Mannel, B: Insel des Mondes
Roman. Originalausgabe
Madagaskar, 1880: Nach dem dramatischen Ende ihrer Ehe wagt die junge Paula auf der Vanilleplantage ihrer Großmutter einen Neuanfang. Als sie zusammen mit drei Männern den gefährlichen Weg durch den Dschungel antritt,...
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Produktinformationen zu „Mannel, B: Insel des Mondes “
Madagaskar, 1880: Nach dem dramatischen Ende ihrer Ehe wagt die junge Paula auf der Vanilleplantage ihrer Großmutter einen Neuanfang. Als sie zusammen mit drei Männern den gefährlichen Weg durch den Dschungel antritt, ahnt sie noch nicht, wie sehr sich ihr Leben verändern wird.
Klappentext zu „Mannel, B: Insel des Mondes “
Auf der geheimnisvollen Insel Madagaskar wartet ein schicksalhaftes VermächtnisMadagaskar 1880: Nach dem dramatischen Ende ihrer Ehe wagt die junge Paula auf der entlegenen Insel den Neubeginn. Auf der Vanilleplantage ihrer Großmutter Mathilde will sie deren Rezepte weiterentwickeln und den großen Traum vom einzigartigen Parfüm verwirklichen. Als Paula zusammen mit drei Männern den gefährlichen Weg durch den Dschungel antritt, ahnt sie noch nicht, wie sehr sich ihr Leben verändern wird. Und dann beschwört ihre Ankunft auf der verlassenen Plantage dunkle Geister der Vergangenheit herauf, die Paula in ein tödliches Spiel zwingen. Ein Spiel, das sie allein mit einem magischen Duft gewinnen kann, einem Duft, der nicht nur ihre Seele rettet, sondern auch ihr verwundetes Herz.
Lese-Probe zu „Mannel, B: Insel des Mondes “
Die Insel des Mondes von Beatrix Mannel1
Angelica
Angelica Archangelica, Engelwurzel, das Öl der Wurzel ist von sehr würzigem Geruch, brennend erwärmendem Geschmack und dient besonders zur Liqueurfabrikation, das Öl der Samen ist wegen seines feinen, moschusartigen Geruchs für Parfümeriezwecke sehr geschätzt.
Es war schon öfter vorgekommen, dass Paula nicht wusste, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte, aber nun war sie an einem Punkt angelangt, an dem sie einfach nicht mehr weiter konnte.
Ihre Beine zitterten immer noch, während sie auf das braune Schlammloch starrte, dem sie nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte entkommen war. Abgelenkt von den üppigen weißen Orchideenblüten, die sich um einen toten Baumstamm wanden wie Würgeschlangen um ihr Opfer, war sie in den zähen Morast gestürzt, der sie beinahe verschlungen hätte.
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Wenn ich das hier überstanden habe, werde ich stärker sein als zuvor, versuchte sie sich schwer atmend zu beruhigen. Ja, das wirst du sicher, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf, die Paula immer dann mit Kommentaren belästigte, wenn sie sie am wenigsten gebrauchen konnte. Und wenn du es weiter so übertreibst, wisperte die Stimme unnachgiebig, dann wirst du nicht nur so stark wie ein Gorilla sein, sondern auch so behaart. Paula lächelte unwillkürlich und versuchte sich zusammenzunehmen. Deine Entscheidung, dein Leben, murmelte sie vor sich hin. Sie wischte ihre schlammigen Hände an den Seiten ihres langen Kakirocks ab, dessen Kauf sie ständig bereute. Sie musste sich Hosen nähen lassen, alles andere war in diesem Urwald nur hinderlich. Erschöpft lehnte sie sich gegen einen der von Termiten zerbröselten Baumstämme. Schweißtropfen hinterließen kleine saubere Rinnen auf dem Weg von der Stirn zu ihrem Kinn, und ihr Atem beruhigte sich langsam. Sie wandte den Blick nach vorn, aber von ihren Reisegefährten war keiner mehr zu sehen, gerade so, als ob der Regenwald sie verschlungen hätte. Ich könnte hier stehen bleiben, dachte sie, und ich würde mit der Zeit vermodern wie alles hier, würde eins werden mit der Natur. Und wenn du nicht bald weitergehst, dann wird auch genau das passieren, mahnte ihre innere Stimme. Doch Paula war müde, es hatte sie ihre letzte Kraft gekostet, sich aus dem Morast zu befreien. Leider war trotz aller Anstrengungen ihr linker Wanderschuh mitsamt dem dazugehörigen Strumpf in dem Morast versunken. Sie betrachtete ihren nackten Fuß, der im Zwielicht des Regenwaldes blass schimmerte und schon von Fliegen umkreist wurde. Ein Windstoß durchdrang ihre nass geschwitzte Leinenbluse und brachte sie zum Frösteln.
Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie neben ihrer Ledertasche über der Schulter trug. Ich muss zu den anderen aufschließen, ich muss weiter.
Seufzend schnallte sie den Tropenhelm fester, der sich bei ihrem Sturz gelockert hatte, dann bückte sie sich, um die Mücken mit der Hand wegzuwedeln. Selbst dieses bisschen Bewegung fiel ihr unsäglich schwer, als ob der Schlamm ihr das Mark aus den Knochen gesaugt hätte. Ein schwarzer Schleier aus Selbstmitleid legte sich über ihr Gemüt. Unwillkürlich schüttelte sie sich. Dieses Gefühl wollte sie hinter sich lassen, sie hatte sich entschieden, sie hatte einen Plan. Paula stand auf und schleppte sich vorwärts. In diesem Augenblick spürte sie an ihrem feuchten Rücken eine flüchtige Berührung, nur einen Hauch. Neugierig drehte sie sich um.
Eine Wolke von Schmetterlingen, groß wie Kolibris, umflatterte sie vollkommen geräuschlos. Blau leuchteten die Flügel im Halbdunkel des Dschungels, taubenblau wie der Himmel an einem Sommertag in den Alpen, lilablau wie Lavendelfelder, und einige waren genauso blau wie die Flakons, die sie von ihrer Großmutter Mathilde geerbt hatte. Lapislazuliblau. Die seidigen Flügel wirbelten um sie herum, fächelten ihr Luft zu, die plötzlich nicht mehr nur nach Moder und Verwesung roch, sondern auch noch mit einer anderen Nuance gewürzt zu sein schien. Die blaue Wolke formierte sich ständig neu, changierte hin und her und schwebte dann langsam davon. Paula versuchte zu ergründen, was für ein Duft das war, den die blauen Schmetterlinge verströmt hatten, dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, es war Mut, dachte sie. So roch Mut.
Sie richtete sich auf, unterdrückte ein Stöhnen und setzte sich in Bewegung. Ihr unterer Rücken und das rechte Knie schmerzten von dem Sturz in das Schlammloch. Das vergeht wieder, sagte sie sich, das vergeht, dieser Schmerz ist bedeutungslos gegen das, was du hinter dir gelassen hast, das hier ist nur körperlicher Schmerz. Das hier ist ehrlich. Der Regenwald gibt nicht vor, etwas zu sein, das er nicht ist. Hier erwarten dich Nässe, Verwesung und Insekten, aber auch pure Schönheit.
Ihr nackter Fuß versank im Schlamm, was sich unerwartet weich anfühlte. Irgendetwas kitzelte sie nur für einen Moment, und fast gleichzeitig spürte sie einen Schmerz wie von einem Wespenstich, und bevor sie ihren Fuß herausziehen konnte, gleich noch einen und einen weiteren.
Es waren Blutegel, Noria hatte sie gewarnt, in diesem Teil von Madagaskar lauerten sie überall in den tiefen schlammigen Pfützen und Tümpeln, und Noria hatte ihnen gesagt, dass man die Egel nicht abreißen durfte, sondern warten musste, bis sie von selbst abfielen.
Paula suchte nach einem Baumstamm, der stabil genug war, ihren schmalen Körper zu tragen, humpelte dorthin, setzte sich und versuchte dann doch einen Blutegel abzuziehen. Aber sie waren gierig und hatten sich schon so festgesaugt, dass Paula es in ihrem geschwächten Zustand nicht schaffte. Resigniert beschloss sie zu warten, bis die Blutegel satt waren. Allerdings konnte das eine Weile dauern, und sie begann zu hoffen, dass ihre Reisegefährten ihr Verschwinden bald bemerken und umkehren würden.
Sie musste sich in Geduld üben. »Mora-Mora.« Seufzend wiederholte sie Norias Lieblingsausspruch: Mora-Mora, langsam, langsam. Aber Geduld war nicht ihre Stärke, war es noch nie gewesen. Immer wieder hatte sie ihre Mutter und später ihren Ehemann deshalb gegen sich aufgebracht. »Einer jungen Dame steht Ungeduld so gut zu Gesicht wie Lippenrot oder Flüche«, war eine der unzähligen Weisheiten, die ihre Mutter nicht müde wurde, ihrer Tochter zu predigen. »Eine junge Dame wartet, bis sie gefragt wird, bis sie aufgefordert wird, bis man geruht, sie zur Kenntnis zu nehmen.«
Und dieses Prinzip hatte besonders für Paulas Geburtstage gegolten, nicht aber für die Geburtstage ihrer Brüder. Nur bei ihr wurde zunächst so getan, als hätte man ihn vergessen. Erst dann, wenn es Paula gelungen war, sich zu beherrschen und nicht den mindesten Unmut zu zeigen, gab es ein Geschenk, das leider oft auch nur eine Enttäuschung war, die sie ebenfalls verbergen musste. Spitzentaschentücher statt des heiß ersehnten Romans Der Graf von Monte Christo oder weiße Glacéhandschuhe statt der gewünschten Reitstunden.
Nur einmal war alles ganz anders gewesen, und zwar an dem Tag, an dem sie die blauen Flakons zum ersten Mal gesehen hatte. Schon beim allerersten Betrachten der Flakons hatte Paula an Lapislazuli gedacht, denn ihre Mutter besaß ein Collier aus diesen Steinen, das ihr der Vater von einer Geschäftsreise an den Baikalsee mitgebracht hatte. Doch ihre Mutter trug die Kette nie, weil sie Granat- und Jettschmuck im Stil der von ihr bewunderten Königin Victoria bevorzugte.
Paula aber liebte das Blau dieser Steine und legte sich die Kette immer heimlich um, wenn sie mit ihrem älteren Bruder Johannes-Karl die Liebesgeschichte von Kaiser Wilhelm I. und der Fürstin Elisa Radziwill nachspielte.
Der Tag, den Paula später nur noch ihren Lapislazuli-Tag nannte, hatte damit begonnen, dass Paulas störrisches dunkles Haar gescheitelt, zu langen Zöpfen geflochten und zum ersten Mal am Hinterkopf aufgesteckt worden war. Ihre Mutter hatte das Ankleiden an diesem Tag persönlich überwacht und sich vergewissert, dass der Körper ihrer Tochter korrekt in ihr erstes mit Fischbein versteiftes Leibchen gezwängt wurde. Dazu bekam Paula einen hellgrünen Rock mit eingewebten dunkelgrünen Rosenknospen, er war aus dem gleichen Stoff wie der Rock ihrer Mutter, der aber noch mit unzähligen beigen Spitzenvolants und schwarzen Samtschleifen geschmückt war. Und natürlich wurde er über eine Turnüre drapiert. Beide trugen dazu enge Baumwollbatistblusen mit hohem Stehkragen, die ihrer Mutter war allerdings an den Handgelenken offen und mit zahlreichen Bordüren verziert. Neben den sehr weiblichen Formen ihrer Mutter war sich die magere Paula wie ein hässlicher Blaustrumpf vorgekommen, und daran hatte sich nie mehr etwas geändert, nicht einmal nach ihrer Hochzeit. Aber an diesem Morgen war sie noch drei Jahre von einer Eheschließung entfernt gewesen und hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, wie bald sich ihr Leben ändern sollte.
Es war der 6. Juni 1872, ihr vierzehnter Geburtstag. Ihr Vater hatte sie feucht, aber liebevoll auf die Wangen geküsst, sie dabei mit seinem Kaiser-Wilhelm-Bart gekitzelt und ihr gratuliert.
Damals hatten sie noch in der großen Villa in Schwabing gelebt, wo Paulas Geschenk im Speisezimmer auf dem Buffet aus dunkler Eiche aufgebaut worden war. Drei leere blaue Glasflakons mit silbernen Verschlüssen standen da und wirkten auf Paula geheimnisvoll und gleichzeitig seltsam schlicht, in dem ansonsten völlig überladenen Zimmer, in dem jeder Zentimeter verziert war mit Bordüren, Quasten, Fransen, Schleifchen, Teppichen und Deckchen.
»Hier ist nun also dein Geschenk«, hatte ihr Vater gutmütig gebrummt, auf die Flakons gezeigt und sie so endlich von ihrer Ungeduld erlöst. Neben den Flakons lag ein dickes Buch mit einem fleckigen, gepolsterten Ledereinband. Endlich einmal ein Buch zum Geburtstag!
»Das alles ist von deiner Großmutter Mathilde«, ergänzte ihre Mutter, die das Buch und dann die Flakons betrachtete, als wären sie mit einer ansteckenden Seuche behaftet.
Paula hatte bisher noch nie auch nur ein Sterbenswort über diese Großmutter gehört. Sie kannte lediglich Großmutter Josefa, die Mutter ihres Vaters, eine verbitterte Frau, die sie nicht mochte und die oberhalb des Königssees einen großen Bauernhof mit Milchkühen bewirtschaftete. Ganz allein, da der Großvater kurz nach der Geburt von Paulas Vater verschwunden war. Zusammen mit ihrem älteren Bruder Johannes-Karl und dem jüngeren Gustav musste Paula jedes Jahr im August für vier Wochen dorthin.
Und nun gab es da also eine weitere Großmutter. Paula hatte damals nicht gewusst, was sie davon halten sollte. Womöglich war diese Großmutter noch strenger und humorloser als Josefa.
Nachdenklich hatte sie ihren Blick in die schimmernden Flakons versenkt und sich gefragt, was wohl Josefas Erbe gewesen wäre. Eine Milchkanne, ein Butterfass oder ein Brottuch mit einem in Kreuzstich gestickten Bibelspruch vielleicht, jedenfalls ganz sicher nicht so etwas Unnützes. Denn praktisch sahen diese Glasbehälter nicht aus. Paula war näher an sie herangetreten. Nutzlos mochten sie vielleicht sein, aber sie waren auch wunderschön. Jedem der leeren Flakons entströmte ein Duft, ganz andere Aromen, als in diesem Haus sonst erlaubt waren. Ihre Mutter duldete nicht einmal Rosenöl, dessen Süße sie für orientalisch und deshalb verwerflich erachtete.
Paula lächelte vor sich hin. Damals hatte sie überhaupt nicht verstanden, warum etwas Orientalisches verwerflich sein sollte. Bis zu diesem besonderen Tag war Paula deshalb nur mit den zarten Blütendüften von Reseda, Veilchen und Lavendel vertraut gewesen.
»Und wo lebt diese Großmutter Mathilde?«, hatte sie gefragt, ohne ihren Blick von den blauen Flakons zu wenden. »Warum haben wir sie noch nie besucht?«
»Großmutter Mathilde ist schon vor langer Zeit verstorben, niemand weiß genau, wo oder wann.« Ihre Mutter klang so, als sei das eine Schande, die man ihr angetan hätte, um sie zu kränken. Ihr Vater mischte sich ein, zwirbelte seine linke Bartspitze und lächelte Paula freundlich zu. »Aber vor sechs Jahren erreichte uns ihr Nachlass.«
Paula hatte sich verwundert zu ihrer Mutter umgedreht. »Warum erbe ich das, Mama?«
Ihre Mutter zuckte so heftig mit den Achseln, dass die Volants ihrer weiten Ärmel in Unordnung gerieten. Paulas Vater trat näher zu ihr, legte besänftigend die Hand auf die Schulter seiner Frau Florence und erklärte Paula, das Erbe von Mathilde sei nur an sie weitergegangen, weil ihre Mutter es nicht wollte. Er streichelte Florence über den Rücken. »Liebes, Mathilde ist tot, du musst endlich Frieden mit ihr schließen.«
Paulas Mutter versteifte sich unter seiner Berührung, entwand sich ihm und rang sich dann ein Lächeln ab. »Ludwig, mein lieber Mann, du hast natürlich recht, wie so oft. Also, Paula-Viktoria, lass uns das Unvermeidliche hinter uns bringen. Deine Großmutter Mathilde war eine Deutsche aus dem Elsass, die sich aus unstillbarer Abenteuerlust mit dem französischen Maler Copalle verheiratet hat, um mit ihm nach Madagaskar zu gehen. Sie ist schuld daran, dass ich bei verwilderten Piraten aufwachsen musste und erst sehr spät all das gelernt habe, was einem jungen Mädchen ansteht und was es von der Welt wissen sollte. Du kannst von Glück sagen, dass du eine Mutter hast, die sich nicht die mindesten Versäumnisse in Bezug auf ihre Tochter vorzuwerfen hat.« Jetzt tupfte sich ihre Mutter mit ihrem bestickten Spitzentaschentuch die Lider, als würde sie weinen, aber ihre Augen waren trocken. Paula glaubte zu hören, dass ihre Mutter dabei etwas vor sich hin murmelte, und es klang wie »... und von ihrem Hang zu Skandalen gar nicht erst zu reden.
Verblüfft betrachtete Paula ihre Mutter, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. Skandale! Bei Piraten aufgewachsen! Das war ja viel romantischer als der Roman Sturmhöhe, den sie gerade heimlich nachts verschlungen hatte. Nichts an ihrer völlig korrekten Mutter verriet auch nur eine Spur dieser Abenteuer.
Und Paula spürte, dass ihre Mutter nicht gewillt war, über ihr früheres Leben zu reden.
»Kurzum, deine Großmutter war ein ganz und gar unmöglicher Mensch. Und wenn dein Vater nicht darauf bestanden hätte, dann müssten wir heute auch nicht über sie sprechen.« Sie wies mit einer wütenden Handbewegung auf die Flakons. »Ich hätte alles dem Feuer übergeben!«
»Es ist nicht gut, seine Wurzeln zu durchtrennen, ganz egal, was für welche es auch sein mögen. Man kann sie nicht leugnen, es ist, wie es ist«, brummte ihr Ehemann und machte sich daran, eine Pfeife anzuzünden, obwohl ihm das weitere Klagen seiner Gattin einbringen würde.
Paula wurde an diesem Tag zwar erst vierzehn Jahre alt, aber sie konnte spüren, dass ihr Vater mit den Wurzeln nicht Großmutter Mathilde meinte, sondern von seinem eigenen verschollenen Vater sprach. Als sie sah, wie nervös ihr Vater an seiner Pfeife zog, erkannte sie plötzlich, wie viel Macht ihre Mutter aufgrund seiner Herkunft über ihn hatte. Er lebte mit der Schande, keinen Vater zu haben. Und nur für sie, für seine Tochter, hatte er es auf sich genommen, sich dem Zorn seiner Frau auszusetzen.
Paula starrte auf die bräunlich-schwarzen Egel, die sich mit ihrem Blut füllten und nun schon auf Männerdaumengröße angeschwollen waren. Allerdings waren sie immer noch kleiner als die Daumen ihres Vaters, der sehr große Hände gehabt hatte.
Es tat ihr heute noch leid, dass sie damals nicht ihrem Gefühl gefolgt war und sich in seine Arme geworfen hatte, um ihn irgendwie zu trösten und ihm zu danken. Aber derlei Gefühlsäußerungen waren in ihrer Familie nicht üblich, vor allem dann nicht, wenn ihre Mutter in der Nähe war. Florence war eine Meisterin der Selbstbeherrschung.
Wenn ich nur gewusst hätte, dass es mein letzter Geburtstag mit ihm sein würde, dachte Paula und seufzte, dann hätte ich es sicher getan. Und wieder einmal kam es ihr so vor, als wäre ihr Leben bisher nicht viel mehr als eine einzige Aneinanderreihung von »wenn« und »würde« und »hätte«.
Doch jetzt war sie in Madagaskar, um das zu ändern. Und dass sie hier war, verdankte sie ihrem Vater, der dafür gesorgt hatte, dass sie Mathildes Vermächtnis erhielt.
Damals hätte sich Paula am liebsten sofort in Mathildes Buch vertieft, aber ihre Mutter hatte andere Pläne für ihren Geburtstag gehabt, und so hatte sie ihre Ungeduld bis spät abends zügeln müssen.
Dann hatte sie sich heimlich eine Kerze angezündet, die Flakons ganz nach vorn auf ihre Kommode geräumt und die Glaswände ausgeleuchtet, um sicherzugehen, dass ihr auch nicht das kleinste Detail entging. Tatsächlich hatte sie in den Flakons, die wie Lapislazuli schimmerten, eine bräunliche Kruste mit goldfarbenen Splittern entdeckt, glitzernd wie Kandiszucker. Danach hatte sie vorsichtig eine der Ballonpumpen in die Hand genommen, es war ein hellgrauer kleiner Gummiball, der mit Quasten aus silberfarbener Seide überzogen war. Mit klopfendem Herzen hatte sie darauf gedrückt und vor lauter Spannung die Luft angehalten. Sie wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte, eine Art von Verzauberung, etwas Magisches. Doch die Ballonpumpe gab nur einen peinlichen Laut von sich, der ihre Brüder entzückt hätte, das war alles. Deshalb hatte sie die Flakons aufgeschraubt und dann an jedem einzelnen Zerstäuber geschnuppert, und es war ihr so vorgekommen, als ob die drei Flakons alle gleich merkwürdig gerochen hätten. Damals hatte sie noch keine Worte für Düfte gehabt.
Ein bisschen enttäuscht hatte sie nach dem ledergebundenen Buch ihrer Großmutter gegriffen, den dicken, fleckigen Einband aus weichem rotem Saffianleder betastet. Ihr gefiel der Gedanke, dass ihre Großmutter es auch schon in ihren Händen gehalten hatte. Das rote Leder war nicht nur fleckig, es roch auch ein bisschen salzig und so, als ob es lange der Feuchtigkeit ausgesetzt worden wäre. Voller Spannung hatte sie den Deckel aufgeklappt.
Mathildes elegantes Kabinett der Wohlgerüche Vorzügliche Nachrichten aus der Welt der Düfte Strasbourg, den 7. Februar 1817
stand da in einer kühn geschwungenen Handschrift auf dem Vorsatzblatt. Sie schlug die Seite um und wünschte sich inständig, der Titel wäre nur die Tarnung für das Tagebuch ihrer Großmutter.
Die Gewichte aller Länder im Vergleich zu den Kilogrammen bei uns in Frankreich:
Abessinien: 1 Rottel zu 12 Wakihs zu zehn Drachmen 0,311 Entspricht 0,337 Kilogramm Afghanistan: 1 Mahn zu 4 Oka zu 1 000 Miskal Entspricht 4,18 Kilogramm Ägypten: 1 Cantaro forfono 36 Oka oder 100 Rottoli zu 144 Drachmen = 44,5-50,0; 1 Oka zu 400 Drachmen Entspricht 1,236 Kilogramm
Es folgten Argentinische Republik, China, Dänemark, Griechenland, Haiti, Japan, Kreta, Liberia, Montenegro, Ostindien, Paraguay, Persisches Reich, Russland, Siam, Tripolis, das Osmanische Reich, Tunis und Uruguay. Auf der nächsten Seite wurden die Hohlmaße der Länder im Vergleich zum Liter abgehandelt, und so enttäuscht Paula auch über diese Sachinformationen war, so sehr versetzten sie allein die Namen der Länder in Aufregung, sie hatte weder von Abessinien noch von Uruguay jemals gehört. Am liebsten hätte sie gleich das ganze Buch durchgelesen, aber dann entschied sie, es nicht zu tun. Vielmehr wollte sie mit all diesen Namen im Kopf ins Bett gehen und von ihnen träumen. Sie hatte beschlossen, am nächsten Morgen herauszufinden, wo diese Länder lagen und was sie mit Parfüm zu tun hatten.
Paula bemerkte jetzt mit Genugtuung, dass der erste Blutegel schon abgefallen war und die anderen auch kurz davor waren. Diese kleine Zwangspause hatte ihr gutgetan, sie fühlte sich nicht mehr so schwach wie vorhin, geradeso, als ob die Blutegel die Zweifel an ihrem Vorhaben mit ausgesogen hätten.
Das laute Knacken von zerberstendem Holz unter schweren Schritten ließ sie zusammenzucken. Hatten die Reisegefährten ihr Ausbleiben doch endlich bemerkt! Sie vermutete, dass man Morten Wahlström geschickt hatte, den norwegischen Missionar, denn er war der älteste und freundlichste der drei Männer.
»Paula, wo in Allerherrgottsnamen stecken Sie? Was für ein Spiel soll das sein?« Und dann leiser: »Verdammte Weibsbilder. « Das war nicht Morten, das war die Stimme von Henri Villeneuve. Ausgerechnet. Die Männer schienen darum gewürfelt haben, wer zurückgehen musste, anders war sein Auftauchen nicht zu erklären. Er hielt sie für eine durch und durch lächerliche Person und sie ihn für einen ungehobelten Klotz. Sie setzte sich aufrechter hin und wappnete sich gegen weitere Unverschämtheiten. Sie wollte ruhig bleiben, konnte es dann aber doch nicht lassen, seine Worte aufzunehmen.
»Hallo, Villeneuve, schön, dass Sie kommen, auch wenn Sie sich in dem verdammten Weibsbild täuschen. Ich spiele nämlich keinesfalls, sondern ich sitze hier und warte darauf, dass man mir ein Tässchen heiße Schokolade serviert. Danke für Ihren Besuch. Nehmen Sie doch Platz!«
In diesem Moment stand Villeneuve vor ihr und starrte auf ihren nackten Fuß, von dem gerade noch ein Blutegel abfiel. »Was zum Teufel?« Sein Blick glitt von ihrem Fuß zu dem morastigen Rock und dann weiter nach oben, bis er kopfschüttelnd an ihrem Gesicht hängen blieb.
Was fiel ihm ein, sie so anzustarren! Für ihn als Arzt war das vielleicht das normalste der Welt - aber nicht für sie. Sie dachte daran, dass ihre Mutter sicher vor Scham im Schlamm versunken wäre, und genau das gab Paula dann die Kraft, weiterzusprechen. »Ich wollte ein Bad nehmen ...«, versuchte sie einen Scherz, doch das Blut schoss ihr in den Kopf, und sie war froh um das Dämmerlicht im Dschungel. Dieser Mann brachte immer wieder ihre lächerlichsten Seiten zum Vorschein. Es wunderte sie wirklich, dass man nicht Morten abkommandiert hatte, um sie zu suchen, denn der war überaus kräftig und außerdem durchdrungen vom allerchristlichsten Gedanken der Nächstenliebe - einer Idee, die Villeneuve und seinem Assistenten Lázló Kalasz fremd zu sein schien. Auch Noria, die einzige andere Frau in ihrer Reisegruppe, die Paula auf Nosy Be als Übersetzerin angeheuert hatte, kam ihr manchmal merkwürdig gefühllos vor.
»Wir müssen weiter.« Villeneuve bückte sich zu ihrem nackten Fuß und zog den letzten Blutegel mit einer einzigen zielsicheren und gleichzeitig derart gelangweilten Bewegung ab, dass Paula sich wie eine Närrin vorkam. Vorhin war es unmöglich gewesen, den Egel abzuziehen, versicherte sie sich selbst.
Villeneuve stand immer noch dicht vor ihr und schüttelte den Kopf so heftig, dass sein Tropenhelm hin und her rutschte.
»Ich hoffe, Sie haben noch ein paar Ersatzschuhe in Ihren zahlreichen Gepäckstücken. So können Sie nicht herumlaufen, oder wollen Sie ganz Madagaskar mit Ihrem Blut versorgen? «
»Lassen Sie mein Blut meine Sorge sein.« Was redest du da für einen Unsinn, dachte Paula und beeilte sich hinzuzufügen: »Ich bin selbstverständlich mit allem bestens ausgestattet. «
Sie stand auf, schob ihn etwas zur Seite und ging hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei, immer bemüht, so zu tun, als würde sie nicht humpeln. Er folgte ihr. »Nun, das will ich hoffen, schließlich setzen Sie ja vier Extraträger in Lohn und Brot. Wie viele Abendroben haben Sie eigentlich dabei?«
Was fiel diesem Villeneuve nur ein? Ständig kritisierte er sie, er war schlimmer als ihre Mutter und Großmutter Josefa zusammen. Während sie noch über eine bissige Antwort nachdachte, stolperte sie über eine Liane, die unter dem Schlamm verborgen war, und klatschte der Länge nach in den Morast. Er hätte sie auffangen können, schoss es ihr noch im Fallen durch den Kopf, doch er wollte es offenbar nicht. Sie hatte das Aufflackern eines Grinsens deutlich gesehen, auch wenn er es sofort unterdrückt hatte. Es gefiel ihm, dass sie vor ihm im Dreck lag.
Sie verkniff sich jeden Laut und beeilte sich mit dem Aufstehen, der Zorn erleichterte es ihr.
Er reichte ihr nicht die Hand und wartete, bis sie schwer atmend wieder vor ihm stand. »Salondamen wie Sie sollten der ganzen Welt einen Gefallen tun und zu Hause bleiben, um dort ihren Freundinnen Nachmittagstee mit Sahne in Silberkännchen zu servieren.«
»Und Rüpel wie Sie sollten ihre Jagdhunde tätscheln, ihre Pferde peitschen und Füchse zu Tode quälen. Unvorstellbar, dass Sie wirklich Arzt sind!« Was für ein unangenehmer Mensch, dachte Paula und sehnte sich nach dem Tag, an dem ihre Wege sich wieder trennen würden.
»Touché!« Villeneuve zuckte nur lässig mit den Schultern, was Paula noch mehr ärgerte. »In Kürze wird es dunkel, vorher sollten wir an unserem Lagerplatz ankommen.«
Das stimmte leider und war natürlich erst recht ein Grund mehr für Paula, sich über ihn aufzuregen. Männer wie er sollten nicht auch noch recht haben.
»Dann gehen wir doch endlich weiter.«
»Mit Ihrem Gehumpel schaffen wir es niemals vor Einbruch der Nacht. Ich werde Sie tragen, dann sind wir schneller. « Bevor Paula sich dagegen verwehren konnte, hatte er sie schon gepackt und über die Schulter geworfen, wie eine alte Teppichrolle.
Paula war zu verdutzt, um zu protestieren, und als sie über seiner Schulter lag, erschien es ihr reichlich kindisch, jetzt noch zu zappeln wie ein Fisch auf dem Trockenen, auch wenn sie alles getan hätte, um dieser entwürdigenden Lage zu entkommen. Sie schnappte nach den Riemen von Wasserflasche und Ledertasche, damit sie nicht im Morast schleiften.
Immerhin, und dieser Gedanke entlockte ihr ein Lächeln, würde sein Kakihemd nachher voller Schlamm sein. Er schritt zügig aus, gewiss wollte er sich, so schnell es möglich war, von seiner Last befreien. Schade, dass ich nicht schwerer bin, dachte sie, während sie versuchte, sich nicht von seinem Geruch irritieren zu lassen. Aber das war fast unmöglich, zum einen, weil er sie so fest gepackt hatte, dass ihr Kopf fast auf seiner harten Taille auflag, und zum anderen, weil ihre Nase darauf geschult war, Gerüche zu erkennen und zu klassifizieren.
Seiner Haut entströmte neben dem frischen, leicht moschusartigen Schweiß eine Mischung aus etwas Krautigem, in der Art von Wacholderbeeren, und eine Spur Würzigharmonisches, was sie an indische Zimtrinde erinnerte. Sie versuchte sich zu konzentrieren, denn das war noch nicht alles, zwischen diesen Nuancen versteckte sich auch noch etwas Harziges - könnte Zirbelkiefer sein, dachte sie und inhalierte noch eine Nase voll. Nein, da war noch ein nussiger Unterton, das ging eher in Richtung Zypresse. Natürlich war er nicht der Mann, der ein Parfüm benutzte, nie und nimmer. Erstaunlich, dachte sie, ich selbst rieche nur noch nach Schlamm und Schweiß, und allenfalls kann man noch einen winzigen Hauch von meinem Eau de Toilette riechen. Es war eine Variation von Kölnisch Wasser, die aus dem Buch ihrer Großmutter stammte und angenehm erfrischend war und in dieser feuchten Hitze kühlend auf ihr Gemüt wirkte.
Er räusperte sich. »Madame Kellermann, Sie sind mir unheimlich, wenn Sie schweigen. Erhellen Sie mich mit Ihren Gedanken!«
»Sie haben mich nicht um Erlaubnis gefragt, bevor Sie mich in diese entwürdigende Lage gebracht haben. Ich spreche nicht gern mit herabhängendem Kopf. Vor allem nicht, wenn auch noch mein Tropenhelm darauf drückt.«
Abrupt stellte er sie zurück auf die Erde. »Dann schinden Sie eben Ihren Fuß. Wir haben ja nur noch etwa eine halbe Stunde Marsch vor uns.«
Er ging sofort weiter, und Paula humpelte hinter ihm her und hasste ihn dafür, dass er sich ständig so rüpelhaft verhielt. Sie wünschte sich sehnlichst, man hätte den Norweger nach ihr ausgeschickt, der ihr gegenüber niemals so einen Ton angeschlagen hätte. Doch dann ermahnte sie sich. Du wolltest in dieses Land, Paula. Alle haben dich gewarnt und versucht davon abzuhalten, weil Madagaskar kein Land für eine junge deutsche Frau sei. Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Über die Ehe hatte niemand etwas Derartiges gesagt. Nein, die Ehe war für junge Damen angemessen und höchst erstrebenswert. Ein bitterer Geschmack begann sich in Paulas Mund auszubreiten. Nicht die kleinsten Bedenken hatte ihre Mutter dabei gehabt, ihre siebzehnjährige Tochter mit dem dreimal so alten Baron Eduard von Wagenbach zu verheiraten. Im Gegenteil, sie war endlich einmal stolz auf ihre Tochter gewesen. Paula schüttelte sich, im Vergleich zum Leben mit ihrem Ehemann war die Reise nach Madagaskar ein Spaziergang und dieser Rüpel hier ein Gentleman. Immerhin wusste man bei Villeneuve ganz genau, woran man war.
Er würde niemandem etwas vorgaukeln, diese Mühe wäre ihm nur lästig.
Schweigend lief sie hinter ihm her, starrte auf seine breiten Schulterblätter und den starken Rücken, der nur deshalb ihre Blicke auf sich zog, weil sich unter dem nassen Hemd jeder Muskel deutlich abzeichnete. Mit Genugtuung betrachtete sie die rötlichen Schlammflecken, die sie überall auf ihm hinterlassen hatte.
Doch dann musste sie ihre Augen wieder zu ihren Füßen wenden, damit sein Vorsprung nicht erneut zu groß wurde. Es galt, sich von Lianenschlingen zu befreien und glitschig vermoderte Baumstämme zu überklettern. Von den Blättern über ihr tropfte die Feuchtigkeit auf ihren Tropenhelm, den sie nach dem Sturz so festgeschnallt hatte, dass er sogar nach dem Transport auf Villeneuves Schulter noch an seinem Platz saß. Es tropfte auf ihre Schultern und in ihr Gesicht. Immer wieder musste sie sich unter quer verlaufenden Ästen hindurchwinden und dabei aufpassen, sich das Gesicht nicht an den wie aus dem Nichts wachsenden Luftwurzlern zu zerkratzen.
Ihr nackter Fuß brannte, als ob sie in eine Mischung aus Brennnesseln und Disteln getreten wäre, und sie hoffte, dass nicht eine dieser Spinnen sie erwischt hatte, die ihre Eier unter der Haut ablegten. Mit jedem Schritt wurde es dunkler, die Mücken umschwirrten sie, und sie wünschte sich endlich unter ihr Moskitonetz, doch das war in einer ihrer Reisetruhen bei den Trägern verstaut. Die vielen Träger, von denen Villeneuve so hämisch gesprochen hatte. Aber er täuschte sich, in ihren Reisetruhen befanden sich weder Abendkleider, Federhüte noch Satinhandschuhe.
Schon lange bevor sie die Flammen sehen konnte, roch sie das Feuer, auf dem die Eingeborenen hier zu kochen pflegten. Beißend, ein Geruch, der sie hinten im Gaumenbogen kratzte. Jetzt hätte sie den Weg auch blind gefunden, denn ihre Nase sah besser als ihre Augen, und deshalb folgte sie Villeneuve nicht länger, sondern suchte sich einen eigenen Weg, der sie schließlich schneller ans Ziel führte als ihn.
Sie genoss diesen kleinen Triumph, auch wenn ihr Vorsprung niemandem sonst aufzufallen schien.
2
Es ist nicht alles Gold, was glänzt
Wenn ich Edmond nicht getroffen hätte und nicht Bescheid wüsste, dann würde ich Madame Kellermann auch alles glauben. Und es erstaunt mich, wie gut sie es schafft, über ihre wahren Absichten Stillschweigen zu bewahren. Meines Wissens ist es für Frauen fast unmöglich, ein Geheimnis für sich zu behalten, aber ihr gelingt es mühelos. Dabei redet sie nicht etwa auffallend wenig, nein, sie ist schlau und schafft es, auf die anderen ganz unverfänglich zu wirken. Das ist natürlich auch gut für mich, denn wenn niemand weiß, was hier wirklich gespielt wird, dann vertrauen uns die anderen leichter.
Zweimal schon habe ich ihr Gepäck durchsucht, unglaublich viel Gepäck, und ich war sicher, dass ich darin etwas finden müsste. Ihre Großmutter muss doch Aufzeichnungen hinterlassen haben. Aber von den zwei Truhen war nur eine voller Frauenkram, in der anderen waren seltsame Gerätschaften: Kupferkessel, Metallröhren, Gasbrenner, Glaskolben, leere dunkelbraune Flaschen mit geschliffenen Glas- stöpseln, Glasplatten in Holzrahmen. Fläschchen mit Ölen, Tinkturen, Flaschen mit Essenzen, parfümierte Pomaden. Welcher Mensch, der einigermaßen bei Geiste ist, reist in ein Land wie Madagaskar mit Glasflaschen und Glasplatten?
Sie ist eine Meisterin der Tarnung, wie ich widerwillig zugeben muss. Niemand würde vermuten, dass sie nicht genau das zu tun beabsichtigt, was sie behauptet.
Bei meiner bisherigen Suche habe ich also nichts von Bedeutung gefunden, offensichtlich ist sie schlauer, als ich dachte. Ich muss mir die Truhe mit den Gerätschaften noch einmal gründlicher vornehmen, dabei hätte ich mir mehr Zeit lassen sollen. Oder sie hat etwas in der Ledertasche versteckt, die sie neben der Wasserflasche an einem Riemen über der Schulter trägt und nie aus den Augen lässt. Aber ich kann es mir auf keinen Fall leisten, erwischt zu werden, auch nicht von den Trägern. Zu groß ist das Risiko, dass mich jemand verrät. Und wer weiß, wozu sie fähig ist, wenn sie herausfindet, dass ich Bescheid weiß über ihre elende Großmutter, deren Gebeine, wie ich hoffe, in der Hölle schmoren.
Ein paar Mal schon habe ich überlegt, ob sie wohl reden würde, wenn ich ihr eine Ladung Rum in den Zitronengrastee mische, doch ich fürchte, sie würde es bemerken, ihr Geruchssinn ist außergewöhnlich gut entwickelt. Das muss sie von Mathilde geerbt haben.
3
Anis
Pimpinella anisium, das Anisöl ist farblos oder hellgelb, von intensivem Anisgeruch und verharzt sich schnell an der Luft. Das beste stammt aus dem Gouvernement Woronesch in Russland.
Das Lager hatte Noria zusammen mit den Trägern neben einem kleinen Felsvorsprung aufgebaut, in der Nähe des Flusses. Der Ikopa war sehr breit und rauschte vielversprechend laut. Vielleicht war dieser Fluss endlich tief und sauber genug, dass Paula hier ein Bad nehmen konnte. Sie lief weiter zu ihrem Zelt, das die Träger schon errichtet hatten. Wie jeden Abend wurde es mit einem Schlag stockfinster, das ganze Lager war nur von dem Flackern des stark rauchenden Feuers erhellt, das tapfer mit dem feuchten Holz kämpfte.
Lázló und Morten traten zu ihr und überschütteten sie mit Fragen, denen Villeneuve dann mit seinem Auftauchen ein jähes Ende setzte. »Madame Kellermann gefiel es, ein Schlammbad zu nehmen«, erklärte er den beiden. Mit einem Ächzen ließ er sich auf einer der rund um das Feuer ausgebreiteten geflochtenen Matten aus Palmwedeln nieder. Sobald er saß, trat Noria zu ihm, reichte ihm einen Emaillebecher und goss dann aus einer Blechkanne Zitronengrastee hinein, dessen Duft den bitteren Rauch des Feuers so köstlich überlagerte, dass Paula kurz versucht war, sich zu den beiden zu gesellen, aber dann entschied sie sich dafür, erst im Fluss zu baden.
Sie lief hinüber zu ihrem Zelt und kniete sich vor ihre Kleidertruhe. Als sie den Deckel hochklappte, genoss sie den Duft von Lavendel, der ihr entgegenschlug wie eine vertraute Umarmung, aber sie hielt sich nicht lange auf, sondern kramte nach ihren Ersatzschuhen.
»Hier, das wird Ihnen guttun.« Sie drehte sich überrascht um, Morten war völlig geräuschlos in ihr Zelt gekommen. Der Norweger reichte ihr einen Becher mit Tee und lächelte sie so freundlich an, dass sie sein Lächeln unwillkürlich erwiderte. Das war ein Fehler, sein Mitgefühl schwächte sie. Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen, und ihr war auf einmal viel elender zumute als vorhin allein auf dem Baumstamm.
Sie trank einen großen Schluck und tat dann so, als kämen ihr die Tränen, weil sie sich den Mund verbrannt hatte.
Morten betrachtete sie so wohlwollend, als trüge sie eine prächtige Ballrobe und nicht diesen schlammverschmierten Rock, der an ihren Beinen klebte wie eine alte Decke. Paula wollte gar nicht wissen, wie ihr störrisches Haar aussah oder ihr Gesicht, und sie war dankbar für das schummrige Licht.
»Sie sind eine starke Frau, genau das, was ein Missionar in diesem Land braucht.« Beim Sprechen vernuschelte er sehr stark das S, sodass es sich etwas schleppend und lispelnd anhörte, was jeden seiner Sätze charmant machte, ganz egal, was er sagte, Hauptsache, es war ein S oder Sch darin. Sein Haar war zwar blond und struppig, so wie Paula sich Norweger immer vorgestellt hatte, doch seine Augen waren dunkelbraun, und seine Haut nahm in der Sonne einen goldolivfarbenen Ton an, den Paula verführerisch fand, obwohl Männer sie nicht mehr interessierten. Außerdem strahlte sein harmonisches Gesicht etwas unglaublich Argloses aus. Meistens wirkte er auf sie wie ein übermütiger Bär, der noch nie mit seiner Nase an eine Distel geraten war. Obwohl er sicher auch schon deutlich älter als dreißig sein musste, weckte er etwas in ihr, was sie unter anderen Umständen als Muttergefühle bezeichnet hätte. Aber aus ihrer allerersten Begegnung wusste sie, dass er natürlich kein Kind mehr war.
»Ist alles in Ordnung mit Ihrem Fuß?«, fragte er.
»Ich denke schon.« Sie nickte ihm zu und trank den Tee aus. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich möchte zum Fluss. Danach komme ich zu Ihnen.«
Morten senkte wortlos den Kopf, nahm ihr die leere Tasse ab und trottete zurück zum Feuer, um das die anderen schon saßen.
Paula entzündete den Kosmosbrenner ihrer Petroleumlampe, suchte nach einem Handtuch und ihrer Seife, dann fand sie endlich auch die anderen Schuhe und frische Kleider zum Wechseln.
Sie überlegte, ob sie die Lampe mit zum Ikopa nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen, da das Licht nur noch mehr Insekten anlocken würde. Stattdessen gewöhnte sie ihre Augen an die Dunkelheit, während sie langsam Richtung Felsen lief. Je näher sie kam, desto lauter wurde das Gluckern und Fließen des Wassers.
Sie stieg langsam die Böschung hinunter, spürte dabei noch leichte Schmerzen von ihrem Sturz und tastete sich an das Ufer heran, wo sie einen großen, flachen Felsen am Wasser entdeckte, der wie ein heller Fleck in der Dunkelheit leuchtete. Sie wünschte, die Wolken würden den Mond freigeben, damit sie einen Blick auf den Fluss werfen könnte. Immerhin roch das Wasser frisch, und es ging eine leichte Brise, die ihr die Mücken etwas vom Leib hielt.
Eine gute Gelegenheit, sich von Kopf bis Fuß vom Schmutz zu befreien, hoffte sie und begann hastig den Rock aufzuknöpfen, der von der aufgesogenen und jetzt getrockneten Erde viel schwerer war als am Morgen.
Kaum hatte sie ihn mit einem erleichterten Seufzen abgestreift, hörte sie lautes Plätschern, das sich ihrem Felsen näherte. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und erkannte dann Lázló, der mit kräftigen Zügen zu der Felsplatte schwamm, auf der sie, nur noch mit Leibchen und Hosen bekleidet, stand.
Es war zu spät, um sich wieder anzuziehen, und wegzurennen wäre höchst albern gewesen. Schließlich, so beruhigte sie sich selbst, war sie nicht nackt. Leider fühlte sie sich aber genauso, und das behagte ihr gar nicht. Seit ihrer Scheidung hatte niemand sie mehr en déshabillé gesehen, und so sollte es auch bleiben.
Lázló allerdings war nackt, doch er wirkte in seiner Nacktheit so selbstverständlich, als wäre er vollständig angekleidet. Nicht ein Streifen Stoff verbarg seinen breiten Männerkörper, als er sich mit Schwung auf seine kräftigen Arme stützte, sich aus dem Wasser hievte und seine langen hellbraunen Haare, die nass über seinem Gesicht klebten, nach hinten strich und sie anlächelte. »Das Wasser ist herrlich«, keuchte er und schüttelte sich wie ein Hund. Wassertropfen spritzten in Paulas Gesicht und verstärkten ihr Unbehagen. Unwillkürlich ging sie ein paar Schritte zurück.
»Baden ist das einzig Vernünftige«, sagte Lázló, »ich verstehe gar nicht, warum sich nicht alle hier drin tummeln.« Nun grinste er so breit, dass seine Zähne im Dunklen aufblitzten.
Fassungslos starrte Paula auf seinen Körper, der sie an italienische Marmorstatuen erinnerte, die sie auf ihrer Hochzeitsreise in Florenz gesehen hatte. Hör auf, ihn anzustarren, befahl sie sich, du benimmst dich wie eine dumme Jungfrau und nicht wie eine geschiedene Frau. Es kam ihr immer wieder merkwürdig vor, dass dieser gut gelaunte Adonis wirklich der Assistent des griesgrämigen Villeneuve sein sollte, sein Forschungsassistent!
Entschlossen reichte sie ihm ihr Handtuch, was der Ungar sofort und ohne Dank annahm, als wäre sie nur deshalb gekommen. Doch anstatt es sich um die Hüften zu winden, was Paula gehofft hatte, frottierte er sich kräftig damit ab. Und sie konnte nicht anders, als ihm dabei zuzusehen. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte jede Einzelheit. Der Ungar war nicht nur groß und kräftig von Gestalt, dachte sie mit einem leichten Schaudern, alles, wirklich alles an ihm war von mächtigen Ausmaßen. Und dann wurde ihr klar, warum sie an die Marmorstatuen gedacht hatte. Es waren nicht nur die Muskeln, sondern auch die Tatsache, dass er nicht ein einziges Haar an seinem Körper hatte. Seine Haut glänzte wie glatt polierter Stein, und trotzdem entströmte ihr etwas Sinnliches, das in Paula den Wunsch weckte, ihn anzufassen. Ein Wunsch, der sie erschreckte und den sie sofort aus ihrem Denken verbannte. Du weißt doch, was passiert, wenn man sich mit Männern einlässt, mahnte sie sich.
Er reichte ihr das nasse Handtuch zurück und ging mit schnellen Schritten hoch ans Ufer, wo er seine Kleidung zurückgelassen hatte, was Paula wohl zuvor wegen der Dunkelheit entgangen war.
»Das Bad wird Ihnen guttun, wollen Sie, dass ich Wache halte? Brauchen Sie Hilfe mit dem Korsett?«, rief er ihr zu, nachdem er sich angekleidet hatte, während Paula mit dem nassen Handtuch in der Hand immer noch sprachlos dastand. Männer sollten in ihrem Leben keine Rolle mehr spielen. In keiner Form!
Seine Fragen brachten sie endlich wieder zu sich und erinnerten sie daran, dass sie fast nackt hier herumstand. Sie trug kein Korsett, denn sie war so dünn, da gab es einfach nichts zu schnüren. Außerdem hatte sie sich vor ihrer Reise schlaugemacht und herausgefunden, dass ein Korsett für Alleinreisende so praktisch war wie weiße Glacéhandschuhe zum Abortreinigen.
»Nein«, widersprach sie und erwartete eine heftige Reaktion, denn der Ungar konnte ein Nein sonst nicht ertragen, weshalb es oft zu Spannungen unter den Männern kam. Doch dieses Mal zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern, verschwand, und Paula blieb endlich allein zurück.
Unwillkürlich hob sie das Handtuch an ihre Nase und roch daran. Eine Holznote, eine Mischung von Tabak und etwas irritierend Sinnlichem. Das hatte sie schon einmal gerochen. Verblüfft inhalierte sie dieses Aroma erneut. Unfassbar! Es war eindeutig der Geruch von schwarzer Ambra, die so selten wie teuer war und deren Duft sie noch nie an einem Menschen wahrgenommen hatte. Wie war das möglich? Dieser Mann kam soeben aus dem Wasser, und doch verströmte das Handtuch nun diesen animalischen Duft. Verdutzt steckte sie ihre Nase tiefer in das nasse Handtuch und nahm dann noch einen Hauch von Seegras wahr, aber das kam sicher vom Wasser. Jetzt war ihr auch klar, dass dieser Wunsch, ihn anzufassen, nicht nur von seiner makellosen Schönheit, sondern auch von diesem Geruch ausgelöst worden war. Ihre Nase hatte auf winzige Spuren davon reagiert. Obwohl ihr Handtuch nun nass war, steigerte es ihre Lust auf einen Sprung ins Wasser nur noch weiter. Lázló hatte wie neugeboren auf sie gewirkt, und so wollte sie sich nun auch gern fühlen. Sie war froh, dass ihr älterer Bruder Johannes-Karl ihr schon sehr früh in einer der elenden Ferienwochen bei Großmutter Josefa heimlich das Schwimmen beigebracht hatte. Das war eines von unzähligen Geheimnissen, die sie mit Jo geteilt hatte. Ihr unschuldigstes Geheimnis waren die Namen, die sie sich gegeben hatten, wenn sie allein gewesen waren. Er wurde dann zu Jo-Jo und sie zu Pippa. Damals hatte sie noch nicht gewusst, welche furchtbare Kraft Geheimnisse entfalten konnten. Ein Schauer lief über ihren schlanken Körper, für den ihr Ehemann nur Hohn und Verachtung übriggehabt hatte. Sie verbot sich jeden weiteren Gedanken an ihre Vergangenheit, sie war jetzt hier. Und wie aus Trotz gegen alles, wofür ihre Vergangenheit stand, knöpfte sie ihr Leibchen auf und streifte dann entschlossen ihre Hosen ab. Nur das Lederband mit der kleinen Duftöl-Phiole legte sie niemals ab.
Sie beschwerte ihre Kleider mit einem Stein, damit die Abendbrise sie nicht davonwehte, und stieg, nur mit einem Stück ihrer Lieblingsseife bewaffnet, in den Fluss, der zu ihrer Überraschung nicht so kalt war, wie sie gefürchtet hatte.
Sie genoss das frische Wasser, schäumte sich mit der von ihr kreierten Santal- und Orangenblütenseife ein, tauchte sogar unter, um den verkrusteten Schlamm aus ihren viel zu langen Haaren abzulösen, und fühlte sich zum ersten Mal, seit sie von Nosy Be aufgebrochen waren, wieder wohl. Morgen würden sie hoffentlich endlich Ambohimanga im Osten von Antananarivo erreichen. Dort residierte die amtierende Königin Ranavalona II. in ihrem Sommerpalast, weil Ambohimanga noch etwas höher lag als die Hauptstadt Antananarivo und es deshalb dort kühler war.
Niemals hätte Paula gedacht, dass sie so viele Monate auf der Insel Nosy Be vor der Nordwestküste Madagaskars würde ausharren müssen, um Reisebegleiter nach Antananarivo zu finden. Ihr Plan hatte vorgesehen, gleich nach ihrer Ankunft im Juli, dem madagassischen Winter, zu der Vanilleplantage ihrer Großmutter, irgendwo im Nordosten von Madagaskar, weiterzureisen. Leider hatte ihr niemand sagen können, ob es diese Plantage überhaupt noch gab und ob sie bewirtschaftet wurde, denn ihre Mutter hatte es kategorisch abgelehnt, sich mit Mathildes Erbe zu befassen. Über zwanzig Jahre hatte sich anscheinend niemand darum gekümmert. Deshalb kam es eigentlich auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an, aber Paula wurde trotzdem mit jeder Stunde, die sie auf Nosy Be warten musste, unruhiger. Außerdem schrumpften ihre Ersparnisse viel schneller dahin, als sie sich das vor ihrer Abreise aus dem Kaiserreich vorgestellt hatte, und sie war gezwungen, Geld zu verdienen. Sie hatte alles dabei, was sie brauchte, um Parfüms und Duftwasser herzustellen, denn ihr Plan war es, auf dem Grundstück ihrer Großmutter neben der Vanille auch Blumen anzupflanzen, die sich zur Herstellung von Parfüm eigneten. Seit ihrem vierzehnten Geburtstag, dem Lapislazulitag, war kein Tag vergangen, an dem sie nicht in den Rezepturen ihrer Großmutter geblättert hatte. Und jedes Mal, wenn sie das Buch in die Hand genommen hatte, war es ihr so vorgekommen, als wäre zwischen den vergilbten Seiten mit der verblassten Schrift noch etwas anderes verborgen, doch sie konnte nicht herausfinden, was.
Paula träumte davon, ein ganz besonderes Parfüm zu kreieren, einen Duft, der Frauen nicht nur schmücken, sondern auch heilend auf ihr Gemüt und ihren Körper wirken sollte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, so etwas für Jo zu haben, der gerade in dem Jahr gestorben war, in dem sie einen Vertrauten am bittersten nötig gehabt hätte. Mit ihm war der einzige Mensch, mit dem sie reden konnte, verschwunden. Jo hätte sie sicher ermutigt, nach Madagaskar zu fahren, vielleicht wäre er sogar mitgekommen und hätte ihr geholfen, mit ihrer Ungeduld umzugehen.
Aber sie war allein und schon fast am Ziel, doch nun wurde sie dazu gezwungen auszuharren, während ihr Geld knapp wurde. Und mit Parfüm war auf Nosy Be absolut kein Geld zu machen, denn es gab nur wenige Damen, die welches benutzten.
Die richtige Idee war ihr schließlich gekommen, als sie am Fluss war, um ihre Wäsche zu waschen. Eine Idee, auf die sie schon viel früher hätte kommen können, wenn sie nicht immer nur mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre.
An diesem Tag waren ungewöhnlich viele Menschen am Fluss, Männer und Frauen, und es wurde eine verblüffend große Menge an Wäsche gewaschen. Während sie dabei zusah, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass die Madagassinnen gar keine Seife verwendeten, sondern allein mit Muskelkraft die Flecken aus den Kleidern, meistens waren es Lambas, große viereckige Stofftücher, schrubbten.
Sie hatte ihren Mut zusammengenommen, sich zu einer Gruppe Frauen gesellt und sie begrüßt: »Manao aohana tompoko. « Wie geht es Ihnen? Ihre zaghaften Versuche, Madagassisch zu sprechen, wurden mit schallendem Gelächter begrüßt, doch sie antworteten ihr freundlich: »Tsara far misaotra tompoko«, danke, gut. Als sie den Frauen ihr Stück Seife hinhielt, wurde es ohne Scheu wie ein willkommenes Geschenk angenommen, mit Begeisterung herumgezeigt, berochen und dann wurde damit gewaschen. Es war klar, dass die Madagassinnen Seife sehr wohl kannten und schätzten, auch wenn sie sich diese offensichtlich nicht leisten konnten. Dann reichte man Paula ein paar sehr schmutzige Hosen zum Waschen, und gerade als Paula ob dieser Zumutung kopfschüttelnd ablehnen wollte, flüsterte ihr eine der Frauen auf Deutsch zu, dass das eine schwere Beleidigung wäre. Und dann erklärte ihr die Fremde, dass Paula gerade das Waschfest zu Ehren eines kürzlich Verstorbenen gestört hatte, was an sich schon sehr unhöflich war. Jetzt eine Einladung zum Waschen dieser Hose abzulehnen sei ein absolutes Fady.
Während Paula sich mit hochrotem Gesicht daranmachte, die Hose zu schrubben, erläuterte ihr die Frau immer noch flüsternd, dass es hier Tradition sei, sich nach dem Tod des Verstorbenen am Vanasana, dem Waschplatz, zu treffen und gemeinsam die Wäsche zu waschen, um den Toten zu ehren. Ein Fady war ein heiliges Tabu, das zu brechen gefährlich war und das je nach der Schwere des Vergehens sogar mit dem Tode bestraft werden konnte.
Die hilfsbereite Frau hieß Noria und begleitete sie jetzt auf ihrer Reise. Neben Deutsch sprach sie auch Französisch und Englisch, weil sie bei Missionaren aufgewachsen war.
Paula legte die Seife zurück auf den hellen Felsen, glitt wieder ins Wasser, drehte sich auf den Rücken, bewegte träge ihre Füße und sah in den Himmel, der jetzt von den Wolken nur noch leicht verschleiert wurde und so den Mond durchschimmern ließ. Diesen prächtigen, so nah scheinenden Mond.
Jedes Mal, wenn sie hier nachts den Mond sah, dachte sie daran, dass die Araber Madagaskar als die Insel des Mondes bezeichnet hatten, was Paula absolut passend fand, denn ihr kam es so vor, als wäre der Mond für diese Insel viel bestimmender als die Sonne. Und sie war immer noch erstaunt, wenn sie den Halbmond auf dem Rücken liegen sah, wie ein großes U. U, wie Unglück, fiel ihr ein, Ungnade, Unterleib, Unbilden, Ungeheuer. Eine Gänsehaut überlief sie. Unfug, dachte sie, U wie Unfug. Sie drehte sich um und schwamm mit einigen kräftigen Zügen zurück zum Felsen.
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Wenn ich das hier überstanden habe, werde ich stärker sein als zuvor, versuchte sie sich schwer atmend zu beruhigen. Ja, das wirst du sicher, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf, die Paula immer dann mit Kommentaren belästigte, wenn sie sie am wenigsten gebrauchen konnte. Und wenn du es weiter so übertreibst, wisperte die Stimme unnachgiebig, dann wirst du nicht nur so stark wie ein Gorilla sein, sondern auch so behaart. Paula lächelte unwillkürlich und versuchte sich zusammenzunehmen. Deine Entscheidung, dein Leben, murmelte sie vor sich hin. Sie wischte ihre schlammigen Hände an den Seiten ihres langen Kakirocks ab, dessen Kauf sie ständig bereute. Sie musste sich Hosen nähen lassen, alles andere war in diesem Urwald nur hinderlich. Erschöpft lehnte sie sich gegen einen der von Termiten zerbröselten Baumstämme. Schweißtropfen hinterließen kleine saubere Rinnen auf dem Weg von der Stirn zu ihrem Kinn, und ihr Atem beruhigte sich langsam. Sie wandte den Blick nach vorn, aber von ihren Reisegefährten war keiner mehr zu sehen, gerade so, als ob der Regenwald sie verschlungen hätte. Ich könnte hier stehen bleiben, dachte sie, und ich würde mit der Zeit vermodern wie alles hier, würde eins werden mit der Natur. Und wenn du nicht bald weitergehst, dann wird auch genau das passieren, mahnte ihre innere Stimme. Doch Paula war müde, es hatte sie ihre letzte Kraft gekostet, sich aus dem Morast zu befreien. Leider war trotz aller Anstrengungen ihr linker Wanderschuh mitsamt dem dazugehörigen Strumpf in dem Morast versunken. Sie betrachtete ihren nackten Fuß, der im Zwielicht des Regenwaldes blass schimmerte und schon von Fliegen umkreist wurde. Ein Windstoß durchdrang ihre nass geschwitzte Leinenbluse und brachte sie zum Frösteln.
Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie neben ihrer Ledertasche über der Schulter trug. Ich muss zu den anderen aufschließen, ich muss weiter.
Seufzend schnallte sie den Tropenhelm fester, der sich bei ihrem Sturz gelockert hatte, dann bückte sie sich, um die Mücken mit der Hand wegzuwedeln. Selbst dieses bisschen Bewegung fiel ihr unsäglich schwer, als ob der Schlamm ihr das Mark aus den Knochen gesaugt hätte. Ein schwarzer Schleier aus Selbstmitleid legte sich über ihr Gemüt. Unwillkürlich schüttelte sie sich. Dieses Gefühl wollte sie hinter sich lassen, sie hatte sich entschieden, sie hatte einen Plan. Paula stand auf und schleppte sich vorwärts. In diesem Augenblick spürte sie an ihrem feuchten Rücken eine flüchtige Berührung, nur einen Hauch. Neugierig drehte sie sich um.
Eine Wolke von Schmetterlingen, groß wie Kolibris, umflatterte sie vollkommen geräuschlos. Blau leuchteten die Flügel im Halbdunkel des Dschungels, taubenblau wie der Himmel an einem Sommertag in den Alpen, lilablau wie Lavendelfelder, und einige waren genauso blau wie die Flakons, die sie von ihrer Großmutter Mathilde geerbt hatte. Lapislazuliblau. Die seidigen Flügel wirbelten um sie herum, fächelten ihr Luft zu, die plötzlich nicht mehr nur nach Moder und Verwesung roch, sondern auch noch mit einer anderen Nuance gewürzt zu sein schien. Die blaue Wolke formierte sich ständig neu, changierte hin und her und schwebte dann langsam davon. Paula versuchte zu ergründen, was für ein Duft das war, den die blauen Schmetterlinge verströmt hatten, dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, es war Mut, dachte sie. So roch Mut.
Sie richtete sich auf, unterdrückte ein Stöhnen und setzte sich in Bewegung. Ihr unterer Rücken und das rechte Knie schmerzten von dem Sturz in das Schlammloch. Das vergeht wieder, sagte sie sich, das vergeht, dieser Schmerz ist bedeutungslos gegen das, was du hinter dir gelassen hast, das hier ist nur körperlicher Schmerz. Das hier ist ehrlich. Der Regenwald gibt nicht vor, etwas zu sein, das er nicht ist. Hier erwarten dich Nässe, Verwesung und Insekten, aber auch pure Schönheit.
Ihr nackter Fuß versank im Schlamm, was sich unerwartet weich anfühlte. Irgendetwas kitzelte sie nur für einen Moment, und fast gleichzeitig spürte sie einen Schmerz wie von einem Wespenstich, und bevor sie ihren Fuß herausziehen konnte, gleich noch einen und einen weiteren.
Es waren Blutegel, Noria hatte sie gewarnt, in diesem Teil von Madagaskar lauerten sie überall in den tiefen schlammigen Pfützen und Tümpeln, und Noria hatte ihnen gesagt, dass man die Egel nicht abreißen durfte, sondern warten musste, bis sie von selbst abfielen.
Paula suchte nach einem Baumstamm, der stabil genug war, ihren schmalen Körper zu tragen, humpelte dorthin, setzte sich und versuchte dann doch einen Blutegel abzuziehen. Aber sie waren gierig und hatten sich schon so festgesaugt, dass Paula es in ihrem geschwächten Zustand nicht schaffte. Resigniert beschloss sie zu warten, bis die Blutegel satt waren. Allerdings konnte das eine Weile dauern, und sie begann zu hoffen, dass ihre Reisegefährten ihr Verschwinden bald bemerken und umkehren würden.
Sie musste sich in Geduld üben. »Mora-Mora.« Seufzend wiederholte sie Norias Lieblingsausspruch: Mora-Mora, langsam, langsam. Aber Geduld war nicht ihre Stärke, war es noch nie gewesen. Immer wieder hatte sie ihre Mutter und später ihren Ehemann deshalb gegen sich aufgebracht. »Einer jungen Dame steht Ungeduld so gut zu Gesicht wie Lippenrot oder Flüche«, war eine der unzähligen Weisheiten, die ihre Mutter nicht müde wurde, ihrer Tochter zu predigen. »Eine junge Dame wartet, bis sie gefragt wird, bis sie aufgefordert wird, bis man geruht, sie zur Kenntnis zu nehmen.«
Und dieses Prinzip hatte besonders für Paulas Geburtstage gegolten, nicht aber für die Geburtstage ihrer Brüder. Nur bei ihr wurde zunächst so getan, als hätte man ihn vergessen. Erst dann, wenn es Paula gelungen war, sich zu beherrschen und nicht den mindesten Unmut zu zeigen, gab es ein Geschenk, das leider oft auch nur eine Enttäuschung war, die sie ebenfalls verbergen musste. Spitzentaschentücher statt des heiß ersehnten Romans Der Graf von Monte Christo oder weiße Glacéhandschuhe statt der gewünschten Reitstunden.
Nur einmal war alles ganz anders gewesen, und zwar an dem Tag, an dem sie die blauen Flakons zum ersten Mal gesehen hatte. Schon beim allerersten Betrachten der Flakons hatte Paula an Lapislazuli gedacht, denn ihre Mutter besaß ein Collier aus diesen Steinen, das ihr der Vater von einer Geschäftsreise an den Baikalsee mitgebracht hatte. Doch ihre Mutter trug die Kette nie, weil sie Granat- und Jettschmuck im Stil der von ihr bewunderten Königin Victoria bevorzugte.
Paula aber liebte das Blau dieser Steine und legte sich die Kette immer heimlich um, wenn sie mit ihrem älteren Bruder Johannes-Karl die Liebesgeschichte von Kaiser Wilhelm I. und der Fürstin Elisa Radziwill nachspielte.
Der Tag, den Paula später nur noch ihren Lapislazuli-Tag nannte, hatte damit begonnen, dass Paulas störrisches dunkles Haar gescheitelt, zu langen Zöpfen geflochten und zum ersten Mal am Hinterkopf aufgesteckt worden war. Ihre Mutter hatte das Ankleiden an diesem Tag persönlich überwacht und sich vergewissert, dass der Körper ihrer Tochter korrekt in ihr erstes mit Fischbein versteiftes Leibchen gezwängt wurde. Dazu bekam Paula einen hellgrünen Rock mit eingewebten dunkelgrünen Rosenknospen, er war aus dem gleichen Stoff wie der Rock ihrer Mutter, der aber noch mit unzähligen beigen Spitzenvolants und schwarzen Samtschleifen geschmückt war. Und natürlich wurde er über eine Turnüre drapiert. Beide trugen dazu enge Baumwollbatistblusen mit hohem Stehkragen, die ihrer Mutter war allerdings an den Handgelenken offen und mit zahlreichen Bordüren verziert. Neben den sehr weiblichen Formen ihrer Mutter war sich die magere Paula wie ein hässlicher Blaustrumpf vorgekommen, und daran hatte sich nie mehr etwas geändert, nicht einmal nach ihrer Hochzeit. Aber an diesem Morgen war sie noch drei Jahre von einer Eheschließung entfernt gewesen und hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, wie bald sich ihr Leben ändern sollte.
Es war der 6. Juni 1872, ihr vierzehnter Geburtstag. Ihr Vater hatte sie feucht, aber liebevoll auf die Wangen geküsst, sie dabei mit seinem Kaiser-Wilhelm-Bart gekitzelt und ihr gratuliert.
Damals hatten sie noch in der großen Villa in Schwabing gelebt, wo Paulas Geschenk im Speisezimmer auf dem Buffet aus dunkler Eiche aufgebaut worden war. Drei leere blaue Glasflakons mit silbernen Verschlüssen standen da und wirkten auf Paula geheimnisvoll und gleichzeitig seltsam schlicht, in dem ansonsten völlig überladenen Zimmer, in dem jeder Zentimeter verziert war mit Bordüren, Quasten, Fransen, Schleifchen, Teppichen und Deckchen.
»Hier ist nun also dein Geschenk«, hatte ihr Vater gutmütig gebrummt, auf die Flakons gezeigt und sie so endlich von ihrer Ungeduld erlöst. Neben den Flakons lag ein dickes Buch mit einem fleckigen, gepolsterten Ledereinband. Endlich einmal ein Buch zum Geburtstag!
»Das alles ist von deiner Großmutter Mathilde«, ergänzte ihre Mutter, die das Buch und dann die Flakons betrachtete, als wären sie mit einer ansteckenden Seuche behaftet.
Paula hatte bisher noch nie auch nur ein Sterbenswort über diese Großmutter gehört. Sie kannte lediglich Großmutter Josefa, die Mutter ihres Vaters, eine verbitterte Frau, die sie nicht mochte und die oberhalb des Königssees einen großen Bauernhof mit Milchkühen bewirtschaftete. Ganz allein, da der Großvater kurz nach der Geburt von Paulas Vater verschwunden war. Zusammen mit ihrem älteren Bruder Johannes-Karl und dem jüngeren Gustav musste Paula jedes Jahr im August für vier Wochen dorthin.
Und nun gab es da also eine weitere Großmutter. Paula hatte damals nicht gewusst, was sie davon halten sollte. Womöglich war diese Großmutter noch strenger und humorloser als Josefa.
Nachdenklich hatte sie ihren Blick in die schimmernden Flakons versenkt und sich gefragt, was wohl Josefas Erbe gewesen wäre. Eine Milchkanne, ein Butterfass oder ein Brottuch mit einem in Kreuzstich gestickten Bibelspruch vielleicht, jedenfalls ganz sicher nicht so etwas Unnützes. Denn praktisch sahen diese Glasbehälter nicht aus. Paula war näher an sie herangetreten. Nutzlos mochten sie vielleicht sein, aber sie waren auch wunderschön. Jedem der leeren Flakons entströmte ein Duft, ganz andere Aromen, als in diesem Haus sonst erlaubt waren. Ihre Mutter duldete nicht einmal Rosenöl, dessen Süße sie für orientalisch und deshalb verwerflich erachtete.
Paula lächelte vor sich hin. Damals hatte sie überhaupt nicht verstanden, warum etwas Orientalisches verwerflich sein sollte. Bis zu diesem besonderen Tag war Paula deshalb nur mit den zarten Blütendüften von Reseda, Veilchen und Lavendel vertraut gewesen.
»Und wo lebt diese Großmutter Mathilde?«, hatte sie gefragt, ohne ihren Blick von den blauen Flakons zu wenden. »Warum haben wir sie noch nie besucht?«
»Großmutter Mathilde ist schon vor langer Zeit verstorben, niemand weiß genau, wo oder wann.« Ihre Mutter klang so, als sei das eine Schande, die man ihr angetan hätte, um sie zu kränken. Ihr Vater mischte sich ein, zwirbelte seine linke Bartspitze und lächelte Paula freundlich zu. »Aber vor sechs Jahren erreichte uns ihr Nachlass.«
Paula hatte sich verwundert zu ihrer Mutter umgedreht. »Warum erbe ich das, Mama?«
Ihre Mutter zuckte so heftig mit den Achseln, dass die Volants ihrer weiten Ärmel in Unordnung gerieten. Paulas Vater trat näher zu ihr, legte besänftigend die Hand auf die Schulter seiner Frau Florence und erklärte Paula, das Erbe von Mathilde sei nur an sie weitergegangen, weil ihre Mutter es nicht wollte. Er streichelte Florence über den Rücken. »Liebes, Mathilde ist tot, du musst endlich Frieden mit ihr schließen.«
Paulas Mutter versteifte sich unter seiner Berührung, entwand sich ihm und rang sich dann ein Lächeln ab. »Ludwig, mein lieber Mann, du hast natürlich recht, wie so oft. Also, Paula-Viktoria, lass uns das Unvermeidliche hinter uns bringen. Deine Großmutter Mathilde war eine Deutsche aus dem Elsass, die sich aus unstillbarer Abenteuerlust mit dem französischen Maler Copalle verheiratet hat, um mit ihm nach Madagaskar zu gehen. Sie ist schuld daran, dass ich bei verwilderten Piraten aufwachsen musste und erst sehr spät all das gelernt habe, was einem jungen Mädchen ansteht und was es von der Welt wissen sollte. Du kannst von Glück sagen, dass du eine Mutter hast, die sich nicht die mindesten Versäumnisse in Bezug auf ihre Tochter vorzuwerfen hat.« Jetzt tupfte sich ihre Mutter mit ihrem bestickten Spitzentaschentuch die Lider, als würde sie weinen, aber ihre Augen waren trocken. Paula glaubte zu hören, dass ihre Mutter dabei etwas vor sich hin murmelte, und es klang wie »... und von ihrem Hang zu Skandalen gar nicht erst zu reden.
Verblüfft betrachtete Paula ihre Mutter, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. Skandale! Bei Piraten aufgewachsen! Das war ja viel romantischer als der Roman Sturmhöhe, den sie gerade heimlich nachts verschlungen hatte. Nichts an ihrer völlig korrekten Mutter verriet auch nur eine Spur dieser Abenteuer.
Und Paula spürte, dass ihre Mutter nicht gewillt war, über ihr früheres Leben zu reden.
»Kurzum, deine Großmutter war ein ganz und gar unmöglicher Mensch. Und wenn dein Vater nicht darauf bestanden hätte, dann müssten wir heute auch nicht über sie sprechen.« Sie wies mit einer wütenden Handbewegung auf die Flakons. »Ich hätte alles dem Feuer übergeben!«
»Es ist nicht gut, seine Wurzeln zu durchtrennen, ganz egal, was für welche es auch sein mögen. Man kann sie nicht leugnen, es ist, wie es ist«, brummte ihr Ehemann und machte sich daran, eine Pfeife anzuzünden, obwohl ihm das weitere Klagen seiner Gattin einbringen würde.
Paula wurde an diesem Tag zwar erst vierzehn Jahre alt, aber sie konnte spüren, dass ihr Vater mit den Wurzeln nicht Großmutter Mathilde meinte, sondern von seinem eigenen verschollenen Vater sprach. Als sie sah, wie nervös ihr Vater an seiner Pfeife zog, erkannte sie plötzlich, wie viel Macht ihre Mutter aufgrund seiner Herkunft über ihn hatte. Er lebte mit der Schande, keinen Vater zu haben. Und nur für sie, für seine Tochter, hatte er es auf sich genommen, sich dem Zorn seiner Frau auszusetzen.
Paula starrte auf die bräunlich-schwarzen Egel, die sich mit ihrem Blut füllten und nun schon auf Männerdaumengröße angeschwollen waren. Allerdings waren sie immer noch kleiner als die Daumen ihres Vaters, der sehr große Hände gehabt hatte.
Es tat ihr heute noch leid, dass sie damals nicht ihrem Gefühl gefolgt war und sich in seine Arme geworfen hatte, um ihn irgendwie zu trösten und ihm zu danken. Aber derlei Gefühlsäußerungen waren in ihrer Familie nicht üblich, vor allem dann nicht, wenn ihre Mutter in der Nähe war. Florence war eine Meisterin der Selbstbeherrschung.
Wenn ich nur gewusst hätte, dass es mein letzter Geburtstag mit ihm sein würde, dachte Paula und seufzte, dann hätte ich es sicher getan. Und wieder einmal kam es ihr so vor, als wäre ihr Leben bisher nicht viel mehr als eine einzige Aneinanderreihung von »wenn« und »würde« und »hätte«.
Doch jetzt war sie in Madagaskar, um das zu ändern. Und dass sie hier war, verdankte sie ihrem Vater, der dafür gesorgt hatte, dass sie Mathildes Vermächtnis erhielt.
Damals hätte sich Paula am liebsten sofort in Mathildes Buch vertieft, aber ihre Mutter hatte andere Pläne für ihren Geburtstag gehabt, und so hatte sie ihre Ungeduld bis spät abends zügeln müssen.
Dann hatte sie sich heimlich eine Kerze angezündet, die Flakons ganz nach vorn auf ihre Kommode geräumt und die Glaswände ausgeleuchtet, um sicherzugehen, dass ihr auch nicht das kleinste Detail entging. Tatsächlich hatte sie in den Flakons, die wie Lapislazuli schimmerten, eine bräunliche Kruste mit goldfarbenen Splittern entdeckt, glitzernd wie Kandiszucker. Danach hatte sie vorsichtig eine der Ballonpumpen in die Hand genommen, es war ein hellgrauer kleiner Gummiball, der mit Quasten aus silberfarbener Seide überzogen war. Mit klopfendem Herzen hatte sie darauf gedrückt und vor lauter Spannung die Luft angehalten. Sie wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte, eine Art von Verzauberung, etwas Magisches. Doch die Ballonpumpe gab nur einen peinlichen Laut von sich, der ihre Brüder entzückt hätte, das war alles. Deshalb hatte sie die Flakons aufgeschraubt und dann an jedem einzelnen Zerstäuber geschnuppert, und es war ihr so vorgekommen, als ob die drei Flakons alle gleich merkwürdig gerochen hätten. Damals hatte sie noch keine Worte für Düfte gehabt.
Ein bisschen enttäuscht hatte sie nach dem ledergebundenen Buch ihrer Großmutter gegriffen, den dicken, fleckigen Einband aus weichem rotem Saffianleder betastet. Ihr gefiel der Gedanke, dass ihre Großmutter es auch schon in ihren Händen gehalten hatte. Das rote Leder war nicht nur fleckig, es roch auch ein bisschen salzig und so, als ob es lange der Feuchtigkeit ausgesetzt worden wäre. Voller Spannung hatte sie den Deckel aufgeklappt.
Mathildes elegantes Kabinett der Wohlgerüche Vorzügliche Nachrichten aus der Welt der Düfte Strasbourg, den 7. Februar 1817
stand da in einer kühn geschwungenen Handschrift auf dem Vorsatzblatt. Sie schlug die Seite um und wünschte sich inständig, der Titel wäre nur die Tarnung für das Tagebuch ihrer Großmutter.
Die Gewichte aller Länder im Vergleich zu den Kilogrammen bei uns in Frankreich:
Abessinien: 1 Rottel zu 12 Wakihs zu zehn Drachmen 0,311 Entspricht 0,337 Kilogramm Afghanistan: 1 Mahn zu 4 Oka zu 1 000 Miskal Entspricht 4,18 Kilogramm Ägypten: 1 Cantaro forfono 36 Oka oder 100 Rottoli zu 144 Drachmen = 44,5-50,0; 1 Oka zu 400 Drachmen Entspricht 1,236 Kilogramm
Es folgten Argentinische Republik, China, Dänemark, Griechenland, Haiti, Japan, Kreta, Liberia, Montenegro, Ostindien, Paraguay, Persisches Reich, Russland, Siam, Tripolis, das Osmanische Reich, Tunis und Uruguay. Auf der nächsten Seite wurden die Hohlmaße der Länder im Vergleich zum Liter abgehandelt, und so enttäuscht Paula auch über diese Sachinformationen war, so sehr versetzten sie allein die Namen der Länder in Aufregung, sie hatte weder von Abessinien noch von Uruguay jemals gehört. Am liebsten hätte sie gleich das ganze Buch durchgelesen, aber dann entschied sie, es nicht zu tun. Vielmehr wollte sie mit all diesen Namen im Kopf ins Bett gehen und von ihnen träumen. Sie hatte beschlossen, am nächsten Morgen herauszufinden, wo diese Länder lagen und was sie mit Parfüm zu tun hatten.
Paula bemerkte jetzt mit Genugtuung, dass der erste Blutegel schon abgefallen war und die anderen auch kurz davor waren. Diese kleine Zwangspause hatte ihr gutgetan, sie fühlte sich nicht mehr so schwach wie vorhin, geradeso, als ob die Blutegel die Zweifel an ihrem Vorhaben mit ausgesogen hätten.
Das laute Knacken von zerberstendem Holz unter schweren Schritten ließ sie zusammenzucken. Hatten die Reisegefährten ihr Ausbleiben doch endlich bemerkt! Sie vermutete, dass man Morten Wahlström geschickt hatte, den norwegischen Missionar, denn er war der älteste und freundlichste der drei Männer.
»Paula, wo in Allerherrgottsnamen stecken Sie? Was für ein Spiel soll das sein?« Und dann leiser: »Verdammte Weibsbilder. « Das war nicht Morten, das war die Stimme von Henri Villeneuve. Ausgerechnet. Die Männer schienen darum gewürfelt haben, wer zurückgehen musste, anders war sein Auftauchen nicht zu erklären. Er hielt sie für eine durch und durch lächerliche Person und sie ihn für einen ungehobelten Klotz. Sie setzte sich aufrechter hin und wappnete sich gegen weitere Unverschämtheiten. Sie wollte ruhig bleiben, konnte es dann aber doch nicht lassen, seine Worte aufzunehmen.
»Hallo, Villeneuve, schön, dass Sie kommen, auch wenn Sie sich in dem verdammten Weibsbild täuschen. Ich spiele nämlich keinesfalls, sondern ich sitze hier und warte darauf, dass man mir ein Tässchen heiße Schokolade serviert. Danke für Ihren Besuch. Nehmen Sie doch Platz!«
In diesem Moment stand Villeneuve vor ihr und starrte auf ihren nackten Fuß, von dem gerade noch ein Blutegel abfiel. »Was zum Teufel?« Sein Blick glitt von ihrem Fuß zu dem morastigen Rock und dann weiter nach oben, bis er kopfschüttelnd an ihrem Gesicht hängen blieb.
Was fiel ihm ein, sie so anzustarren! Für ihn als Arzt war das vielleicht das normalste der Welt - aber nicht für sie. Sie dachte daran, dass ihre Mutter sicher vor Scham im Schlamm versunken wäre, und genau das gab Paula dann die Kraft, weiterzusprechen. »Ich wollte ein Bad nehmen ...«, versuchte sie einen Scherz, doch das Blut schoss ihr in den Kopf, und sie war froh um das Dämmerlicht im Dschungel. Dieser Mann brachte immer wieder ihre lächerlichsten Seiten zum Vorschein. Es wunderte sie wirklich, dass man nicht Morten abkommandiert hatte, um sie zu suchen, denn der war überaus kräftig und außerdem durchdrungen vom allerchristlichsten Gedanken der Nächstenliebe - einer Idee, die Villeneuve und seinem Assistenten Lázló Kalasz fremd zu sein schien. Auch Noria, die einzige andere Frau in ihrer Reisegruppe, die Paula auf Nosy Be als Übersetzerin angeheuert hatte, kam ihr manchmal merkwürdig gefühllos vor.
»Wir müssen weiter.« Villeneuve bückte sich zu ihrem nackten Fuß und zog den letzten Blutegel mit einer einzigen zielsicheren und gleichzeitig derart gelangweilten Bewegung ab, dass Paula sich wie eine Närrin vorkam. Vorhin war es unmöglich gewesen, den Egel abzuziehen, versicherte sie sich selbst.
Villeneuve stand immer noch dicht vor ihr und schüttelte den Kopf so heftig, dass sein Tropenhelm hin und her rutschte.
»Ich hoffe, Sie haben noch ein paar Ersatzschuhe in Ihren zahlreichen Gepäckstücken. So können Sie nicht herumlaufen, oder wollen Sie ganz Madagaskar mit Ihrem Blut versorgen? «
»Lassen Sie mein Blut meine Sorge sein.« Was redest du da für einen Unsinn, dachte Paula und beeilte sich hinzuzufügen: »Ich bin selbstverständlich mit allem bestens ausgestattet. «
Sie stand auf, schob ihn etwas zur Seite und ging hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei, immer bemüht, so zu tun, als würde sie nicht humpeln. Er folgte ihr. »Nun, das will ich hoffen, schließlich setzen Sie ja vier Extraträger in Lohn und Brot. Wie viele Abendroben haben Sie eigentlich dabei?«
Was fiel diesem Villeneuve nur ein? Ständig kritisierte er sie, er war schlimmer als ihre Mutter und Großmutter Josefa zusammen. Während sie noch über eine bissige Antwort nachdachte, stolperte sie über eine Liane, die unter dem Schlamm verborgen war, und klatschte der Länge nach in den Morast. Er hätte sie auffangen können, schoss es ihr noch im Fallen durch den Kopf, doch er wollte es offenbar nicht. Sie hatte das Aufflackern eines Grinsens deutlich gesehen, auch wenn er es sofort unterdrückt hatte. Es gefiel ihm, dass sie vor ihm im Dreck lag.
Sie verkniff sich jeden Laut und beeilte sich mit dem Aufstehen, der Zorn erleichterte es ihr.
Er reichte ihr nicht die Hand und wartete, bis sie schwer atmend wieder vor ihm stand. »Salondamen wie Sie sollten der ganzen Welt einen Gefallen tun und zu Hause bleiben, um dort ihren Freundinnen Nachmittagstee mit Sahne in Silberkännchen zu servieren.«
»Und Rüpel wie Sie sollten ihre Jagdhunde tätscheln, ihre Pferde peitschen und Füchse zu Tode quälen. Unvorstellbar, dass Sie wirklich Arzt sind!« Was für ein unangenehmer Mensch, dachte Paula und sehnte sich nach dem Tag, an dem ihre Wege sich wieder trennen würden.
»Touché!« Villeneuve zuckte nur lässig mit den Schultern, was Paula noch mehr ärgerte. »In Kürze wird es dunkel, vorher sollten wir an unserem Lagerplatz ankommen.«
Das stimmte leider und war natürlich erst recht ein Grund mehr für Paula, sich über ihn aufzuregen. Männer wie er sollten nicht auch noch recht haben.
»Dann gehen wir doch endlich weiter.«
»Mit Ihrem Gehumpel schaffen wir es niemals vor Einbruch der Nacht. Ich werde Sie tragen, dann sind wir schneller. « Bevor Paula sich dagegen verwehren konnte, hatte er sie schon gepackt und über die Schulter geworfen, wie eine alte Teppichrolle.
Paula war zu verdutzt, um zu protestieren, und als sie über seiner Schulter lag, erschien es ihr reichlich kindisch, jetzt noch zu zappeln wie ein Fisch auf dem Trockenen, auch wenn sie alles getan hätte, um dieser entwürdigenden Lage zu entkommen. Sie schnappte nach den Riemen von Wasserflasche und Ledertasche, damit sie nicht im Morast schleiften.
Immerhin, und dieser Gedanke entlockte ihr ein Lächeln, würde sein Kakihemd nachher voller Schlamm sein. Er schritt zügig aus, gewiss wollte er sich, so schnell es möglich war, von seiner Last befreien. Schade, dass ich nicht schwerer bin, dachte sie, während sie versuchte, sich nicht von seinem Geruch irritieren zu lassen. Aber das war fast unmöglich, zum einen, weil er sie so fest gepackt hatte, dass ihr Kopf fast auf seiner harten Taille auflag, und zum anderen, weil ihre Nase darauf geschult war, Gerüche zu erkennen und zu klassifizieren.
Seiner Haut entströmte neben dem frischen, leicht moschusartigen Schweiß eine Mischung aus etwas Krautigem, in der Art von Wacholderbeeren, und eine Spur Würzigharmonisches, was sie an indische Zimtrinde erinnerte. Sie versuchte sich zu konzentrieren, denn das war noch nicht alles, zwischen diesen Nuancen versteckte sich auch noch etwas Harziges - könnte Zirbelkiefer sein, dachte sie und inhalierte noch eine Nase voll. Nein, da war noch ein nussiger Unterton, das ging eher in Richtung Zypresse. Natürlich war er nicht der Mann, der ein Parfüm benutzte, nie und nimmer. Erstaunlich, dachte sie, ich selbst rieche nur noch nach Schlamm und Schweiß, und allenfalls kann man noch einen winzigen Hauch von meinem Eau de Toilette riechen. Es war eine Variation von Kölnisch Wasser, die aus dem Buch ihrer Großmutter stammte und angenehm erfrischend war und in dieser feuchten Hitze kühlend auf ihr Gemüt wirkte.
Er räusperte sich. »Madame Kellermann, Sie sind mir unheimlich, wenn Sie schweigen. Erhellen Sie mich mit Ihren Gedanken!«
»Sie haben mich nicht um Erlaubnis gefragt, bevor Sie mich in diese entwürdigende Lage gebracht haben. Ich spreche nicht gern mit herabhängendem Kopf. Vor allem nicht, wenn auch noch mein Tropenhelm darauf drückt.«
Abrupt stellte er sie zurück auf die Erde. »Dann schinden Sie eben Ihren Fuß. Wir haben ja nur noch etwa eine halbe Stunde Marsch vor uns.«
Er ging sofort weiter, und Paula humpelte hinter ihm her und hasste ihn dafür, dass er sich ständig so rüpelhaft verhielt. Sie wünschte sich sehnlichst, man hätte den Norweger nach ihr ausgeschickt, der ihr gegenüber niemals so einen Ton angeschlagen hätte. Doch dann ermahnte sie sich. Du wolltest in dieses Land, Paula. Alle haben dich gewarnt und versucht davon abzuhalten, weil Madagaskar kein Land für eine junge deutsche Frau sei. Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Über die Ehe hatte niemand etwas Derartiges gesagt. Nein, die Ehe war für junge Damen angemessen und höchst erstrebenswert. Ein bitterer Geschmack begann sich in Paulas Mund auszubreiten. Nicht die kleinsten Bedenken hatte ihre Mutter dabei gehabt, ihre siebzehnjährige Tochter mit dem dreimal so alten Baron Eduard von Wagenbach zu verheiraten. Im Gegenteil, sie war endlich einmal stolz auf ihre Tochter gewesen. Paula schüttelte sich, im Vergleich zum Leben mit ihrem Ehemann war die Reise nach Madagaskar ein Spaziergang und dieser Rüpel hier ein Gentleman. Immerhin wusste man bei Villeneuve ganz genau, woran man war.
Er würde niemandem etwas vorgaukeln, diese Mühe wäre ihm nur lästig.
Schweigend lief sie hinter ihm her, starrte auf seine breiten Schulterblätter und den starken Rücken, der nur deshalb ihre Blicke auf sich zog, weil sich unter dem nassen Hemd jeder Muskel deutlich abzeichnete. Mit Genugtuung betrachtete sie die rötlichen Schlammflecken, die sie überall auf ihm hinterlassen hatte.
Doch dann musste sie ihre Augen wieder zu ihren Füßen wenden, damit sein Vorsprung nicht erneut zu groß wurde. Es galt, sich von Lianenschlingen zu befreien und glitschig vermoderte Baumstämme zu überklettern. Von den Blättern über ihr tropfte die Feuchtigkeit auf ihren Tropenhelm, den sie nach dem Sturz so festgeschnallt hatte, dass er sogar nach dem Transport auf Villeneuves Schulter noch an seinem Platz saß. Es tropfte auf ihre Schultern und in ihr Gesicht. Immer wieder musste sie sich unter quer verlaufenden Ästen hindurchwinden und dabei aufpassen, sich das Gesicht nicht an den wie aus dem Nichts wachsenden Luftwurzlern zu zerkratzen.
Ihr nackter Fuß brannte, als ob sie in eine Mischung aus Brennnesseln und Disteln getreten wäre, und sie hoffte, dass nicht eine dieser Spinnen sie erwischt hatte, die ihre Eier unter der Haut ablegten. Mit jedem Schritt wurde es dunkler, die Mücken umschwirrten sie, und sie wünschte sich endlich unter ihr Moskitonetz, doch das war in einer ihrer Reisetruhen bei den Trägern verstaut. Die vielen Träger, von denen Villeneuve so hämisch gesprochen hatte. Aber er täuschte sich, in ihren Reisetruhen befanden sich weder Abendkleider, Federhüte noch Satinhandschuhe.
Schon lange bevor sie die Flammen sehen konnte, roch sie das Feuer, auf dem die Eingeborenen hier zu kochen pflegten. Beißend, ein Geruch, der sie hinten im Gaumenbogen kratzte. Jetzt hätte sie den Weg auch blind gefunden, denn ihre Nase sah besser als ihre Augen, und deshalb folgte sie Villeneuve nicht länger, sondern suchte sich einen eigenen Weg, der sie schließlich schneller ans Ziel führte als ihn.
Sie genoss diesen kleinen Triumph, auch wenn ihr Vorsprung niemandem sonst aufzufallen schien.
2
Es ist nicht alles Gold, was glänzt
Wenn ich Edmond nicht getroffen hätte und nicht Bescheid wüsste, dann würde ich Madame Kellermann auch alles glauben. Und es erstaunt mich, wie gut sie es schafft, über ihre wahren Absichten Stillschweigen zu bewahren. Meines Wissens ist es für Frauen fast unmöglich, ein Geheimnis für sich zu behalten, aber ihr gelingt es mühelos. Dabei redet sie nicht etwa auffallend wenig, nein, sie ist schlau und schafft es, auf die anderen ganz unverfänglich zu wirken. Das ist natürlich auch gut für mich, denn wenn niemand weiß, was hier wirklich gespielt wird, dann vertrauen uns die anderen leichter.
Zweimal schon habe ich ihr Gepäck durchsucht, unglaublich viel Gepäck, und ich war sicher, dass ich darin etwas finden müsste. Ihre Großmutter muss doch Aufzeichnungen hinterlassen haben. Aber von den zwei Truhen war nur eine voller Frauenkram, in der anderen waren seltsame Gerätschaften: Kupferkessel, Metallröhren, Gasbrenner, Glaskolben, leere dunkelbraune Flaschen mit geschliffenen Glas- stöpseln, Glasplatten in Holzrahmen. Fläschchen mit Ölen, Tinkturen, Flaschen mit Essenzen, parfümierte Pomaden. Welcher Mensch, der einigermaßen bei Geiste ist, reist in ein Land wie Madagaskar mit Glasflaschen und Glasplatten?
Sie ist eine Meisterin der Tarnung, wie ich widerwillig zugeben muss. Niemand würde vermuten, dass sie nicht genau das zu tun beabsichtigt, was sie behauptet.
Bei meiner bisherigen Suche habe ich also nichts von Bedeutung gefunden, offensichtlich ist sie schlauer, als ich dachte. Ich muss mir die Truhe mit den Gerätschaften noch einmal gründlicher vornehmen, dabei hätte ich mir mehr Zeit lassen sollen. Oder sie hat etwas in der Ledertasche versteckt, die sie neben der Wasserflasche an einem Riemen über der Schulter trägt und nie aus den Augen lässt. Aber ich kann es mir auf keinen Fall leisten, erwischt zu werden, auch nicht von den Trägern. Zu groß ist das Risiko, dass mich jemand verrät. Und wer weiß, wozu sie fähig ist, wenn sie herausfindet, dass ich Bescheid weiß über ihre elende Großmutter, deren Gebeine, wie ich hoffe, in der Hölle schmoren.
Ein paar Mal schon habe ich überlegt, ob sie wohl reden würde, wenn ich ihr eine Ladung Rum in den Zitronengrastee mische, doch ich fürchte, sie würde es bemerken, ihr Geruchssinn ist außergewöhnlich gut entwickelt. Das muss sie von Mathilde geerbt haben.
3
Anis
Pimpinella anisium, das Anisöl ist farblos oder hellgelb, von intensivem Anisgeruch und verharzt sich schnell an der Luft. Das beste stammt aus dem Gouvernement Woronesch in Russland.
Das Lager hatte Noria zusammen mit den Trägern neben einem kleinen Felsvorsprung aufgebaut, in der Nähe des Flusses. Der Ikopa war sehr breit und rauschte vielversprechend laut. Vielleicht war dieser Fluss endlich tief und sauber genug, dass Paula hier ein Bad nehmen konnte. Sie lief weiter zu ihrem Zelt, das die Träger schon errichtet hatten. Wie jeden Abend wurde es mit einem Schlag stockfinster, das ganze Lager war nur von dem Flackern des stark rauchenden Feuers erhellt, das tapfer mit dem feuchten Holz kämpfte.
Lázló und Morten traten zu ihr und überschütteten sie mit Fragen, denen Villeneuve dann mit seinem Auftauchen ein jähes Ende setzte. »Madame Kellermann gefiel es, ein Schlammbad zu nehmen«, erklärte er den beiden. Mit einem Ächzen ließ er sich auf einer der rund um das Feuer ausgebreiteten geflochtenen Matten aus Palmwedeln nieder. Sobald er saß, trat Noria zu ihm, reichte ihm einen Emaillebecher und goss dann aus einer Blechkanne Zitronengrastee hinein, dessen Duft den bitteren Rauch des Feuers so köstlich überlagerte, dass Paula kurz versucht war, sich zu den beiden zu gesellen, aber dann entschied sie sich dafür, erst im Fluss zu baden.
Sie lief hinüber zu ihrem Zelt und kniete sich vor ihre Kleidertruhe. Als sie den Deckel hochklappte, genoss sie den Duft von Lavendel, der ihr entgegenschlug wie eine vertraute Umarmung, aber sie hielt sich nicht lange auf, sondern kramte nach ihren Ersatzschuhen.
»Hier, das wird Ihnen guttun.« Sie drehte sich überrascht um, Morten war völlig geräuschlos in ihr Zelt gekommen. Der Norweger reichte ihr einen Becher mit Tee und lächelte sie so freundlich an, dass sie sein Lächeln unwillkürlich erwiderte. Das war ein Fehler, sein Mitgefühl schwächte sie. Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen, und ihr war auf einmal viel elender zumute als vorhin allein auf dem Baumstamm.
Sie trank einen großen Schluck und tat dann so, als kämen ihr die Tränen, weil sie sich den Mund verbrannt hatte.
Morten betrachtete sie so wohlwollend, als trüge sie eine prächtige Ballrobe und nicht diesen schlammverschmierten Rock, der an ihren Beinen klebte wie eine alte Decke. Paula wollte gar nicht wissen, wie ihr störrisches Haar aussah oder ihr Gesicht, und sie war dankbar für das schummrige Licht.
»Sie sind eine starke Frau, genau das, was ein Missionar in diesem Land braucht.« Beim Sprechen vernuschelte er sehr stark das S, sodass es sich etwas schleppend und lispelnd anhörte, was jeden seiner Sätze charmant machte, ganz egal, was er sagte, Hauptsache, es war ein S oder Sch darin. Sein Haar war zwar blond und struppig, so wie Paula sich Norweger immer vorgestellt hatte, doch seine Augen waren dunkelbraun, und seine Haut nahm in der Sonne einen goldolivfarbenen Ton an, den Paula verführerisch fand, obwohl Männer sie nicht mehr interessierten. Außerdem strahlte sein harmonisches Gesicht etwas unglaublich Argloses aus. Meistens wirkte er auf sie wie ein übermütiger Bär, der noch nie mit seiner Nase an eine Distel geraten war. Obwohl er sicher auch schon deutlich älter als dreißig sein musste, weckte er etwas in ihr, was sie unter anderen Umständen als Muttergefühle bezeichnet hätte. Aber aus ihrer allerersten Begegnung wusste sie, dass er natürlich kein Kind mehr war.
»Ist alles in Ordnung mit Ihrem Fuß?«, fragte er.
»Ich denke schon.« Sie nickte ihm zu und trank den Tee aus. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich möchte zum Fluss. Danach komme ich zu Ihnen.«
Morten senkte wortlos den Kopf, nahm ihr die leere Tasse ab und trottete zurück zum Feuer, um das die anderen schon saßen.
Paula entzündete den Kosmosbrenner ihrer Petroleumlampe, suchte nach einem Handtuch und ihrer Seife, dann fand sie endlich auch die anderen Schuhe und frische Kleider zum Wechseln.
Sie überlegte, ob sie die Lampe mit zum Ikopa nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen, da das Licht nur noch mehr Insekten anlocken würde. Stattdessen gewöhnte sie ihre Augen an die Dunkelheit, während sie langsam Richtung Felsen lief. Je näher sie kam, desto lauter wurde das Gluckern und Fließen des Wassers.
Sie stieg langsam die Böschung hinunter, spürte dabei noch leichte Schmerzen von ihrem Sturz und tastete sich an das Ufer heran, wo sie einen großen, flachen Felsen am Wasser entdeckte, der wie ein heller Fleck in der Dunkelheit leuchtete. Sie wünschte, die Wolken würden den Mond freigeben, damit sie einen Blick auf den Fluss werfen könnte. Immerhin roch das Wasser frisch, und es ging eine leichte Brise, die ihr die Mücken etwas vom Leib hielt.
Eine gute Gelegenheit, sich von Kopf bis Fuß vom Schmutz zu befreien, hoffte sie und begann hastig den Rock aufzuknöpfen, der von der aufgesogenen und jetzt getrockneten Erde viel schwerer war als am Morgen.
Kaum hatte sie ihn mit einem erleichterten Seufzen abgestreift, hörte sie lautes Plätschern, das sich ihrem Felsen näherte. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und erkannte dann Lázló, der mit kräftigen Zügen zu der Felsplatte schwamm, auf der sie, nur noch mit Leibchen und Hosen bekleidet, stand.
Es war zu spät, um sich wieder anzuziehen, und wegzurennen wäre höchst albern gewesen. Schließlich, so beruhigte sie sich selbst, war sie nicht nackt. Leider fühlte sie sich aber genauso, und das behagte ihr gar nicht. Seit ihrer Scheidung hatte niemand sie mehr en déshabillé gesehen, und so sollte es auch bleiben.
Lázló allerdings war nackt, doch er wirkte in seiner Nacktheit so selbstverständlich, als wäre er vollständig angekleidet. Nicht ein Streifen Stoff verbarg seinen breiten Männerkörper, als er sich mit Schwung auf seine kräftigen Arme stützte, sich aus dem Wasser hievte und seine langen hellbraunen Haare, die nass über seinem Gesicht klebten, nach hinten strich und sie anlächelte. »Das Wasser ist herrlich«, keuchte er und schüttelte sich wie ein Hund. Wassertropfen spritzten in Paulas Gesicht und verstärkten ihr Unbehagen. Unwillkürlich ging sie ein paar Schritte zurück.
»Baden ist das einzig Vernünftige«, sagte Lázló, »ich verstehe gar nicht, warum sich nicht alle hier drin tummeln.« Nun grinste er so breit, dass seine Zähne im Dunklen aufblitzten.
Fassungslos starrte Paula auf seinen Körper, der sie an italienische Marmorstatuen erinnerte, die sie auf ihrer Hochzeitsreise in Florenz gesehen hatte. Hör auf, ihn anzustarren, befahl sie sich, du benimmst dich wie eine dumme Jungfrau und nicht wie eine geschiedene Frau. Es kam ihr immer wieder merkwürdig vor, dass dieser gut gelaunte Adonis wirklich der Assistent des griesgrämigen Villeneuve sein sollte, sein Forschungsassistent!
Entschlossen reichte sie ihm ihr Handtuch, was der Ungar sofort und ohne Dank annahm, als wäre sie nur deshalb gekommen. Doch anstatt es sich um die Hüften zu winden, was Paula gehofft hatte, frottierte er sich kräftig damit ab. Und sie konnte nicht anders, als ihm dabei zuzusehen. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte jede Einzelheit. Der Ungar war nicht nur groß und kräftig von Gestalt, dachte sie mit einem leichten Schaudern, alles, wirklich alles an ihm war von mächtigen Ausmaßen. Und dann wurde ihr klar, warum sie an die Marmorstatuen gedacht hatte. Es waren nicht nur die Muskeln, sondern auch die Tatsache, dass er nicht ein einziges Haar an seinem Körper hatte. Seine Haut glänzte wie glatt polierter Stein, und trotzdem entströmte ihr etwas Sinnliches, das in Paula den Wunsch weckte, ihn anzufassen. Ein Wunsch, der sie erschreckte und den sie sofort aus ihrem Denken verbannte. Du weißt doch, was passiert, wenn man sich mit Männern einlässt, mahnte sie sich.
Er reichte ihr das nasse Handtuch zurück und ging mit schnellen Schritten hoch ans Ufer, wo er seine Kleidung zurückgelassen hatte, was Paula wohl zuvor wegen der Dunkelheit entgangen war.
»Das Bad wird Ihnen guttun, wollen Sie, dass ich Wache halte? Brauchen Sie Hilfe mit dem Korsett?«, rief er ihr zu, nachdem er sich angekleidet hatte, während Paula mit dem nassen Handtuch in der Hand immer noch sprachlos dastand. Männer sollten in ihrem Leben keine Rolle mehr spielen. In keiner Form!
Seine Fragen brachten sie endlich wieder zu sich und erinnerten sie daran, dass sie fast nackt hier herumstand. Sie trug kein Korsett, denn sie war so dünn, da gab es einfach nichts zu schnüren. Außerdem hatte sie sich vor ihrer Reise schlaugemacht und herausgefunden, dass ein Korsett für Alleinreisende so praktisch war wie weiße Glacéhandschuhe zum Abortreinigen.
»Nein«, widersprach sie und erwartete eine heftige Reaktion, denn der Ungar konnte ein Nein sonst nicht ertragen, weshalb es oft zu Spannungen unter den Männern kam. Doch dieses Mal zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern, verschwand, und Paula blieb endlich allein zurück.
Unwillkürlich hob sie das Handtuch an ihre Nase und roch daran. Eine Holznote, eine Mischung von Tabak und etwas irritierend Sinnlichem. Das hatte sie schon einmal gerochen. Verblüfft inhalierte sie dieses Aroma erneut. Unfassbar! Es war eindeutig der Geruch von schwarzer Ambra, die so selten wie teuer war und deren Duft sie noch nie an einem Menschen wahrgenommen hatte. Wie war das möglich? Dieser Mann kam soeben aus dem Wasser, und doch verströmte das Handtuch nun diesen animalischen Duft. Verdutzt steckte sie ihre Nase tiefer in das nasse Handtuch und nahm dann noch einen Hauch von Seegras wahr, aber das kam sicher vom Wasser. Jetzt war ihr auch klar, dass dieser Wunsch, ihn anzufassen, nicht nur von seiner makellosen Schönheit, sondern auch von diesem Geruch ausgelöst worden war. Ihre Nase hatte auf winzige Spuren davon reagiert. Obwohl ihr Handtuch nun nass war, steigerte es ihre Lust auf einen Sprung ins Wasser nur noch weiter. Lázló hatte wie neugeboren auf sie gewirkt, und so wollte sie sich nun auch gern fühlen. Sie war froh, dass ihr älterer Bruder Johannes-Karl ihr schon sehr früh in einer der elenden Ferienwochen bei Großmutter Josefa heimlich das Schwimmen beigebracht hatte. Das war eines von unzähligen Geheimnissen, die sie mit Jo geteilt hatte. Ihr unschuldigstes Geheimnis waren die Namen, die sie sich gegeben hatten, wenn sie allein gewesen waren. Er wurde dann zu Jo-Jo und sie zu Pippa. Damals hatte sie noch nicht gewusst, welche furchtbare Kraft Geheimnisse entfalten konnten. Ein Schauer lief über ihren schlanken Körper, für den ihr Ehemann nur Hohn und Verachtung übriggehabt hatte. Sie verbot sich jeden weiteren Gedanken an ihre Vergangenheit, sie war jetzt hier. Und wie aus Trotz gegen alles, wofür ihre Vergangenheit stand, knöpfte sie ihr Leibchen auf und streifte dann entschlossen ihre Hosen ab. Nur das Lederband mit der kleinen Duftöl-Phiole legte sie niemals ab.
Sie beschwerte ihre Kleider mit einem Stein, damit die Abendbrise sie nicht davonwehte, und stieg, nur mit einem Stück ihrer Lieblingsseife bewaffnet, in den Fluss, der zu ihrer Überraschung nicht so kalt war, wie sie gefürchtet hatte.
Sie genoss das frische Wasser, schäumte sich mit der von ihr kreierten Santal- und Orangenblütenseife ein, tauchte sogar unter, um den verkrusteten Schlamm aus ihren viel zu langen Haaren abzulösen, und fühlte sich zum ersten Mal, seit sie von Nosy Be aufgebrochen waren, wieder wohl. Morgen würden sie hoffentlich endlich Ambohimanga im Osten von Antananarivo erreichen. Dort residierte die amtierende Königin Ranavalona II. in ihrem Sommerpalast, weil Ambohimanga noch etwas höher lag als die Hauptstadt Antananarivo und es deshalb dort kühler war.
Niemals hätte Paula gedacht, dass sie so viele Monate auf der Insel Nosy Be vor der Nordwestküste Madagaskars würde ausharren müssen, um Reisebegleiter nach Antananarivo zu finden. Ihr Plan hatte vorgesehen, gleich nach ihrer Ankunft im Juli, dem madagassischen Winter, zu der Vanilleplantage ihrer Großmutter, irgendwo im Nordosten von Madagaskar, weiterzureisen. Leider hatte ihr niemand sagen können, ob es diese Plantage überhaupt noch gab und ob sie bewirtschaftet wurde, denn ihre Mutter hatte es kategorisch abgelehnt, sich mit Mathildes Erbe zu befassen. Über zwanzig Jahre hatte sich anscheinend niemand darum gekümmert. Deshalb kam es eigentlich auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an, aber Paula wurde trotzdem mit jeder Stunde, die sie auf Nosy Be warten musste, unruhiger. Außerdem schrumpften ihre Ersparnisse viel schneller dahin, als sie sich das vor ihrer Abreise aus dem Kaiserreich vorgestellt hatte, und sie war gezwungen, Geld zu verdienen. Sie hatte alles dabei, was sie brauchte, um Parfüms und Duftwasser herzustellen, denn ihr Plan war es, auf dem Grundstück ihrer Großmutter neben der Vanille auch Blumen anzupflanzen, die sich zur Herstellung von Parfüm eigneten. Seit ihrem vierzehnten Geburtstag, dem Lapislazulitag, war kein Tag vergangen, an dem sie nicht in den Rezepturen ihrer Großmutter geblättert hatte. Und jedes Mal, wenn sie das Buch in die Hand genommen hatte, war es ihr so vorgekommen, als wäre zwischen den vergilbten Seiten mit der verblassten Schrift noch etwas anderes verborgen, doch sie konnte nicht herausfinden, was.
Paula träumte davon, ein ganz besonderes Parfüm zu kreieren, einen Duft, der Frauen nicht nur schmücken, sondern auch heilend auf ihr Gemüt und ihren Körper wirken sollte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, so etwas für Jo zu haben, der gerade in dem Jahr gestorben war, in dem sie einen Vertrauten am bittersten nötig gehabt hätte. Mit ihm war der einzige Mensch, mit dem sie reden konnte, verschwunden. Jo hätte sie sicher ermutigt, nach Madagaskar zu fahren, vielleicht wäre er sogar mitgekommen und hätte ihr geholfen, mit ihrer Ungeduld umzugehen.
Aber sie war allein und schon fast am Ziel, doch nun wurde sie dazu gezwungen auszuharren, während ihr Geld knapp wurde. Und mit Parfüm war auf Nosy Be absolut kein Geld zu machen, denn es gab nur wenige Damen, die welches benutzten.
Die richtige Idee war ihr schließlich gekommen, als sie am Fluss war, um ihre Wäsche zu waschen. Eine Idee, auf die sie schon viel früher hätte kommen können, wenn sie nicht immer nur mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre.
An diesem Tag waren ungewöhnlich viele Menschen am Fluss, Männer und Frauen, und es wurde eine verblüffend große Menge an Wäsche gewaschen. Während sie dabei zusah, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass die Madagassinnen gar keine Seife verwendeten, sondern allein mit Muskelkraft die Flecken aus den Kleidern, meistens waren es Lambas, große viereckige Stofftücher, schrubbten.
Sie hatte ihren Mut zusammengenommen, sich zu einer Gruppe Frauen gesellt und sie begrüßt: »Manao aohana tompoko. « Wie geht es Ihnen? Ihre zaghaften Versuche, Madagassisch zu sprechen, wurden mit schallendem Gelächter begrüßt, doch sie antworteten ihr freundlich: »Tsara far misaotra tompoko«, danke, gut. Als sie den Frauen ihr Stück Seife hinhielt, wurde es ohne Scheu wie ein willkommenes Geschenk angenommen, mit Begeisterung herumgezeigt, berochen und dann wurde damit gewaschen. Es war klar, dass die Madagassinnen Seife sehr wohl kannten und schätzten, auch wenn sie sich diese offensichtlich nicht leisten konnten. Dann reichte man Paula ein paar sehr schmutzige Hosen zum Waschen, und gerade als Paula ob dieser Zumutung kopfschüttelnd ablehnen wollte, flüsterte ihr eine der Frauen auf Deutsch zu, dass das eine schwere Beleidigung wäre. Und dann erklärte ihr die Fremde, dass Paula gerade das Waschfest zu Ehren eines kürzlich Verstorbenen gestört hatte, was an sich schon sehr unhöflich war. Jetzt eine Einladung zum Waschen dieser Hose abzulehnen sei ein absolutes Fady.
Während Paula sich mit hochrotem Gesicht daranmachte, die Hose zu schrubben, erläuterte ihr die Frau immer noch flüsternd, dass es hier Tradition sei, sich nach dem Tod des Verstorbenen am Vanasana, dem Waschplatz, zu treffen und gemeinsam die Wäsche zu waschen, um den Toten zu ehren. Ein Fady war ein heiliges Tabu, das zu brechen gefährlich war und das je nach der Schwere des Vergehens sogar mit dem Tode bestraft werden konnte.
Die hilfsbereite Frau hieß Noria und begleitete sie jetzt auf ihrer Reise. Neben Deutsch sprach sie auch Französisch und Englisch, weil sie bei Missionaren aufgewachsen war.
Paula legte die Seife zurück auf den hellen Felsen, glitt wieder ins Wasser, drehte sich auf den Rücken, bewegte träge ihre Füße und sah in den Himmel, der jetzt von den Wolken nur noch leicht verschleiert wurde und so den Mond durchschimmern ließ. Diesen prächtigen, so nah scheinenden Mond.
Jedes Mal, wenn sie hier nachts den Mond sah, dachte sie daran, dass die Araber Madagaskar als die Insel des Mondes bezeichnet hatten, was Paula absolut passend fand, denn ihr kam es so vor, als wäre der Mond für diese Insel viel bestimmender als die Sonne. Und sie war immer noch erstaunt, wenn sie den Halbmond auf dem Rücken liegen sah, wie ein großes U. U, wie Unglück, fiel ihr ein, Ungnade, Unterleib, Unbilden, Ungeheuer. Eine Gänsehaut überlief sie. Unfug, dachte sie, U wie Unfug. Sie drehte sich um und schwamm mit einigen kräftigen Zügen zurück zum Felsen.
Copyright © 2013 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Beatrix Mannel
Beatrix Mannel wuchs in Darmstadt auf und studierte Theater-, Literaturwissenschaften und Romanistik in München und Italien. Sie arbeitete einige Jahre lang als Fernsehredakteurin, bevor sie begann, Jugendbücher zu schreiben. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Bayern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beatrix Mannel
- 2013, 509 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453357469
- ISBN-13: 9783453357464
- Erscheinungsdatum: 10.06.2013
Rezension zu „Mannel, B: Insel des Mondes “
"Ein perfektes Sommerbuch, weil es in eine exotische und aufregende Welt entführt."
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