überladen mit Menschen. Und da war das neue Baby.
Es kam ihr vor, als wären bereits so viele Menschen in der Familie. Wozu noch mehr? »Man nimmt, was man kriegen kann«, hatte sie einmal Mutter zu Tante Francie sagen hören. Idella war nicht sicher, ob sie von Babys gesprochen hatten. Sie hatte den Satz irgendwann aufgeschnappt, und er war ihr im Gedächtnis hängen geblieben.
Ein anderes Mal erzählte Mutter Tante Francie, dass sie kaum über die Runden kamen und sich immer alles »zusammenkratzen « mussten. Idella fand das komisch. Sie überlegte, was sie alles zusammenkratzte: die Essensreste vom Geschirr, den Schmutz vom Boden, besonders wo der Dreck von den Männerstiefeln ganz fest angetrocknet war, die Kartoffeln aus dem Feld. Das war viel Geschabe und Gekratze. Es war, als würden die Reihen voller Kartoffeln nie aufhören. Und sie kratzten die Fische innen aus. Innereien nannten es die Männer. Dieses Kratzen erledigte sie nicht. Aber sie hielt die Laterne hoch, wenn die Männer es taten, nachdem sie im Morgengrauen vom Wasser zurückgekommen waren.
Oh, und sie hatte Mutter geholfen, die Tapete abzukratzen. Das war lustig gewesen. Sie hatten das Wasser richtig heiß gemacht und große Lappen genommen, richtig klitschnasse, und damit über die Wände in Mutters und Vaters Schlafzimmer gerieben. Dann hatten sie die neuen Tapeten angebracht. Wunderhübsche blaue Kornblumen überall an den Wänden. Mutter hatte die Tapete aus einem Katalog bestellt, und sie war mit dem Zug aus Portland geliefert worden, wo ihre Mutter aufgewachsen war. Dad sagte, er würde sich beim Einschlafen inmitten all der Blumen »wie eine gottverdammte Schildlaus« vorkommen. Idella hatte sich schlecht gefühlt, als er das gesagt hatte, aber Mutter hatte gelacht und gesagt, es wäre nicht die erste Blumenwiese, in der er geschlafen hätte.
Als Mutter damals gesagt hatte: »Idella, wir bekommen im Frühling ein Baby«, hatte Idella sie eine Weile angesehen und schließlich gefragt: »Weiß Dad davon?« - »O ja, Dad weiß es.« Mutter hatte auf ihre warmherzige Art gelacht. »Er ist mein Hahn, und ihr seid meine kleinen Küken.«
Mutter gab ihnen viele komische Namen, wenn sie glücklich war. Sie waren ihre süßen Zuckerschoten oder ihre Giftpilze oder ihre Feldmäuse. Sie gab ihnen solche Namen, jagte sie in der Küche herum und kitzelte sie. Avis drehte dann fast durch vor Kichern. Anschließend scheuchte Mutter sie meistens aus dem Haus. Sie stoben wie aufgeschreckte Bienen auseinander, bis Mutter sie wieder zu sich holte. »Kommt zurück, kommt zurück!«, rief sie dann über den Hof oder zum Heuboden hoch, wo sie sich manchmal versteckten. »Es ist Zeit, etwas Sinnvolles zu tun.« Und sie kamen. Gemeinsam machten sie sich daran, etwas aufzuräumen... oder eine Steppdecke zu flicken... oder die endlosen Bohnen zu enthülsen... oder zu schälen... oder etwas zusammenzukratzen.
Idella drehte das Gesicht ins Kissen und schlief ein.
Da war ein Geräusch. Idella konnte es hören, eigenartig, es drängte sich von außen in ihren Schlaf. Sie warf sich unruhig hin und her. Es ist das Baby, dachte sie, erinnerte sie sich. Das Baby weint. Aber es klang nicht nach einem Baby. Idella versteifte sich. Ein Schrei durchzuckte ihren ganzen Körper. Aber es war nicht ihr Schrei. Er kam von unten. »O Gott, der Schmerz! Der Schmerz! Er geht genau durch mich hindurch!« Es war Mutter.
Idella lauschte gebannt. Das Haus hatte sich verändert. Da waren Schritte, von Männern und Frauen. Draußen konnte sie Männerstimmen hören. Dad war da. Sie setzte sich auf und blickte aus dem Fenster. Es war immer noch Nacht, aber sie konnte Umrisse erkennen. Blackie war dort draußen, Dads Pferd. Es scheute, und jemand hielt es fest. »Wechsel sie bei Mulligans, Bill. Sie haben dort gute Pferde, und es ist auf halber Strecke.« Mit einer einzigen Bewegung schwang sich Dad auf Blackie und preschte los. Kein Wagen, nur das Pferd jagte die Straße hinab in die Dunkelheit.
»Della?« Avis flüsterte neben ihr. »Warum weint sie? Das Baby ist doch schon da.«
»Keine Ahnung, Avis. Dad ist gerade auf dem Pferd losgeritten. «
Idella ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Die Küchenlampen leuchteten hell. Sie hörte Mrs. Doncaster am Ofen. »Wir brauchen mehr Lappen. Fred, geh rüber ins Haus und hol mir mehr Lappen. Bring die Laken und Bettdecken, falls es nötig ist. Wir reißen sie auseinander. Die hier sind schon schwarz. Und bring unseren Kessel für sauberes Wasser. Ich bleibe hier, bis der Arzt kommt, und dann nehme ich das Baby.« Idella hörte Mr. Doncasters schwere Schritte verklingen, noch bevor Mrs.Doncaster ihren Satz beendet hatte.
Idella kroch in den Flur. Sie sah Mrs. Doncaster, die irgendetwas in demgroßenWaschzuber umrührte. Da waren hässliche dunkle Flecken an der Vorderseite ihres Kleides, auf ihremRock und an ihren Armen. Es war Blut. Schwarzes Blut kam aus Mutter, durchtränkte alle Lappen. Und Dad wollte mitten in der Nacht zwanzig Meilen reiten, um den Arzt zu holen.
Die Schlafzimmertür öffnete sich. Mrs. Pettigrew, die ganz in der Nähe wohnte, kam mit dem Baby heraus. »Du solltest dich jetzt lieber um sie kümmern, Elsie. Das arme Ding muss saugen. Ich übernehme hier. Gott helfe uns, dass wir diese Nacht überstehen.«
Mrs. Doncaster wischte sich mit ihrer Schürze Blut vom Arm. »Gib sie mir. Ich würde sie gleich mit nach Hause nehmen, aber ich will Emma nicht allein lassen.« Vorsichtig schob sie die Hand unter den Kopf des Babys. »Ist es schwächer geworden? «
»Kaum der Rede wert.« Mrs. Pettigrew ging zum Ofen und blickte in den dampfenden Kessel mit Stoffresten. »Großer Gott, wie schnell sie sich alle vollgesogen haben. Und der Schmerz will einfach nicht aufhören. Mitten aus dem Herzen, sagt sie, mitten durch sie hindurch.«
Idella lag flach auf dem Boden und drückte sich die Faust auf den Mund. Sie wollte Mutter. Sie wollte die Treppe hinablaufen und all die Menschen nach Hause schicken und sich um sie kümmern. Sie wollte, dass der Schmerz und das Bluten aufhörten. So viel Blut floss heraus, dass es alles schwarz färbte.
Ein spitzer Schrei drang aus dem Schlafzimmer. »Geh zu ihr rein, Petty, und tu, was du kannst.« Mrs. Doncaster hielt das Baby, wiegte es, hielt ihren rosafarbenen Finger an seinen Mundwinkel. Das Baby drehte sich zu ihr und begann zu saugen.
»Was ist los? Wer ist dort unten?« Avis flüsterte durch die angelehnte Tür.
Idella winkte Avis zurück ins Schlafzimmer und kroch dann hinter ihr hinein. »Mutter ist krank«, flüsterte sie und zog die Tür zu. »Ich gehe hinunter.«
»Du darfst nicht runter, Della. Das sollen wir nicht. Hat Dad gesagt.« Avis hielt Idella an ihrem Nachthemd zurück. »Und Mrs. Doncaster auch. Bitte, Della, geh nicht runter. Und lass mich hier oben nicht allein!«
»Ich muss, Avis! Mutter geht's nicht gut. Sie holen den Arzt. Lass los!« Idella löste Avis' Faust von ihrem Nachthemd. »Du bleibst hier.« Sie würde Avis nichts von dem Blut erzählen.
Sie kehrte auf den Flur zurück und spähte hinab. Niemand war da. Alle Stimmen kamen aus dem Schlafzimmer, und die Tür war geschlossen. Sie musste dort hinunter. Sie drängte sich ans Geländer, schlich die Treppe hinab und schlüpfte auf die schmale Bretterbank, die hinter den Ofen gezwängt war und auf der sie imWinter die Socken und Fäustlinge trockneten. Dort hinten war es dunkel. Niemand würde von der Bank oder Idella Notiz nehmen.
Sie presste die Knie und die Füße zusammen und starrte in die Küche oder was sie von ihr sehen konnte. Der Tisch war näher an den Ofen geschoben worden. Sie konnte das Abendessen vom Vortag sehen, Teller mit Eintopf, aufeinandergestapelt. Ein Teil des Brotlaibs lag noch dort, wo Dalton sich ein Stück abgebrochen hatte. Dads großes Messer war verschwunden.
Die Schlafzimmertür öffnete sich. Idella drängte sich weiter hinter den Ofen. »So etwas habe ich noch nie gesehen. « Es war Mrs. Pettigrew. »Sie war gesund wie ein Fisch im Wasser.«
»Ich habe gedacht, das Blut fließt einfach so aus ihr heraus. Es hat ein wenig nachgelassen.« Mrs. Doncaster stand dicht neben ihr an der Haustür. Sie hielt das Baby fest an sich geschmiegt und schien nicht einmal zu bemerken, dass sie es hatte.
»In Gottes Namen, ich hoffe, der Doktor kommt bald.« Mrs. Pettigrew öffnete die Tür und blickte in die Nacht hinaus. »Wir haben ihr die Pillen für die Nachgeburt gegeben, gegen den Schmerz, aber sie helfen nicht. Sie schreit nach mehr.Wir dürfen ihr doch nur so viel geben wie draufsteht.«
»Nein, ich glaube nicht...Der Doktor wird es wissen. Lass sie offen, Petty. Fred kommt gleich zurück.« Mrs. Pettigrew nickte, und beide Frauen traten in den offenen Türrahmen. »Die Luft tut gut«, sagte Mrs. Doncaster und seufzte. »Wird diese Nacht nie enden?«
»Diese Farbe.«Mrs. Pettigrew senkte die Stimme zu einem zischenden Flüstern. Idella spitzte die Ohren. »Ich hab noch nie jemanden mit einer solchen Farbe gesehen.«
»Schwarz, ich schwör's bei Gott.« Mrs. Doncaster senkte ebenfalls die Stimme. Die Frauen standen eineMinute schweigend da, starrten nach draußen.
Aus dem Schlafzimmer drang ein lauter Schrei.
»Mutter Gottes, ich versuche, Mrs. Jaegel zu helfen.« Mrs. Pettigrew hastete zurück ins Schlafzimmer.
Mr. Doncaster kam mit mehr Laken und einem weiteren großen Kessel herein. Mrs. Doncaster sah zu ihrem Ehemann und schüttelte den Kopf. »Füll den Kessel auf, und stell ihn auf den Herd. Wir brauchen sauberes Wasser. Dann bringst du den Säugling zu uns nach Hause. Sag Lilly, dass sie ein Auge auf ihn haben soll. Vielleicht schläft er jetzt noch eine Weile.« Sie stand da und hielt das Baby, bis Mr. Doncaster den zweiten Kessel auf den Ofen gehievt und eimerweise Wasser aus der Pumpe hineingegossen hatte, so wie Dad früher am Abend. Dann reichte sie ihm das eingewickelte Baby und brachte den Armvoll Laken ins Schlafzimmer. Mr. Doncaster trug das Baby aus dem Haus. Es war, als würde es von seinem rot karierten Hemd, an das er es drückte, verschluckt.
Die Frauen blieben lange bei Mutter im Schlafzimmer. Es wurde ruhig. Ab und an ging die Tür auf, und Mrs. Pettigrew oder Mrs. Doncaster schlüpften heraus, wobei sie die Tür mit einem sanften Klicken hinter sich zuzogen. Sie sahen dann nach dem Wasser auf dem Herd oder gingen zum Fenster und blickten auf die Straße, in der Hoffnung, der Doktor käme bald.
Die ganze Zeit, viele Stunden lang, saß Idella auf der Holzbank. Die raue Kante scheuerte ihr die Kniekehlen auf. Die Wärme des Feuers drängte gegen ihr Gesicht, als würde jemand auf ihre Wangen und die Stirn hauchen. Haarsträhnen klebten ihr an der Schläfe. Doch ihre nackten Füße waren kalt. Wenn sie sie an den Ofen schob, würde sie vielleicht jemand sehen. Sie legte einen auf den anderen und versuchte, sie warm zu reiben. Von ihrem Platz konnte sie aus dem Fenster blicken. Sie sah zwar die Straße nicht, über die der Arzt käme, doch sie konnte aufs Feld schauen.
Die Morgendämmerung setzt bald ein, dachte Idella. Das Licht hatte sich allmählich verändert. Der Morgennebel war von der Bucht her aufgezogen, schwebte grau vor den Fenstern. Wenn man über die Felder ging, wob er sich einem wie Rauch um die Füße. Mutter sagte, es sei, als ginge man durch Wolken, nur besser, weil man das Meer roch.
Idella war schon manchmal so früh wach gewesen. Es gab Tage, an denen sie und Avis und Mutter die Laternen für die Männer hochhielten, die die ganze Nacht fischen gewesen waren. Die Männer putzten dann den Fisch und legten ihn auf Kisten, damit er in der Sonne trocknete. Hering. Ein Teil wurde für den Winter aufbewahrt, ein anderer in Fässer gefüllt und eingelegt und an Menschen in der ganzenWelt verkauft. Idellas Arm schmerzte nach einer Weile, während sie versuchte, die Laterne genau richtig zu halten. Mutter sagte ihr, sie solle sich auf das Kommen und Gehen des Nebels konzentrieren, den Vögeln und den Geräuschen des Wassers in der Bucht lauschen. Das machte es ein wenig erträglicher, und Idella wusste, dass das, was sie taten, wichtig war, aber sie wünschte sich immer ins Bett zurück.
Ihr Rücken war fürchterlich müde. Es gab nichts, woran sie sich hätte anlehnen können. Sie wagte nicht, sich auf ihrem Platz auf der Bank zu rühren, nicht mal ein bisschen. Sie wusste, sie sollte das tun, was Mutter geraten hatte, sich auf den Nebel und den Anbruch des Tages konzentrieren. Vögel erwachten. Sie hörte die Kühe. Dalton war wohl draußen in der Scheune und kümmerte sich darum, dass sie gemolken wurden. Er war kein einziges Mal hereingekommen. Idella fragte sich, was er wusste.
Die Schlafzimmertür öffnete sich. Idella wich zurück. Mrs. Doncaster ging zur Treppe, blickte hinauf zum Zimmer der Mädchen und lauschte. Idella glaubte, dass sich die Tür oben schloss. Avis. Dann ging Mrs. Doncaster zum Fenster an der Tür. Sie stand lange dort. Idella konnte sie deutlich sehen. Mr. Doncaster kam ins Haus. Er legte den Arm um sie, und sie lehnte sich an ihn. So etwas hatte Idella noch nie zwischen den beiden gesehen. »Sie ist schrecklich schwach«, flüsterte Mrs. Doncaster, »so schrecklich schwach.«
»Das Baby schreit. Ich bin gekommen, um dich zu holen. Lilly weiß nicht, was sie noch tun soll.« Er strich ihr das Haar aus den Augen.
Sie nickte. »Die größte Hilfe bin ich ihr jetzt, wenn ich ihr Baby füttere.«Mr. Doncaster hielt sie weiter umarmt und half ihr aus der Tür.
Idella zitterte. Mrs. Doncaster würde nun Mutters Baby stillen. Es hatte noch keinen Namen. Niemand dachte auch nur daran, ihm einen Namen zu geben. Idella presste die Knie fester und immer fester aneinander, bis sie schmerzten. Sie begann, vor- und zurückzuschaukeln, umschlang den ganzen Körper mit den Armen.
Auf einmal kam Mr. Doncaster zurückgerannt. »Sie kommen! Sie reiten im vollen Galopp!« Idella zwang sich, ruhig dazusitzen. Mrs. Jaegel kam aus dem Schlafzimmer. Idella vernahm das Stöhnen ihrer Mutter, als sich die Tür öffnete. Sie hörte, wie Mrs. Jaegel eine Schüssel mit heißem Wasser füllte und zurückeilte.
Die Bank bebte unter Idella, als die Pferde näher kamen. »Lebt sie? Lebt sie noch?«, schrie Dad, als er herbeiritt.
»Ich nehme die Pferde, Bill!« Mr. Doncaster schrie ebenfalls.
Dad und der Arzt hasteten durch die Küche und ins Schlafzimmer, schlossen die Tür hinter sich. Sie klopften nicht einmal den Morast von ihren Stiefeln. Die gedämpften Stimmen der Männer waren leise und tief. Idella spitzte die Ohren. Manchmal vernahm sie Mrs. Pettigrews Stimme oder die von Mrs. Jaegel, aber nur selten.
Jemand kam aus dem Schlafzimmer. Es war der Doktor. Idella drückte sich in die Schatten. Er ging geradewegs zum Herd. Idella hörte seinen Atem, der vom Ritt noch stoßweise ging. Die Ofentür öffnete und schloss sich. Dann ging der Arzt so schnell, wie er gekommen war, zurück ins Schlafzimmer.
Idella saß auf der Bank, allein in der Küche, wagte lange Zeit nicht, sich zu bewegen. Sie beobachtete, wie es im Zimmer heller wurde. Es war jetzt Morgen. Avis musste wach sein, kam aus Angst wohl nicht herunter, lag bei angelehnter Tür dort oben, lauschte. Idella legte die Hände auf den Bauch. Sie hatte Hunger. Sie wünschte, sie könnte den Arm ausstrecken und sich ein Stück Brot vom Tisch angeln. Mutter hatte es erst gestern gebacken. Wie konnte sie hungrig sein, während etwas so Schlimmes passierte?
Plötzlich wurden die Stimmen lauter. »Emma! Emma!« Dad rief Mutters Namen. Da war ein Lärm, ein Knall, etwas Schweres krachte zu Boden. Aufruhr brach los. Dann wurde es mit einem Schlag still. Nicht einmal ein Flüstern war zu hören. Idella lauschte und lauschte, drückte den ganzen Körper nach unten, damit sie sich keinesfalls rührte, aber da war immer noch kein Geräusch.
Schließlich öffnete sich die Schlafzimmertür, und Mrs. Jaegel kam mit einer Schüssel heißem Wasser heraus, die sie in beiden Händen hielt. Dampf stieg noch davon in die Höhe. Wassertropfen rannen ihr das Gesicht hinab. Sie stand mitten im Zimmer und sagte leise, aber deutlich: »Sie ist fort.«
Mrs. Pettigrew kam hinter ihr her, schwankte wie eine Betrunkene. Sie streckte die Hand aus, um nicht zu stürzen, und brach auf einem Stuhl zusammen, warf den Kopf und die Arme auf die Knie. Sie weinte. Idella sah, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Idellas Mund war trocken, ihre Zunge dick und schwer. Alles klang, als käme es von weit her, als wäre der Nebel ins Haus gewabert und hätte es bis oben hin gefüllt.
»Diese Pillen.« Mrs. Jaegel ging langsam zum Tisch und stellte die Schüssel ab. Sie beugte sich über Mrs. Pettigrew und flüsterte: »Er hat die Pillen ins Feuer geworfen. Er hat Emma nur ganz kurz angeschaut, und dann hat er das Päckchen genommen und ist hier rausgegangen und hat alle ins Feuer geworfen. Das hast du doch auch gesehen.«
Mrs. Pettigrew setzte sich auf. »Denkst du...?«
»Er ist schnurstracks hergekommen und hat sie reingeworfen. «Mrs. Jaegel zeigte auf den Herd. »Sie war gesund wie ein Fisch im Wasser. Das weißt du. Das Baby ist mühelos rausgekommen. Dann haben wir ihr die Pillen gegen die Nachwehen gegeben. Und da haben die Probleme angefangen. Und sie wollte mehr.«
»Aber wir alle haben diese Pillen genommen.«
»Er hat Emma nur kurz angeschaut, und dann hat er die Pillen genommen und sie ins Feuer geworfen. Einfach so.« Mrs. Jaegel deutete eine rasche Wurfbewegung an.
Mrs. Pettigrew blickte zur geschlossenen Schlafzimmertür und dann zurück inMrs. Jaegels Gesicht, das wutverzerrt war. Sie wischte sich mit ihrem Rock die Augen. »Heilige Mutter Gottes. Hat Bill das gesehen?«
»Er hat nicht aufgepasst. Er hat an ihrem Bett gekniet, der arme Mann.«
»Wir sollten ihm nichts davon erzählen. Es würde sie nicht zurückbringen. Er würde ihn mit bloßen Händen umbringen. «
Dad kam aus dem Schlafzimmer. Die Frauen verstummten. Er stand im Türrahmen, starrte in den Raum. Dann durchquerte er die Küche und ging hinaus auf die Veranda. »Dieses Miststück! Dieses gottverdammte Miststück!« Dads Faust, sein Stiefel oder irgendetwas anderes schlug hart gegen die Hauswand. »Dieses gottverdammte Miststück!« Idella spürte die Erschütterung, während er wieder und wieder und wieder gegen den Verandapfosten trat.
»Er wird sich noch wehtun«, flüsterte Mrs. Pettigrew. »Er wird ein Fenster einschlagen.«
»Lass ihn«, sagte Mrs. Jaegel. »Lass den armen Mann.«
Fort. Das Wort dröhnte in Idellas Kopf. Fort, dachte sie.
Mutter war fort. Idella sackte auf der Bank zusammen. Die Schreie, die sie so lange zurückgehalten hatte, brachen aus ihr heraus.
»Heilige Mutter Gottes!« Mrs. Jaegel stand über ihr, versuchte, sie hochzuheben. »Komm, mein Kind. Komm da raus.« Idella klammerte sich an der Bank fest, ihre Finger krallten sich in die raueMaserung des Holzes. »Bring sie nach oben. Großer Gott, wirmüssen das Kind nach oben bringen!«
»Della, Liebling, Della, halt dich an mir fest. Lass dich von Mrs. Pettigrew hochnehmen.« Mrs. Pettigrew zerrte an ihr, zog an ihrem Nacken, packte sie an den Handgelenken.
»Was ist los?« Es war die Stimme des Doktors, dunkel und tief. »Armes Kind. Lasst mich helfen. Wie lang ist das Mädchen schon hier?«
»Wir haben sie eben erst gefunden. Sie hat sich versteckt.«
Idella spürte, wie die großenHände des Doktors ihre Schultern umfassten. Er hob sie hoch und nahm sie in die Arme, mit einer Kraft, der sie sich nicht widersetzen konnte. Er roch nach etwas Starkem und Verbranntem. »Nein!«, schrie Idella. »Nein, nein, nein! Loslassen!« Sie hieb mit den Fäusten auf seine Schultern ein.
»Das Kind ist hysterisch. Lasst mich ihr etwas zur Beruhigung geben.«
»Nein!« Idella tobte. Sie schlug um sich und versuchte zu entkommen. »Keine Pillen! Keine Pillen!«
»Ich nehme sie.« Es war Dad, der auf einmal vor ihnen stand. Idella streckte sich nach ihm und packte ihn und zog sich in seine Arme. Dad hob ihr Kinn an und sah auf sie herab. Sein Gesicht wirkte müde und schlaff und sonderbar. »Komm, Della, komm, setz dich zumir.« Er trug sie zu einem Küchenstuhl und setzte sie sich auf den Schoß. Er legte ihr die Hand auf den Hinterkopf und streichelte ihr übers Haar. Idella rieb das Gesicht an seinem roten Wollhemd, dem verschlissenen weichen Stoff. Sie packte das Hemd mit beiden Händen und riss es an sich. Es roch nach der Scheune, nach Heu und den Pferden.
»Na, na«, sagte Dad, und seineHand umfasste ihren ganzen Hinterkopf, sanft, als wäre es eine Teetasse, und drückte Idella vorsichtig an sich. »Sie ist an einem besseren Ort, Della.« Er flüsterte dieWorte. »DeineMutter ist an einem besseren Ort, weit weg von hier.«
»Ich will mit ihr mit«, schluchzte Idella.
»Ich auch«, flüsterte Dad. »Ich will auch mit ihr mit.«
Den restlichen Tag über wurden die Mädchen hierhin und dorthin geschickt, nach oben und nach unten gescheucht, dann wieder nach oben. Alle Menschen, insbesondere Mrs. Pettigrew und Mrs. Doncaster erklärten, was ihrer Ansicht nach das Beste für sie wäre. Die Mädchen gehorchten, saßen still da, aus dem Weg geräumt, auf Stühlen, gegen die Küchenwand geschoben, erlaubten Nachbarn, die nach und nach, während sich die Neuigkeit auf den Farmen herumsprach, bei ihnen auftauchten, dass sie ihnen die Wangen küssten, ihre Hände hielten, ihnen den Kopf tätschelten und ihr Beileid aussprachen. Man sagte ihnen, sie sollten tapfer sein und was ihre Mutter von ihnen gewollt oder nicht gewollt hätte. Außerdem sollten sie ihrem Dad eine Hilfe sein.
Die Mädchen nickten schüchtern zu allem und hielten die Augen starr auf die Schlafzimmertür geheftet, wo sich ein kleiner, dunkel gekleideter Mann namens Mr. Beeny um Mutter kümmerte. Er war am späten Nachmittag aus der Stadt gekommen, der Doktor hatte nach ihm geschickt. Er war allein auf einem schwarzen Wagen mit einer langen hölzernen Kiste auf der Ladefläche gekommen. Dad war aus der Haut gefahren, sobald sie abgeladen werden sollte. »Verdammt noch mal, ich wollte grüne Eiche. Nehmen Sie das verdammte Ding wieder mit, und bringen Sie mir das, was ich wollte. Ich lass nicht zu, dass sie in einem einfachen Kiefernsarg liegt.« Idella hörte die langsame, bedächtige Stimme des Bestatters, der mit Dad redete, und die Stimmen der anderen Männer, die sich um sie versammelten. Letzten Endes war Mr. Beeny hereingekommen, hatte den Frauen wortlos zugenickt und war geradewegs ins Schlafzimmer gegangen. Onkel Sam war auf Mr. Beenys Wagen davongefahren, hatte Dad versprochen, er werde ihm das bringen, was er wollte, was Emma verdiente. Idella beobachtete, wie Dads Bruder hoch oben auf dem Kutschbock davonfuhr. Er fuhr viel schneller mit dem Kiefernsarg davon, als der mit Mr. Beeny gekommen war.
Während der Bestatter mit Mutter dort drinnen war, fragte sich Idella die ganze Zeit über, was er wohl tat, was sich in der schwarzen Tasche befand und was es bedeutete, sie zu bestatten. Sie behielt die Tür im Auge, für den Fall, dass er Mutter fortschaffte.
Gegen Abend kam Mrs. Pettigrew. »Solch traurige, kleine Gesichter, solch arme, kleine Dinger. Kommt, meine Lieben, ich bring euch ins Bett. Ihr musstet mit anschauen, was kein Kind jemals sehen sollte.« Sie zog Idella und Avis auf die Beine und scheuchte sie die Treppe hinauf.
»Idella, du musst eine Kleinigkeit essen. Du weißt, deine Mama hätte gewollt, dass ihr Mädchen etwas esst.« Idella schüttelte entschlossen den Kopf und legte sich hin. Woher wusste sie, was Mutter gewollt hätte? Sie war nur eine Nachbarin, das war alles. Idella zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich darunter zusammen.
»Ich stelle dir etwas Maisbrot, das Mrs. Adams gebacken hat, genau hier auf die Kommode.« Mrs. Pettigrew klopfte ihr auf die Schulter, ihre Finger krallten sich wie ein Vogelfuß durch die Decke. »Della, Liebling, iss etwas. Du bist die Ältere. Du solltest deiner Schwester ein Vorbild sein.«
Idella schloss die Augen. Sie hatte das Geheimnis für sich behalten - dass der Doktor ihrer Mutter die falschen Pillen gegeben und dann ins Feuer geworfen hatte. Das Geheimnis hatte sich so fest in ihr zusammengeballt, dass es ihr vorkam, als hätte sie einen Stein verschluckt.
Avis weinte in der Ecke. Idella hörte ihren abgehackten, schniefenden Atem. Ich habe nicht die Kraft, sie zu trösten, dachte sie. Die habe ich einfach nicht. Sie spürte, wie ihr feuchter Atem unter der Decke auf ihr Gesicht zurückfiel. Mutter hatte zu atmen aufgehört. Idella blinzelte, spürte das weiche Kratzen ihrer Wimpern an der Decke, dann kniff sie die Augen zu. Gegen ihren Willen, obwohl sie alles sehen und hören wollte, fiel sie in einen langen und wirren Schlaf, der sie direkt in den nächsten Tag brachte.
Sie erwachte früh vom Lärm der Menschen, die in der Küche hantierten. Sie lag ruhig da, wusste nicht, wie sie einen solch schrecklichen Tag beginnen sollte. Mutter würde beerdigt werden. Idella hörte Schritte die Treppe heraufkommen. Mrs. Pettigrew steckte den Kopf herein.
»Meine Güte, Della, Liebes, wie lang bist du schon wach? Wir müssen dich anziehen. Die Leute werden bald kommen.« Wie benommen ließ Idella über sich ergehen, dass Mrs. Pettigrew an ihr herumzupfte und -zog, ihr das Haar kämmte und Zöpfe flocht. Idella wusste, dass sie ihr bestes Kleid anziehen musste. Ihr einziges Paar Schuhe musste genügen. Avis war nun auch wach und beobachtete sie schweigend vom Bett aus.
»Eigentlich solltest du richtig baden, aber dazu haben wir keine Zeit. Du gehst jetzt runter, Liebling, und frühstückst. Ich kümmere mich um deine Schwester.«
Langsam, verhalten, stieg Idella die Treppe hinab. Die Küche wirkte eigenartig und still. Körbe voller Essen bedeckten den Tisch. Die Nachbarsfrauen waren mit Mutter im Schlafzimmer, schlurften hin und her.
Idella stand vor der geschlossenen Tür und spähte durch das Schlüsselloch. Sie konnte Mutter auf dem Bett liegen sehen. Aber ihre Beine waren am falschen Ende. Ihr Kopf war an der Fußseite. Ihr langes Haar war über die Bettkante gekämmt und hing bis auf den Boden. Das war alles, was Idella sehen konnte, ihr kastanienbraunes Haar, das den Boden berührte, und ein bisschen von dem spitzenbesetzten Ärmel an der Bluse ihrer Mutter. Ihr Arm baumelte herab.
Idella klopfte sachte an die Tür. Mrs. Doncaster öffnete sie einen Spalt. »Oh, Della, Liebling, sie ist noch nicht fertig. Du kannst sie sehen, wenn sie ganz fertig ist. Wir warten auf deine Tante Francie, damit sie ihr die Haare macht. Und du holst dir jetzt etwas zu essen. Wenn es an der Zeit ist, wird dein Dad dich herbringen, damit du sie sehen kannst.« Dann ging die Tür sanft zu.
Allein in der Küche suchte sich Idella einen Stuhl aus, schob ihn gegen die Wand und setzte sich, die Hände im Schoß, abwartend. Dad kam leise herein. Ohne Idella zu bemerken, ging er in Mutters Vorratskammer, die von der Küche abging. Idella beobachtete, wie er langsam die Finger über die Oberflächen gleiten ließ, Dinge berührte.
Alles dort drinnen zeugte von Mutter: die Reihen der Gläser und Fässer, die guten Teetassen, die behutsam eingewickelt waren, das gebügelte und ordentlich gefaltete Tischtuch für den Sonntag. Mutters Honigtopf stand in einem der oberen Regale. Dad hatte ihn einem Mann abgekauft, der seine eigenen Bienen züchtete. »Wilder Kleehonig«, hatte Dad gesagt, als er ihn ihr gegeben hatte, und sie hatte gelacht, als hätte er einen Witz gemacht, und ihn umarmt. Mutter nahm manchmal einen ganzen Löffel voll Honig und leckte ihn langsam ab, während sie auf ihrem Stuhl am Fenster saß und hinaus aufs Feld blickte.
Jetzt starrte Dad lange aus dem Fenster in der Vorratskammer. Dann drehte er sich um und sah den Wäschekorb, der seit zwei Tagen dort stand, unberührt. Er blickte auf und bemerkte, dass Idella ihn beobachtete. Er kam auf sie zu und beugte sich zu ihr herab. »Hast du genügend Kleider?« Er sah so ernst und besorgt aus. »Habt ihr Mädchen genügend Kleider?« Idella nickte. Sie hätte zu allem ja gesagt, was er sie gefragt hätte. »Gut.«
Avis kam mit Mrs. Pettigrew herunter, angezogen, gekämmt und schweigend. Sie setzte sich neben Idella an die Wand.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
»Ich pass auf, wo ich hintrete.« Idella blickte nach vorne. »Komm weiter. Es ist schon bald Zeit zum Abendessen.«
»Wird Mutter noch viel runder?«
»Ich glaube, das geht gar nicht. Das Baby kommt jeden Augenblick.«
»Dann werde ich nicht länger das Baby sein«, sagte Avis.
»Du bist fast sechs. Du bist kein Baby mehr.«
Sie marschierten nebeneinanderher, schoben buschige Sträucher zurück, stiegen über Wurzeln und umgestürzte Bäume und matschige Pfützen, von denen der Geruch nach Frühling aufstieg, bis sie eine kleine Lichtung erreichten. Avis lehnte sich gegen einen großen, moosbedeckten Stein. Idella ging in die Hocke und suchte unter den raschelnden Pflanzenresten des Vorjahres nach grünen Trieben.
»Mutter hat gesagt, man soll am Rand von Lichtungen nach ihnen suchen.«
Avis rümpfte die Nase. »Irgendwas ist hier in der Nähe gestorben. Es stinkt.«
»Deine Füße. Du bist in was getreten.«
Avis hob den Fuß an die Nase und lachte. »Oh, stimmt. Willst du mal riechen?« Sie streckte das Bein in Idellas Richtung.
»Hör auf!« Idella ließ den Blick über die Lichtung schweifen, die fast vollständig von Himbeersträuchern bedeckt war. Sie ging am Rand entlang zu etwas, das zwischen den niedrigen Steinen wie ein Blaubeerbusch aussah. Da bemerkte sie die kleinen weißen Blüten. »Avis, da sind Maiblumen!«
Avis rannte ihr hinterher. »Wo? Wo sind welche?«
Beide Mädchen beugten sich über die kleine Stellemit Blumen, die wie winzige Motten zwischen den Rankgewächsen herumflatterten. »Mutter sagt, wenn sie etwas Sonne abkriegen, öffnen sie sich zum Maifeiertag. Jetzt sind sie zu, weil kein Licht da ist.« Sanft betastete Idella eine Blüte. »Ganz kleine weiße Dinger...«
Avis streckte sich, um einen Stängel abzubrechen. »Lass uns welche pflücken.«
»Nein!« Idella packte ihre Hand. »Sie würden verwelken. Wir holen sie morgen früh. Dann ist Maifeiertag.«
»Was, wenn sie fort sind?Was, wenn sie jemand pflückt?«
»Wer soll sie denn pflücken?« Idella stand auf. »Und tritt nicht drauf. Es sind nicht viele.«
»Wofür hältst du mich, für ein Pferd?«
»Manchmal schon.«
Avis lachte, hielt einen Fuß über die Blumen und streckte das Bein zur Seite. »Pssssss!«
»Avis!« Idella kicherte und hob ihren Rocksaum. Sie galoppierte voraus. »Oder vielleicht auch für einen Hornochsen!«
Avis prustete.Wenn sie über etwas lachte, platzte es einfach so aus ihr heraus. Dad nannte es »Nasenpupse«, und wenn er das sagte, prustete Avis noch lauter.
»Jetzt komm schon!«, rief Idella über die Schulter. »Das Abendessen, wir sind spät dran.«
Atemlos und lachend, sich gegenseitig zwickend und kneifend und mit Wörtern beschimpfend, die sie die Männer hatten benutzen hören - »verfluchte Scheiße«, »Armleuchter «, »verdammter Franzmann« -, tauchten die Mädchen triumphierend aus dem Wald auf. Der Himmel dehnte sich milchig weiß. Es dämmerte. Licht sickerte durch die Wolken, hinterließ sanfte graue Streifen und blauschwarze Kleckse. Die Mädchen hasteten weiter, um vor der Dunkelheit zu Hause zu sein. Sie fanden ihre zurückgelassenen Schuhe, die wie betrunkene Krähen an ihren Schnürsenkeln baumelten, und rannten über die flachen, kratzigen Felder zum Abendessen nach Hause.
»Wo zum Teufel habt ihr beide gesteckt?« Dad stand mitten in der Küche, groß und aufrecht wie eine Heugabel. Sie waren viel zu spät. »Noch fünf Minuten länger, und es würde kein Abendessen für euch zwei geben, verdammt noch mal.«
»Lass sie in Ruhe, Bill.« Mutter trug langsam die Teller zum Tisch. Siemusste sie weit vor sich halten, so groß war ihr Bauch. »Della, du deckst den Tisch zu Ende.«
Mutters Stimme klang erschöpft. Dad setzte sich an den Tisch. Dalton, mit zwölf der Älteste und der einzige Junge, saß bereits auf seinem Platz, starrte nach unten, obwohl nichts vor ihm stand. Niemand sagte etwas. Jeder spürte, dass es besser wäre zu schweigen. Immer noch schwer atmend vom Laufen, verteilte Idella die Teller und setzte sich auf ihren Stuhl. Mutter, die vor dem Ofen stand, drehte sich zu Dad um. »Bring bitte den Topf für mich zum Tisch, Bill.«
Dann ging sie in ihre Vorratskammer, eine kleine Nische, die vom Hauptraum abging, und kam mit Dads großem Messer zurück. »Hier ist dein verdammtes Messer.« Sie legte es vor ihn hin. »Und jetzt gib mir deinen Teller, Della - den von Avis auch.« Idella reichte Mutter die Teller, und diese schöpfte Eintopf erst auf den einen, dann auf den anderen und reichte sie zurück. Es war Hühncheneintopf mit Karotten und Kartoffeln. Das war etwas Besonderes, ein Huhn zu schlachten. »Und jetzt, Dalton, gib mir deinen.«
Dad schnappte sich den Teller, als er bei ihm ankam. »Ich arbeite den ganzen verfluchten Tag, reiße mir den Arsch auf und muss wie ein gottverdammter Hund warten? Du würdest diesen faulen Bastard füttern, bevor du mir einen Topf zum Pissen gibst.«
»Beruhig dich, du wirst schon nicht verhungern.« Am Abend musste es einen Streit gegeben haben. Mutter nahm Dad Daltons Teller ab und häufte Eintopf darauf. Idella fürchtete, dass ihr Zuspätkommen der Auslöser gewesen war.
»Jetzt reich mir deinen Teller, Bill.« Sie gab eine Schöpfkelle nach der anderen auf Dads Teller. »Du verdammter Spinner.«
Sie aßen schweigend. Die einzigen Geräusche waren Dads und Daltons Kauen und das Kratzen ihrer Gabeln auf den Tellern.
»Nun iss schon, Della«, sagte Mutter leise.
Idella spießte ein Stück Karotte auf. Sie konnte nie viel essen, wenn Dad schlechte Laune hatte. Dann versuchte sie sich völlig still zu verhalten.
»Wo zum Teufel seid ihr zwei gewesen?«
»Mach doch kein Fass auf, Bill.« Mutters Stimme war müde.
»Ich frag doch bloß, was in Herrgotts Namen sie gemacht haben, während wir hier gesessen und auf sie gewartet haben.« Dad wandte sich an Idella. »Wo seid ihr gewesen, Della?«
»Wir waren spazieren. Im Wald.« Je länger Dad sie ansah, desto mehr beschlich sie das Gefühl, weiterreden zu müssen. »Wir haben...Wir haben etwas gesucht.«
»Es ist ein Geheimnis«, sagte Avis, den Mund voll Eintopf, da sie nicht zu kauen gewagt hatte, seit Dad sie angesprochen hatte. »Es ist ein Geheimnis.«
»Ein Geheimnis?« Dad wandte sich an Avis. »Was für ein Geheimnis?« Idella war unsicher, ob Dad sie jetzt auf den Arm nahm, aber das vermochte sie nie genau zu sagen. Das war es, was es so schwierig machte. Avis gelang es besser als jedem anderen, ihn aus seiner schlechten Laune zu reißen. »Von wem habt ihr das Geheimnis?«
Mutter stand auf. »Lass sie in Ruhe, Bill. Wenn sie ein Geheimnis haben, lass es ihnen. Sie haben weiß Gott sonst nicht viel.« Sie ging zur Speisekammer und kam mit einem Laib Brot zurück.
Auf einmal veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie gab ein erschrockenes Geräusch von sich. Langsam legte sie das Brot ab, löste die Schürze, faltete sie und legte sie über den Stuhl. Sie blickte zu Dad, die Hand auf ihrem geschwollenen Bauch. »Bill, meine Fruchtblase ist geplatzt.« Sie drehte sich zu Idella um. »Della, Liebling, du und Avis beendet euer Abendessen und geht dann ins Bett. Das Baby wird bald kommen.« Idella nickte. Mutter ging ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Idella sah eine klare Pfütze an der Stelle, wo Mutter gerade noch gestanden hatte, und eine Tropfspur hinter ihr. Sie hatte ein Leck. Irgendwo in ihr drinnen musste ein Beutel mit Wasser gewesen sein, und der war gerade geplatzt. Dad stand auf, folgte Mutter ins Zimmer und schloss die Tür.
»Es dauert nichtmehr lange. Noch ein hungriges Maul, das gestopft werden muss.« Dalton streckte sich und nahm das Brot. Er riss sich ein großes Stück ab.
Dad kam aus dem Schlafzimmer. »Dalton, geh und hol Elsie. Sag ihr, das Baby kommt. Ich hole Mrs. Jaegel.« Ausnahmsweise rannte Dalton einmal, um einer Anordnung seines Vaters Folge zu leisten. Dad ging hinaus, um das Pferd vor den Wagen zu spannen und die Hebamme zu holen. Mrs. Jaegel wohnte ein Stück weiter die Straße hinauf.
Die Schwestern saßen am Tisch, wagten nicht, sich von ihren Stühlen zu rühren. Mrs. Doncaster, die auf der angrenzenden Farm lebte, kam mit Dalton zurückgerannt. In den Armen hatte sie Stoffreste und Laken. Die Säume von alten Kleidern und zerrissene Arbeitshemden waren vor ihrem breiten Oberkörper zusammengerafft. Sie sah aus, als würde sie die Kleidung zum Waschen tragen, doch Idella wusste, dass sie für das Baby waren. Fürs Fruchtwasser.
Mrs. Doncaster lächelte. »Gerade eben habe ich ein Baby zum Schlafen gebracht, und jetzt muss ich mich um das nächste kümmern.« Ihr Baby, Austin, war drei Monate alt. Mutter war mitten in der Nacht zu ihr hinübergegangen und hatte bei seiner Geburt geholfen.
Mrs. Doncaster sah die Pfütze, die Mutter auf dem Boden hinterlassen hatte. »Della, Süße, nimm den Lumpen hier und wisch das auf. Du bist ein großes Mädchen.« Sie warf einen Lappen auf den Boden und nahm den Rest des Bündels mit ins Schlafzimmer.
Das Fruchtwasser färbte den Lumpen blassgelb. Es war warm und roch süßlich.
»Wofür ist eigentlich das Wasser?«, fragte Avis, die immer noch am Tisch saß.
»Keine Ahnung.« Idella wischte die dünne Spur auf, die zum Schlafzimmer führte. »Vielleicht für das Baby, zum Trinken. «
»Es sieht aus wie Pipi.« Avis lachte. »Als würde es Pipi trinken. «
Mrs. Doncaster kam aus dem Schlafzimmer. »Wir werden um Mitternacht ein neues Baby haben.« Sie bückte sich und nahm Idella den Lappen aus der Hand. »Und jetzt esst euer Abendessen auf. Eure Mom wird beschäftigt sein. Vielleicht ist das die letzte anständige Mahlzeit, die ihr in nächster Zeit auf den Tisch bekommt, wenn ichmich in euremVater nicht täusche.« Sie legte alle benutzten Lappen in die blecherne Abwaschschüssel und rollte die Ärmel hoch.
»Ich kann kochen.« Idella setzte sich wieder an den Tisch. »Ich kann Parker House Rolls machen.«
»Was du nicht sagst.« Mrs. Doncaster war mit der Küchenpumpe beschäftigt. Sie füllte die Schüssel mit Wasser, schrubbte dann ihre Hände mit der Laugenseife.
»Ich werde im Juli acht. Ich bin jetzt schon mehr acht als sieben.«
»Aber du bist dürr wie ein Grashalm, also werdet ihr Mädchen jetzt das Abendessen aufessen.« Sie beobachteten, wie Mrs. Doncaster ihre Arme bis hoch zu den Ellbogen abschrubbte und dann im Schlafzimmer verschwand. Ihre muntere Stimme drang durch die geschlossene Tür.
Niemand bekam einen weiteren Bissen herunter. Es war einfach zu aufregend.
Der Wagen fuhr vor dem Haus vor. Dad kam herein, gefolgt von Mrs. Jaegel, einer kleinen, gedrungenen Frau. Sie hatte einen schwarzen Koffer bei sich, der dieselbe quadratische Form hatte wie sie, nur kleiner. Mrs. Jaeger ging geradewegs ins Schlafzimmer, wobei sie Mrs. Doncaster zunickte, die in die Küche zurückgekehrt war.
»Ihr geht's gut, Bill.« Mrs. Doncaster lächelte Dad zu.
»Du bist ein Geschenk des Himmels, Elsie.« Dad ging zum Tisch, nahm seinen Teller und aß seinen Eintopf im Stehen auf. »Das verfluchte Baby stört mich schon jetzt beim Essen. Und heute Nacht werde ich wahrscheinlich auch noch wenig Schlaf bekommen.« Er brach sich ein großes Stück Brot ab und eilte zur Tür. »Du weißt, wo ich zu finden bin.«
»Nicht so schnell, mein Lieber. Füll die Waschzuber und kümmere dich ums Feuer.Wenigstens ein bisschen Hilfe solltest du sein.«
»Na komm schon, Elsie, lass mich verflucht noch mal in die Scheune. Ihr Frauen kümmert euch doch am besten selber um alles.«
»Himmelherrgott, Bill, das ist jetzt das vierte Mal, und du bist immer noch zu nichts nütze.«
»Ich hab am Anfang meinen Teil beigetragen.« Beide lachten.
»Das zumindest ist dir gelungen. Und jetzt kümmere dich umsWasser, dann kannst du in die Scheune verschwinden.«
Dad kam mit dem großen Blechzuber zurück, den sie zum Baden benutzten, und einem Eimer, den sie zum Putzen der Böden hernahmen. Er stellte die Wanne auf den Ofen, legte Holz nach und schürte das Feuer. Dann ging er zur Pumpe am Spülbecken, füllte den Eimer und goss dasWasser in den Zuber, bis er fast voll war.
»Ihr Mädchen geht jetzt nach oben. Della, du bringst Avis ins Bett. Tu, was deine Mutter sonst tut. Kommt ja nicht wieder runter und stört die Frauen.« Ein spitzer Schrei drang aus dem Schlafzimmer. »Na los«, sagte Dad. »Raus!«
Wenn Dad einen Befehl gab, wurde nicht lange gezögert. Die Mädchen rannten die Treppe hinauf und in ihr Schlafzimmer. Sie hörten die Tür zuknallen, als Dad in die Scheune ging.
»Es tut weh, ein Baby zu kriegen.« Avis rollte sich mit angewinkelten Knien auf dem Bett von einer Seite zur anderen und stöhnte jämmerlich.
Idella setzte sich neben sie aufs Bett. »Hör auf, Avis.«
»Ich will zuhören.« Avis schlich aus dem Zimmer und kauerte sich auf dem oberen Treppenabsatz zusammen.
Da die Tür nun offen stand, konnte Idella hören, wie Mrs. Doncaster am Ofen herumhantierte. Auf einmal vernahm sie das rasche Klackern von Schritten. »Ich könnte schwören, ich hätte eine Maus gesehen.«Mrs. Doncaster stand unten an der Treppe. Avis huschte ins Zimmer und schloss die Tür.
»Wegen dir kriegen wir noch Ärger.«
Avis hüpfte ins Bett zurück.
»Komm her«, sagte Idella. »Ich bürste dir die Haare.«
Avis setzte sich still hin. Idella bürstete ihr die kastanienbraunen Haare, die denselben Farbton wie Mutters hatten.
»Ich habe eine Idee, wie wir es nennen könnten«, sagte Idella. »Wenn es ein Mädchen ist.«
»Wie meinst du das?«
»Mutter hat gesagt, dass ich vielleicht beim Aussuchen vom Namen helfen darf.« Avis drehte sich um und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an, wie immer, wenn sie wütend war. »Wenn es morgen geboren wird, am Maifeiertag... « Idella machte eine Pause und lächelte scheu. »Ich dachte, vielleicht...Daisy May! Wie May Day rückwärts.«
Avis kniff die Lippen zusammen, dass sich ihr Mund kräuselte. »Daisy May! Das ist bescheuert! Das klingt wie der Name einer Kuh.«
»Nun, wie würdest du es denn nennen?«
»Dumpfbacke!« Avis gackerte.
»Jetzt im Ernst. Und hör auf, das Stroh aus der Matratze zu zupfen.«
»Wenn es ein Mädchen ist«, fragte Avis, legte sich auf den Rücken und ließ die Beine über den Bettrand baumeln, »wird es dann hier bei uns schlafen?«
»Es bekommt kein eigenes Zimmer!«
»Drei in einem Zimmer.« Avis stöhnte. »Was auch immer es wird, ich finde, Dalton sollte seines mit ihm teilen.«
Idella kletterte ins Bett. Die Mädchen verstummten und lauschten auf die Geräusche von unten.
»Della«, fragte Avis, »denkst du, das Baby wird uns in die Quere kommen?«
»Wobei?«
»Dabei, ihr das Körbchen zu geben. Was, wenn sie es am Türknauf nicht bemerkt?«
»Sie wird es bemerken.« Idella drehte sich zum Fenster. »Das wird sie schon. Schlaf jetzt.«
Sie war müde. Avis wälzte sich unruhig hin und her und weckte sie, kurz bevor sie in den Schlaf glitt, mit ihrem Flüstern: »Schläfst du, Della?« Sie gab keine Antwort und tat so, als wäre sie bereits eingeschlafen. Und wenig später war sie es auch.
»Della! Wach auf!« Avis zerrte an ihr. »Es ist da! Ich hab das Baby schreien gehört. Ich war die ganze Zeit wach.« Avis rannte zur Tür und öffnete sie.
Idella erhob sich mit schweren Gliedern aus dem Bett und stellte sich hinter sie in den Türrahmen. Da war es! Ein dünner, schwacher Schrei, der kaum die Treppe heraufdrang.
»Es hört sich wie ein Lamm an. Bäääääh«, flüsterte Avis.
Die Schlafzimmertür im Erdgeschoss ging auf. »Ich sage Bill, dass er noch ein Mädchen hat.« Es war die Stimme von Mrs. Jaegel. »Er ist wahrscheinlich in der Scheune.«
»Hoffentlich ist er nüchtern«, sagte Mrs. Doncaster. »Er wollte einen Jungen. Geh, erzähl es ihm. Und Dalton auch, wenn du ihn siehst. Ein sonderbares Kind.«
Mrs. Doncaster kam mit einer Lampe zum unteren Treppenabsatz und blickte zu den beiden Mädchen hoch. »Ich hab mir schon gedacht, dass ich euch Frechdachse dort oben gehört habe. Kommt schon runter. Eure Mutter möchte, dass ihre Mädchen ihre neue Babyschwester kennenlernen. Beeilt euch, aber seid leise.«
»Welchen Tag haben wir heute, Mrs. Doncaster?«, fragte Idella. »Wann ist ihr Geburtstag?«
»Nun, das Baby ist am ersten Mai geboren, Della. Kurz nach Mitternacht.« Mrs. Doncaster hielt die Lampe hoch, während sie auf Zehenspitzen die Treppe hinabschlichen. Ihre Schatten glitten neben ihnen über die Wand. Mrs. Doncaster hielt mit einem mahnenden Finger an den Lippen inne.
»Eure Mutter ist sehr müde. Das Baby ist schnell gekommen, aber es hat ihrem Körper trotzdem viel abverlangt.«
Die Mädchen folgten Mrs. Doncaster ins Schlafzimmer. Die Lampe am Bett war zu einem sanften Flackern gedimmt. Mutter saß in die Kissen gelehnt da, das Haar hing ihr lose den Rücken herab. Sie hielt das Baby vor sich. Doch es war so eingewickelt, dass sie fast nichts von ihm sahen.
»Alle meine Mädchen. Zum ersten Mal zusammen.« Mutter lächelte. Man kann ihr Lächeln sehen, dachte Idella, egal wie trüb das Licht ist. Die Mädchen beugten sich, so weit es ging, über das Baby, um einen Blick darauf zu erhaschen. Seine winzigen Hände waren an Mutter gepresst. Sein Gesicht war verkniffen. »Sie sieht aus wie eine Walnuss«, sagte Idella.
»Oh, Della.« Mutter lächelte wieder. »Ich kann sie kaum lang genug wachhalten. Sie schläft den Schlaf der Neugeborenen. «
»Darf ich sie anfassen?« Idella konnte die Augen nicht von den winzigen Fingern lösen.
»Ihr könnt sie beide ganz vorsichtig anfassen. Ihr dürft nur nicht an mir herumdrücken, meine Süßen. Kommt nicht an meinen Bauch.«
Idella strich mit einem Finger über die Wange des Babys. Sie fühlte sich weich wie warme Butter an. Avis legte die Handfläche sanft auf den kleinen Kopf und zog sie dann schnell wieder zurück. »Er ist nass!«, sagte sie.
»Das stimmt.« Mutter umarmte sie, so gut es ihr gelang. »Und nun ist es höchste Zeit, dass alle zurück ins Bett gehen.«
Mrs. Doncaster trat vor. »Kommt schon, Mädchen, ich bring euch hoch.«
»Wo ist Bill?«, fragteMutter, alsMrs. Doncaster gerade die Tür schloss. »Elsie, hol Bill. Er sollte hier sein.«
»Mrs. Jaegel ist zu ihm gegangen, um ihm Bescheid zu geben, meine Liebe.« Siemachte eine Pause. »Bei dir dort unten alles in Ordnung?«
Mutter nickte. »Bin nur auf einmal so schrecklich müde.« Sie winkte ihnen matt mit der Hand und warf ihnen einen Kuss zu, lehnte sich dann ins Kissen zurück und schloss die Augen.
»Euer Vater...« Kopfschüttelnd scheuchte Mrs. Doncaster Avis und Idella die Treppe hinauf. Sie murmelte leise vor sich hin, während sie hinter ihnen herging, doch Idella konnte hören, was sie sagte. »Verdammter Narr, wenn er sich besoffen hat.« Sie beobachtete, wie die Mädchen ins Bett schlüpften. »Und jetzt will ich bis morgen früh keinen Pieps aus diesem Zimmer hören«, mahnte sie und schloss sanft die Schlafzimmertür.
Avis und Idella lagen da und starrten an die Decke. »Glaubst du, er ist betrunken?«, wollte Avis wissen.
»Schon möglich.«
»Glaubst du, es liegt daran, weil's ein Mädchen ist?«
»Vielleicht.«
»Vielleicht wollte er gar keine Babys mehr.«
»Zu spät. Es ist da.« Idella drehte sich zum Fenster und zog sich die Decke bis über die Schultern.
»Lass das.« Avis zog die Decke zurück. »Ich bin auch noch hier.«
Die Tür unten ging auf. Die Mädchen lauschten. Dad durchquerte die Küche. Die Schritte eines Mannes klingen anders, dachte Idella. Sie landen so schwer auf dem Fußboden.
»Er geht ins Schlafzimmer«, sagte Avis, die wieder flach dalag.
»Falls er betrunken ist, brüllt er zumindest nicht«, flüsterte Idella.
»Ich hoffe, er ist es nicht.« Avis strampelte die Decke beiseite. »Es sieht irgendwie komisch aus, findest du nicht?«
»Ich habe nicht viel vom Gesicht gesehen.« Idella hatten die Runzeln im Gesicht beunruhigt. Sie wusste, dass Babys manchmal nicht richtig herauskamen.
»Bist du müde?« Avis setzte sich auf.
»Vielleicht.« Idella rollte sich noch fester zusammen.
»Ich nicht«, sagte Avis. Aber sie legte sich hin, und schon bald hörte Idella die vertrauten Geräusche ihres langsamen gleichmäßigen Atems.
Idella konnte ihre Gedanken nicht zur Ruhe bringen, selbst als sie die Augen lange geschlossen hielt. Sie schlug sie auf und starrte aus dem Fenster. Die Bäume wiegten sich und machten leise Geräusche, die Äste waren jetzt mit winzigen Knospen übersät. Sie konnte förmlich spüren, wie voll das Haus war. Es war überladen mit Menschen. Und da war das neue Baby.
Es kam ihr vor, als wären bereits so viele Menschen in der Familie. Wozu noch mehr? »Man nimmt, was man kriegen kann«, hatte sie einmal Mutter zu Tante Francie sagen hören. Idella war nicht sicher, ob sie von Babys gesprochen hatten. Sie hatte den Satz irgendwann aufgeschnappt, und er war ihr im Gedächtnis hängen geblieben.
Ein anderes Mal erzählte Mutter Tante Francie, dass sie kaum über die Runden kamen und sich immer alles »zusammenkratzen « mussten. Idella fand das komisch. Sie überlegte, was sie alles zusammenkratzte: die Essensreste vom Geschirr, den Schmutz vom Boden, besonders wo der Dreck von den Männerstiefeln ganz fest angetrocknet war, die Kartoffeln aus dem Feld. Das war viel Geschabe und Gekratze. Es war, als würden die Reihen voller Kartoffeln nie aufhören. Und sie kratzten die Fische innen aus. Innereien nannten es die Männer. Dieses Kratzen erledigte sie nicht. Aber sie hielt die Laterne hoch, wenn die Männer es taten, nachdem sie im Morgengrauen vom Wasser zurückgekommen waren.
Oh, und sie hatte Mutter geholfen, die Tapete abzukratzen. Das war lustig gewesen. Sie hatten das Wasser richtig heiß gemacht und große Lappen genommen, richtig klitschnasse, und damit über die Wände in Mutters und Vaters Schlafzimmer gerieben. Dann hatten sie die neuen Tapeten angebracht. Wunderhübsche blaue Kornblumen überall an den Wänden. Mutter hatte die Tapete aus einem Katalog bestellt, und sie war mit dem Zug aus Portland geliefert worden, wo ihre Mutter aufgewachsen war. Dad sagte, er würde sich beim Einschlafen inmitten all der Blumen »wie eine gottverdammte Schildlaus« vorkommen. Idella hatte sich schlecht gefühlt, als er das gesagt hatte, aber Mutter hatte gelacht und gesagt, es wäre nicht die erste Blumenwiese, in der er geschlafen hätte.
Als Mutter damals gesagt hatte: »Idella, wir bekommen im Frühling ein Baby«, hatte Idella sie eine Weile angesehen und schließlich gefragt: »Weiß Dad davon?« - »O ja, Dad weiß es.« Mutter hatte auf ihre warmherzige Art gelacht. »Er ist mein Hahn, und ihr seid meine kleinen Küken.«
Mutter gab ihnen viele komische Namen, wenn sie glücklich war. Sie waren ihre süßen Zuckerschoten oder ihre Giftpilze oder ihre Feldmäuse. Sie gab ihnen solche Namen, jagte sie in der Küche herum und kitzelte sie. Avis drehte dann fast durch vor Kichern. Anschließend scheuchte Mutter sie meistens aus dem Haus. Sie stoben wie aufgeschreckte Bienen auseinander, bis Mutter sie wieder zu sich holte. »Kommt zurück, kommt zurück!«, rief sie dann über den Hof oder zum Heuboden hoch, wo sie sich manchmal versteckten. »Es ist Zeit, etwas Sinnvolles zu tun.« Und sie kamen. Gemeinsam machten sie sich daran, etwas aufzuräumen... oder eine Steppdecke zu flicken... oder die endlosen Bohnen zu enthülsen... oder zu schälen... oder etwas zusammenzukratzen.
Idella drehte das Gesicht ins Kissen und schlief ein.
Da war ein Geräusch. Idella konnte es hören, eigenartig, es drängte sich von außen in ihren Schlaf. Sie warf sich unruhig hin und her. Es ist das Baby, dachte sie, erinnerte sie sich. Das Baby weint. Aber es klang nicht nach einem Baby. Idella versteifte sich. Ein Schrei durchzuckte ihren ganzen Körper. Aber es war nicht ihr Schrei. Er kam von unten. »O Gott, der Schmerz! Der Schmerz! Er geht genau durch mich hindurch!« Es war Mutter.
Idella lauschte gebannt. Das Haus hatte sich verändert. Da waren Schritte, von Männern und Frauen. Draußen konnte sie Männerstimmen hören. Dad war da. Sie setzte sich auf und blickte aus dem Fenster. Es war immer noch Nacht, aber sie konnte Umrisse erkennen. Blackie war dort draußen, Dads Pferd. Es scheute, und jemand hielt es fest. »Wechsel sie bei Mulligans, Bill. Sie haben dort gute Pferde, und es ist auf halber Strecke.« Mit einer einzigen Bewegung schwang sich Dad auf Blackie und preschte los. Kein Wagen, nur das Pferd jagte die Straße hinab in die Dunkelheit.
»Della?« Avis flüsterte neben ihr. »Warum weint sie? Das Baby ist doch schon da.«
»Keine Ahnung, Avis. Dad ist gerade auf dem Pferd losgeritten. «
Idella ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Die Küchenlampen leuchteten hell. Sie hörte Mrs. Doncaster am Ofen. »Wir brauchen mehr Lappen. Fred, geh rüber ins Haus und hol mir mehr Lappen. Bring die Laken und Bettdecken, falls es nötig ist. Wir reißen sie auseinander. Die hier sind schon schwarz. Und bring unseren Kessel für sauberes Wasser. Ich bleibe hier, bis der Arzt kommt, und dann nehme ich das Baby.« Idella hörte Mr. Doncasters schwere Schritte verklingen, noch bevor Mrs.Doncaster ihren Satz beendet hatte.
Idella kroch in den Flur. Sie sah Mrs. Doncaster, die irgendetwas in demgroßenWaschzuber umrührte. Da waren hässliche dunkle Flecken an der Vorderseite ihres Kleides, auf ihremRock und an ihren Armen. Es war Blut. Schwarzes Blut kam aus Mutter, durchtränkte alle Lappen. Und Dad wollte mitten in der Nacht zwanzig Meilen reiten, um den Arzt zu holen.
Die Schlafzimmertür öffnete sich. Mrs. Pettigrew, die ganz in der Nähe wohnte, kam mit dem Baby heraus. »Du solltest dich jetzt lieber um sie kümmern, Elsie. Das arme Ding muss saugen. Ich übernehme hier. Gott helfe uns, dass wir diese Nacht überstehen.«
Mrs. Doncaster wischte sich mit ihrer Schürze Blut vom Arm. »Gib sie mir. Ich würde sie gleich mit nach Hause nehmen, aber ich will Emma nicht allein lassen.« Vorsichtig schob sie die Hand unter den Kopf des Babys. »Ist es schwächer geworden? «
»Kaum der Rede wert.« Mrs. Pettigrew ging zum Ofen und blickte in den dampfenden Kessel mit Stoffresten. »Großer Gott, wie schnell sie sich alle vollgesogen haben. Und der Schmerz will einfach nicht aufhören. Mitten aus dem Herzen, sagt sie, mitten durch sie hindurch.«
Idella lag flach auf dem Boden und drückte sich die Faust auf den Mund. Sie wollte Mutter. Sie wollte die Treppe hinablaufen und all die Menschen nach Hause schicken und sich um sie kümmern. Sie wollte, dass der Schmerz und das Bluten aufhörten. So viel Blut floss heraus, dass es alles schwarz färbte.
Ein spitzer Schrei drang aus dem Schlafzimmer. »Geh zu ihr rein, Petty, und tu, was du kannst.« Mrs. Doncaster hielt das Baby, wiegte es, hielt ihren rosafarbenen Finger an seinen Mundwinkel. Das Baby drehte sich zu ihr und begann zu saugen.
»Was ist los? Wer ist dort unten?« Avis flüsterte durch die angelehnte Tür.
Idella winkte Avis zurück ins Schlafzimmer und kroch dann hinter ihr hinein. »Mutter ist krank«, flüsterte sie und zog die Tür zu. »Ich gehe hinunter.«
»Du darfst nicht runter, Della. Das sollen wir nicht. Hat Dad gesagt.« Avis hielt Idella an ihrem Nachthemd zurück. »Und Mrs. Doncaster auch. Bitte, Della, geh nicht runter. Und lass mich hier oben nicht allein!«
»Ich muss, Avis! Mutter geht's nicht gut. Sie holen den Arzt. Lass los!« Idella löste Avis' Faust von ihrem Nachthemd. »Du bleibst hier.« Sie würde Avis nichts von dem Blut erzählen.
Sie kehrte auf den Flur zurück und spähte hinab. Niemand war da. Alle Stimmen kamen aus dem Schlafzimmer, und die Tür war geschlossen. Sie musste dort hinunter. Sie drängte sich ans Geländer, schlich die Treppe hinab und schlüpfte auf die schmale Bretterbank, die hinter den Ofen gezwängt war und auf der sie imWinter die Socken und Fäustlinge trockneten. Dort hinten war es dunkel. Niemand würde von der Bank oder Idella Notiz nehmen.
Sie presste die Knie und die Füße zusammen und starrte in die Küche oder was sie von ihr sehen konnte. Der Tisch war näher an den Ofen geschoben worden. Sie konnte das Abendessen vom Vortag sehen, Teller mit Eintopf, aufeinandergestapelt. Ein Teil des Brotlaibs lag noch dort, wo Dalton sich ein Stück abgebrochen hatte. Dads großes Messer war verschwunden.
Die Schlafzimmertür öffnete sich. Idella drängte sich weiter hinter den Ofen. »So etwas habe ich noch nie gesehen. « Es war Mrs. Pettigrew. »Sie war gesund wie ein Fisch im Wasser.«
»Ich habe gedacht, das Blut fließt einfach so aus ihr heraus. Es hat ein wenig nachgelassen.« Mrs. Doncaster stand dicht neben ihr an der Haustür. Sie hielt das Baby fest an sich geschmiegt und schien nicht einmal zu bemerken, dass sie es hatte.
»In Gottes Namen, ich hoffe, der Doktor kommt bald.« Mrs. Pettigrew öffnete die Tür und blickte in die Nacht hinaus. »Wir haben ihr die Pillen für die Nachgeburt gegeben, gegen den Schmerz, aber sie helfen nicht. Sie schreit nach mehr.Wir dürfen ihr doch nur so viel geben wie draufsteht.«
»Nein, ich glaube nicht...Der Doktor wird es wissen. Lass sie offen, Petty. Fred kommt gleich zurück.« Mrs. Pettigrew nickte, und beide Frauen traten in den offenen Türrahmen. »Die Luft tut gut«, sagte Mrs. Doncaster und seufzte. »Wird diese Nacht nie enden?«
»Diese Farbe.«Mrs. Pettigrew senkte die Stimme zu einem zischenden Flüstern. Idella spitzte die Ohren. »Ich hab noch nie jemanden mit einer solchen Farbe gesehen.«
»Schwarz, ich schwör's bei Gott.« Mrs. Doncaster senkte ebenfalls die Stimme. Die Frauen standen eineMinute schweigend da, starrten nach draußen.
Aus dem Schlafzimmer drang ein lauter Schrei.
»Mutter Gottes, ich versuche, Mrs. Jaegel zu helfen.« Mrs. Pettigrew hastete zurück ins Schlafzimmer.
Mr. Doncaster kam mit mehr Laken und einem weiteren großen Kessel herein. Mrs. Doncaster sah zu ihrem Ehemann und schüttelte den Kopf. »Füll den Kessel auf, und stell ihn auf den Herd. Wir brauchen sauberes Wasser. Dann bringst du den Säugling zu uns nach Hause. Sag Lilly, dass sie ein Auge auf ihn haben soll. Vielleicht schläft er jetzt noch eine Weile.« Sie stand da und hielt das Baby, bis Mr. Doncaster den zweiten Kessel auf den Ofen gehievt und eimerweise Wasser aus der Pumpe hineingegossen hatte, so wie Dad früher am Abend. Dann reichte sie ihm das eingewickelte Baby und brachte den Armvoll Laken ins Schlafzimmer. Mr. Doncaster trug das Baby aus dem Haus. Es war, als würde es von seinem rot karierten Hemd, an das er es drückte, verschluckt.
Die Frauen blieben lange bei Mutter im Schlafzimmer. Es wurde ruhig. Ab und an ging die Tür auf, und Mrs. Pettigrew oder Mrs. Doncaster schlüpften heraus, wobei sie die Tür mit einem sanften Klicken hinter sich zuzogen. Sie sahen dann nach dem Wasser auf dem Herd oder gingen zum Fenster und blickten auf die Straße, in der Hoffnung, der Doktor käme bald.
Die ganze Zeit, viele Stunden lang, saß Idella auf der Holzbank. Die raue Kante scheuerte ihr die Kniekehlen auf. Die Wärme des Feuers drängte gegen ihr Gesicht, als würde jemand auf ihre Wangen und die Stirn hauchen. Haarsträhnen klebten ihr an der Schläfe. Doch ihre nackten Füße waren kalt. Wenn sie sie an den Ofen schob, würde sie vielleicht jemand sehen. Sie legte einen auf den anderen und versuchte, sie warm zu reiben. Von ihrem Platz konnte sie aus dem Fenster blicken. Sie sah zwar die Straße nicht, über die der Arzt käme, doch sie konnte aufs Feld schauen.
Die Morgendämmerung setzt bald ein, dachte Idella. Das Licht hatte sich allmählich verändert. Der Morgennebel war von der Bucht her aufgezogen, schwebte grau vor den Fenstern. Wenn man über die Felder ging, wob er sich einem wie Rauch um die Füße. Mutter sagte, es sei, als ginge man durch Wolken, nur besser, weil man das Meer roch.
Idella war schon manchmal so früh wach gewesen. Es gab Tage, an denen sie und Avis und Mutter die Laternen für die Männer hochhielten, die die ganze Nacht fischen gewesen waren. Die Männer putzten dann den Fisch und legten ihn auf Kisten, damit er in der Sonne trocknete. Hering. Ein Teil wurde für den Winter aufbewahrt, ein anderer in Fässer gefüllt und eingelegt und an Menschen in der ganzenWelt verkauft. Idellas Arm schmerzte nach einer Weile, während sie versuchte, die Laterne genau richtig zu halten. Mutter sagte ihr, sie solle sich auf das Kommen und Gehen des Nebels konzentrieren, den Vögeln und den Geräuschen des Wassers in der Bucht lauschen. Das machte es ein wenig erträglicher, und Idella wusste, dass das, was sie taten, wichtig war, aber sie wünschte sich immer ins Bett zurück.
Ihr Rücken war fürchterlich müde. Es gab nichts, woran sie sich hätte anlehnen können. Sie wagte nicht, sich auf ihrem Platz auf der Bank zu rühren, nicht mal ein bisschen. Sie wusste, sie sollte das tun, was Mutter geraten hatte, sich auf den Nebel und den Anbruch des Tages konzentrieren. Vögel erwachten. Sie hörte die Kühe. Dalton war wohl draußen in der Scheune und kümmerte sich darum, dass sie gemolken wurden. Er war kein einziges Mal hereingekommen. Idella fragte sich, was er wusste.
Die Schlafzimmertür öffnete sich. Idella wich zurück. Mrs. Doncaster ging zur Treppe, blickte hinauf zum Zimmer der Mädchen und lauschte. Idella glaubte, dass sich die Tür oben schloss. Avis. Dann ging Mrs. Doncaster zum Fenster an der Tür. Sie stand lange dort. Idella konnte sie deutlich sehen. Mr. Doncaster kam ins Haus. Er legte den Arm um sie, und sie lehnte sich an ihn. So etwas hatte Idella noch nie zwischen den beiden gesehen. »Sie ist schrecklich schwach«, flüsterte Mrs. Doncaster, »so schrecklich schwach.«
»Das Baby schreit. Ich bin gekommen, um dich zu holen. Lilly weiß nicht, was sie noch tun soll.« Er strich ihr das Haar aus den Augen.
Sie nickte. »Die größte Hilfe bin ich ihr jetzt, wenn ich ihr Baby füttere.«Mr. Doncaster hielt sie weiter umarmt und half ihr aus der Tür.
Idella zitterte. Mrs. Doncaster würde nun Mutters Baby stillen. Es hatte noch keinen Namen. Niemand dachte auch nur daran, ihm einen Namen zu geben. Idella presste die Knie fester und immer fester aneinander, bis sie schmerzten. Sie begann, vor- und zurückzuschaukeln, umschlang den ganzen Körper mit den Armen.
Auf einmal kam Mr. Doncaster zurückgerannt. »Sie kommen! Sie reiten im vollen Galopp!« Idella zwang sich, ruhig dazusitzen. Mrs. Jaegel kam aus dem Schlafzimmer. Idella vernahm das Stöhnen ihrer Mutter, als sich die Tür öffnete. Sie hörte, wie Mrs. Jaegel eine Schüssel mit heißem Wasser füllte und zurückeilte.
Die Bank bebte unter Idella, als die Pferde näher kamen. »Lebt sie? Lebt sie noch?«, schrie Dad, als er herbeiritt.
»Ich nehme die Pferde, Bill!« Mr. Doncaster schrie ebenfalls.
Dad und der Arzt hasteten durch die Küche und ins Schlafzimmer, schlossen die Tür hinter sich. Sie klopften nicht einmal den Morast von ihren Stiefeln. Die gedämpften Stimmen der Männer waren leise und tief. Idella spitzte die Ohren. Manchmal vernahm sie Mrs. Pettigrews Stimme oder die von Mrs. Jaegel, aber nur selten.
Jemand kam aus dem Schlafzimmer. Es war der Doktor. Idella drückte sich in die Schatten. Er ging geradewegs zum Herd. Idella hörte seinen Atem, der vom Ritt noch stoßweise ging. Die Ofentür öffnete und schloss sich. Dann ging der Arzt so schnell, wie er gekommen war, zurück ins Schlafzimmer.
Idella saß auf der Bank, allein in der Küche, wagte lange Zeit nicht, sich zu bewegen. Sie beobachtete, wie es im Zimmer heller wurde. Es war jetzt Morgen. Avis musste wach sein, kam aus Angst wohl nicht herunter, lag bei angelehnter Tür dort oben, lauschte. Idella legte die Hände auf den Bauch. Sie hatte Hunger. Sie wünschte, sie könnte den Arm ausstrecken und sich ein Stück Brot vom Tisch angeln. Mutter hatte es erst gestern gebacken. Wie konnte sie hungrig sein, während etwas so Schlimmes passierte?
Plötzlich wurden die Stimmen lauter. »Emma! Emma!« Dad rief Mutters Namen. Da war ein Lärm, ein Knall, etwas Schweres krachte zu Boden. Aufruhr brach los. Dann wurde es mit einem Schlag still. Nicht einmal ein Flüstern war zu hören. Idella lauschte und lauschte, drückte den ganzen Körper nach unten, damit sie sich keinesfalls rührte, aber da war immer noch kein Geräusch.
Schließlich öffnete sich die Schlafzimmertür, und Mrs. Jaegel kam mit einer Schüssel heißem Wasser heraus, die sie in beiden Händen hielt. Dampf stieg noch davon in die Höhe. Wassertropfen rannen ihr das Gesicht hinab. Sie stand mitten im Zimmer und sagte leise, aber deutlich: »Sie ist fort.«
Mrs. Pettigrew kam hinter ihr her, schwankte wie eine Betrunkene. Sie streckte die Hand aus, um nicht zu stürzen, und brach auf einem Stuhl zusammen, warf den Kopf und die Arme auf die Knie. Sie weinte. Idella sah, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Idellas Mund war trocken, ihre Zunge dick und schwer. Alles klang, als käme es von weit her, als wäre der Nebel ins Haus gewabert und hätte es bis oben hin gefüllt.
»Diese Pillen.« Mrs. Jaegel ging langsam zum Tisch und stellte die Schüssel ab. Sie beugte sich über Mrs. Pettigrew und flüsterte: »Er hat die Pillen ins Feuer geworfen. Er hat Emma nur ganz kurz angeschaut, und dann hat er das Päckchen genommen und ist hier rausgegangen und hat alle ins Feuer geworfen. Das hast du doch auch gesehen.«
Mrs. Pettigrew setzte sich auf. »Denkst du...?«
»Er ist schnurstracks hergekommen und hat sie reingeworfen. «Mrs. Jaegel zeigte auf den Herd. »Sie war gesund wie ein Fisch im Wasser. Das weißt du. Das Baby ist mühelos rausgekommen. Dann haben wir ihr die Pillen gegen die Nachwehen gegeben. Und da haben die Probleme angefangen. Und sie wollte mehr.«
»Aber wir alle haben diese Pillen genommen.«
»Er hat Emma nur kurz angeschaut, und dann hat er die Pillen genommen und sie ins Feuer geworfen. Einfach so.« Mrs. Jaegel deutete eine rasche Wurfbewegung an.
Mrs. Pettigrew blickte zur geschlossenen Schlafzimmertür und dann zurück inMrs. Jaegels Gesicht, das wutverzerrt war. Sie wischte sich mit ihrem Rock die Augen. »Heilige Mutter Gottes. Hat Bill das gesehen?«
»Er hat nicht aufgepasst. Er hat an ihrem Bett gekniet, der arme Mann.«
»Wir sollten ihm nichts davon erzählen. Es würde sie nicht zurückbringen. Er würde ihn mit bloßen Händen umbringen. «
Dad kam aus dem Schlafzimmer. Die Frauen verstummten. Er stand im Türrahmen, starrte in den Raum. Dann durchquerte er die Küche und ging hinaus auf die Veranda. »Dieses Miststück! Dieses gottverdammte Miststück!« Dads Faust, sein Stiefel oder irgendetwas anderes schlug hart gegen die Hauswand. »Dieses gottverdammte Miststück!« Idella spürte die Erschütterung, während er wieder und wieder und wieder gegen den Verandapfosten trat.
»Er wird sich noch wehtun«, flüsterte Mrs. Pettigrew. »Er wird ein Fenster einschlagen.«
»Lass ihn«, sagte Mrs. Jaegel. »Lass den armen Mann.«
Fort. Das Wort dröhnte in Idellas Kopf. Fort, dachte sie.
Mutter war fort. Idella sackte auf der Bank zusammen. Die Schreie, die sie so lange zurückgehalten hatte, brachen aus ihr heraus.
»Heilige Mutter Gottes!« Mrs. Jaegel stand über ihr, versuchte, sie hochzuheben. »Komm, mein Kind. Komm da raus.« Idella klammerte sich an der Bank fest, ihre Finger krallten sich in die raueMaserung des Holzes. »Bring sie nach oben. Großer Gott, wirmüssen das Kind nach oben bringen!«
»Della, Liebling, Della, halt dich an mir fest. Lass dich von Mrs. Pettigrew hochnehmen.« Mrs. Pettigrew zerrte an ihr, zog an ihrem Nacken, packte sie an den Handgelenken.
»Was ist los?« Es war die Stimme des Doktors, dunkel und tief. »Armes Kind. Lasst mich helfen. Wie lang ist das Mädchen schon hier?«
»Wir haben sie eben erst gefunden. Sie hat sich versteckt.«
Idella spürte, wie die großenHände des Doktors ihre Schultern umfassten. Er hob sie hoch und nahm sie in die Arme, mit einer Kraft, der sie sich nicht widersetzen konnte. Er roch nach etwas Starkem und Verbranntem. »Nein!«, schrie Idella. »Nein, nein, nein! Loslassen!« Sie hieb mit den Fäusten auf seine Schultern ein.
»Das Kind ist hysterisch. Lasst mich ihr etwas zur Beruhigung geben.«
»Nein!« Idella tobte. Sie schlug um sich und versuchte zu entkommen. »Keine Pillen! Keine Pillen!«
»Ich nehme sie.« Es war Dad, der auf einmal vor ihnen stand. Idella streckte sich nach ihm und packte ihn und zog sich in seine Arme. Dad hob ihr Kinn an und sah auf sie herab. Sein Gesicht wirkte müde und schlaff und sonderbar. »Komm, Della, komm, setz dich zumir.« Er trug sie zu einem Küchenstuhl und setzte sie sich auf den Schoß. Er legte ihr die Hand auf den Hinterkopf und streichelte ihr übers Haar. Idella rieb das Gesicht an seinem roten Wollhemd, dem verschlissenen weichen Stoff. Sie packte das Hemd mit beiden Händen und riss es an sich. Es roch nach der Scheune, nach Heu und den Pferden.
»Na, na«, sagte Dad, und seineHand umfasste ihren ganzen Hinterkopf, sanft, als wäre es eine Teetasse, und drückte Idella vorsichtig an sich. »Sie ist an einem besseren Ort, Della.« Er flüsterte dieWorte. »DeineMutter ist an einem besseren Ort, weit weg von hier.«
»Ich will mit ihr mit«, schluchzte Idella.
»Ich auch«, flüsterte Dad. »Ich will auch mit ihr mit.«
Den restlichen Tag über wurden die Mädchen hierhin und dorthin geschickt, nach oben und nach unten gescheucht, dann wieder nach oben. Alle Menschen, insbesondere Mrs. Pettigrew und Mrs. Doncaster erklärten, was ihrer Ansicht nach das Beste für sie wäre. Die Mädchen gehorchten, saßen still da, aus dem Weg geräumt, auf Stühlen, gegen die Küchenwand geschoben, erlaubten Nachbarn, die nach und nach, während sich die Neuigkeit auf den Farmen herumsprach, bei ihnen auftauchten, dass sie ihnen die Wangen küssten, ihre Hände hielten, ihnen den Kopf tätschelten und ihr Beileid aussprachen. Man sagte ihnen, sie sollten tapfer sein und was ihre Mutter von ihnen gewollt oder nicht gewollt hätte. Außerdem sollten sie ihrem Dad eine Hilfe sein.
Die Mädchen nickten schüchtern zu allem und hielten die Augen starr auf die Schlafzimmertür geheftet, wo sich ein kleiner, dunkel gekleideter Mann namens Mr. Beeny um Mutter kümmerte. Er war am späten Nachmittag aus der Stadt gekommen, der Doktor hatte nach ihm geschickt. Er war allein auf einem schwarzen Wagen mit einer langen hölzernen Kiste auf der Ladefläche gekommen. Dad war aus der Haut gefahren, sobald sie abgeladen werden sollte. »Verdammt noch mal, ich wollte grüne Eiche. Nehmen Sie das verdammte Ding wieder mit, und bringen Sie mir das, was ich wollte. Ich lass nicht zu, dass sie in einem einfachen Kiefernsarg liegt.« Idella hörte die langsame, bedächtige Stimme des Bestatters, der mit Dad redete, und die Stimmen der anderen Männer, die sich um sie versammelten. Letzten Endes war Mr. Beeny hereingekommen, hatte den Frauen wortlos zugenickt und war geradewegs ins Schlafzimmer gegangen. Onkel Sam war auf Mr. Beenys Wagen davongefahren, hatte Dad versprochen, er werde ihm das bringen, was er wollte, was Emma verdiente. Idella beobachtete, wie Dads Bruder hoch oben auf dem Kutschbock davonfuhr. Er fuhr viel schneller mit dem Kiefernsarg davon, als der mit Mr. Beeny gekommen war.
Während der Bestatter mit Mutter dort drinnen war, fragte sich Idella die ganze Zeit über, was er wohl tat, was sich in der schwarzen Tasche befand und was es bedeutete, sie zu bestatten. Sie behielt die Tür im Auge, für den Fall, dass er Mutter fortschaffte.
Gegen Abend kam Mrs. Pettigrew. »Solch traurige, kleine Gesichter, solch arme, kleine Dinger. Kommt, meine Lieben, ich bring euch ins Bett. Ihr musstet mit anschauen, was kein Kind jemals sehen sollte.« Sie zog Idella und Avis auf die Beine und scheuchte sie die Treppe hinauf.
»Idella, du musst eine Kleinigkeit essen. Du weißt, deine Mama hätte gewollt, dass ihr Mädchen etwas esst.« Idella schüttelte entschlossen den Kopf und legte sich hin. Woher wusste sie, was Mutter gewollt hätte? Sie war nur eine Nachbarin, das war alles. Idella zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich darunter zusammen.
»Ich stelle dir etwas Maisbrot, das Mrs. Adams gebacken hat, genau hier auf die Kommode.« Mrs. Pettigrew klopfte ihr auf die Schulter, ihre Finger krallten sich wie ein Vogelfuß durch die Decke. »Della, Liebling, iss etwas. Du bist die Ältere. Du solltest deiner Schwester ein Vorbild sein.«
Idella schloss die Augen. Sie hatte das Geheimnis für sich behalten - dass der Doktor ihrer Mutter die falschen Pillen gegeben und dann ins Feuer geworfen hatte. Das Geheimnis hatte sich so fest in ihr zusammengeballt, dass es ihr vorkam, als hätte sie einen Stein verschluckt.
Avis weinte in der Ecke. Idella hörte ihren abgehackten, schniefenden Atem. Ich habe nicht die Kraft, sie zu trösten, dachte sie. Die habe ich einfach nicht. Sie spürte, wie ihr feuchter Atem unter der Decke auf ihr Gesicht zurückfiel. Mutter hatte zu atmen aufgehört. Idella blinzelte, spürte das weiche Kratzen ihrer Wimpern an der Decke, dann kniff sie die Augen zu. Gegen ihren Willen, obwohl sie alles sehen und hören wollte, fiel sie in einen langen und wirren Schlaf, der sie direkt in den nächsten Tag brachte.
Sie erwachte früh vom Lärm der Menschen, die in der Küche hantierten. Sie lag ruhig da, wusste nicht, wie sie einen solch schrecklichen Tag beginnen sollte. Mutter würde beerdigt werden. Idella hörte Schritte die Treppe heraufkommen. Mrs. Pettigrew steckte den Kopf herein.
»Meine Güte, Della, Liebes, wie lang bist du schon wach? Wir müssen dich anziehen. Die Leute werden bald kommen.« Wie benommen ließ Idella über sich ergehen, dass Mrs. Pettigrew an ihr herumzupfte und -zog, ihr das Haar kämmte und Zöpfe flocht. Idella wusste, dass sie ihr bestes Kleid anziehen musste. Ihr einziges Paar Schuhe musste genügen. Avis war nun auch wach und beobachtete sie schweigend vom Bett aus.
»Eigentlich solltest du richtig baden, aber dazu haben wir keine Zeit. Du gehst jetzt runter, Liebling, und frühstückst. Ich kümmere mich um deine Schwester.«
Langsam, verhalten, stieg Idella die Treppe hinab. Die Küche wirkte eigenartig und still. Körbe voller Essen bedeckten den Tisch. Die Nachbarsfrauen waren mit Mutter im Schlafzimmer, schlurften hin und her.
Idella stand vor der geschlossenen Tür und spähte durch das Schlüsselloch. Sie konnte Mutter auf dem Bett liegen sehen. Aber ihre Beine waren am falschen Ende. Ihr Kopf war an der Fußseite. Ihr langes Haar war über die Bettkante gekämmt und hing bis auf den Boden. Das war alles, was Idella sehen konnte, ihr kastanienbraunes Haar, das den Boden berührte, und ein bisschen von dem spitzenbesetzten Ärmel an der Bluse ihrer Mutter. Ihr Arm baumelte herab.
Idella klopfte sachte an die Tür. Mrs. Doncaster öffnete sie einen Spalt. »Oh, Della, Liebling, sie ist noch nicht fertig. Du kannst sie sehen, wenn sie ganz fertig ist. Wir warten auf deine Tante Francie, damit sie ihr die Haare macht. Und du holst dir jetzt etwas zu essen. Wenn es an der Zeit ist, wird dein Dad dich herbringen, damit du sie sehen kannst.« Dann ging die Tür sanft zu.
Allein in der Küche suchte sich Idella einen Stuhl aus, schob ihn gegen die Wand und setzte sich, die Hände im Schoß, abwartend. Dad kam leise herein. Ohne Idella zu bemerken, ging er in Mutters Vorratskammer, die von der Küche abging. Idella beobachtete, wie er langsam die Finger über die Oberflächen gleiten ließ, Dinge berührte.
Alles dort drinnen zeugte von Mutter: die Reihen der Gläser und Fässer, die guten Teetassen, die behutsam eingewickelt waren, das gebügelte und ordentlich gefaltete Tischtuch für den Sonntag. Mutters Honigtopf stand in einem der oberen Regale. Dad hatte ihn einem Mann abgekauft, der seine eigenen Bienen züchtete. »Wilder Kleehonig«, hatte Dad gesagt, als er ihn ihr gegeben hatte, und sie hatte gelacht, als hätte er einen Witz gemacht, und ihn umarmt. Mutter nahm manchmal einen ganzen Löffel voll Honig und leckte ihn langsam ab, während sie auf ihrem Stuhl am Fenster saß und hinaus aufs Feld blickte.
Jetzt starrte Dad lange aus dem Fenster in der Vorratskammer. Dann drehte er sich um und sah den Wäschekorb, der seit zwei Tagen dort stand, unberührt. Er blickte auf und bemerkte, dass Idella ihn beobachtete. Er kam auf sie zu und beugte sich zu ihr herab. »Hast du genügend Kleider?« Er sah so ernst und besorgt aus. »Habt ihr Mädchen genügend Kleider?« Idella nickte. Sie hätte zu allem ja gesagt, was er sie gefragt hätte. »Gut.«
Avis kam mit Mrs. Pettigrew herunter, angezogen, gekämmt und schweigend. Sie setzte sich neben Idella an die Wand.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
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Autoren-Porträt von Beverly Jensen
Beverly Jensen wurde in Westbrook, Maine, geboren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, studierte sie Schauspiel an der Southern Methodist University. Zwischen 1986 und 2003 schrieb sie mit Hingabe an den Hummerschwestern, während sie gemeinsam mit ihrem Mann Jay ihre beiden Kinder großzog und halbtags in einem Büro in New York City arbeitete. Als Beverly Jensen im Alter von neunundvierzig an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb, hatte sie noch kein Wort ihres Textes publiziert. Es waren ihre Familie und einige begeisterte Unterstützer, die »Die Hummerschwestern« schließlich als Buch veröffentlichten. Und die so dazu beitrugen, dass Beverly Jensen nach ihrem Tod der literarische Ruhm zuteil wurde, der ihr schon zu Lebzeiten gebührt hätte.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beverly Jensen
- 2013, 480 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Brammertz, Beate
- Übersetzer: Beate Brammertz
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442744032
- ISBN-13: 9783442744039
- Erscheinungsdatum: 08.05.2013
Rezension zu „Die Hummerschwestern “
»Man stößt vielleicht zwei-, dreimal in einem Jahrzehnt auf ein Buch, das so gut ist, dass man es wildfremden Menschen auf der Straße unter die Nase halten und sagen will: Lesen Sie das!«
Pressezitat
»Die Hummerschwestern werden Ihr Herz erobern!« Elizabeth Strout
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