Aggression
Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist
Aggression ist unerwünscht, in unserer Gesellschaft und besonders bei unseren Kindern. Aggressives Verhalten gilt als Tabu und wird diskriminiert. Was wir mit der Unterdrückung dieser legitimen Gefühle anrichten, wie wichtig es ist, diese...
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Produktinformationen zu „Aggression “
Aggression ist unerwünscht, in unserer Gesellschaft und besonders bei unseren Kindern. Aggressives Verhalten gilt als Tabu und wird diskriminiert. Was wir mit der Unterdrückung dieser legitimen Gefühle anrichten, wie wichtig es ist, diese zuzulassen und wie wir mit ihnen konkret umgehen können, zeigt der bekannte und erfolgreiche Familientherapeut Jesper Juul eindrucksvoll in seinem neuen Buch. Er plädiert für ein radikales Umdenken: Aggressionen sind wichtige Emotionen, die wir entschlüsseln müssen, sonst setzen wir die geistige Gesundheit, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen unserer Kinder aufs Spiel.
Ein wichtiger Aufruf, für einen konstruktiven und positiven Umgang mit einem wichtigen Gefühl.
Lese-Probe zu „Aggression “
Aggression von Jasper JuulI.
Geistig gesund Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) definiert Gesundheit als einen »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens« und nicht nur als »das Fehlen von Krankheit «. Es ist überflüssig zu erklären, warum körperlich und geistig gesund sein für jeden Einzelnen und die Gesellschaft so wichtig ist - ich werde mich also kurz fassen.
Das Fehlen von Gesundheit ist schmerzhaft. Es reduziert die Lebensqualität des Individuums, in der Folge auch die seines engsten Familienkreises. Der Gesundheitsgrad, welcher von einzelnen Menschen und der Gesellschaft erreicht wird, ist für die Ausgaben eines Staates entscheidend. Über das Verhältnis von Werten und der Funktionsweise von Gesellschaften einerseits sowie der individuellen und familiären Gesundheit andererseits kann viel diskutiert werden. Zweifelsohne steht jedoch fest, dass die Gesellschaft als Ganzes mehr Einfluss hat als jeder Einzelne von uns.
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Wenn beispielsweise eine Kommune entscheidet, die Kosten für die Kindertagesstätten zu kürzen - mit der Konsequenz, dass 28 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren sieben Stunden von einer einzigen Person betreut werden - ausgenommen vielleicht zwei Stunden um die Mittagszeit, wo sich zwei Erwachsene um die Kinder kümmern, da die Jüngsten zu Bett gebracht werden müssen -, so wirkt sich dieser Sachverhalt auf die Gesundheit aller Beteiligten aus. (Wenn Sie glauben, dass dieses Beispiel extrem ist, empfehle ich Ihnen eine Reise nach Südeuropa oder nach Schweden, wo der offizielle Standard lautet: Zwei Erwachsene betreuen allerhöchstens 18 Kinder.) Dieser Stand der Dinge ist nicht nur für die Kinder gesundheitsgefährdend, sondern für jeden Beteiligten, für Familien wie Betreuerinnen.
Eine Erzieherin, die fünf Stunden pro Tag allein mit 28 Kindern verbringt und ihren Job nicht kündigen kann, weil ihre Familie von ihrem Einkommen abhängt, wird möglicherweise von Schuldgefühlen, in ihrem Beruf nicht gut genug zu sein, überschwemmt. Sie wird allmählich die ursprüngliche Energie, die sie bewogen hatte, mit Kindern zu arbeiten, verlieren; zudem wird sie eine weniger zugängliche Partnerin und Mutter sein. Die letzte Konsequenz heißt »Burn-out-Syndrom«, möglicherweise Trennung und Scheidung. Das »optimistischere« Szenario sieht vor, dass sie ihren Job wechselt und nicht mehr als Erzieherin tätig ist; die Gesellschaft verliert somit endgültig die Hoffnung, die sie veranlasst hatte, in ihre Ausbildung zu investieren.
Auf solche Umstände werden Kinder entweder mit aggressivem und/oder hyperaktivem Verhalten reagieren oder mit Resignation. Kinder kämpfen für die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die sie brauchen, oder sie geben auf und werden zu »gut funktionierenden« Individuen. Die erste Gruppe wird sehr schnell als Kinder mit »speziellen Bedürfnissen« definiert und avanciert zu einer Gruppe, die hohe Kosten verursacht. Psychologen, Sonderpädagogen, Verhaltenstherapeuten, Physiotherapeuten und Gesprächtherapeuten treten auf den Plan. Alle trösten sich mit dem Gedanken, den Kindern »helfen« zu wollen - das wird noch immer als edles Ziel angesehen, doch entspricht es nicht unbedingt den Anforderungen ihres beruflichen Ethos und ihrer Integrität.
In vielen Ländern haben wir bereits die Erfahrung eines weiteren Schrittes gemacht: Dort wird eine politische Agenda durchgezogen, die die »Integration« von allen Kindern in Kindertagesstätten und Schulen vorsieht. Irgendwie gelingt es Politikern, solche Maßnahmen im Namen der Humanität »zu verkaufen« - sie können sich schließlich darauf verlassen, dass Eltern ein »normales Kind« haben wollen. Doch das ist zynisch und kurzsichtig, zudem kostspieliger.
Ein »dysfunktionales Kind« zu haben, ist der ultimative Albtraum für die Großzahl der Eltern. Diese Kategorisierung fordert einen hohen Tribut von den Eltern, ihrer Ehe und ihrer Fähigkeit, weiterhin ihrem Beruf nachzugehen. Das Gefühl der Scham und Schuld ist so groß, dass es Eltern oft vorziehen, im Stillen zu leiden - als ob sie die Übeltäter wären. Die Mittel der Gemeinden sowie der Gesellschaft, die für soziales Wohlergehen und Gesundheit ausgegeben werden, sind enorm. Trotzdem widmet sich diesem Phänomen keine wissenschaftliche Studie - die Regierungen der verschiedenen Länder achten sehr genau darauf, welche Studie sie auswählen und finanzieren!
Die andere Gruppe von Kindern - jene, die resignieren und »leicht zu handhaben und zufriedenzustellen« sind - wird bis zur Pubertät meist keine ökonomische Bürde für die Gesellschaft darstellen. Kommen sie jedoch in die Pubertät, finden wir eine alarmierend große Zahl in Kinder- und Jugendpsychiatrien wieder. Sie haben nicht nur die frühen, prägenden Erfahrungen in den Kindertagestätten hinter sich, sondern sind auch bereits durch Schulen gegangen, in denen Lehrer noch immer fest daran glauben, dass leicht zu handhabende Kinder gesunde Kinder sind. Die Mehrzahl dieser Kinder sind Mädchen. Wir finden sie in Ländern, in denen die Frauenemanzipation sehr langsam voranschreitet und das Recht, sich selbst auszudrücken und zu entfalten, noch immer nicht selbstverständlich ist; sie sind jetzt Ende dreißig oder Anfang/ Mitte vierzig, suchen viel zu oft ihren Hausarzt auf, lassen sich scheiden, leiden an Depressionen und Angstzuständen sowie an vielen anderen Symptomen, die eine mangelhafte Lebensqualität verursacht.
Kurz und knapp habe ich zu beschreiben versucht, was Sparmaßnahmen an falscher Stelle mit sich bringen. Wenn wir Kosten sparen wollen und dabei die Qualität der Kindertagestätten aufs Spiel setzen, müssen wir mit Konsequenzen rechnen. Sparmaßnahmen beruhen auf der irrigen Annahme, dass Qualität mit hohen Kosten verbunden sei. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass der Mangel an Qualität sehr viel höhere Kosten erzeugt. - Das, was echte Kosten verursacht, ist das unintelligente und unverantwortliche politische Management, ausgelegt auf maximal vier Jahre.
Selbst wenn ich es gut verstehen kann, dass sich Pädagogen und Erzieher mit dem Status quo abfinden, muss ich zugeben, dass mir das gar nicht gefällt! Pädagogen und Erzieher, Spezialisten und Experten haben in den letzten drei Jahrzehnten sehr viel Aufmerksamkeit genossen, sie sind dabei sehr mächtig geworden. Es wird Zeit, dass wir soziale Verantwortung tragen und uns auf politischer Ebene einmischen.
So viel zu dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, bezogen auf das Thema Gesundheit. Im Folgenden werde ich weniger politisch und mich viel stärker auf den einzelnen Menschen und dessen Familie konzentrieren - ich werde untersuchen, welche Rolle dem Individuum und seiner Familie beim Zustandekommen und Aufrechterhalten der geistigen Gesundheit zukommt.
Ich bin Psychotherapeut, mein Beruf ist historisch betrachtet brandneu - kaum den Kinderschuhen entwachsen. Viele psychotherapeutische »Entdeckungen« des vergangenen Jahrhunderts haben häufig alte Weisheiten bestätigt - wenn auch aus einer anderen Perspektive betrachtet und teils auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützt. Ich beschäftige mich allerdings auch als Familientherapeut mit der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Daher kann ich für mich schlussfolgern: Ich stehe für ein relativ neues Phänomen ein - den Wert des Einzelnen und die Bedeutung bestimmter Beziehungsqualitäten in seinen auf Liebe beruhenden Beziehungen.
Alles beginnt mit der Familie - zumindest mit der persönlichen und existentiell entscheidenden Beziehung zwischen Eltern (oder einem Elternteil) und Kind. Die Qualität dieser persönlichen Beziehung und die Qualität der Beziehung des Kindes zu anderen »primären Betreuern « bestimmt als Erstes das allgemeine Wohlbefinden eines Kindes. Selbstverständlich spielen dabei die sozioökonomischen Faktoren in Form von Nahrung und Bildung oder die politischen Faktoren wie Zugang zu allgemein- gesundheitlichen Präventionsmaßnahmen auch eine wichtige Rolle. Eltern, Erzieher und Lehrer bilden die primäre Quelle für die geistige und soziale Gesundheit im Leben eines Kindes von 0 bis 14 Jahren.
Demnach stellt sich die Frage, was wir über die geistige und soziale Gesundheit bislang gelernt haben und wie wir deren Entwicklung für unsere Kinder gewährleisten können.
Wir müssten alle Psychotherapeuten, Familientherapeuten und einen Teil der Psychologen in einem großen Stadion versammeln und ihnen folgende zwei Fragen stellen:
1. Was hat den Großteil deiner Klienten in Schwierigkeiten mit sich selbst, den Verwandten, Partnern, Kindern, Arbeitgebern und Freunden gebracht? 2. Welcher wichtige Lernprozess war es, der deine Klienten aus ihren Schwierigkeiten herausgeführt hat? Ich bin überzeugt, dass der allgemeine Konsens der Antworten auf diese beiden Fragen wie folgt lautet: Das Maß, in dem sie sich selbst bewusst wurden, war entscheidend und konsequenterweise ihre Fähigkeit, sich mit ihren persönlichen Bedürfnissen und Grenzen zu identifizieren und sie zu definieren. Und zudem die Fähigkeit, nein zu sagen, wenn sie Nein meinen, und ja zu sagen, wenn sie Ja meinen.
Das ist die Essenz geistiger und sozialer Gesundheit, auch wenn die Tradition uns glauben machen will, es wäre anders. So einfach und so schwer ist das!
Sich seiner selbst bewusst werden
Was ist denn nur mit der Aggression geschehen? Warum ist sie zum Tabu geworden?
Meine Antwort: Allein die Tatsache, dass wir uns unsere Emotionen sowie unsere inneren und äußeren Reaktionsmuster bewusstmachen und sie akzeptieren, stattet uns mit dem Selbstwertgefühl aus, das wir brauchen, um ja oder nein zu sagen, wenn es für unsere geistige Gesundheit und unser soziales Wohlergehen angemessen und notwendig ist.
Kinder lernen zunächst nicht mittels Unterweisung, sondern durch Erfahrung. Wie echte Wissenschaftler, so lernen auch Kinder: Sie denken sich eine Theorie aus, testen sie mit Hilfe von Experimenten und lernen von ihrem Scheitern genauso viel wie von ihren Erfolgen. So verhält es sich, wenn Kinder versuchen, auf den Stuhl zu klettern oder Klavier zu spielen, wenn ein Jugendlicher der beste Fußballspieler werden will oder verliebt ist, wenn er Sex hat oder lernt, die impulsive Aggression in kreatives und konstruktives Verhalten zu verwandeln.
Es tut mir leid, wenn ich den enttäuschen muss, der meint, sein Kind müsse all das leisten, bevor es fünf Jahre alt ist. Das Kind braucht dafür eine ganze Kindheit, unter der Voraussetzung, es erhält liebevolle, empathische Feedbacks und ist von Eltern umgeben, die sich zumindest einigermaßen ihres persönlichen Werts und ihrer Grenzen bewusst sind.
Gibt es wirklich nur diesen einzigen Weg? - Nein, es gibt noch einen anderen. Wir können strenge moralische und/oder religiöse Regeln für Kinder aufstellen, die sogar körperliche Züchtigung vorsehen, und wir können mit sozialem Ausschluss drohen, um möglichst effektiv zu sein. Dies ist in kleinen, abgesonderten Gruppen noch immer möglich, doch immer seltener in der Welt, in der Kinder heute aufwachsen - in einer Welt mit globalen Perspektiven und global ausgerichteten Erkenntnissen, einer Welt, in der es den strengen moralischen Konsens der Gesellschaft nicht mehr gibt. Diesen, hier bloß gestreiften Weg schließe ich von meiner Betrachtung aus, denn er hat noch nie zu individuellem Wohlergehen und wertvollen persönlichen oder sozialen Beziehungen geführt.
Um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, muss ein Kind sich wertvoll für seine Eltern fühlen und folglich ihrer Zuneigung und Liebe »wert sein«. Ausgehend davon entwickelt sich das Selbstwertgefühl auf zwei Ebenen: einer quantitativen und einer qualitativen. Die quantitative Entwicklung vollzieht sich täglich im Minutentakt: Während sich das Kind selbst kennenlernt, sein Potential, seine Begrenzungen, Gedanken, Gefühle und Reaktionen entdeckt und erfasst. Diese Entwicklung bestimmt uns, solange wir leben, solange wir uns entfalten und verwandeln; das Maß an Selbsterkenntnis vergrößert sich immer mehr. Entscheidend bleibt, sich seines Selbst stets bewusst zu sein.
Die qualitative Ebene hängt fast gänzlich vom verbalen und nonverbalen Feedback ab, das Eltern, andere wichtige Erwachsene oder Geschwister (in dieser Reihenfolge) dem Kind zuteilwerden lassen.
Wenn ich eineinhalb Jahre alt bin und die Welt vergnügt kennenlerne, indem ich alles, was ich anfasse, in den Mund stecke, dann hängt mein Selbstwertgefühl vom Feedback meiner Eltern ab. Gelingt es ihnen, mich zu überzeugen, dass nicht jedes Ding in den Mund gehört, ohne meine Entdeckungslust zu verurteilen, dann wird es mir gutgehen. Wenn es allerdings dem Feedback meiner Eltern an empathischer Führung fehlt, werde ich mich schlecht fühlen, und es wird mir nicht gutgehen.
Wenn ich zweieinhalb Jahre alt bin und meine kleine Schwester so fest umarme, dass sie beinahe erstickt, und meine Eltern intervenieren, indem sie mir zeigen, wie ich meine Liebe etwas zärtlicher ausdrücken kann, wird es mir gutgehen. Sind sie aufgebracht, brüllen mich an und stoßen meine Arme weg, werde ich eine wichtige Erfahrung missen - die Erfahrung, wie ich einen anderen Menschen lieben kann, indem ich dessen persönliche Grenzen in angemessener Weise beachte, und es wird mir dabei nicht gutgehen.
Dafür gibt es zwei Gründe. Ein Grund ist von der Neurobiologie entdeckt worden und besagt, dass die kindliche Lernfähigkeit - ob es sich dabei um intellektuelle oder soziale Fähigkeiten handelt, ist egal - zurückgeht, wenn das Umfeld, in dem Kinder lernen, kritisch ist. So kommt es, dass kritische Eltern und Lehrer in einem Circulus vitiosus (Teufelskreis) landen, wo sie dauernd frustriert und wütend sind, da sie alles »zigmal« wiederholen müssen, und Kinder sich dabei immer schlecht, dumm und keines Respekts würdig empfinden. Der andere Grund ist die allgemein bekannte, emotionale Reaktion aller Kinder: Wenn meine Eltern nicht glücklich sind, muss etwas mit mir - mit dem, der ich bin - nicht in Ordnung sein.
Dieser Mechanismus ist in jedem Kind zu jeder Zeit aktiv. Deshalb hängt das Selbstwertgefühl eines Kindes und seine geistige wie soziale Gesundheit fast ausschließlich vom Feedback seiner Eltern ab. Das ist so - egal, in welchem emotionalen Zustand das Kind ist, ob es glücklich, enthusiastisch, spielerisch, traurig, unglücklich, leidend oder eben wütend und aggressiv ist.
Die Erwachsenen hingegen erinnern sich an ihre edlen Ziele und machen aus der Aggression ein soziales Tabu. Indem sie es ihrem Kind unmöglich machen, seine Selbsterkenntnis zu vertiefen und zu lernen, in einer immer reiferen, sozial akzeptierten Art mit Emotionen umzugehen, halten sie es davon ab, Selbstwertgefühl und Empathie zu entwickeln. Das ist genauso, als würden wir konstant die Handschrift eines Kindes kritisieren, während das Kind sich redlich bemüht, in seiner Muttersprache zu schreiben.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wenn beispielsweise eine Kommune entscheidet, die Kosten für die Kindertagesstätten zu kürzen - mit der Konsequenz, dass 28 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren sieben Stunden von einer einzigen Person betreut werden - ausgenommen vielleicht zwei Stunden um die Mittagszeit, wo sich zwei Erwachsene um die Kinder kümmern, da die Jüngsten zu Bett gebracht werden müssen -, so wirkt sich dieser Sachverhalt auf die Gesundheit aller Beteiligten aus. (Wenn Sie glauben, dass dieses Beispiel extrem ist, empfehle ich Ihnen eine Reise nach Südeuropa oder nach Schweden, wo der offizielle Standard lautet: Zwei Erwachsene betreuen allerhöchstens 18 Kinder.) Dieser Stand der Dinge ist nicht nur für die Kinder gesundheitsgefährdend, sondern für jeden Beteiligten, für Familien wie Betreuerinnen.
Eine Erzieherin, die fünf Stunden pro Tag allein mit 28 Kindern verbringt und ihren Job nicht kündigen kann, weil ihre Familie von ihrem Einkommen abhängt, wird möglicherweise von Schuldgefühlen, in ihrem Beruf nicht gut genug zu sein, überschwemmt. Sie wird allmählich die ursprüngliche Energie, die sie bewogen hatte, mit Kindern zu arbeiten, verlieren; zudem wird sie eine weniger zugängliche Partnerin und Mutter sein. Die letzte Konsequenz heißt »Burn-out-Syndrom«, möglicherweise Trennung und Scheidung. Das »optimistischere« Szenario sieht vor, dass sie ihren Job wechselt und nicht mehr als Erzieherin tätig ist; die Gesellschaft verliert somit endgültig die Hoffnung, die sie veranlasst hatte, in ihre Ausbildung zu investieren.
Auf solche Umstände werden Kinder entweder mit aggressivem und/oder hyperaktivem Verhalten reagieren oder mit Resignation. Kinder kämpfen für die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die sie brauchen, oder sie geben auf und werden zu »gut funktionierenden« Individuen. Die erste Gruppe wird sehr schnell als Kinder mit »speziellen Bedürfnissen« definiert und avanciert zu einer Gruppe, die hohe Kosten verursacht. Psychologen, Sonderpädagogen, Verhaltenstherapeuten, Physiotherapeuten und Gesprächtherapeuten treten auf den Plan. Alle trösten sich mit dem Gedanken, den Kindern »helfen« zu wollen - das wird noch immer als edles Ziel angesehen, doch entspricht es nicht unbedingt den Anforderungen ihres beruflichen Ethos und ihrer Integrität.
In vielen Ländern haben wir bereits die Erfahrung eines weiteren Schrittes gemacht: Dort wird eine politische Agenda durchgezogen, die die »Integration« von allen Kindern in Kindertagesstätten und Schulen vorsieht. Irgendwie gelingt es Politikern, solche Maßnahmen im Namen der Humanität »zu verkaufen« - sie können sich schließlich darauf verlassen, dass Eltern ein »normales Kind« haben wollen. Doch das ist zynisch und kurzsichtig, zudem kostspieliger.
Ein »dysfunktionales Kind« zu haben, ist der ultimative Albtraum für die Großzahl der Eltern. Diese Kategorisierung fordert einen hohen Tribut von den Eltern, ihrer Ehe und ihrer Fähigkeit, weiterhin ihrem Beruf nachzugehen. Das Gefühl der Scham und Schuld ist so groß, dass es Eltern oft vorziehen, im Stillen zu leiden - als ob sie die Übeltäter wären. Die Mittel der Gemeinden sowie der Gesellschaft, die für soziales Wohlergehen und Gesundheit ausgegeben werden, sind enorm. Trotzdem widmet sich diesem Phänomen keine wissenschaftliche Studie - die Regierungen der verschiedenen Länder achten sehr genau darauf, welche Studie sie auswählen und finanzieren!
Die andere Gruppe von Kindern - jene, die resignieren und »leicht zu handhaben und zufriedenzustellen« sind - wird bis zur Pubertät meist keine ökonomische Bürde für die Gesellschaft darstellen. Kommen sie jedoch in die Pubertät, finden wir eine alarmierend große Zahl in Kinder- und Jugendpsychiatrien wieder. Sie haben nicht nur die frühen, prägenden Erfahrungen in den Kindertagestätten hinter sich, sondern sind auch bereits durch Schulen gegangen, in denen Lehrer noch immer fest daran glauben, dass leicht zu handhabende Kinder gesunde Kinder sind. Die Mehrzahl dieser Kinder sind Mädchen. Wir finden sie in Ländern, in denen die Frauenemanzipation sehr langsam voranschreitet und das Recht, sich selbst auszudrücken und zu entfalten, noch immer nicht selbstverständlich ist; sie sind jetzt Ende dreißig oder Anfang/ Mitte vierzig, suchen viel zu oft ihren Hausarzt auf, lassen sich scheiden, leiden an Depressionen und Angstzuständen sowie an vielen anderen Symptomen, die eine mangelhafte Lebensqualität verursacht.
Kurz und knapp habe ich zu beschreiben versucht, was Sparmaßnahmen an falscher Stelle mit sich bringen. Wenn wir Kosten sparen wollen und dabei die Qualität der Kindertagestätten aufs Spiel setzen, müssen wir mit Konsequenzen rechnen. Sparmaßnahmen beruhen auf der irrigen Annahme, dass Qualität mit hohen Kosten verbunden sei. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass der Mangel an Qualität sehr viel höhere Kosten erzeugt. - Das, was echte Kosten verursacht, ist das unintelligente und unverantwortliche politische Management, ausgelegt auf maximal vier Jahre.
Selbst wenn ich es gut verstehen kann, dass sich Pädagogen und Erzieher mit dem Status quo abfinden, muss ich zugeben, dass mir das gar nicht gefällt! Pädagogen und Erzieher, Spezialisten und Experten haben in den letzten drei Jahrzehnten sehr viel Aufmerksamkeit genossen, sie sind dabei sehr mächtig geworden. Es wird Zeit, dass wir soziale Verantwortung tragen und uns auf politischer Ebene einmischen.
So viel zu dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, bezogen auf das Thema Gesundheit. Im Folgenden werde ich weniger politisch und mich viel stärker auf den einzelnen Menschen und dessen Familie konzentrieren - ich werde untersuchen, welche Rolle dem Individuum und seiner Familie beim Zustandekommen und Aufrechterhalten der geistigen Gesundheit zukommt.
Ich bin Psychotherapeut, mein Beruf ist historisch betrachtet brandneu - kaum den Kinderschuhen entwachsen. Viele psychotherapeutische »Entdeckungen« des vergangenen Jahrhunderts haben häufig alte Weisheiten bestätigt - wenn auch aus einer anderen Perspektive betrachtet und teils auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützt. Ich beschäftige mich allerdings auch als Familientherapeut mit der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Daher kann ich für mich schlussfolgern: Ich stehe für ein relativ neues Phänomen ein - den Wert des Einzelnen und die Bedeutung bestimmter Beziehungsqualitäten in seinen auf Liebe beruhenden Beziehungen.
Alles beginnt mit der Familie - zumindest mit der persönlichen und existentiell entscheidenden Beziehung zwischen Eltern (oder einem Elternteil) und Kind. Die Qualität dieser persönlichen Beziehung und die Qualität der Beziehung des Kindes zu anderen »primären Betreuern « bestimmt als Erstes das allgemeine Wohlbefinden eines Kindes. Selbstverständlich spielen dabei die sozioökonomischen Faktoren in Form von Nahrung und Bildung oder die politischen Faktoren wie Zugang zu allgemein- gesundheitlichen Präventionsmaßnahmen auch eine wichtige Rolle. Eltern, Erzieher und Lehrer bilden die primäre Quelle für die geistige und soziale Gesundheit im Leben eines Kindes von 0 bis 14 Jahren.
Demnach stellt sich die Frage, was wir über die geistige und soziale Gesundheit bislang gelernt haben und wie wir deren Entwicklung für unsere Kinder gewährleisten können.
Wir müssten alle Psychotherapeuten, Familientherapeuten und einen Teil der Psychologen in einem großen Stadion versammeln und ihnen folgende zwei Fragen stellen:
1. Was hat den Großteil deiner Klienten in Schwierigkeiten mit sich selbst, den Verwandten, Partnern, Kindern, Arbeitgebern und Freunden gebracht? 2. Welcher wichtige Lernprozess war es, der deine Klienten aus ihren Schwierigkeiten herausgeführt hat? Ich bin überzeugt, dass der allgemeine Konsens der Antworten auf diese beiden Fragen wie folgt lautet: Das Maß, in dem sie sich selbst bewusst wurden, war entscheidend und konsequenterweise ihre Fähigkeit, sich mit ihren persönlichen Bedürfnissen und Grenzen zu identifizieren und sie zu definieren. Und zudem die Fähigkeit, nein zu sagen, wenn sie Nein meinen, und ja zu sagen, wenn sie Ja meinen.
Das ist die Essenz geistiger und sozialer Gesundheit, auch wenn die Tradition uns glauben machen will, es wäre anders. So einfach und so schwer ist das!
Sich seiner selbst bewusst werden
Was ist denn nur mit der Aggression geschehen? Warum ist sie zum Tabu geworden?
Meine Antwort: Allein die Tatsache, dass wir uns unsere Emotionen sowie unsere inneren und äußeren Reaktionsmuster bewusstmachen und sie akzeptieren, stattet uns mit dem Selbstwertgefühl aus, das wir brauchen, um ja oder nein zu sagen, wenn es für unsere geistige Gesundheit und unser soziales Wohlergehen angemessen und notwendig ist.
Kinder lernen zunächst nicht mittels Unterweisung, sondern durch Erfahrung. Wie echte Wissenschaftler, so lernen auch Kinder: Sie denken sich eine Theorie aus, testen sie mit Hilfe von Experimenten und lernen von ihrem Scheitern genauso viel wie von ihren Erfolgen. So verhält es sich, wenn Kinder versuchen, auf den Stuhl zu klettern oder Klavier zu spielen, wenn ein Jugendlicher der beste Fußballspieler werden will oder verliebt ist, wenn er Sex hat oder lernt, die impulsive Aggression in kreatives und konstruktives Verhalten zu verwandeln.
Es tut mir leid, wenn ich den enttäuschen muss, der meint, sein Kind müsse all das leisten, bevor es fünf Jahre alt ist. Das Kind braucht dafür eine ganze Kindheit, unter der Voraussetzung, es erhält liebevolle, empathische Feedbacks und ist von Eltern umgeben, die sich zumindest einigermaßen ihres persönlichen Werts und ihrer Grenzen bewusst sind.
Gibt es wirklich nur diesen einzigen Weg? - Nein, es gibt noch einen anderen. Wir können strenge moralische und/oder religiöse Regeln für Kinder aufstellen, die sogar körperliche Züchtigung vorsehen, und wir können mit sozialem Ausschluss drohen, um möglichst effektiv zu sein. Dies ist in kleinen, abgesonderten Gruppen noch immer möglich, doch immer seltener in der Welt, in der Kinder heute aufwachsen - in einer Welt mit globalen Perspektiven und global ausgerichteten Erkenntnissen, einer Welt, in der es den strengen moralischen Konsens der Gesellschaft nicht mehr gibt. Diesen, hier bloß gestreiften Weg schließe ich von meiner Betrachtung aus, denn er hat noch nie zu individuellem Wohlergehen und wertvollen persönlichen oder sozialen Beziehungen geführt.
Um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, muss ein Kind sich wertvoll für seine Eltern fühlen und folglich ihrer Zuneigung und Liebe »wert sein«. Ausgehend davon entwickelt sich das Selbstwertgefühl auf zwei Ebenen: einer quantitativen und einer qualitativen. Die quantitative Entwicklung vollzieht sich täglich im Minutentakt: Während sich das Kind selbst kennenlernt, sein Potential, seine Begrenzungen, Gedanken, Gefühle und Reaktionen entdeckt und erfasst. Diese Entwicklung bestimmt uns, solange wir leben, solange wir uns entfalten und verwandeln; das Maß an Selbsterkenntnis vergrößert sich immer mehr. Entscheidend bleibt, sich seines Selbst stets bewusst zu sein.
Die qualitative Ebene hängt fast gänzlich vom verbalen und nonverbalen Feedback ab, das Eltern, andere wichtige Erwachsene oder Geschwister (in dieser Reihenfolge) dem Kind zuteilwerden lassen.
Wenn ich eineinhalb Jahre alt bin und die Welt vergnügt kennenlerne, indem ich alles, was ich anfasse, in den Mund stecke, dann hängt mein Selbstwertgefühl vom Feedback meiner Eltern ab. Gelingt es ihnen, mich zu überzeugen, dass nicht jedes Ding in den Mund gehört, ohne meine Entdeckungslust zu verurteilen, dann wird es mir gutgehen. Wenn es allerdings dem Feedback meiner Eltern an empathischer Führung fehlt, werde ich mich schlecht fühlen, und es wird mir nicht gutgehen.
Wenn ich zweieinhalb Jahre alt bin und meine kleine Schwester so fest umarme, dass sie beinahe erstickt, und meine Eltern intervenieren, indem sie mir zeigen, wie ich meine Liebe etwas zärtlicher ausdrücken kann, wird es mir gutgehen. Sind sie aufgebracht, brüllen mich an und stoßen meine Arme weg, werde ich eine wichtige Erfahrung missen - die Erfahrung, wie ich einen anderen Menschen lieben kann, indem ich dessen persönliche Grenzen in angemessener Weise beachte, und es wird mir dabei nicht gutgehen.
Dafür gibt es zwei Gründe. Ein Grund ist von der Neurobiologie entdeckt worden und besagt, dass die kindliche Lernfähigkeit - ob es sich dabei um intellektuelle oder soziale Fähigkeiten handelt, ist egal - zurückgeht, wenn das Umfeld, in dem Kinder lernen, kritisch ist. So kommt es, dass kritische Eltern und Lehrer in einem Circulus vitiosus (Teufelskreis) landen, wo sie dauernd frustriert und wütend sind, da sie alles »zigmal« wiederholen müssen, und Kinder sich dabei immer schlecht, dumm und keines Respekts würdig empfinden. Der andere Grund ist die allgemein bekannte, emotionale Reaktion aller Kinder: Wenn meine Eltern nicht glücklich sind, muss etwas mit mir - mit dem, der ich bin - nicht in Ordnung sein.
Dieser Mechanismus ist in jedem Kind zu jeder Zeit aktiv. Deshalb hängt das Selbstwertgefühl eines Kindes und seine geistige wie soziale Gesundheit fast ausschließlich vom Feedback seiner Eltern ab. Das ist so - egal, in welchem emotionalen Zustand das Kind ist, ob es glücklich, enthusiastisch, spielerisch, traurig, unglücklich, leidend oder eben wütend und aggressiv ist.
Die Erwachsenen hingegen erinnern sich an ihre edlen Ziele und machen aus der Aggression ein soziales Tabu. Indem sie es ihrem Kind unmöglich machen, seine Selbsterkenntnis zu vertiefen und zu lernen, in einer immer reiferen, sozial akzeptierten Art mit Emotionen umzugehen, halten sie es davon ab, Selbstwertgefühl und Empathie zu entwickeln. Das ist genauso, als würden wir konstant die Handschrift eines Kindes kritisieren, während das Kind sich redlich bemüht, in seiner Muttersprache zu schreiben.
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Autoren-Porträt von Jesper Juul
Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, ist Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Bauchautor. Er war bis 2004 Leiter des "Kempler Institute of Scandinavia", das er 1979 gründete. Nach dem Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte arbeitet er als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter. Er entwickelte eine eigenständige Therapie- und Beratungsform, handlungsorientiert und praxisnah. Weiterhin wirkte er als Ausbilder für Familientherapie in Kroatien und Bosnien und leistete dort auch therapeutische Arbeit in Flüchtlingslagern. Er ist "gelernter Vater" eines heute erwachsenen Sohnes und lebt in Kopenhagen und Zagreb.Ingeborg Szöllösi, Dr. phil., geb. 1968, Studium der Philosophie, Theater- und Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, freie Journalistin und Publizistin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jesper Juul
- 2013, 3. Aufl., 176 Seiten, Maße: 13,3 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben von Szöllösi, Ingeborg
- Herausgegeben: Ingeborg Szöllösi
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 310091063X
- ISBN-13: 9783100910639
- Erscheinungsdatum: 13.05.2013
Rezension zu „Aggression “
"Juuls Bücher [ ] sind eine Art Übersetzungsmaschine, in die Kinderverhalten eingespeist wird, um für Erwachsene verständliche Sätze auszugeben, [ ] viel zu oft zur Beschämung ihrer Adressaten" Peter Praschl, Die Welt (Literarische Welt), 10.5.2013
"[ Aggression ] ist Analyse, Ratgeber und Manifest zugleich und zeigt auf, wie komplex Erziehung heute ist, und wie einfach sie doch sein könnte"
Stephanie Streif, Badische Zeitung, 21.5.2013
"seine Lösungsvorschläge haben Hand und Fuß"
Susanne Billig, Deutschlandradio, 13.7.2013
"Wie so oft, bietet Juul eine anregungsreiche Lektüre."
Sabine Strobl, Tiroler Tageszeitung, 8.6.2013
Kommentar zu "Aggression"
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