Thomas Andreasson Band 4: Mörderische Schärennächte
Ein Fall für Thomas Andreasson
Student Markus Nielsen wird erhängt aufgefunden. Klarer Fall, da er ja auch einen Abschiedsbrief hinterlässt . Doch seine Mutter glaubt nicht an Suizid und Thomas Andreasson von der Polizei in Nacka beginnt nachzuforschen. Die Spur führt zu...
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Produktinformationen zu „Thomas Andreasson Band 4: Mörderische Schärennächte “
Student Markus Nielsen wird erhängt aufgefunden. Klarer Fall, da er ja auch einen Abschiedsbrief hinterlässt . Doch seine Mutter glaubt nicht an Suizid und Thomas Andreasson von der Polizei in Nacka beginnt nachzuforschen. Die Spur führt zu einer Militärbasis auf der Insel Korsö.
Klappentext zu „Thomas Andreasson Band 4: Mörderische Schärennächte “
Die gute Nachricht zuerst: Thomas Andreasson ermittelt weiter!Der letzte Fall hätte ihn fast das Leben gekostet, doch Thomas Andreasson kehrt zurück auf die Polizeistation in Nacka. Sein erster Fall nach langer Krankheit scheint eindeutig zu sein: Markus Nielsen wird erhängt in seinem Zimmer aufgefunden, und er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.An einem kalten Septembertag wird der Student Markus Nielsen tot in seiner Wohnung in Nacka aufgefunden. Er hängt an einem Seil, das an der Deckenlampe befestigt wurde, und er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Doch seine Mutter ist überzeugt, dass er ermordet wurde, und bittet die Polizei in Nacka, den Fall nicht zu den Akten zu legen. Auf der Wache ist die Situation angespannt, denn fast ein halbes Jahr nach seinem schweren Unfall ist Thomas endlich wieder im Dienst, doch es fällt ihm schwer, wieder Fuß zu fassen. Die Ermittlungen der Polizei führen zur Militärbasis auf der Insel Korsö, gleich neben Sandhamn gelegen. Nora Linde, Thomas' Freundin aus Kindertagen, versucht mehr über das Militärlager herauszufinden, das den Küstenjägern jahrzehntelang als Standort diente. Gibt es etwas in der Vergangenheit, das nicht herauskommen soll?Ein neuer spannender Fall von Viveca Sten, die mittlerweile eine riesige Fangruppe auch in Deutschland hat.
Lese-Probe zu „Thomas Andreasson Band 4: Mörderische Schärennächte “
Mörderische Schärennächte von Viveca StenProlog
Das Plätschern erinnerte ihn an Kinder, die in einer Badewanne planschten. Er schloss die Augen und sah einen Strand vor sich, an dem kleine Kinder fröhlich herumhüpften.
Dann plätscherte es ein letztes Mal, und das Wasser schwappte über den Rand des Putzeimers auf den nassen Boden.
Die Arme hörten auf zu rudern. Die Beine zuckten noch, wie kleine Silberfische, die ziellos hin und her huschen. Krampfhafte, unkontrollierbare Bewegungen.
Dann erlahmten auch sie, und das langsame Tropfen des Wasserhahns war das Einzige, was die Stille in dem weiß gefliesten Raum durchbrach.
Dieses Geräusch sollte er für den Rest seines Lebens im Ohr haben.
Es roch intensiv nach Schmierseife. Der Geruch von Fichtennadeln stieg ihm in die Nase, und er musste würgen. Aber er biss die Zähne zusammen. Die Angst überschattete alles andere.
Etwas Warmes lief an seinem Bein hinunter, und er begriff, dass er sich bepinkelt hatte.
Egal. Es war ohnehin alles zu spät.
Der Wasserhahn tropfte weiter vor sich hin.
Sonntag, 16. September 2007 (erste Woche)
Kapitel 1
Die junge Frau klang verzweifelt.
»Sie müssen kommen, jetzt sofort.«
»Bitte nennen Sie mir zuerst Ihren Namen.«
Die Stimme der Disponentin in der Notrufleitstelle klang sachlich, aber nicht unfreundlich. Die Digitalziffern auf dem Bildschirm zeigten exakt 10.03 Uhr vormittags an.
»Es ist so furchtbar ... es ist Marcus.«
»Können Sie beschreiben, was passiert ist?«, fragte die Leitstellendisponentin. »Versuchen Sie, sich zu beruhigen und der Reihe nach zu erzählen.«
»Ich bin in seinem Zimmer.«
... mehr
»Ich brauche die Adresse. Wo genau sind Sie?«
»Er atmet nicht. Er hängt einfach da.«
Das Entsetzen und der Schock zeigten sich in der geschluchzten Antwort.
»Ich kann ihn nicht abnehmen, ich schaffe es einfach nicht.«
»Wo genau sind Sie? Ich brauche die Adresse«, sagte die Disponentin wieder.
Im Hintergrund war das gedämpfte Stimmengewirr von Kollegen zu hören, die andere Notrufe entgegennahmen. Bisher war es relativ ruhig gewesen, die Vorfälle vom Samstagabend waren jetzt am Sonntagmorgen längst abgearbeitet. Die Disponentin hatte ihre Schicht um sechs Uhr früh begonnen und schon Zeit gefunden, drei Tassen Kaffee zu trinken.
»Wo genau sind Sie?«, sagte sie zum wiederholten Mal ins Mikrofon.
Jetzt beruhigte sich die Frau am Telefon ein wenig.
»Värmdövägen 10B, in Nacka.«
Sie stieß die Worte beinahe winselnd hervor.
»Im Studentenheim«, hickste sie zum Schluss. »Wir wollten zusammen lernen.«
»Wie heißen Sie?«
»Amanda.«
»Und weiter?«
»Amanda Grenfors.«
Die Stimme klang dünn, zweifelnd, so als könnte die junge Frau nicht fassen, was sie vor sich sah.
»Jetzt versuchen Sie mal zu beschreiben, was passiert ist, Amanda «, sagte die Disponentin in der Notrufleitstelle aufmunternd.
Sie machte sich Notizen. Die Adresse war nur einen Steinwurf von der Polizeistation Nacka entfernt, der Streifenwagen würde nicht mehr als ein paar Minuten dorthin brauchen.
»Marcus hängt unter der Zimmerdecke, an einem Strick«, sagte das Mädchen. »Sein Gesicht ist ganz blau.«
Ihre Stimme brach.
Die Disponentin wartete. Etliche Sekunden verstrichen.
Dann ein Flüstern.
»Ich glaube, er ist tot.«
Die Haustür des Wohnheims stand weit offen, als der Streifwagen eintraf. Das Haus war in den Vierzigerjahren gebaut worden, und die vielen Fahrräder, die in einer Reihe davorstanden, zeugten davon, dass es ein Studentenheim war, eines der alten Mietshäuser, die kürzlich als Antwort auf den eklatanten Mangel an Unterkünften für die Ausbildungsstätten der Hauptstadt umgebaut worden waren.
Die beiden Polizisten gingen eine Treppe hinauf und betraten einen langen Korridor mit einem Dutzend Türen zu beiden Seiten. Sie kamen an der Küche vorbei, in der sich Unmengen von schmutzigem Geschirr auf der Spüle stapelten. An einer Schranktür war mit Klebestreifen ein handgeschriebener Zettel befestigt: Räum deinen Kram auf, deine Mutter wohnt hier nicht!
Weit und breit war niemand zu sehen, aber in einer Ecke lag ein schlampig zugeknoteter Müllbeutel. Dem Geruch nach zu urteilen, lag er schon eine ganze Weile dort.
Ganz am Ende des Korridors stand eine Tür sperrangelweit offen. Direkt gegenüber, mit dem Rücken an der Wand, kauerte eine blasse junge Frau. Sie trug Jeans und schwarze Sneaker, und der dicke dunkelrote Pullover schien viel zu groß für den mageren Körper zu sein.
»Sind Sie Amanda?«, fragte die Polizistin, die als Erste bei ihr ankam.
»Mhmm.«
Ein tränenstreifiges Gesicht blickte zu der Polizistin auf. Sie ging in die Hocke und berührte leicht den Arm des Mädchens.
»Alles in Ordnung?«
»Er hängt da drinnen.« Sie hob den rechten Arm und zeigte mit zitternder Hand ins Zimmer. »Am Lampenhaken.«
Die Blicke der Polizisten folgten der Bewegung. Im selben Moment brach die Sonne hervor, und in dem Lichtstrahl, der durchs Fenster hereinfiel, tanzten kleine Staubkörner. Sie bildeten einen schimmernden Glorienschein um den einsamen Körper, der von der Decke baumelte. Der hängende Kopf und der Winkel, in dem er abgeknickt war, bestätigten ihre Vermutung.
Marcus Nielsen war tot.
Kapitel 2
Er lief über die dunkle, raue Eisdecke vor Sandhamn, und sie brach unter seinen Füßen auf. Das Wasser verschlang ihn, es fühlte sich an, als würden Finger und Zehen abfrieren. Das eiskalte Meer presste die Luft aus seinen Lungen und entzog seinem Blut den Sauerstoff.
Gleich würde er in dem Loch ertrinken. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen, weil niemand wusste, dass er draußen auf dem Eis war.
Er weinte.
Er wollte nicht sterben, nicht auf diese Art, nicht so einsam und ohne Abschied.
Das Wasser, das die Kälte in seinen Körper zwang, saugte jegliche Kraft aus ihm heraus. Voller Bedauern dachte er an alles, was er nicht mehr hatte sagen oder tun können.
Aber wie hätte er ahnen sollen, dass seine Zeit bereits abgelaufen war?
Während seine Glieder gefühllos wurden, merkte er, dass sein Herz begonnen hatte, langsamer zu schlagen und er auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit war. Bald würde eine trügerische Wärme durch seine Adern fließen, er würde nachgeben, und dann wäre alles vorbei.
Aber er wollte nicht auf diese Art sterben, nicht jetzt, nicht ohne Pernilla an seiner Seite.
Inzwischen fror er so sehr, dass er die Eiskante loslassen musste. Er sank zurück ins Wasser, seine Gliedmaßen waren mittlerweile vollkommen taub. Unmöglich, noch länger zu kämpfen.
Etwas klingelte, schrill und herausfordernd, ein wütendes Signal, das nach seiner Aufmerksamkeit verlangte.
Er schlug die Augen auf und begriff, dass er in seinem Bett lag. Dicht neben ihm atmete Pernilla tief und gleichmäßig.
Er streckte den Arm aus und tastete nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Die Finger schlossen sich um die Metallhülle, verloren jedoch den Griff, und das Handy fiel auf den Fußboden.
Für einen Moment war es still, dann begann es wieder zu klingeln, noch lauter diesmal. Das Geräusch hörte nicht auf, und neben ihm begann Pernilla sich zu regen.
»Das ist deins«, murmelte sie.
Ihre Stimme holte ihn endgültig in die Realität.
Er schwang die Beine über die Bettkante, aber als er aufstehen wollte und den linken Fuß auf den Boden setzte, verlor er beinahe das Gleichgewicht. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Mühsam bückte er sich und hob das Telefon auf.
Er drückte es an die Wange und merkte, dass sie nass von Tränen war.
Seine Stimme klang brüchig, als er sich meldete.
»Ja, Thomas.«
Kapitel 3
Auf dem Weg zum Auto ging Margit Grankvist in Gedanken die spärlichen Informationen durch, die der Chef ihr am Telefon gegeben hatte.
Sie hatte gerade mit Bertil beim Frühstück gesessen, als der Anruf kam. Ihre Töchter schliefen beide noch. Bertil hatte kaum von seiner Zeitung aufgeblickt, ihm war sofort klar gewesen, dass sie zum Einsatz musste.
Er war es inzwischen gewohnt. Margit lächelte leicht, während sie an ihren Mann dachte. Er war Lehrer und unterrichtete in der Oberstufe Englisch und Schwedisch, und sie wusste, dass manche ihrer Freundinnen den Mann mit dem schütteren Haar nicht gerade für einen umwerfenden Typen hielten. Aber sie waren jetzt seit über zwanzig Jahren zusammen und hatten zwei hübsche Töchter, die bald flügge sein würden. Anna machte im Frühjahr Abitur und Linda war gerade aufs Gymnasium gekommen.
Margit öffnete die Autotür und setzte sich hinters Steuer. Der Vormittag war kühl, man merkte, dass es langsam Herbst wurde. Das spätsommerliche Wetter der letzten Wochen würde bald kaltem Wind und dicken Wolken weichen. Abends wurde es jetzt schon deutlich früher dunkel. Die Tage würden immer kürzer werden, bis es nur noch sechs Stunden hell war.
Bevor endlich die Wende kam.
Margit fiel es zunehmend schwerer, den langen schwedischen Winter zu ertragen. In der letzten Zeit hatte sie immer öfter von einer kleinen Wohnung in Südspanien geträumt, von einem Platz an der Sonne für sie und Bertil, wenn die Mädchen zu Hause ausgezogen waren.
Das Handy piepste und sie sah, dass eine SMS mit neuen Informationen über den toten Jungen gekommen war. Er war zwar schon zweiundzwanzig, aber für sie war er immer noch ein Junge. Ihre Tochter Anna war achtzehn, nur ein paar Jahre jünger.
Er hieß Marcus Nielsen, studierte Psychologie an der Universität in Stockholm und hatte allein ein Studentenzimmer bewohnt, in dem er vor etwa einer Stunde gefunden worden war.
Sie ließ den Motor an und setzte von der Garagenauffahrt zurück. Um diese Tageszeit war kaum Verkehr, bis zum Varmdövägen würde sie nicht mehr als zwanzig Minuten brauchen.
Margit parkte vor dem Eingang und schloss das Auto ab. Sie nickte dem uniformierten Polizisten auf der Treppe zu und ging an mehreren Studenten vorbei, die mit wirren Haaren in ihren offenen Zimmertüren standen. Die wohlbekannte Stimme von Kriminaltechniker Staffan Nilsson war schon von Weitem zu hören, noch ehe Margit über die Schwelle trat.
Die Leiche hing immer noch am Haken unter der Decke, würde aber bald vorsichtig abgenommen und in die Rechtsmedizin nach Solna gebracht werden.
»Guten Morgen«, sagte Nilsson und nickte Margit zu.
Sie ging weiter ins Zimmer hinein und sah sich um, während sie die Gummihandschuhe anzog, die er ihr gegeben hatte.
Das Zimmer war relativ groß für eine Studentenbude, bestimmt um die zwanzig Quadratmeter, schätzte sie. Recht gemütlich, auch wenn der Papierkorb von Pizzakartons überquoll und offenbar lange nicht Staub gesaugt worden war.
»So schön haben die Studenten zu meiner Zeit nicht gewohnt«, sagte Nilsson hinter ihrem Rücken. »Wir mussten uns mit Buden begnügen, in denen man sich kaum umdrehen konnte.«
Ein ordentlich gemachtes Bett stand gleich links neben der Tür, und hinten am Fenster sah sie einen Schreibtisch mit untergeschobenem Drehstuhl. An einer Wand hatte Marcus Nielsen ein weißes Bücherregal von Ikea aufgestellt, das Modell, das im Guinness-Buch der Rekorde als das meistverkaufte Regal der Welt verzeichnet war. Gegenüber vom Bett führte eine Tür zu einem kleinen Duschbad. Margit konnte durch den offenen Türspalt ein paar Rollen Toilettenpapier erkennen.
»Da hast du seinen letzten Gruß.«
Nilsson zeigte auf ein Blatt Papier, das auf dem Kopfkissen lag.
»Ein Abschiedsbrief?«
Er nickte und las vor:
»Vergebt mir, aber es ist alles so schwer. Marcus.«
Margit beugte sich vor und studierte den Zettel.
»Das ist ein Computerausdruck.«
»Ja.«
»Aber nicht unterschrieben.«
»Nein.«
»Und wo ist der Computer?« Sie blickte zum Schreibtisch, der mit Papieren und etlichen aufgeschlagenen Büchern übersät war. »Habt ihr ihn schon sichergestellt?«
»Nein, ich habe keinen gesehen.«
»Womit hat er das dann geschrieben?«
Nilsson zuckte die Schultern.
»Gute Frage.«
Margit ging zum Schreibtisch und sah in den Schubladen nach. Als sie den Kleiderschrank öffnete, fiel ihr ein großer Haufen Klamotten entgegen, die nachlässig hineingestopft worden waren, saubere und schmutzige in heillosem Durcheinander. Unter dem Bett entdeckte sie einen Rucksack. Sie öffnete ihn, aber er war leer.
»Hier ist jedenfalls kein Computer.« Sie drehte sich wieder zu Nilsson um. »Kennst du irgendjemanden aus seiner Generation, der ohne so ein Ding leben kann?«
»Er scheint auch keinen Drucker zu haben.«
Nilsson hatte recht. Im ganzen Zimmer gab es weder einen Drucker noch Druckerpapier.
»Wenn der Selbstmord lange geplant war, hat er den Abschiedsbrief vielleicht woanders ausgedruckt, beispielsweise in der Uni«, sagte der Kriminaltechniker.
»Möglich.«
Margit ging wieder zu dem Toten. Die Zimmerdecke war etwas höher als üblich, sodass sich seine Körpermitte etwa auf Augenhöhe befand.
Er trug ein graues Kapuzensweatshirt und abgewetzte Jeans. Ein dunkler Fleck im Stoff zeugte davon, dass sich der Darm im Moment des Todes entleert hatte. Der Gestank schlug ihr entgegen, als sie um den Körper herumging, sie wich instinktiv zurück und wandte das Gesicht ab. Dann trat sie ein paar Schritte beiseite, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
Marcus Nielsens Gesichtsausdruck war zu einer wilden Grimasse erstarrt. Die Augen waren halb geschlossen, und in einem Mundwinkel hatte sich Speichel gesammelt. Die Lippen waren verzerrt, Margit überlegte, ob er wohl versucht hatte zu schreien, als die Schlinge sich zuzog.
Hatte er seinen Entschluss bereut, als die Füße den Halt verloren? Oder war es nur ein Muskelkrampf, ausgelöst vom vegetativen Nervensystem des Körpers?
Sein Haar war unnatürlich schwarz, ein Eindruck, der durch die Leichenblässe des Gesichts noch hervorgehoben wurde.
»Das kann nicht seine natürliche Haarfarbe sein«, sagte Margit.
»Glaube ich auch nicht«, erwiderte Nilsson. »Aber das wird die Obduktion zeigen.«
»Was glaubst du, wie lange er schon tot ist?«
Nilsson strich sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken.
»Mindestens fünf, sechs Stunden. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt.«
Margit musterte die Seilschlinge aus verschiedenen Blickrichtungen. Sie schnitt tief in den Hals, dessen Haut dunkelrot mit einem Stich ins Purpurne verfärbt war. Das andere Ende des Seils war mit einem stabilen Knoten an einem Lampenhaken an der Decke befestigt.
»Wie ist er da hochgekommen?«, murmelte sie und beantwortete gleich darauf ihre Frage selbst. »Wahrscheinlich ist er auf den Schreibtisch geklettert, hat sich die Schlinge um den Hals gelegt und ist gesprungen.«
Sie ließ den Blick prüfend über die Leiche wandern. Marcus Nielsen war ziemlich dünn und nicht sehr groß. Dennoch musste der Körper ihrer Schätzung nach etwa siebzig Kilo wiegen.
»Dass er das Gewicht ausgehalten hat«, sagte sie halblaut.
»Wer, der Haken?«
»Mhm.«
Nilsson reckte sich und betrachtete den Haken.
»Das ist solides Mauerwerk, nicht so ein Fertighaus-Pfusch wie viele Neubauten aus den Siebzigern.«
»Du meinst, wenn er in so einem gewohnt hätte, wäre der Haken herausgebrochen und er hätte überlebt?«, fragte Margit.
Sie ging zum Bücherregal und griff nach einem gerahmten Foto, das in Augenhöhe stand. Es zeigte Marcus zusammen mit einem Jungen im Teenageralter und einem Paar in mittleren Jahren, vermutlich seine Eltern und ein jüngerer Bruder. Ein weißer Datumsstempel am unteren Rand zeigte, dass das Foto am 10. Juli 2006 aufgenommen worden war, also im vergangenen Sommer.
Es sah aus wie ein Urlaubsfoto; sie saßen in einer Taverne, und der Hintergrund bestand aus weißen Häusern mit leuchtend blauen Türen. Wahrscheinlich irgendwo in der griechischen Inselwelt, dachte Margit, auf einer entspannten Reise mit der ganzen Familie. Die nicht ahnt, was sie erwartet.
Der Verstorbene sah seiner Mutter auffallend ähnlich, die gleichen schmalen Augen, die gleiche gerade Nase. Ihr Haar war hellbraun, aber das war das ihres Sohnes vielleicht auch gewesen, bevor er es gefärbt hatte. Marcus hatte ein offenes Gesicht und sah intelligent aus, überhaupt nicht bedrückt von irgendwelchen Sorgen, die vierzehn Monate später dazu führen sollten, dass er sich das Leben nahm.
Sein Bruder kam nach dem Vater, beide waren blond und ein wenig pummelig. Der Vater hatte den Arm um die Schultern des jüngeren Sohnes gelegt und lachte breit in die Kamera. Das Foto war vermutlich von einem Kellner geknipst worden.
»Er sah nett aus«, bemerkte Margit.
»Das tun die meisten, zumindest bevor sie tot sind.«
Die Antwort war nicht sarkastisch, sondern nur eine nüchterne Feststellung.
Polizistenhumor, dachte Margit. Auch eine Art, die Tragödie auf Abstand zu halten.
Zögernd stellte sie das Foto wieder aufs Regal. Sie wusste, dass der Vater im öffentlichen Dienst arbeitete und die Mutter Krankenschwester war. Der jüngere Bruder wohnte noch zu Hause und besuchte das Gymnasium im dritten Jahr.
Genau wie ihre Anna.
Das hier war vielleicht das letzte Foto mit der ganzen Familie. Weitere würde es nicht geben. Die Eltern mussten schnellstmöglich informiert werden, und das war keine angenehme Aufgabe.
Nilsson holte etwas aus seiner großen schwarzen Tasche und verschwand im Bad.
»Gibt es Anzeichen für etwas anderes als Selbstmord?«, rief Margit ihm nach.
Er schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen.
»Vorläufig nicht. Aber wir stellen natürlich Fingerabdrücke und andere biologische Spuren sicher, sofern es sie gibt.«
»Wo ist das Mädchen, das ihn gefunden hat?«
»Sie sitzt mit Torunn in der Küche. Als wir ankamen, war sie völlig geschockt.«
»Kein Wunder bei diesen Umständen.«
Margit warf einen letzten Blick auf die Bücher, die im Regal standen. Viele hatten englische Titel, die auf psychologische Themengebiete schließen ließen. Auch die Bücher auf dem Schreibtisch sahen aus wie Fachliteratur.
»Er hat an der Uni Stockholm Psychologie studiert«, sagte Margit. »Ich frage mich, ob er wohl psychische Probleme hatte.«
Nilsson erschien in der Badezimmertür.
»Du meinst solche, die dazu führen, dass man sich umbringt?«
© 2013, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
»Ich brauche die Adresse. Wo genau sind Sie?«
»Er atmet nicht. Er hängt einfach da.«
Das Entsetzen und der Schock zeigten sich in der geschluchzten Antwort.
»Ich kann ihn nicht abnehmen, ich schaffe es einfach nicht.«
»Wo genau sind Sie? Ich brauche die Adresse«, sagte die Disponentin wieder.
Im Hintergrund war das gedämpfte Stimmengewirr von Kollegen zu hören, die andere Notrufe entgegennahmen. Bisher war es relativ ruhig gewesen, die Vorfälle vom Samstagabend waren jetzt am Sonntagmorgen längst abgearbeitet. Die Disponentin hatte ihre Schicht um sechs Uhr früh begonnen und schon Zeit gefunden, drei Tassen Kaffee zu trinken.
»Wo genau sind Sie?«, sagte sie zum wiederholten Mal ins Mikrofon.
Jetzt beruhigte sich die Frau am Telefon ein wenig.
»Värmdövägen 10B, in Nacka.«
Sie stieß die Worte beinahe winselnd hervor.
»Im Studentenheim«, hickste sie zum Schluss. »Wir wollten zusammen lernen.«
»Wie heißen Sie?«
»Amanda.«
»Und weiter?«
»Amanda Grenfors.«
Die Stimme klang dünn, zweifelnd, so als könnte die junge Frau nicht fassen, was sie vor sich sah.
»Jetzt versuchen Sie mal zu beschreiben, was passiert ist, Amanda «, sagte die Disponentin in der Notrufleitstelle aufmunternd.
Sie machte sich Notizen. Die Adresse war nur einen Steinwurf von der Polizeistation Nacka entfernt, der Streifenwagen würde nicht mehr als ein paar Minuten dorthin brauchen.
»Marcus hängt unter der Zimmerdecke, an einem Strick«, sagte das Mädchen. »Sein Gesicht ist ganz blau.«
Ihre Stimme brach.
Die Disponentin wartete. Etliche Sekunden verstrichen.
Dann ein Flüstern.
»Ich glaube, er ist tot.«
Die Haustür des Wohnheims stand weit offen, als der Streifwagen eintraf. Das Haus war in den Vierzigerjahren gebaut worden, und die vielen Fahrräder, die in einer Reihe davorstanden, zeugten davon, dass es ein Studentenheim war, eines der alten Mietshäuser, die kürzlich als Antwort auf den eklatanten Mangel an Unterkünften für die Ausbildungsstätten der Hauptstadt umgebaut worden waren.
Die beiden Polizisten gingen eine Treppe hinauf und betraten einen langen Korridor mit einem Dutzend Türen zu beiden Seiten. Sie kamen an der Küche vorbei, in der sich Unmengen von schmutzigem Geschirr auf der Spüle stapelten. An einer Schranktür war mit Klebestreifen ein handgeschriebener Zettel befestigt: Räum deinen Kram auf, deine Mutter wohnt hier nicht!
Weit und breit war niemand zu sehen, aber in einer Ecke lag ein schlampig zugeknoteter Müllbeutel. Dem Geruch nach zu urteilen, lag er schon eine ganze Weile dort.
Ganz am Ende des Korridors stand eine Tür sperrangelweit offen. Direkt gegenüber, mit dem Rücken an der Wand, kauerte eine blasse junge Frau. Sie trug Jeans und schwarze Sneaker, und der dicke dunkelrote Pullover schien viel zu groß für den mageren Körper zu sein.
»Sind Sie Amanda?«, fragte die Polizistin, die als Erste bei ihr ankam.
»Mhmm.«
Ein tränenstreifiges Gesicht blickte zu der Polizistin auf. Sie ging in die Hocke und berührte leicht den Arm des Mädchens.
»Alles in Ordnung?«
»Er hängt da drinnen.« Sie hob den rechten Arm und zeigte mit zitternder Hand ins Zimmer. »Am Lampenhaken.«
Die Blicke der Polizisten folgten der Bewegung. Im selben Moment brach die Sonne hervor, und in dem Lichtstrahl, der durchs Fenster hereinfiel, tanzten kleine Staubkörner. Sie bildeten einen schimmernden Glorienschein um den einsamen Körper, der von der Decke baumelte. Der hängende Kopf und der Winkel, in dem er abgeknickt war, bestätigten ihre Vermutung.
Marcus Nielsen war tot.
Kapitel 2
Er lief über die dunkle, raue Eisdecke vor Sandhamn, und sie brach unter seinen Füßen auf. Das Wasser verschlang ihn, es fühlte sich an, als würden Finger und Zehen abfrieren. Das eiskalte Meer presste die Luft aus seinen Lungen und entzog seinem Blut den Sauerstoff.
Gleich würde er in dem Loch ertrinken. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen, weil niemand wusste, dass er draußen auf dem Eis war.
Er weinte.
Er wollte nicht sterben, nicht auf diese Art, nicht so einsam und ohne Abschied.
Das Wasser, das die Kälte in seinen Körper zwang, saugte jegliche Kraft aus ihm heraus. Voller Bedauern dachte er an alles, was er nicht mehr hatte sagen oder tun können.
Aber wie hätte er ahnen sollen, dass seine Zeit bereits abgelaufen war?
Während seine Glieder gefühllos wurden, merkte er, dass sein Herz begonnen hatte, langsamer zu schlagen und er auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit war. Bald würde eine trügerische Wärme durch seine Adern fließen, er würde nachgeben, und dann wäre alles vorbei.
Aber er wollte nicht auf diese Art sterben, nicht jetzt, nicht ohne Pernilla an seiner Seite.
Inzwischen fror er so sehr, dass er die Eiskante loslassen musste. Er sank zurück ins Wasser, seine Gliedmaßen waren mittlerweile vollkommen taub. Unmöglich, noch länger zu kämpfen.
Etwas klingelte, schrill und herausfordernd, ein wütendes Signal, das nach seiner Aufmerksamkeit verlangte.
Er schlug die Augen auf und begriff, dass er in seinem Bett lag. Dicht neben ihm atmete Pernilla tief und gleichmäßig.
Er streckte den Arm aus und tastete nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Die Finger schlossen sich um die Metallhülle, verloren jedoch den Griff, und das Handy fiel auf den Fußboden.
Für einen Moment war es still, dann begann es wieder zu klingeln, noch lauter diesmal. Das Geräusch hörte nicht auf, und neben ihm begann Pernilla sich zu regen.
»Das ist deins«, murmelte sie.
Ihre Stimme holte ihn endgültig in die Realität.
Er schwang die Beine über die Bettkante, aber als er aufstehen wollte und den linken Fuß auf den Boden setzte, verlor er beinahe das Gleichgewicht. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Mühsam bückte er sich und hob das Telefon auf.
Er drückte es an die Wange und merkte, dass sie nass von Tränen war.
Seine Stimme klang brüchig, als er sich meldete.
»Ja, Thomas.«
Kapitel 3
Auf dem Weg zum Auto ging Margit Grankvist in Gedanken die spärlichen Informationen durch, die der Chef ihr am Telefon gegeben hatte.
Sie hatte gerade mit Bertil beim Frühstück gesessen, als der Anruf kam. Ihre Töchter schliefen beide noch. Bertil hatte kaum von seiner Zeitung aufgeblickt, ihm war sofort klar gewesen, dass sie zum Einsatz musste.
Er war es inzwischen gewohnt. Margit lächelte leicht, während sie an ihren Mann dachte. Er war Lehrer und unterrichtete in der Oberstufe Englisch und Schwedisch, und sie wusste, dass manche ihrer Freundinnen den Mann mit dem schütteren Haar nicht gerade für einen umwerfenden Typen hielten. Aber sie waren jetzt seit über zwanzig Jahren zusammen und hatten zwei hübsche Töchter, die bald flügge sein würden. Anna machte im Frühjahr Abitur und Linda war gerade aufs Gymnasium gekommen.
Margit öffnete die Autotür und setzte sich hinters Steuer. Der Vormittag war kühl, man merkte, dass es langsam Herbst wurde. Das spätsommerliche Wetter der letzten Wochen würde bald kaltem Wind und dicken Wolken weichen. Abends wurde es jetzt schon deutlich früher dunkel. Die Tage würden immer kürzer werden, bis es nur noch sechs Stunden hell war.
Bevor endlich die Wende kam.
Margit fiel es zunehmend schwerer, den langen schwedischen Winter zu ertragen. In der letzten Zeit hatte sie immer öfter von einer kleinen Wohnung in Südspanien geträumt, von einem Platz an der Sonne für sie und Bertil, wenn die Mädchen zu Hause ausgezogen waren.
Das Handy piepste und sie sah, dass eine SMS mit neuen Informationen über den toten Jungen gekommen war. Er war zwar schon zweiundzwanzig, aber für sie war er immer noch ein Junge. Ihre Tochter Anna war achtzehn, nur ein paar Jahre jünger.
Er hieß Marcus Nielsen, studierte Psychologie an der Universität in Stockholm und hatte allein ein Studentenzimmer bewohnt, in dem er vor etwa einer Stunde gefunden worden war.
Sie ließ den Motor an und setzte von der Garagenauffahrt zurück. Um diese Tageszeit war kaum Verkehr, bis zum Varmdövägen würde sie nicht mehr als zwanzig Minuten brauchen.
Margit parkte vor dem Eingang und schloss das Auto ab. Sie nickte dem uniformierten Polizisten auf der Treppe zu und ging an mehreren Studenten vorbei, die mit wirren Haaren in ihren offenen Zimmertüren standen. Die wohlbekannte Stimme von Kriminaltechniker Staffan Nilsson war schon von Weitem zu hören, noch ehe Margit über die Schwelle trat.
Die Leiche hing immer noch am Haken unter der Decke, würde aber bald vorsichtig abgenommen und in die Rechtsmedizin nach Solna gebracht werden.
»Guten Morgen«, sagte Nilsson und nickte Margit zu.
Sie ging weiter ins Zimmer hinein und sah sich um, während sie die Gummihandschuhe anzog, die er ihr gegeben hatte.
Das Zimmer war relativ groß für eine Studentenbude, bestimmt um die zwanzig Quadratmeter, schätzte sie. Recht gemütlich, auch wenn der Papierkorb von Pizzakartons überquoll und offenbar lange nicht Staub gesaugt worden war.
»So schön haben die Studenten zu meiner Zeit nicht gewohnt«, sagte Nilsson hinter ihrem Rücken. »Wir mussten uns mit Buden begnügen, in denen man sich kaum umdrehen konnte.«
Ein ordentlich gemachtes Bett stand gleich links neben der Tür, und hinten am Fenster sah sie einen Schreibtisch mit untergeschobenem Drehstuhl. An einer Wand hatte Marcus Nielsen ein weißes Bücherregal von Ikea aufgestellt, das Modell, das im Guinness-Buch der Rekorde als das meistverkaufte Regal der Welt verzeichnet war. Gegenüber vom Bett führte eine Tür zu einem kleinen Duschbad. Margit konnte durch den offenen Türspalt ein paar Rollen Toilettenpapier erkennen.
»Da hast du seinen letzten Gruß.«
Nilsson zeigte auf ein Blatt Papier, das auf dem Kopfkissen lag.
»Ein Abschiedsbrief?«
Er nickte und las vor:
»Vergebt mir, aber es ist alles so schwer. Marcus.«
Margit beugte sich vor und studierte den Zettel.
»Das ist ein Computerausdruck.«
»Ja.«
»Aber nicht unterschrieben.«
»Nein.«
»Und wo ist der Computer?« Sie blickte zum Schreibtisch, der mit Papieren und etlichen aufgeschlagenen Büchern übersät war. »Habt ihr ihn schon sichergestellt?«
»Nein, ich habe keinen gesehen.«
»Womit hat er das dann geschrieben?«
Nilsson zuckte die Schultern.
»Gute Frage.«
Margit ging zum Schreibtisch und sah in den Schubladen nach. Als sie den Kleiderschrank öffnete, fiel ihr ein großer Haufen Klamotten entgegen, die nachlässig hineingestopft worden waren, saubere und schmutzige in heillosem Durcheinander. Unter dem Bett entdeckte sie einen Rucksack. Sie öffnete ihn, aber er war leer.
»Hier ist jedenfalls kein Computer.« Sie drehte sich wieder zu Nilsson um. »Kennst du irgendjemanden aus seiner Generation, der ohne so ein Ding leben kann?«
»Er scheint auch keinen Drucker zu haben.«
Nilsson hatte recht. Im ganzen Zimmer gab es weder einen Drucker noch Druckerpapier.
»Wenn der Selbstmord lange geplant war, hat er den Abschiedsbrief vielleicht woanders ausgedruckt, beispielsweise in der Uni«, sagte der Kriminaltechniker.
»Möglich.«
Margit ging wieder zu dem Toten. Die Zimmerdecke war etwas höher als üblich, sodass sich seine Körpermitte etwa auf Augenhöhe befand.
Er trug ein graues Kapuzensweatshirt und abgewetzte Jeans. Ein dunkler Fleck im Stoff zeugte davon, dass sich der Darm im Moment des Todes entleert hatte. Der Gestank schlug ihr entgegen, als sie um den Körper herumging, sie wich instinktiv zurück und wandte das Gesicht ab. Dann trat sie ein paar Schritte beiseite, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
Marcus Nielsens Gesichtsausdruck war zu einer wilden Grimasse erstarrt. Die Augen waren halb geschlossen, und in einem Mundwinkel hatte sich Speichel gesammelt. Die Lippen waren verzerrt, Margit überlegte, ob er wohl versucht hatte zu schreien, als die Schlinge sich zuzog.
Hatte er seinen Entschluss bereut, als die Füße den Halt verloren? Oder war es nur ein Muskelkrampf, ausgelöst vom vegetativen Nervensystem des Körpers?
Sein Haar war unnatürlich schwarz, ein Eindruck, der durch die Leichenblässe des Gesichts noch hervorgehoben wurde.
»Das kann nicht seine natürliche Haarfarbe sein«, sagte Margit.
»Glaube ich auch nicht«, erwiderte Nilsson. »Aber das wird die Obduktion zeigen.«
»Was glaubst du, wie lange er schon tot ist?«
Nilsson strich sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken.
»Mindestens fünf, sechs Stunden. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt.«
Margit musterte die Seilschlinge aus verschiedenen Blickrichtungen. Sie schnitt tief in den Hals, dessen Haut dunkelrot mit einem Stich ins Purpurne verfärbt war. Das andere Ende des Seils war mit einem stabilen Knoten an einem Lampenhaken an der Decke befestigt.
»Wie ist er da hochgekommen?«, murmelte sie und beantwortete gleich darauf ihre Frage selbst. »Wahrscheinlich ist er auf den Schreibtisch geklettert, hat sich die Schlinge um den Hals gelegt und ist gesprungen.«
Sie ließ den Blick prüfend über die Leiche wandern. Marcus Nielsen war ziemlich dünn und nicht sehr groß. Dennoch musste der Körper ihrer Schätzung nach etwa siebzig Kilo wiegen.
»Dass er das Gewicht ausgehalten hat«, sagte sie halblaut.
»Wer, der Haken?«
»Mhm.«
Nilsson reckte sich und betrachtete den Haken.
»Das ist solides Mauerwerk, nicht so ein Fertighaus-Pfusch wie viele Neubauten aus den Siebzigern.«
»Du meinst, wenn er in so einem gewohnt hätte, wäre der Haken herausgebrochen und er hätte überlebt?«, fragte Margit.
Sie ging zum Bücherregal und griff nach einem gerahmten Foto, das in Augenhöhe stand. Es zeigte Marcus zusammen mit einem Jungen im Teenageralter und einem Paar in mittleren Jahren, vermutlich seine Eltern und ein jüngerer Bruder. Ein weißer Datumsstempel am unteren Rand zeigte, dass das Foto am 10. Juli 2006 aufgenommen worden war, also im vergangenen Sommer.
Es sah aus wie ein Urlaubsfoto; sie saßen in einer Taverne, und der Hintergrund bestand aus weißen Häusern mit leuchtend blauen Türen. Wahrscheinlich irgendwo in der griechischen Inselwelt, dachte Margit, auf einer entspannten Reise mit der ganzen Familie. Die nicht ahnt, was sie erwartet.
Der Verstorbene sah seiner Mutter auffallend ähnlich, die gleichen schmalen Augen, die gleiche gerade Nase. Ihr Haar war hellbraun, aber das war das ihres Sohnes vielleicht auch gewesen, bevor er es gefärbt hatte. Marcus hatte ein offenes Gesicht und sah intelligent aus, überhaupt nicht bedrückt von irgendwelchen Sorgen, die vierzehn Monate später dazu führen sollten, dass er sich das Leben nahm.
Sein Bruder kam nach dem Vater, beide waren blond und ein wenig pummelig. Der Vater hatte den Arm um die Schultern des jüngeren Sohnes gelegt und lachte breit in die Kamera. Das Foto war vermutlich von einem Kellner geknipst worden.
»Er sah nett aus«, bemerkte Margit.
»Das tun die meisten, zumindest bevor sie tot sind.«
Die Antwort war nicht sarkastisch, sondern nur eine nüchterne Feststellung.
Polizistenhumor, dachte Margit. Auch eine Art, die Tragödie auf Abstand zu halten.
Zögernd stellte sie das Foto wieder aufs Regal. Sie wusste, dass der Vater im öffentlichen Dienst arbeitete und die Mutter Krankenschwester war. Der jüngere Bruder wohnte noch zu Hause und besuchte das Gymnasium im dritten Jahr.
Genau wie ihre Anna.
Das hier war vielleicht das letzte Foto mit der ganzen Familie. Weitere würde es nicht geben. Die Eltern mussten schnellstmöglich informiert werden, und das war keine angenehme Aufgabe.
Nilsson holte etwas aus seiner großen schwarzen Tasche und verschwand im Bad.
»Gibt es Anzeichen für etwas anderes als Selbstmord?«, rief Margit ihm nach.
Er schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen.
»Vorläufig nicht. Aber wir stellen natürlich Fingerabdrücke und andere biologische Spuren sicher, sofern es sie gibt.«
»Wo ist das Mädchen, das ihn gefunden hat?«
»Sie sitzt mit Torunn in der Küche. Als wir ankamen, war sie völlig geschockt.«
»Kein Wunder bei diesen Umständen.«
Margit warf einen letzten Blick auf die Bücher, die im Regal standen. Viele hatten englische Titel, die auf psychologische Themengebiete schließen ließen. Auch die Bücher auf dem Schreibtisch sahen aus wie Fachliteratur.
»Er hat an der Uni Stockholm Psychologie studiert«, sagte Margit. »Ich frage mich, ob er wohl psychische Probleme hatte.«
Nilsson erschien in der Badezimmertür.
»Du meinst solche, die dazu führen, dass man sich umbringt?«
© 2013, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Viveca Sten
Viveca Sten war Chefjuristin bei der dänischen und schwedischen Post, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wohnt mit Mann und drei Kindern vor den Toren von Stockholm. Seit sie ein kleines Kind war, hat sie die Sommer auf Sandhamn verbracht, wo ihre Familie seit mehreren Generationen ein Haus besitzt. Ihre Sandhamn-Krimireihe feiert weltweit Erfolge und wurde für das ZDF verfilmt. Lendt, DagmarDagmar Lendt ist Skandinavistin und übersetzt aus dem Norwegischen, Schwedischen und Dänischen. Bisher hat sie rund neunzig Bücher ins Deutsche übertragen, u.a. von Jon Fosse, Kjetil Try, Karin Alvtegen und Liza Marklund. Sie lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Viveca Sten
- 2013, 6. Aufl., 416 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Dagmar Lendt
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462045288
- ISBN-13: 9783462045284
- Erscheinungsdatum: 18.04.2013
Pressezitat
»Ein neuer spannender Fall von Viveca Sten, die mittlerweile auch in Deutschland eine riesige Fangemeinde hat.« buch-magazin.com 20140601
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