Wenn ich dich umarme, hab keine Angst
Eine wahre Geschichte
Diese Reise beginnt lange vor dem Aufbruch, mit der Diagnose: "Ihr Kind ist autistisch." Jahre später fahren Franco und sein Sohn Andrea mit dem Motorrad quer durch Amerika. Ein Abenteuer, das Vater und Sohn einander näherbringt.
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Buch (Gebunden)
Produktdetails
Produktinformationen zu „Wenn ich dich umarme, hab keine Angst “
Diese Reise beginnt lange vor dem Aufbruch, mit der Diagnose: "Ihr Kind ist autistisch." Jahre später fahren Franco und sein Sohn Andrea mit dem Motorrad quer durch Amerika. Ein Abenteuer, das Vater und Sohn einander näherbringt.
Klappentext zu „Wenn ich dich umarme, hab keine Angst “
Diese Reise beginnt lange vor dem Aufbruch, sie beginnt mit der Diagnose: "Ihr Kind ist autistisch." Jahre später fahren Franco und sein Sohn Andrea mit dem Motorrad quer durch den amerikanischen Kontinent. Ein Abenteuer, das durch kontrastreiche äußere und innere Landschaften führt. Und Vater und Sohn einander näherbringt.
Lese-Probe zu „Wenn ich dich umarme, hab keine Angst “
Wenn ich dich umarme, hab keine Angst von Fulvio Ervas... mehr
Manche Reisen beginnen nicht erst mit der Abfahrt. Sie beginnen früher. Zuweilen viel früher.
Vor fünfzehn Jahren stand ich zusammen mit meinen Lieben ruhig und zufrieden im Leben, umgeben von Dingen, die mir vertraut waren. Plötzlich schüttelt Andrea mich, stülpt meine Taschen um, wechselt die Schlösser an den Türen aus. Alles gerät durcheinander.
Wenige Worte genügten: »Ihr Sohn ist wahrscheinlich autistisch.«
Die erste Reaktion war Ungläubigkeit: Das kann nicht sein, es muss sich um eine falsche Diagnose handeln. Dann fing ich an, eins und eins zusammenzuzählen, kleine Dinge, die ich vorher fälschlicherweise für nebensächlich gehalten hatte.
Da bricht ein Orkan los, der alles mit sich reißt. Von da an herrscht Sturm.
Nach der Diagnose ging ich hinaus, betrat eine Bar und bestellte ein Glas stilles Wasser.
»Möchten Sie sonst noch etwas?« Die Bedienung musste meine Starre bemerkt haben.
»Wissen Sie etwas über Autismus?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Forschend betrachtete ich den Inhalt des Glases, trank langsam, als könnte das Wasser meine Gedanken wegspülen, das Problem den Nieren zuführen und durch die Nieren ausscheiden - weg damit, weit weg von mir. Aber so läuft das nicht.
»Wie läuft es dann?«, habe ich unseren Hausarzt gefragt. Wie alle im Dorf nannte ich ihn ›Barnard‹, wie den großen Herzchirurgen, denn seine fixe Idee waren Herzkrankheiten, Koronargefäße und solche Sachen, die mich jedoch nie interessiert hatten. Wenn es dir gutgeht, geht es jedem einzelnen Körperteil gut, Herz eingeschlossen.
»Stell dir eine große Glockenkurve vor: In der Mitte gibt es gewöhnliche Störungen, und an den Rändern findet man die sonderbarsten Abweichungen. In der Mitte ist das Leben verdünnt und außen herum zu dicht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das Leben ist unvollkommen, aber es hat seine eigene Kraft.«
Er hatte recht. Die Biologie hat ihre eigene Kraft und lässt auch Kinder mit Autismus heranwachsen.
Manche Leute sagen, dass das Leben mit einem autistischen Kind fremdbestimmt sei, ja dass man einer Art Tyrannei zum Opfer falle. Wenn ich mir vorstelle, was passieren würde, wenn Andrea die Welt regierte, muss ich lachen.
Als Erstes hätten die Wochen eine Farbe. In der roten Woche Bahn frei für den Handel mit Karotten, Orangen, Tomaten. Subventionen nur für diese Produkte und totales Fahrverbot für Lastwagen mit Broccoli, Wirsing oder Erbsen. Wenn aber die grüne Woche anbricht, füllen sich die Geschäfte mit dem vorher nicht erlaubten Gemüse, die Kisten mit Orangen werden unverzüglich nach Sizilien zurückgeschickt und die Karotten eine um die andere wieder in die Erde gesteckt. Natürlich genau da, wo man sie herausgezogen hat, schließlich haben aus Frankreich stammende Karotten in der Gegend von Ferrara nichts zu suchen.
Nie gäbe es eine violette Woche, zum Leidwesen aller Fans von Pflaumen und Auberginen.
Halb voll oder halb leer, dieses Dilemma wäre unbekannt. Flaschen und andere Behältnisse müssen immer entweder leer oder voll sein und die Kugelschreiberminen alle drin oder alle draußen, nie halb so, halb so, sonst geht immer ein Stift kaputt und einer nicht. Dieses Risiko muss vermieden werden.
Von T-Shirts oder Pullovern mit Reißverschluss würde abgeraten, denn es ist schnell passiert, dass dieser ein wenig offen steht. Bitte, Reißverschlüsse entweder auf oder zu. Schluss auch mit den ewigen Haarspaltereien, ob es warm oder kalt ist. Ein bisschen Entschlossenheit kann nie schaden.
Niemand soll glauben, er könne eine Pizza so essen, dass er sie einfach in Stücke schneidet, irgendwo anfängt und einen beliebigen Bissen zum Mund führt. Zuerst isst man nämlich die weiße Mozzarella, dann das grüne Basilikum und zum Schluss, aber erst ganz zum Schluss, den Boden mit der Tomatensoße.
Dreihundertfünfundsechzig Mal im Jahr wäre Tag der Schokolade. Diese Regel wäre immerhin leicht einzuhalten.
Thermostaten würden nicht geduldet. Entweder ist die Heizung abgestellt oder voll aufgedreht. Übergangszeiten sind eine Katastrophe.
Kirchtürme würden mit automatischen Seifenblasenspendern ausgerüstet, jeden Freitag Seifenblasen in Hülle und Fülle, um das Wochenende anzukündigen, und auch jeden Montag, um den Wochenbeginn zu feiern, Feuerwerk an Silvester, bei Sonnwende, bei Tagundnachtgleiche und zu jedem Anlass, wenn es finanziell drinliegt.
Eine Tyrannei mit absolut klaren Regeln.
Vorgegeben von einem hochsensiblen Tyrannen, der seine Freiheit braucht.
Deshalb schicken wir ihn allein zur Schule. Es sind seine zwanzig Minuten freier Ausgang, zehn hin und zehn zurück. »Habt ihr denn keine Angst?«, fragt man uns. Doch, sicher. Jeden Tag. Aber Andrea hat ein so strahlendes Lächeln, wenn er morgens den Rucksack schultert und nach der Schule wieder ablädt, dass es alle Sorgen wettmacht. Denn frei zu sein ist mehr, als nur zu atmen und ein Herz zu haben, das schlägt - das allein genügt nicht.
Sicher, umsonst ist Freiheit nicht zu haben: Wir mussten unterschreiben, dass wir die Verantwortung übernehmen; ein autistischer Junge, der allein zur Schule geht, ist ein großes Problem, ganz klar: für die Lehrer, für die Verkehrspolizisten, für die Bürger, für all die europäischen Autofahrer und litauischen Touristen, die hier vorbeikommen.
Es war an einem Abend Ende Mai, ich konnte nicht einschlafen. Ich dachte an einen Aufschrei von Andrea ein paar Tage zuvor, nach einem der vielen Zwischenfälle: Er strolchte durchs Haus, war schrecklich unruhig; ich fragte ihn mehrmals, was los sei, und seltsamerweise hat er mich an den Schultern gepackt. Er hat mir direkt in die Augen geschaut
wie noch nie, hat den Mund aufgerissen und einen Schrei losgelassen, der klang, als hätte er sich seit Tagen angebahnt. Mir war, als hätte er gesagt und als hätte ich es wirklich gehört: Ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht ...
Das weckte in mir Bilder aus der Vergangenheit: ein Unfall, das Motorrad, das einen Satz macht, und dann Andreas Schrei, irgendwo am Boden, vor mir, Leute, die herbeirennen und mir die Sicht verdecken, das rechte Bein ganz verdreht, das Morphium, »der Junge ist autistisch«, zwei Ambulanzen, »lasst uns zusammen«, dann zwei Krankenhausbetten nebeneinander. Wir sind durchgekommen, aber dieser gellende Schrei von Andrea taucht ab und zu in meinen Träumen wieder auf, vielleicht war es nicht einmal Schmerz, vielleicht war es diese seltsame Welt, in der er lebt und die sich so eine Stimme verschafft. Irgendetwas schrie nach Freiheit, kam im Hals und in der Lunge kratzend heraus.
Ich stand auf, schaltete den Fernseher an und wieder aus, drehte ein bisschen am Radio herum. Dann öffnete ich das Schränkchen, in dem ich die Straßenkarten und Reiseführer aufbewahre. Auf dem Teppich breitete ich eine längst überholte Weltkarte aus, löschte im Kopf die alten Grenzen und zog sie neu: Kroatien, Slowakei, Mazedonien, Moldawien ...
Am nächsten Morgen war Andrea schon sehr früh auf. Im Schlafanzug lief er um den Tisch herum, strich am Sofa entlang, kontrollierte das Wohnzimmerfenster. Ich suchte vergeblich nach meinen Pantoffeln. Dann fand ich sie wie schon öfter unter dem Stuhl im Arbeitszimmer, sorgsam parallel zueinander gestellt. Barfuß trat ich auf ein Papierfetzchen,
dann noch eins, bis ich auf dem Tisch ein Häufchen winziger Schnitzel sah - das war alles, was von meiner alten Landkarte noch übrig war. Unendlich kleine Stückchen von Welt, die im Recyclingpapier enden würden.
»Andre, Andre«, murmelte ich. Ich konnte ihm nicht böse sein.
Er hatte diesen leicht schwermütigen Blick. Macht nichts, die Welt ändert sich ja ständig, und außerdem hätte ich es mir denken können: Zeitungen und Illustrierte wurden schließlich auch zerkleinert. Andrea arbeitet mit beneidenswerter Präzision, als streute er Wortkrümel für unsichtbare Rotkehlchen, die in unserer Wohnung herumfliegen.
In einem Monat endet das Schuljahr, die Ferien beginnen. Meine Freunde werden ihre Kinder ins Sommerlager schicken, bestimmt gibt es ein Angebot für eine schöne Wanderwoche in der Toskana, oder sie werden sie zu den Großeltern bringen, sie mit zum Zelten nehmen oder sie den ganzen Tag draußen Fußball spielen lassen. Recht so, Kinder müssen auch mal abschalten und sich austoben können.
Ich dagegen werde die üblichen Probleme haben: Wer bleibt wann und wo bei Andrea? Was soll er in der Zeit tun? Ist dies oder jenes das Richtige für ihn? Komplizierte Schichten, damit keine Lücken entstehen, akrobatische Absprachen, um bis September durchzukommen.
Man wird es leid, ob man will oder nicht.
Jedes Mal, wenn Schwierigkeiten auftauchen, jedes Mal, wenn du die Ärmel hochkrempelst, um sie zu lösen, ist es, als würdest du für teures Geld eine Fahrkarte erstehen, die nur bis zur nächsten Haltestelle gilt.
Nein, dieses Mal wird alles anders. Wenn ich mich schon derart anstrengen muss, dann für ein echtes Abenteuer.
Wir sind sowieso immer auf dem Sprung, auch wenn wir nur darauf warten, dass Andrea aus der Schule kommt, oder wenn er uns in der Menge mal wieder zu entwischen droht.
Die Zeit ist reif, um den Sprung zu wagen und etwas Neues zu riskieren.
Die Idee einer großen Reise begann in mir zu arbeiten. Wie ein Virus. Ohne erkennbare Anzeichen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, einen detaillierten Plan zu machen. Für Andrea ist sowieso alles unvorhersehbar, jeder einzelne Tag, jede Stunde: So sollte es auch für mich sein, und es würde kommen, wie es kommen musste.
Eines Tages bin ich Andrea entgegengegangen. Ich sah ihn von weitem, wie er mit seinem raschen Schritt aus der Schule kam, und fragte ihn, ob es ihm Spaß machen würde, mal etwas ganz anderes in den Ferien zu unternehmen. Doch er wurde von der Wäsche abgelenkt, die in einem Hof an der Leine flatterte. Eilig lief er hin und begann die Laken zu falten, die Wäscheklammern zu versetzen, die Socken glattzuziehen.
»Wollen wir weit weg fahren?«, fragte ich.
Er sah mich flüchtig an und lächelte.
»Andrea, fahren wir nach Amerika?«
»Amerika schön.«
Da, bei dieser Wäsche, die nun so sorgfältig geordnet war, dass unverkennbar Andrea am Werk gewesen sein musste, sagte ich mir: Andrea und ich, wir fahren quer durch Amerika und schauen, wohin es uns verschlägt. Wir werden den
ganzen Sommer umherstreifen und den Kontinent in all seinen Facetten erkunden.
Tankstellen, Asphaltbänder, rasche Mahlzeiten, nette Leute, Leute, die davonlaufen, Leute, die uns am Straßenrand zuwinken. Weiter, immer weiter, ein bis zwei Monate, wir werden nicht anhalten, bis wir müde werden, uns doch etwas zu viel wird. Vielleicht ist es ein großartiger Kontinent für zwei wie Andrea und mich. Hauptsache, niemand sagt zu uns: »Stopp, was wollt ihr hier? Aufruhr stiften?« Was für einen Aufruhr denn? Sie meinen die Papierschnitzel, die Andrea überall zurücklässt, und die Bäuche, die er gern anfasst, und die Küsse, die er freigiebig austeilt? Na gut, wir werden aufpassen, uns mäßigen, nicht stören, Amerika, versuche, tolerant zu sein!
Übersetzung: Maja Pflug
Copyright © 2012 bei Fulvio Ervas und Marcos y Marcos
Manche Reisen beginnen nicht erst mit der Abfahrt. Sie beginnen früher. Zuweilen viel früher.
Vor fünfzehn Jahren stand ich zusammen mit meinen Lieben ruhig und zufrieden im Leben, umgeben von Dingen, die mir vertraut waren. Plötzlich schüttelt Andrea mich, stülpt meine Taschen um, wechselt die Schlösser an den Türen aus. Alles gerät durcheinander.
Wenige Worte genügten: »Ihr Sohn ist wahrscheinlich autistisch.«
Die erste Reaktion war Ungläubigkeit: Das kann nicht sein, es muss sich um eine falsche Diagnose handeln. Dann fing ich an, eins und eins zusammenzuzählen, kleine Dinge, die ich vorher fälschlicherweise für nebensächlich gehalten hatte.
Da bricht ein Orkan los, der alles mit sich reißt. Von da an herrscht Sturm.
Nach der Diagnose ging ich hinaus, betrat eine Bar und bestellte ein Glas stilles Wasser.
»Möchten Sie sonst noch etwas?« Die Bedienung musste meine Starre bemerkt haben.
»Wissen Sie etwas über Autismus?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Forschend betrachtete ich den Inhalt des Glases, trank langsam, als könnte das Wasser meine Gedanken wegspülen, das Problem den Nieren zuführen und durch die Nieren ausscheiden - weg damit, weit weg von mir. Aber so läuft das nicht.
»Wie läuft es dann?«, habe ich unseren Hausarzt gefragt. Wie alle im Dorf nannte ich ihn ›Barnard‹, wie den großen Herzchirurgen, denn seine fixe Idee waren Herzkrankheiten, Koronargefäße und solche Sachen, die mich jedoch nie interessiert hatten. Wenn es dir gutgeht, geht es jedem einzelnen Körperteil gut, Herz eingeschlossen.
»Stell dir eine große Glockenkurve vor: In der Mitte gibt es gewöhnliche Störungen, und an den Rändern findet man die sonderbarsten Abweichungen. In der Mitte ist das Leben verdünnt und außen herum zu dicht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das Leben ist unvollkommen, aber es hat seine eigene Kraft.«
Er hatte recht. Die Biologie hat ihre eigene Kraft und lässt auch Kinder mit Autismus heranwachsen.
Manche Leute sagen, dass das Leben mit einem autistischen Kind fremdbestimmt sei, ja dass man einer Art Tyrannei zum Opfer falle. Wenn ich mir vorstelle, was passieren würde, wenn Andrea die Welt regierte, muss ich lachen.
Als Erstes hätten die Wochen eine Farbe. In der roten Woche Bahn frei für den Handel mit Karotten, Orangen, Tomaten. Subventionen nur für diese Produkte und totales Fahrverbot für Lastwagen mit Broccoli, Wirsing oder Erbsen. Wenn aber die grüne Woche anbricht, füllen sich die Geschäfte mit dem vorher nicht erlaubten Gemüse, die Kisten mit Orangen werden unverzüglich nach Sizilien zurückgeschickt und die Karotten eine um die andere wieder in die Erde gesteckt. Natürlich genau da, wo man sie herausgezogen hat, schließlich haben aus Frankreich stammende Karotten in der Gegend von Ferrara nichts zu suchen.
Nie gäbe es eine violette Woche, zum Leidwesen aller Fans von Pflaumen und Auberginen.
Halb voll oder halb leer, dieses Dilemma wäre unbekannt. Flaschen und andere Behältnisse müssen immer entweder leer oder voll sein und die Kugelschreiberminen alle drin oder alle draußen, nie halb so, halb so, sonst geht immer ein Stift kaputt und einer nicht. Dieses Risiko muss vermieden werden.
Von T-Shirts oder Pullovern mit Reißverschluss würde abgeraten, denn es ist schnell passiert, dass dieser ein wenig offen steht. Bitte, Reißverschlüsse entweder auf oder zu. Schluss auch mit den ewigen Haarspaltereien, ob es warm oder kalt ist. Ein bisschen Entschlossenheit kann nie schaden.
Niemand soll glauben, er könne eine Pizza so essen, dass er sie einfach in Stücke schneidet, irgendwo anfängt und einen beliebigen Bissen zum Mund führt. Zuerst isst man nämlich die weiße Mozzarella, dann das grüne Basilikum und zum Schluss, aber erst ganz zum Schluss, den Boden mit der Tomatensoße.
Dreihundertfünfundsechzig Mal im Jahr wäre Tag der Schokolade. Diese Regel wäre immerhin leicht einzuhalten.
Thermostaten würden nicht geduldet. Entweder ist die Heizung abgestellt oder voll aufgedreht. Übergangszeiten sind eine Katastrophe.
Kirchtürme würden mit automatischen Seifenblasenspendern ausgerüstet, jeden Freitag Seifenblasen in Hülle und Fülle, um das Wochenende anzukündigen, und auch jeden Montag, um den Wochenbeginn zu feiern, Feuerwerk an Silvester, bei Sonnwende, bei Tagundnachtgleiche und zu jedem Anlass, wenn es finanziell drinliegt.
Eine Tyrannei mit absolut klaren Regeln.
Vorgegeben von einem hochsensiblen Tyrannen, der seine Freiheit braucht.
Deshalb schicken wir ihn allein zur Schule. Es sind seine zwanzig Minuten freier Ausgang, zehn hin und zehn zurück. »Habt ihr denn keine Angst?«, fragt man uns. Doch, sicher. Jeden Tag. Aber Andrea hat ein so strahlendes Lächeln, wenn er morgens den Rucksack schultert und nach der Schule wieder ablädt, dass es alle Sorgen wettmacht. Denn frei zu sein ist mehr, als nur zu atmen und ein Herz zu haben, das schlägt - das allein genügt nicht.
Sicher, umsonst ist Freiheit nicht zu haben: Wir mussten unterschreiben, dass wir die Verantwortung übernehmen; ein autistischer Junge, der allein zur Schule geht, ist ein großes Problem, ganz klar: für die Lehrer, für die Verkehrspolizisten, für die Bürger, für all die europäischen Autofahrer und litauischen Touristen, die hier vorbeikommen.
Es war an einem Abend Ende Mai, ich konnte nicht einschlafen. Ich dachte an einen Aufschrei von Andrea ein paar Tage zuvor, nach einem der vielen Zwischenfälle: Er strolchte durchs Haus, war schrecklich unruhig; ich fragte ihn mehrmals, was los sei, und seltsamerweise hat er mich an den Schultern gepackt. Er hat mir direkt in die Augen geschaut
wie noch nie, hat den Mund aufgerissen und einen Schrei losgelassen, der klang, als hätte er sich seit Tagen angebahnt. Mir war, als hätte er gesagt und als hätte ich es wirklich gehört: Ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht ...
Das weckte in mir Bilder aus der Vergangenheit: ein Unfall, das Motorrad, das einen Satz macht, und dann Andreas Schrei, irgendwo am Boden, vor mir, Leute, die herbeirennen und mir die Sicht verdecken, das rechte Bein ganz verdreht, das Morphium, »der Junge ist autistisch«, zwei Ambulanzen, »lasst uns zusammen«, dann zwei Krankenhausbetten nebeneinander. Wir sind durchgekommen, aber dieser gellende Schrei von Andrea taucht ab und zu in meinen Träumen wieder auf, vielleicht war es nicht einmal Schmerz, vielleicht war es diese seltsame Welt, in der er lebt und die sich so eine Stimme verschafft. Irgendetwas schrie nach Freiheit, kam im Hals und in der Lunge kratzend heraus.
Ich stand auf, schaltete den Fernseher an und wieder aus, drehte ein bisschen am Radio herum. Dann öffnete ich das Schränkchen, in dem ich die Straßenkarten und Reiseführer aufbewahre. Auf dem Teppich breitete ich eine längst überholte Weltkarte aus, löschte im Kopf die alten Grenzen und zog sie neu: Kroatien, Slowakei, Mazedonien, Moldawien ...
Am nächsten Morgen war Andrea schon sehr früh auf. Im Schlafanzug lief er um den Tisch herum, strich am Sofa entlang, kontrollierte das Wohnzimmerfenster. Ich suchte vergeblich nach meinen Pantoffeln. Dann fand ich sie wie schon öfter unter dem Stuhl im Arbeitszimmer, sorgsam parallel zueinander gestellt. Barfuß trat ich auf ein Papierfetzchen,
dann noch eins, bis ich auf dem Tisch ein Häufchen winziger Schnitzel sah - das war alles, was von meiner alten Landkarte noch übrig war. Unendlich kleine Stückchen von Welt, die im Recyclingpapier enden würden.
»Andre, Andre«, murmelte ich. Ich konnte ihm nicht böse sein.
Er hatte diesen leicht schwermütigen Blick. Macht nichts, die Welt ändert sich ja ständig, und außerdem hätte ich es mir denken können: Zeitungen und Illustrierte wurden schließlich auch zerkleinert. Andrea arbeitet mit beneidenswerter Präzision, als streute er Wortkrümel für unsichtbare Rotkehlchen, die in unserer Wohnung herumfliegen.
In einem Monat endet das Schuljahr, die Ferien beginnen. Meine Freunde werden ihre Kinder ins Sommerlager schicken, bestimmt gibt es ein Angebot für eine schöne Wanderwoche in der Toskana, oder sie werden sie zu den Großeltern bringen, sie mit zum Zelten nehmen oder sie den ganzen Tag draußen Fußball spielen lassen. Recht so, Kinder müssen auch mal abschalten und sich austoben können.
Ich dagegen werde die üblichen Probleme haben: Wer bleibt wann und wo bei Andrea? Was soll er in der Zeit tun? Ist dies oder jenes das Richtige für ihn? Komplizierte Schichten, damit keine Lücken entstehen, akrobatische Absprachen, um bis September durchzukommen.
Man wird es leid, ob man will oder nicht.
Jedes Mal, wenn Schwierigkeiten auftauchen, jedes Mal, wenn du die Ärmel hochkrempelst, um sie zu lösen, ist es, als würdest du für teures Geld eine Fahrkarte erstehen, die nur bis zur nächsten Haltestelle gilt.
Nein, dieses Mal wird alles anders. Wenn ich mich schon derart anstrengen muss, dann für ein echtes Abenteuer.
Wir sind sowieso immer auf dem Sprung, auch wenn wir nur darauf warten, dass Andrea aus der Schule kommt, oder wenn er uns in der Menge mal wieder zu entwischen droht.
Die Zeit ist reif, um den Sprung zu wagen und etwas Neues zu riskieren.
Die Idee einer großen Reise begann in mir zu arbeiten. Wie ein Virus. Ohne erkennbare Anzeichen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, einen detaillierten Plan zu machen. Für Andrea ist sowieso alles unvorhersehbar, jeder einzelne Tag, jede Stunde: So sollte es auch für mich sein, und es würde kommen, wie es kommen musste.
Eines Tages bin ich Andrea entgegengegangen. Ich sah ihn von weitem, wie er mit seinem raschen Schritt aus der Schule kam, und fragte ihn, ob es ihm Spaß machen würde, mal etwas ganz anderes in den Ferien zu unternehmen. Doch er wurde von der Wäsche abgelenkt, die in einem Hof an der Leine flatterte. Eilig lief er hin und begann die Laken zu falten, die Wäscheklammern zu versetzen, die Socken glattzuziehen.
»Wollen wir weit weg fahren?«, fragte ich.
Er sah mich flüchtig an und lächelte.
»Andrea, fahren wir nach Amerika?«
»Amerika schön.«
Da, bei dieser Wäsche, die nun so sorgfältig geordnet war, dass unverkennbar Andrea am Werk gewesen sein musste, sagte ich mir: Andrea und ich, wir fahren quer durch Amerika und schauen, wohin es uns verschlägt. Wir werden den
ganzen Sommer umherstreifen und den Kontinent in all seinen Facetten erkunden.
Tankstellen, Asphaltbänder, rasche Mahlzeiten, nette Leute, Leute, die davonlaufen, Leute, die uns am Straßenrand zuwinken. Weiter, immer weiter, ein bis zwei Monate, wir werden nicht anhalten, bis wir müde werden, uns doch etwas zu viel wird. Vielleicht ist es ein großartiger Kontinent für zwei wie Andrea und mich. Hauptsache, niemand sagt zu uns: »Stopp, was wollt ihr hier? Aufruhr stiften?« Was für einen Aufruhr denn? Sie meinen die Papierschnitzel, die Andrea überall zurücklässt, und die Bäuche, die er gern anfasst, und die Küsse, die er freigiebig austeilt? Na gut, wir werden aufpassen, uns mäßigen, nicht stören, Amerika, versuche, tolerant zu sein!
Übersetzung: Maja Pflug
Copyright © 2012 bei Fulvio Ervas und Marcos y Marcos
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Autoren-Porträt von Fulvio Ervas
Fulvio Ervas, geboren 1955, studierte Agrarwissenschaften und forschte über Tierhaltung, insbesondere bei Kühen. Heute schreibt er hauptsächlich Krimis und Sachbücher und lebt in der Nähe von Treviso mit seiner Familie und vielen Haustieren.Maja Pflug wurde 1946 in Bad Kissingen geboren. Übersetzerausbildung in München, Florenz und London. 1987 erhielt sie den Premio Montecchio. Sie lebt in München und Italien und wurde im März dieses Jahres mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Fulvio Ervas
- 2013, 320 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 13,2 x 20,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pflug, Maja
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257068514
- ISBN-13: 9783257068511
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