Kind des Bösen
Wie findet man den kleinsten gemeinsamen Nenner, wenn es keinen gibt? Warum tötet ein Mensch, wenn er gar kein Motiv hat? Wer wird der Nächste sein, wenn es keine Logik gibt?
Inspector Hicks jagt einen Mörder ohne Eigenschaften.
Detective...
Inspector Hicks jagt einen Mörder ohne Eigenschaften.
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Produktinformationen zu „Kind des Bösen “
Wie findet man den kleinsten gemeinsamen Nenner, wenn es keinen gibt? Warum tötet ein Mensch, wenn er gar kein Motiv hat? Wer wird der Nächste sein, wenn es keine Logik gibt?
Inspector Hicks jagt einen Mörder ohne Eigenschaften.
Detective Inspector Andrew Hicks glaubt, alles über Mord zu wissen. Als eine Frau erschlagen aufgefunden wird, vermutet er ein Verbrechen aus Leidenschaft und konzentriert die Ermittlungen auf den Ex-Ehemann.
Doch die weiteren Morde, die sich in rascher Folge ereignen, bringen nicht nur seine Theorie, sondern sein ganzes Weltbild ins Wanken. Die Tötungen scheinen keinerlei Zusammenhang zu haben es gibt kein erkennbares Motiv. Hicks hat es mit einem neuen Typus von Mörder zu tun, der ihm in Briefen sein "Prinzip" erklärt: totale Unberechenbarkeit!
"Wer schon einige Psychothriller gelesen hat, glaubt ja gerne, schon alles zu kennen. Von Steve Mosby wird man nachhaltig eines Besseren belehrt."
Krimi-couch.de
Inspector Hicks jagt einen Mörder ohne Eigenschaften.
Detective Inspector Andrew Hicks glaubt, alles über Mord zu wissen. Als eine Frau erschlagen aufgefunden wird, vermutet er ein Verbrechen aus Leidenschaft und konzentriert die Ermittlungen auf den Ex-Ehemann.
Doch die weiteren Morde, die sich in rascher Folge ereignen, bringen nicht nur seine Theorie, sondern sein ganzes Weltbild ins Wanken. Die Tötungen scheinen keinerlei Zusammenhang zu haben es gibt kein erkennbares Motiv. Hicks hat es mit einem neuen Typus von Mörder zu tun, der ihm in Briefen sein "Prinzip" erklärt: totale Unberechenbarkeit!
"Wer schon einige Psychothriller gelesen hat, glaubt ja gerne, schon alles zu kennen. Von Steve Mosby wird man nachhaltig eines Besseren belehrt."
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Klappentext zu „Kind des Bösen “
Detective Andy Hicks wird zum Schauplatz eines Mordes gerufen: eine junge Frau ist erschlagen aufgefunden worden. Wie immer geht Hicks mit der gleichen Logik vor und sucht nach einem Zusammenhang zwischen Opfer und Täter. Schon bald wird eine zweite Leiche gefunden. Verzweifelt sucht Hicks nach einer Verbindung zwischen den beiden Opfern. Als weitere Leichen auftauchen ist klar: es handelt sich um einen perfiden Serienkiller. Es scheint, als könne Hicks seine Überzeugung, jedes Verbrechen habe einen erklärbaren Grund, nicht länger aufrechterhalten. Dabei ist sie für ihn überlebenswichtig, denn er selbst hütet ein Geheimnis, das ihn zu zerstören droht.
Lese-Probe zu „Kind des Bösen “
Kind des Bösen von Steve MosbyTeil I
... mehr
»Wir wollen doch nur wissen, was passiert ist«, sagt der Polizist.
Der kleine Junge ihm gegenüber antwortet nicht, starrt nur unentwegt auf seine Hände, mit denen er nervös herumspielt, die Daumen ständig gegeneinanderpresst.
Er ist acht Jahre alt, aber das riesige rote Sofa, auf dem er sitzt, lässt ihn um einiges jünger wirken.
Das ist bei allen Kindern so, wenn sie hier sind, im Salon: einem geräumigen Raum, der so gestaltet ist, dass er eher einem gemütlichen Wohnzimmer als einem Vernehmungsraum gleicht. Vor einer Wand stehen mit Plüschtieren vollgestopfte Kisten, auf dem Tisch ein Stapel zerlesener Comics. Den Jungen interessiert nichts davon.
Er trägt einen verwaschenen blauen Pyjama über den dünnen Gliedmaßen. Sein Haar ist schon lange nicht mehr geschnitten worden: Ein peinlicher Pony fällt ihm fransig ins Gesicht, und hinten im Nacken, wo es auf die Schultern trifft, stellt sich das Haar zu strähnigen Locken auf. Was der Constable von seinem Gesicht sehen kann, wirkt auf ihn leer, als hätten ihm die Ereignisse der Nacht jegliche Gefühlsregungen ausgetrieben. Wie verletzte Seelen schweben das Schweigen des Jungen und die Reglosigkeit im Raum. Er hat viel durchgemacht, dieser Junge.
»Kannst du uns erzählen, was passiert ist?«
Wieder Schweigen.
Er sieht die Polizistin an, die für Fälle mit Kindern zuständig ist, die einzige Person, die sich außer ihnen beiden noch im Raum befindet. Eine förmlich wirkende, tadellos gekleidete Frau in einem makellosen grauen Anzug. Sie trägt eine Brille und hat das Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Sie kann ihm nicht helfen.
Plötzlich, ohne aufzusehen, spricht der Junge.
»Wo ist John?«
Der Polizist beugt sich vor.
»Dein Bruder? Er ist auch hier.«
»Ich will ihn sehen.«
»Das geht im Augenblick nicht.«
Der Junge sieht nicht auf, aber dem Polizisten entgeht nicht, dass er das Gesicht verzieht. Der väterliche Teil in ihm möchte helfen, sieht aber keine Möglichkeit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Der andere Junge - zwei Jahre älter als er - befindet sich im Raum darunter. Mit ihm haben sie schon gesprochen, und sie werden es in den kommenden Tagen noch viele Male tun müssen.
Der Polizist verändert seine Sitzhaltung ganz leicht.
»Wir wollen, dass du uns deine Version von dem erzählst, was passiert ist«, sagt er. Aber es klingt zu förmlich, zu unpersönlich für dieses Kind, das vor ihm sitzt, und ihm fällt ein, was die Polizistin gesagt hat, bevor sie mit der Anhörung anfingen. »Wenn es dir lieber ist, kannst du es wie eine frei erfundene Geschichte erzählen. Als ob es gar nicht wirklich passiert wäre.«
Der Junge lässt die Schultern sinken. Er ist ausgemergelt, bemerkt der Polizist. Vernachlässigt. Aber er hat auch den Zustand des Hauses gesehen, aus dem der Junge kam, und er weiß, dass nicht erst heute Nacht seinen Anfang genommen hat, was der Kleine erlebt hat. Es muss schon vor langer Zeit begonnen haben.
Nach einer ganzen Weile, nachdem er all seine Kraft zusammengenommen hat, blickt der Junge schließlich auf und sieht den Polizisten direkt an.
Und ... da ist etwas, oder?
Der Ausdruck in seinem Gesicht ist ganz und gar nicht leer. Und einen Moment lang hat der Polizist das Gefühl, jemanden anzusehen, der etwas älter ist.
Und als der Junge anfängt zu sprechen - »Es war schon spät, nach Mitternacht, glaube ich« -, kann er sich eines sentimentalen Gefühls nicht erwehren. Als das Kind anfängt zu erzählen, was geschehen ist, greift er sich an das Kreuz, das er um den Hals hängen hat, und macht sich bewusst, dass dieser kleine Junge heute Nacht so viel Grauenvolles erlebt hat.
Und dennoch bleibt der Zweifel.
Ja, denkt er. Dieser kleine Junge hat so viel durchgemacht. Vielleicht.
Erster Tag
1
Es begann im Quadrateviertel. So nennen wir das kleinteilige Straßengeflecht am Nordufer des Kell, des Flusses, der sich durch das Herz unserer Stadt schlängelt, das einem Slum sehr nahe kommt. Die Straßen treffen exakt rechtwinklig aufeinander und sind von unterschiedslosen Wohnblöcken gesäumt, von denen die meisten im Erdgeschoss mit Graffiti osteuropäischer Prägung besprüht sind. Weiter oben auf den Balkons flattert Wäsche kunterbunt wie Flaggen fremder Länder im Wind. Jeder dieser sich sechs Stockwerke nach oben erhebenden Klötze ist von einem Rasenstreifen umgeben, auch wenn diese kümmerlichen Zugeständnisse an Stadtbegrünung die bedrückende Anonymität der Häuser dahinter kaum zu verbergen vermögen.
Von oben, wenn man sich der Stadt mit dem Flugzeug nähert, sieht es aus, als hätte jemand seltsame Hieroglyphen in endlosen Reihen und Spalten in Stein gehauen - oder vielleicht auch, als würde der Fluss seine Oberlippe hochziehen, um befremdliche graue Zähne gen Himmel zu blecken. Ich hatte das Navigationsgerät eingeschaltet, dessen pulsierender blauer Pfeil mir bedeutete, dass ich das Ziel fast erreicht hatte, was mir aber wohl ohnehin nicht entgangen wäre. Entweder durch das Band, das die Polizei ein Stück weiter über die Straße gespannt hatte, oder durch das Schreien der Frau, das mir schon von weitem ans Ohr drang.
Es war halb elf an einem Freitagmorgen. Ein warmer Tag, so dass ich das Autofenster heruntergekurbelt hatte und den Arm mit aufgekrempelten Ärmeln lässig heraushängen ließ, um ihn mir von der milden Sonne bescheinen zu lassen.
Hinter dem Absperrband standen drei Fleischlaster und vier Polizeiwagen. Das Blaulicht auf dem Dach des ersten kreiselte in der Sonne müde vor sich hin. Auf beiden Seiten der Straße waren einfache Uniformierte postiert, die sensationslüsterne Gaffer aus den Nachbarhäusern auf Abstand hielten und verhinderten, dass sie uns zu viele wirre oder aufgebauschte Geschichten erzählten.
Vor dem Absperrband hielt ich an.
Geräuschvoll schlug ich die Autotür zu. Die Schreie erfüllten die Nachbarschaft: ein kaum zu ertragendes Jammern, zwei Stockwerke über uns, das sich den Weg zu uns hinunter bahnte. Das verzweifelte Wehklagen einer gebrochenen Seele, der Mutter des Opfers, nahm ich an. Die Schreie schienen im krassen Widerspruch zu dem warmen, cremigen Sonnenlicht zu stehen. Es ist seltsam, aber schlimme Dinge, die sich am helllichten Tag ereignen, wirken um einiges schmutziger, als würden sie nachts passieren.
»Detective Hicks.« Ich hielt dem Polizisten, der das Absperrband auf dieser Seite der Straße bewachte, meine Polizeimarke hin. Er nickte kurz und hob es für mich an. »Alles klar?«
»Ja, Sir. Detective Fellowes ist da drüben.«
»Danke.«
Detective Fellowes - Laura, meine Partnerin - stand ein Stück weiter vor Block acht. Sie sprach gerade mit ein paar Polizisten und deutete hier und dort hin, während sie ihnen die zahlreichen Aufgaben zuwies, die es an einem Tatort zu erledigen gibt.
Normalerweise wären wir zusammen am Tatort eingetroffen, aber wegen eines Termins von Rachel bei ihrer Hebamme hatte ich mir den Vormittag freigenommen. Als Laura mich angepiept hatte, befanden wir uns noch oben in ihrer Praxis, waren aber schon fast fertig. Rachel erhob sich gerade mühsam von der Liege und wischte sich mit einem dicken Papierstoß das Ultraschall-Gel vom Bauch, als ich das Vibrieren an meiner Hüfte spürte.
Mir war sofort klar, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste, wenn Laura mich in meiner Freizeit behelligte. Andererseits aber hatte ich dauernd dieses Gefühl, besonders unter diesen Umständen. Alles, was mit Schwangerschaft zu tun hatte, machte mir Angst. Jeder Gedanke an das Baby ließ die Welt um mich herum zerbrechlich und verwundbar werden, und ich bekam Angst, dass jederzeit etwas schiefgehen könnte. Dass während einer Schwangerschaft etwas passieren könnte, schien mir kein unvernünftiger Gedanke zu sein, und diese Sorge auf die ganze Welt zu übertragen war so viel abwegiger auch nicht.
Ich kam bei Laura an, als sich die Gruppe gerade zerstreute, um sich den Aufgaben zu widmen, die jedem Einzelnen übertragen worden waren.
»Mor-gen«, begrüßte ich sie gedehnt.
»Hicks.«
Laura trug einen dunklen Hosenanzug. Das hellbraune Haar reichte ihr bis zur Schulter. Sie wirkte angespannt und fuhr sich hektisch mit einer Hand durch das Haar, das aber sogleich wieder die Gestalt einer ordentlichen Frisur annahm. Sie brauchte morgens immer eine ganze Weile, um sie so in Form zu bringen, dass ihr durch das unverzichtbare Raufen und Kneten nicht der Schaden zugefügt wurde, den man eigentlich erwarten würde.
Wir hatten dieselbe Haarfarbe und dieselben Sommersprossen auf Nase und Wangen, und da wir beide Mitte dreißig waren, aber jünger aussahen, wurden wir oft für Bruder und Schwester gehalten. Das ärgerte sie. Sie kannte mich zu gut.
»Tut mir leid, dass ich dich holen musste.«
»Kein Problem. Eine willkommene Entschuldigung, da wegzukommen.«
Das brachte mir einen tadelnden Blick ein. In den acht Monaten, seit Rachel schwanger war, hatte Laura keine Gelegenheit ausgelassen, mir klarzumachen, dass es für alle eine gute Sache war, wenn ich nun Vater wurde. Überzeugt hatte sie mich nicht, aber ich hatte gelernt, es zu überhören.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie.
»Nein.«
»Wie geht's denn so?«
»Alles in Ordnung. Alles normal.«
»Gut.«
Ich machte eine Geste in Richtung des Gebäudes, aus dem noch immer die Schreie der Frau zu uns drangen. »Ich nehme an, ein Arzt ist bei ihr?«
»Ja, verdammt, natürlich. Ich hoffe, dass die Medikamente bald wirken. Das hält ja kein Mensch aus. Sie ist übrigens schon etwas älter und ziemlich verzweifelt, wofür ich vollstes Verständnis habe. Schließlich hat sie ihre Tochter so gefunden.«
»Nicht, dass wir am Ende noch eine Tote gratis dazubekommen«, bemerkte ich.
Erneut ein tadelnder Blick. »Das ist wirklich gemein, Hicks.«
Es gab Tage, an denen Laura meinen Scherzen zumindest einen Hauch von Toleranz entgegenbrachte, wenn sie sich auch nie richtig darauf einließ. Ein solcher Tag war heute eindeutig nicht.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Also, was haben wir?«
»Das Opfer ist, wie es scheint, eine Frau. Alter: zweiunddreißig. Sie heißt Vicki Gibson.«
Mit einer kurzen Geste deutete sie über die Straße auf den Wohnblock. Eine Hecke trennte den Gehweg von einem kleinen Rasenstück und dem Mietshaus dahinter. Die Leute von der Spurensicherung hatten ihr weißes Zelt auf dem Stück zwischen der Hecke und dem Gebäude aufgestellt. »Wie es scheint?«, fragte ich nach.
»Die Identifizierung ist noch nicht abgeschlossen. Die Mutter, Carla Gibson, hat sie an den Kleidern erkannt, die ihre Tochter trug. Viel mehr lässt sich noch nicht sagen.« Wirklich gemein.
»Okay. Dann ist es Carla Gibson, die ich da höre?« »Genau. Sie teilen sich eine Wohnung im dritten Stock. Nur die beiden. Carla geht meistens früh zu Bett und steht sehr früh wieder auf, sozusagen mit den Hühnern jeden Morgen um vier. Sie stellt fest, dass ihre Tochter nicht nach Hause gekommen ist, wirft eher zufällig einen Blick von dem Balkon da oben hinunter und sieht den Körper dort liegen.« Ich richtete den Blick hinauf zum dritten Stock, auf den Betonbalkon, wo es jetzt still geworden war. Brutal: Von da oben dürfte Carla Gibson eine ziemlich gute Sicht auf die Stelle gehabt haben, an der ihre Tochter gelegen hatte - besser gesagt, noch lag.
Wurde die Leiche absichtlich dort hingelegt?
»Und wo war sie gewesen?«
Laura ging mit mir die Straße hinunter, während sie weiter berichtete.
»Vicki Gibson machte zwei Jobs gleichzeitig, wenn es eben ging. Gestern Abend hat sie bei Butlers gearbeitet, in dem Waschsalon, nicht weit von hier. Nur ein paar Blocks weiter da drüben.« Sie deutete flüchtig hinter uns. »Um zwei war sie fertig. Sie muss also irgendwann zwischen zwei und vier umgebracht worden sein. Vermutlich eher kurz nach zwei.« »Gibt's irgendwo Überwachungskameras?«, wollte ich wissen. »Im Waschsalon, meine ich.«
»Soll das ein Witz sein? Aber eine andere junge Frau hat dort auch gearbeitet, und die sagt, dass Gibson bis Schichtende da war. Mag sein, dass sie lügt. Aber es würde passen. Gibson konnte sich kein Auto leisten, deshalb ging sie jeden Abend zu Fuß nach Hause. Und so, wie es aussieht, hat sie der Angreifer hier überrascht.«
Auf der Höhe des Zeltes blieben wir auf dem Bürgersteig stehen. Die Hecke war etwa eineinhalb Meter hoch, und in ihr klaffte unübersehbar eine Lücke, in der das Blattwerk schwer ramponiert worden war.
Ich sagte: »Dann packt er sie also hier auf dem Gehweg und stößt sie da durch. Oder er wartet hinter der Hecke und zieht sie hinein.«
»Beides möglich. Aber es ist noch zu früh, Genaueres zu sagen.«
Laura legte besonderen Wert auf diese Bemerkung, weil sie genau wusste, dass ich ein wenig zu übereilten Schlüssen neigte, wobei ich mich immer auf Statistiken und Wahrscheinlichkeiten berief und meine Schlussfolgerungen darauf stützte. Sie hielt das für eine meiner offensichtlicheren Schwächen, wenngleich wir beide wussten, dass diese Sünde lässlich war, denn in der Regel behielt ich am Ende recht. Ich konnte einfach nicht anders. Während wir die Straße entlang auf den Hauptweg zugingen, ließ ich mir alles durch den Kopf gehen, fügte zusammen, was ich schon wusste, und legte mir unbewusst bereits ein paar Theorien zurecht. Das Quadrateviertel ist ein Hort der Armut. In seinem Zentrum - im Auge des Orkans - lebten hauptsächlich Immigranten, viele davon illegal. Die Straßen waren ein Schmelztiegel von Sprachen und Kulturen: in sich geschlossene Gesellschaften; kleinere Städte unter dem Dach einer großen. Man konnte nicht sagen, wie viele Menschen in den Wohnblocks aufeinanderhockten. Die Graffiti waren zum größten Teil das Werk von Kids der zweiten Generation, die ihre Tags an die Wände schmierten und ihr Revier absteckten, um die Umgebung unterscheidbar zu machen. Von den Menschen, die dort lebten, kamen nur ganz wenige jemals aus ihrem Viertel, geschweige denn aus dem Bezirk heraus. Wir waren aber nicht einmal im Zentrum. Die Gebäude mochten zwar genauso aussehen, doch hier, am Rand, unweit des Flusses, war es etwas teurer. Hier lebten nicht wenige Studenten, denn die Wohnungen waren zwar weniger komfortabel, dafür aber um einiges günstiger als südlich des Flusses, in der Nähe zum Campus. In dieser Gegend galt jemand wie Vicki Gibson, die zwei Jobs bediente, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter zu verdienen, als eine ehrbare Berufstätige.
Warum sollte jemand sie töten wollen? Ein Raubüberfall war ein Motiv. Ein Sexualverbrechen? Wenn man das Risiko, dabei beobachtet zu werden, berücksichtigte, war das weniger wahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen. Zu früh, um schon etwas zu sagen ...
Taufeucht glitzerte das Gras des schmalen Grünstreifens in der Vormittagssonne. Der Rasen war erstaunlich gut gepflegt und nicht einmal zu kurz geschnitten, so dass man sich gut vorstellen konnte, es sich zum Picknick vor einem Zelt gemütlich zu machen, ein Zelt, das allerdings sehr anders aussehen würde als das, auf welches wir uns gerade zubewegten.
Als ich die Seitenplane anhob, stach mir das Blitzlicht einer Kamera in die Augen: Ein Mann von der Spurensicherung stand über das Opfer gebeugt und lichtete es an der Stelle ab, wo es im Schatten lag ...
Ich zögerte, wenn auch nur ein wenig.
Vicki Gibson lag auf dem Rücken, ein Bein so angewinkelt,
dass der rechte Fuß unter dem anderen Knie lag. Ihre Schuhe hatten sich von den Füßen gelöst, und die Absätze steckten verdreht im Gras. Sie trug einen roten Rock, eine schwarze Bluse und einen flauschigen braunen Mantel, der im Dämmerlicht eher rostfarben wirkte. Die Arme waren zu beiden Seiten ausgebreitet. Sie hatte langes Haar, dessen Strähnen sich wie schwarze Ranken im Gras kringelten, als läge sie in einer Wasserlache.
Von einem Gesicht, das diese Bezeichnung auch verdiente, konnte keine Rede mehr sein.
Wirklich gemein.
»Also«, sagte ich zu Laura, »du hattest recht.«
Trotzdem behielt ich weiterhin die Details im Blick - eine abgelegte rote Handtasche, neben ihr der schlapp im Gras liegende Riemen. Also kein Raubüberfall. Und die Kleidung schien unversehrt zu sein. So blieb nur eine Möglichkeit.
»Andy.« Simon Duncan, unser Kontaktmann zur Gerichtsmedizin, stand neben der Leiche. Er nickte mir zu. »Gut, dass du hergekommen bist.«
»Ist doch Ehrensache.«
Simon war groß, fast kahl und von athletischer Statur. Der Pathologe neben ihm, Chris Dale, schon unter normalen Umständen ein eher kleiner und ernster Mann, erweckte jetzt, wie er da neben seinem Opfer kauerte, umso mehr diesen Eindruck. Er sah auf, kurz, gerade lang genug, um zu bestätigen, dass er meine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte.
»Ich weiß, dass es noch zu früh ist«, fing ich an, »aber gibt es vielleicht trotzdem schon etwas Greifbares?«
Simon zog eine Augenbraue hoch.
»Du hast den Fall noch nicht gelöst? Du überraschst mich, Andrew. Ich hatte fest damit gerechnet, dass das deine Verspätung erklären würde - dass du schon unterwegs bist, um den Täter festzunehmen.«
»Doch, ich habe in der Tat eine Idee«, sagte ich. »Willst du nicht versuchen, mich davon abzubringen?«
Simon trat zur Seite, um dem Mann mit der Kamera den Weg an uns vorbei zum Kopfende der Leiche frei zu machen, was auch uns einen besseren Blick verschaffte, wobei »Kopfende« nicht mehr der passende Begriff war.
Wirklich gemein. Laura hatte recht gehabt.
»Es gibt eine sehr eindeutige Verletzung«, erklärte Simon in dem Augenblick, als das Blitzlicht der Kamera grell darüber hinweghuschte. »Besser gesagt, viele Verletzungen an einer einzigen Körperstelle. Andere schwere Verletzungen gibt es nicht, soweit wir bisher sagen können. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Schädelverletzung zum Tod geführt hat und nicht nachträglich zugefügt worden ist.«
Ich nickte.
Wer auch immer Vicki Gibson überfallen hatte, hatte ihr den Kopf und das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagen. Nicht einmal der Zahnstatus würde sich mehr ermitteln lassen, überlegte ich, während ich die Verletzungen einer fachmännischen Überprüfung unterzog. Die Stirn war vollständig eingedrückt, der Hals hingegen unberührt und makellos, darüber ihr welliges Haar. Alles dazwischen war weg.
»Irgendwelche Anzeichen, dass sich das Opfer gewehrt hat?«
Simon schüttelte den Kopf. »Vermutlich hat der erste Schlag gereicht, sie außer Gefecht zu setzen. Entweder hat er sie durch die Hecke gezerrt, oder sie ist durch den Schlag in diese Richtung gefallen.«
»Zu früh, um Genaueres zu sagen«, bemerkte ich.
»Ja. Sicher ist jedenfalls, dass er viele Male auf sie eingeschlagen und auch dann nicht von ihr abgelassen hat, als sie schon tot war. Sieh dir die Stirn an, das spricht für sich.« Natürlich, das war nicht zu übersehen.
Ich ging in die Hocke und betrachtete ihre Hände. »Kein Sexualverbrechen?«
»Bisher haben wir keine Hinweise darauf.«
»Auch kein Raubüberfall.«
»Kreditkarten und Geld sind noch in der Handtasche.« Wieder zog er eine Augenbraue hoch. »Das bringt dich doch nicht etwa aus dem Konzept, oder?«
»Sag ich dir noch nicht. Waffe?«
Simon schüttelte den Kopf. »Auch dazu können wir noch nichts Genaues sagen. Jetzt nicht, und möglicherweise überhaupt nicht. Aber, da wir die Waffe nicht gefunden haben, vermute ich, dass es etwas Kleines, Hartes sein muss. Ein Hammer oder ein Rohr. Vielleicht auch ein Stein. Auf alle Fälle etwas, das sich in der Hand tragen lässt.«
Ich nickte. Die Waffe musste hart genug sein, um ein solches Desaster anzurichten, gleichzeitig aber auch wieder leicht genug, dass der Mörder sie nach vollendeter Tat mitnehmen konnte: etwas, das die Wucht eines Steins zur Wirkung brachte, ohne so schwer zu sein. Natürlich war das ein grauenhafter Gedanke. Ein massiver Stein könnte eine solche Verletzung mit nur einem oder zwei Schlägen anrichten.
Mit einem Hammer hätte es um einiges länger gedauert und vieler, vieler Schläge mehr bedurft.
Das bedeutete aber auch, dass eine Affekthandlung möglicherweise auszuschließen war. Der Täter hatte die Waffe höchstwahrscheinlich bei sich gehabt und sie anschließend wieder mitgenommen. Und die Brutalität deutete auf ein persönliches Motiv hin. Nicht immer, aber in der Regel schon.
»Na los, Sherlock Hicks, raus mit der Sprache.«
Ich erhob mich.
»Der Ex-Mann.« Dann korrigierte ich mich: »Oder Ex-Freund. Sie hat früher einen Ring getragen, jetzt aber nicht mehr. Vielleicht ein Verlobungsring.«
»War nie verheiratet.« Laura neigte den Kopf. »Aber die Leute von der IT gehen gerade ihre Akten durch. Sollten Anzeigen oder einstweilige Verfügungen vorliegen, dann werden wir es bald wissen.«
»Gibt es bestimmt«, sagte ich.
Es mag seltsam klingen, aber ich fühlte mich etwas besser. So schlimm dieser Mord auch war - und er war wirklich gemein -, wusste ich doch, dass es eine Erklärung dafür geben würde, schließlich gibt es für jeden eine. Ich behaupte nicht, dass die Erklärung immer zufriedenstellend oder vernünftig ist, und ich behaupte auch nicht, dass sie immer ausreichend ist, aber einen Grund gibt es immer, und für die Person, die die Tat begangen hat, ergibt es immer einen Sinn.
Tatsache ist, dass die meisten Verbrechen simplen statistischen Regeln folgen. Die überwiegende Zahl weiblicher Mordopfer beispielsweise wird von einer Person umgebracht, die sie kennen. In den meisten Fällen ist das der aktuelle Partner oder der Verflossene. Landesweit sterben pro Woche zwei Frauen durch die Hand von Männern, die sie angeblich lieben, dies einmal behauptet haben oder sich nur ausgemalt haben, es sei so. Da sowohl ein Raubüberfall als auch ein Sexualverbrechen ausgeschlossen werden konnten, war der Ex-Freund die naheliegende Lösung. Die meisten Morde im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt geschehen in der Wohnung, und dieser Fall hier war nah genug dran. Irgendjemand hatte gewusst, wo und wann er sie finden konnte. Und je mehr ich darüber nachdachte, sprach auch die Tatsache, dass Vicki Gibson mit ihren zweiunddreißig Jahren mit ihrer Mutter zusammenlebte, eher für einen ehemaligen als für einen aktuellen Freund.
Sehr bald, davon war ich überzeugt, würden uns die IT-Leute, vielleicht auch Carla Gibson selbst, den Namen eines Mannes liefern. Bestimmt hatten Vicki oder ihre Mutter früher schon einmal die Polizei gerufen, denn solche Dinge kommen nicht aus heiterem Himmel. Gegen Gibsons Ex-Freund würde es einen Haufen Anzeigen geben und vermutlich auch Klagen. Irgendwann hatte sie ihm angedroht, ihn zu verlassen. Und da er der Typ Mann war, der er war, hatten sich die Wut und die Herabsetzung, die jeder in einer solchen Lage empfindet, um einiges ungezügelter und aggressiver entladen als bei den meisten.
Aufgrund der vielen Fälle häuslicher Gewalt, mit denen ich es bisher zu tun gehabt habe, konnte ich mir diesen erbärmlichen Bastard sehr gut vorstellen. Wenn wir ihn schnappten, würde er vermutlich immer noch Vicki Gibson die Schuld für das in die Schuhe schieben, was ihr passiert war - selbst dann noch. In der festen Überzeugung, dass sie es war, die ihn herausgefordert hatte und sich das also selbst eingebrockt hatte.
»Wir werden sehen«, sagte Laura.
»Ja, klar.«
Ich war mir meiner Sache sicher. Eine Beziehungstat wie aus dem Lehrbuch. Grausam und grässlich, in sich aber schlüssig und schnell gelöst.
So musste es sein.
Wie sonst?
2
Sie war nicht da, als ich aufgestanden bin«, sagte Carla Gibson. »Nein«, bemerkte Laura einfühlsam. »Ich weiß.«
Die Wohnung, die sich zwei Generationen der Gibson-Familie teilten - bis zu diesem Morgen jedenfalls -, war so klein, dass sie schon durch die Anwesenheit von nur drei Personen aus den Nähten zu platzen drohte.
Wir standen im Wohnzimmer, an das sich die Küche anschloss, wenn auch vor allem in dem Sinn, dass der fadenscheinige Wohnzimmerteppich dort aufhörte, wo ein Streifen schwarz gestrichener Fußbodendielen vor der Arbeitsplatte begann. Ich lehnte an der Wand gleich neben einem angerosteten, an der Wand montierten Heißwasserboiler und Rohren, die unverputzt von oben aus der Decke kamen, um unten in schmutzigen Löchern in den Fußbodendielen wieder zu verschwinden.
Laura saß Carla an einem klapprigen Holztisch gegenüber, der, wie auch das übrige Mobiliar, ziemlich abgenutzt und schäbig war: dünnes, von vier Schrauben und einer guten Portion Hoffnung notdürftig zusammengehaltenes Balsaholz. Laura ließ sich behutsam nieder, als fürchtete sie, der Stuhl würde unter ihr nachgeben.
»Ich bin ganz leise in die Küche gegangen, um Tee zu machen. Wissen Sie, ich gehe immer ganz leise, weil sie so viel arbeitet, und ich wollte sie schlafen lassen. Aber sie war gar nicht da.«
»Ja, das wissen wir, Mrs. Gibson. Es tut mir wirklich leid.« Äußerlich wirkte die alte Dame gefasst, jetzt, nachdem das leichte Beruhigungsmittel Wirkung gezeigt hatte, das ihr die Krankenschwester vom medizinischen Dienst verabreicht hatte. Innerlich jedoch war sie immer noch aufgelöst - unsicher und zittrig. Sie sah uns kaum an, starrte stattdessen apathisch ins Leere, den Blick auf etwas Unsichtbares gerichtet, das sich jenseits der tristen Wände befand. Natürlich konnte das Medikament nicht ungeschehen machen, was passiert war, es vermochte aber zumindest den Schmerz zu lindern. Man sah ihr an, dass sie lange bittere Tränen geweint hatte und sich jetzt krampfhaft bemühte, dem Grauen des Verlustes, den sie erlitten hatte, aus dem Weg zu gehen. Außer dem Wohnzimmer gab es noch ein Bad und ein Schlafzimmer mit einem Bett, in dem Carla schlief. Vicki Gibson hatte hier geschlafen, auf dem Sofa. Es war fast auf Bodenhöhe, aber immer noch sorgfältig für die Nachtruhe bereitet, die Vicki Gibson nicht mehr bekommen hatte. Kissen und Decken waren ordentlich darauf verteilt und mit einer Patchworkdecke zugedeckt worden, die Carla, wie ich annahm, in mühevoller Handarbeit selbst genäht hatte. Das zu sehen tat weh - eine visuelle Bekräftigung, dass sie ihrer beklagenswerten Armut zum Trotz alles versuchten, das Beste daraus zu machen. Vicki arbeitete bis spät in die Nacht und fing nicht selten schon früh an: hin und wieder als Reinigungsfrau in einem Bürokomplex, dann Spätschichten im Waschsalon. Abend für Abend machte Carla ihrer Tochter das Bett auf dem Sofa fertig, und Morgen für Morgen räumte sie diese Decken ordentlich wieder weg, um aus dem behelfsmäßigen zweiten Schlafzimmer ein behelfsmäßiges Wohnzimmer zu machen.
So ging es jeden Morgen, nur an diesem nicht.
Und alles Übrige eben auch noch.
»Dann habe ich hinausgesehen«, sagte Carla, »... und da lag sie.«
»Sie müssen das alles nicht noch einmal erzählen, Mrs. Gibson. «
»Nein, nein.«
»Ich würde gerne über etwas anderes mit Ihnen sprechen.« »Ja.«
Ich wusste, dass Laura vor allem versuchte, die Frau von der Tatsache abzulenken, dass ihre Tochter da draußen noch lag. Auch in den nächsten paar Stunden würden wir die Leiche nicht entfernen, was im Hinblick auf den Umgang mit den Bewohnern dieses Hauses und der benachbarten Wohnblöcke ein logistischer Alptraum war.
Als wir das Gespräch mit ihr beendet hatten, wollte ich
Carla Gibson einen sympathischen Polizisten dalassen, der sie freundlich davon abhielt, den Balkon zu betreten, der von diesem Zimmer abging. Der Anblick des Zeltes, dort unten, war zwar um einiges weniger erschreckend als die Szene heute Morgen, wäre aber trotzdem furchtbar. Tatsache war, dass wir uns um ihre Tochter so gut kümmerten, wie uns das im Augenblick möglich war, auch wenn Angehörige nicht immer diesen Eindruck haben mögen.
»Gut«, sagte Laura. »Wollen wir stattdessen über Tom Gregory sprechen?«
»Tom ... ?«
Carla starrte sie einen Moment lang an.
»Vickis Ex-Freund.«
»Ich weiß, wer das ist, aber was hat er mit der Sache zu tun?« »Na ja«, sagte Laura. »Soviel ich weiß, war die Beziehung zwischen den beiden ziemlich wechselhaft.«
»Das wusste ich nicht.«
Ich verschränkte die Arme und schwieg, denn wechselhaft war stark untertrieben. In der Zwischenzeit, nachdem die Leiche untersucht worden war, waren die Dateien von der IT-Abteilung gekommen, denen ich entnahm, dass ich mit meiner Vermutung da draußen gar nicht so falsch gelegen hatte. Das Ausmaß der Gewalt zwischen den beiden war zwar nicht so schlimm, wie ich zunächst befürchtet hatte - aber das bedeutete nur, dass die Polizei nicht alles mitbekommen hatte. In Anbetracht der Machtdynamik und der Drohungen, die in den meisten Fällen mit häuslicher Gewalt einhergehen, scheint die Sache bei den beiden ganz anders zu liegen. Denn hinter jeder angezeigten Gewalttat verbergen sich in der Regel viele weitere von nur unwesentlich geringerer Brutalität.
Vicki Gibson hatte die Polizei jedenfalls dreimal wegen Tom Gregory gerufen. Zweimal, als sie noch zusammen waren, und das dritte Mal vor sechs Monaten, als sie sich schon getrennt hatten. Gregory war sturzbetrunken im Waschsalon aufgetaucht, so dass er von ein paar Kunden gewaltsam zur Räson gebracht werden musste.
Aus irgendwelchen Gründen hatten sich alle drei Fälle in Wohlgefallen aufgelöst, bevor es zur Anzeige gekommen war. Fälle häuslicher Gewalt, wie etwa Vergewaltigung, werden sehr oft, wie wir es nennen, verschleppt. Manchmal liegt es an uns, meistens aber eben nicht, jedenfalls heutzutage. Ich darf aber behaupten, dass es eine Menge Fälle gibt, in denen ich mehr hätte tun können. Mehr, als mir lieb sind, um ehrlich zu sein.
Laura sagte: »Hat Vicki das nie erwähnt?«
»Nein, hat sie nicht«, entgegnete Carla mit düsterem Blick. »Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Vicki das mit sich hätte machen lassen. Sie ist so eine starke Persönlichkeit, wissen Sie. So beschützend, immer um mich besorgt. Ich weiß, dass es schwer für sie ist, aber sie ist immer so gut zu mir.«
»Ich verstehe.« Sollte Laura bemerkt haben, dass Carla in der Gegenwart sprach, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Klugerweise. »Kennen Sie ihn? Mr. Gregory?« »Nein. Ich weiß, dass sie eine Zeitlang zusammen waren, aber das war, bevor sie wieder nach Hause zurückgekommen ist.«
Nach Hause.
Ich sah mich erneut um. Peter Gibson - Vickis Vater - war letztes Jahr gestorben. Ihre Eltern hatten hier sehr lange gewohnt, und Vicki war hier aufgewachsen. Ich stellte mir vor, wie sie als kleines Kind auf dem Boden herumgekrabbelt war, das Geräusch der Fernsehgeräte aus den Nachbarwohnungen von den dünnen Wänden kaum gedämpft. Vielleicht kein guter Ort, aber eine gute Familie. Manchmal reicht das, meistens aber nicht. Vicki war ihrer Wege gegangen, hatte ihr Bestes gegeben, um schließlich vom schicksalhaften sozialen Band unserer Stadt doch wieder dorthin gezogen zu werden, wo alles angefangen hatte. Ein Klischee, aber so ist es. Wo Menschen landen, hängt häufig davon ab, wo ihre Anfänge liegen. »Als sie sich trennten, habe ich ihr gesagt, dass sie nicht traurig sein solle«, fuhr Carla fort. »So etwas passiert, stimmt's? So traurig es ist, aber das Leben geht weiter.«
»Und Sie waren glücklich, sie wieder bei sich zu haben, nicht wahr?«
»Ja.« Carlas Miene verzog sich zu einem traurigen Lächeln. »Ja, das war ich. Sie ist ein gutes Kind.«
»Hat sie nie erwähnt, warum sie sich getrennt hatten?« »Nein. Aber ich bin mir sicher, dass es nicht ihre Schuld war. Das habe ich ihr auch gesagt. Sie ist eine gute Partie. Sind Sie verheiratet, Detective?«
Die Frage war, so hoffte ich, an mich gerichtet. Ich fühlte mich peinlich berührt und hatte Mitleid mit ihr.
»Ja.«
»Schade. Sie ist so ein nettes Mädchen.«
Ich stieß mich von der Wand ab und mischte mich in das Gespräch ein.
»Ist Mr. Gregory hier gewesen, nachdem sie sich getrennt hatten?«
»Nein, war er nicht.«
»Können Sie uns sagen, wo oder wie wir ihn erreichen können?«
»Ja, ich glaube schon.« Sie erhob sich und schwankte leicht. »Sie haben zusammengewohnt, bevor sie wieder nach Hause kam. Ich hole mein Adressbuch.«
»Danke, ist schon gut.« Ich hob die Hand, um sie aufzuhalten. Wir kannten die Anschrift bereits, und die Kollegen hatten festgestellt, dass er nicht zu Hause war. »Ich dachte nur, ob Sie vielleicht noch andere Aufenthaltsorte kennen. Wo er gern hinging, Freunde, Familie, bei denen er sein könnte?« »Ach so, nein, tut mir leid.« Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, der davon kaum Notiz zu nehmen schien. »So gut kenne ich ihn auch wieder nicht. Eigentlich kannte ich ihn gar nicht.«
»In Ordnung.«
Einen Versuch war es wert gewesen. Sei es aus Stolz oder Verlegenheit, Vicki Gibson hatte ihrer alten Mutter den missbräuchlichen Teil ihrer Beziehung vorenthalten. Auch das war keineswegs überraschend. Die Situation, in der sie sich befand, machte sie an sich nicht schwach, befindet man sich aber in einer solchen Lage, fühlt man sich in der Regel zwangsläufig so, und Menschen weigern sich häufig, dieses Gefühl noch zu verstärken, indem sie es sich eingestehen. Menschen, die dringend Hilfe brauchen, befinden sich meistens an dem Punkt, wo es ihnen am schwersten fällt, das zuzugeben.
Ein Trost war das zwar nicht, aber wir konnten zumindest garantieren, dass Tom Gregory mit dem, was er getan hatte, nicht davonkommen würde. Dieses Mal nicht. Auch wenn er im Augenblick von der Bildfläche verschwunden war, würde das nicht ewig dauern.
Ich war in Gedanken bereits weiter und eigentlich schon fast zur Tür hinaus, als ich die Verzweiflung bemerkte, mit der Carla Gibson mich ansah, als hätte sie auf meiner Stirn mitlesen können. Gerade wollte ich mich entschuldigen, als sie sagte: »Vicki war so stark.«
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie von Gregory sprach - und damit auf den Punkt der Unterhaltung zurückkam, an dem Laura die Beziehung der beiden als wechselhaft bezeichnet hatte. Sie wollte nicht glauben, dass ihr kleines Mädchen etwas so Schreckliches still ertragen hatte. Und ich verstand, dass es gar nicht um mich und meine Unaufmerksamkeit ging, sondern darum, dass Carla Gibson trotz des Medikaments plötzlich wieder präsent war.
»Sie war stark«, sagte ich und sah sie an. Obwohl es gar nicht um Stärke geht, weil das wie ein Urteil über die erscheinen kann, die nicht gehen, sagte ich noch einmal: »Sie war wirklich sehr stark.«
Und ich dachte:
Wir werden dich kriegen, Mr. Gregory.
Aus dem Englischen von Ulrike Clewing
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Knaur Taschenbuch
»Wir wollen doch nur wissen, was passiert ist«, sagt der Polizist.
Der kleine Junge ihm gegenüber antwortet nicht, starrt nur unentwegt auf seine Hände, mit denen er nervös herumspielt, die Daumen ständig gegeneinanderpresst.
Er ist acht Jahre alt, aber das riesige rote Sofa, auf dem er sitzt, lässt ihn um einiges jünger wirken.
Das ist bei allen Kindern so, wenn sie hier sind, im Salon: einem geräumigen Raum, der so gestaltet ist, dass er eher einem gemütlichen Wohnzimmer als einem Vernehmungsraum gleicht. Vor einer Wand stehen mit Plüschtieren vollgestopfte Kisten, auf dem Tisch ein Stapel zerlesener Comics. Den Jungen interessiert nichts davon.
Er trägt einen verwaschenen blauen Pyjama über den dünnen Gliedmaßen. Sein Haar ist schon lange nicht mehr geschnitten worden: Ein peinlicher Pony fällt ihm fransig ins Gesicht, und hinten im Nacken, wo es auf die Schultern trifft, stellt sich das Haar zu strähnigen Locken auf. Was der Constable von seinem Gesicht sehen kann, wirkt auf ihn leer, als hätten ihm die Ereignisse der Nacht jegliche Gefühlsregungen ausgetrieben. Wie verletzte Seelen schweben das Schweigen des Jungen und die Reglosigkeit im Raum. Er hat viel durchgemacht, dieser Junge.
»Kannst du uns erzählen, was passiert ist?«
Wieder Schweigen.
Er sieht die Polizistin an, die für Fälle mit Kindern zuständig ist, die einzige Person, die sich außer ihnen beiden noch im Raum befindet. Eine förmlich wirkende, tadellos gekleidete Frau in einem makellosen grauen Anzug. Sie trägt eine Brille und hat das Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Sie kann ihm nicht helfen.
Plötzlich, ohne aufzusehen, spricht der Junge.
»Wo ist John?«
Der Polizist beugt sich vor.
»Dein Bruder? Er ist auch hier.«
»Ich will ihn sehen.«
»Das geht im Augenblick nicht.«
Der Junge sieht nicht auf, aber dem Polizisten entgeht nicht, dass er das Gesicht verzieht. Der väterliche Teil in ihm möchte helfen, sieht aber keine Möglichkeit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Der andere Junge - zwei Jahre älter als er - befindet sich im Raum darunter. Mit ihm haben sie schon gesprochen, und sie werden es in den kommenden Tagen noch viele Male tun müssen.
Der Polizist verändert seine Sitzhaltung ganz leicht.
»Wir wollen, dass du uns deine Version von dem erzählst, was passiert ist«, sagt er. Aber es klingt zu förmlich, zu unpersönlich für dieses Kind, das vor ihm sitzt, und ihm fällt ein, was die Polizistin gesagt hat, bevor sie mit der Anhörung anfingen. »Wenn es dir lieber ist, kannst du es wie eine frei erfundene Geschichte erzählen. Als ob es gar nicht wirklich passiert wäre.«
Der Junge lässt die Schultern sinken. Er ist ausgemergelt, bemerkt der Polizist. Vernachlässigt. Aber er hat auch den Zustand des Hauses gesehen, aus dem der Junge kam, und er weiß, dass nicht erst heute Nacht seinen Anfang genommen hat, was der Kleine erlebt hat. Es muss schon vor langer Zeit begonnen haben.
Nach einer ganzen Weile, nachdem er all seine Kraft zusammengenommen hat, blickt der Junge schließlich auf und sieht den Polizisten direkt an.
Und ... da ist etwas, oder?
Der Ausdruck in seinem Gesicht ist ganz und gar nicht leer. Und einen Moment lang hat der Polizist das Gefühl, jemanden anzusehen, der etwas älter ist.
Und als der Junge anfängt zu sprechen - »Es war schon spät, nach Mitternacht, glaube ich« -, kann er sich eines sentimentalen Gefühls nicht erwehren. Als das Kind anfängt zu erzählen, was geschehen ist, greift er sich an das Kreuz, das er um den Hals hängen hat, und macht sich bewusst, dass dieser kleine Junge heute Nacht so viel Grauenvolles erlebt hat.
Und dennoch bleibt der Zweifel.
Ja, denkt er. Dieser kleine Junge hat so viel durchgemacht. Vielleicht.
Erster Tag
1
Es begann im Quadrateviertel. So nennen wir das kleinteilige Straßengeflecht am Nordufer des Kell, des Flusses, der sich durch das Herz unserer Stadt schlängelt, das einem Slum sehr nahe kommt. Die Straßen treffen exakt rechtwinklig aufeinander und sind von unterschiedslosen Wohnblöcken gesäumt, von denen die meisten im Erdgeschoss mit Graffiti osteuropäischer Prägung besprüht sind. Weiter oben auf den Balkons flattert Wäsche kunterbunt wie Flaggen fremder Länder im Wind. Jeder dieser sich sechs Stockwerke nach oben erhebenden Klötze ist von einem Rasenstreifen umgeben, auch wenn diese kümmerlichen Zugeständnisse an Stadtbegrünung die bedrückende Anonymität der Häuser dahinter kaum zu verbergen vermögen.
Von oben, wenn man sich der Stadt mit dem Flugzeug nähert, sieht es aus, als hätte jemand seltsame Hieroglyphen in endlosen Reihen und Spalten in Stein gehauen - oder vielleicht auch, als würde der Fluss seine Oberlippe hochziehen, um befremdliche graue Zähne gen Himmel zu blecken. Ich hatte das Navigationsgerät eingeschaltet, dessen pulsierender blauer Pfeil mir bedeutete, dass ich das Ziel fast erreicht hatte, was mir aber wohl ohnehin nicht entgangen wäre. Entweder durch das Band, das die Polizei ein Stück weiter über die Straße gespannt hatte, oder durch das Schreien der Frau, das mir schon von weitem ans Ohr drang.
Es war halb elf an einem Freitagmorgen. Ein warmer Tag, so dass ich das Autofenster heruntergekurbelt hatte und den Arm mit aufgekrempelten Ärmeln lässig heraushängen ließ, um ihn mir von der milden Sonne bescheinen zu lassen.
Hinter dem Absperrband standen drei Fleischlaster und vier Polizeiwagen. Das Blaulicht auf dem Dach des ersten kreiselte in der Sonne müde vor sich hin. Auf beiden Seiten der Straße waren einfache Uniformierte postiert, die sensationslüsterne Gaffer aus den Nachbarhäusern auf Abstand hielten und verhinderten, dass sie uns zu viele wirre oder aufgebauschte Geschichten erzählten.
Vor dem Absperrband hielt ich an.
Geräuschvoll schlug ich die Autotür zu. Die Schreie erfüllten die Nachbarschaft: ein kaum zu ertragendes Jammern, zwei Stockwerke über uns, das sich den Weg zu uns hinunter bahnte. Das verzweifelte Wehklagen einer gebrochenen Seele, der Mutter des Opfers, nahm ich an. Die Schreie schienen im krassen Widerspruch zu dem warmen, cremigen Sonnenlicht zu stehen. Es ist seltsam, aber schlimme Dinge, die sich am helllichten Tag ereignen, wirken um einiges schmutziger, als würden sie nachts passieren.
»Detective Hicks.« Ich hielt dem Polizisten, der das Absperrband auf dieser Seite der Straße bewachte, meine Polizeimarke hin. Er nickte kurz und hob es für mich an. »Alles klar?«
»Ja, Sir. Detective Fellowes ist da drüben.«
»Danke.«
Detective Fellowes - Laura, meine Partnerin - stand ein Stück weiter vor Block acht. Sie sprach gerade mit ein paar Polizisten und deutete hier und dort hin, während sie ihnen die zahlreichen Aufgaben zuwies, die es an einem Tatort zu erledigen gibt.
Normalerweise wären wir zusammen am Tatort eingetroffen, aber wegen eines Termins von Rachel bei ihrer Hebamme hatte ich mir den Vormittag freigenommen. Als Laura mich angepiept hatte, befanden wir uns noch oben in ihrer Praxis, waren aber schon fast fertig. Rachel erhob sich gerade mühsam von der Liege und wischte sich mit einem dicken Papierstoß das Ultraschall-Gel vom Bauch, als ich das Vibrieren an meiner Hüfte spürte.
Mir war sofort klar, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste, wenn Laura mich in meiner Freizeit behelligte. Andererseits aber hatte ich dauernd dieses Gefühl, besonders unter diesen Umständen. Alles, was mit Schwangerschaft zu tun hatte, machte mir Angst. Jeder Gedanke an das Baby ließ die Welt um mich herum zerbrechlich und verwundbar werden, und ich bekam Angst, dass jederzeit etwas schiefgehen könnte. Dass während einer Schwangerschaft etwas passieren könnte, schien mir kein unvernünftiger Gedanke zu sein, und diese Sorge auf die ganze Welt zu übertragen war so viel abwegiger auch nicht.
Ich kam bei Laura an, als sich die Gruppe gerade zerstreute, um sich den Aufgaben zu widmen, die jedem Einzelnen übertragen worden waren.
»Mor-gen«, begrüßte ich sie gedehnt.
»Hicks.«
Laura trug einen dunklen Hosenanzug. Das hellbraune Haar reichte ihr bis zur Schulter. Sie wirkte angespannt und fuhr sich hektisch mit einer Hand durch das Haar, das aber sogleich wieder die Gestalt einer ordentlichen Frisur annahm. Sie brauchte morgens immer eine ganze Weile, um sie so in Form zu bringen, dass ihr durch das unverzichtbare Raufen und Kneten nicht der Schaden zugefügt wurde, den man eigentlich erwarten würde.
Wir hatten dieselbe Haarfarbe und dieselben Sommersprossen auf Nase und Wangen, und da wir beide Mitte dreißig waren, aber jünger aussahen, wurden wir oft für Bruder und Schwester gehalten. Das ärgerte sie. Sie kannte mich zu gut.
»Tut mir leid, dass ich dich holen musste.«
»Kein Problem. Eine willkommene Entschuldigung, da wegzukommen.«
Das brachte mir einen tadelnden Blick ein. In den acht Monaten, seit Rachel schwanger war, hatte Laura keine Gelegenheit ausgelassen, mir klarzumachen, dass es für alle eine gute Sache war, wenn ich nun Vater wurde. Überzeugt hatte sie mich nicht, aber ich hatte gelernt, es zu überhören.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie.
»Nein.«
»Wie geht's denn so?«
»Alles in Ordnung. Alles normal.«
»Gut.«
Ich machte eine Geste in Richtung des Gebäudes, aus dem noch immer die Schreie der Frau zu uns drangen. »Ich nehme an, ein Arzt ist bei ihr?«
»Ja, verdammt, natürlich. Ich hoffe, dass die Medikamente bald wirken. Das hält ja kein Mensch aus. Sie ist übrigens schon etwas älter und ziemlich verzweifelt, wofür ich vollstes Verständnis habe. Schließlich hat sie ihre Tochter so gefunden.«
»Nicht, dass wir am Ende noch eine Tote gratis dazubekommen«, bemerkte ich.
Erneut ein tadelnder Blick. »Das ist wirklich gemein, Hicks.«
Es gab Tage, an denen Laura meinen Scherzen zumindest einen Hauch von Toleranz entgegenbrachte, wenn sie sich auch nie richtig darauf einließ. Ein solcher Tag war heute eindeutig nicht.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Also, was haben wir?«
»Das Opfer ist, wie es scheint, eine Frau. Alter: zweiunddreißig. Sie heißt Vicki Gibson.«
Mit einer kurzen Geste deutete sie über die Straße auf den Wohnblock. Eine Hecke trennte den Gehweg von einem kleinen Rasenstück und dem Mietshaus dahinter. Die Leute von der Spurensicherung hatten ihr weißes Zelt auf dem Stück zwischen der Hecke und dem Gebäude aufgestellt. »Wie es scheint?«, fragte ich nach.
»Die Identifizierung ist noch nicht abgeschlossen. Die Mutter, Carla Gibson, hat sie an den Kleidern erkannt, die ihre Tochter trug. Viel mehr lässt sich noch nicht sagen.« Wirklich gemein.
»Okay. Dann ist es Carla Gibson, die ich da höre?« »Genau. Sie teilen sich eine Wohnung im dritten Stock. Nur die beiden. Carla geht meistens früh zu Bett und steht sehr früh wieder auf, sozusagen mit den Hühnern jeden Morgen um vier. Sie stellt fest, dass ihre Tochter nicht nach Hause gekommen ist, wirft eher zufällig einen Blick von dem Balkon da oben hinunter und sieht den Körper dort liegen.« Ich richtete den Blick hinauf zum dritten Stock, auf den Betonbalkon, wo es jetzt still geworden war. Brutal: Von da oben dürfte Carla Gibson eine ziemlich gute Sicht auf die Stelle gehabt haben, an der ihre Tochter gelegen hatte - besser gesagt, noch lag.
Wurde die Leiche absichtlich dort hingelegt?
»Und wo war sie gewesen?«
Laura ging mit mir die Straße hinunter, während sie weiter berichtete.
»Vicki Gibson machte zwei Jobs gleichzeitig, wenn es eben ging. Gestern Abend hat sie bei Butlers gearbeitet, in dem Waschsalon, nicht weit von hier. Nur ein paar Blocks weiter da drüben.« Sie deutete flüchtig hinter uns. »Um zwei war sie fertig. Sie muss also irgendwann zwischen zwei und vier umgebracht worden sein. Vermutlich eher kurz nach zwei.« »Gibt's irgendwo Überwachungskameras?«, wollte ich wissen. »Im Waschsalon, meine ich.«
»Soll das ein Witz sein? Aber eine andere junge Frau hat dort auch gearbeitet, und die sagt, dass Gibson bis Schichtende da war. Mag sein, dass sie lügt. Aber es würde passen. Gibson konnte sich kein Auto leisten, deshalb ging sie jeden Abend zu Fuß nach Hause. Und so, wie es aussieht, hat sie der Angreifer hier überrascht.«
Auf der Höhe des Zeltes blieben wir auf dem Bürgersteig stehen. Die Hecke war etwa eineinhalb Meter hoch, und in ihr klaffte unübersehbar eine Lücke, in der das Blattwerk schwer ramponiert worden war.
Ich sagte: »Dann packt er sie also hier auf dem Gehweg und stößt sie da durch. Oder er wartet hinter der Hecke und zieht sie hinein.«
»Beides möglich. Aber es ist noch zu früh, Genaueres zu sagen.«
Laura legte besonderen Wert auf diese Bemerkung, weil sie genau wusste, dass ich ein wenig zu übereilten Schlüssen neigte, wobei ich mich immer auf Statistiken und Wahrscheinlichkeiten berief und meine Schlussfolgerungen darauf stützte. Sie hielt das für eine meiner offensichtlicheren Schwächen, wenngleich wir beide wussten, dass diese Sünde lässlich war, denn in der Regel behielt ich am Ende recht. Ich konnte einfach nicht anders. Während wir die Straße entlang auf den Hauptweg zugingen, ließ ich mir alles durch den Kopf gehen, fügte zusammen, was ich schon wusste, und legte mir unbewusst bereits ein paar Theorien zurecht. Das Quadrateviertel ist ein Hort der Armut. In seinem Zentrum - im Auge des Orkans - lebten hauptsächlich Immigranten, viele davon illegal. Die Straßen waren ein Schmelztiegel von Sprachen und Kulturen: in sich geschlossene Gesellschaften; kleinere Städte unter dem Dach einer großen. Man konnte nicht sagen, wie viele Menschen in den Wohnblocks aufeinanderhockten. Die Graffiti waren zum größten Teil das Werk von Kids der zweiten Generation, die ihre Tags an die Wände schmierten und ihr Revier absteckten, um die Umgebung unterscheidbar zu machen. Von den Menschen, die dort lebten, kamen nur ganz wenige jemals aus ihrem Viertel, geschweige denn aus dem Bezirk heraus. Wir waren aber nicht einmal im Zentrum. Die Gebäude mochten zwar genauso aussehen, doch hier, am Rand, unweit des Flusses, war es etwas teurer. Hier lebten nicht wenige Studenten, denn die Wohnungen waren zwar weniger komfortabel, dafür aber um einiges günstiger als südlich des Flusses, in der Nähe zum Campus. In dieser Gegend galt jemand wie Vicki Gibson, die zwei Jobs bediente, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter zu verdienen, als eine ehrbare Berufstätige.
Warum sollte jemand sie töten wollen? Ein Raubüberfall war ein Motiv. Ein Sexualverbrechen? Wenn man das Risiko, dabei beobachtet zu werden, berücksichtigte, war das weniger wahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen. Zu früh, um schon etwas zu sagen ...
Taufeucht glitzerte das Gras des schmalen Grünstreifens in der Vormittagssonne. Der Rasen war erstaunlich gut gepflegt und nicht einmal zu kurz geschnitten, so dass man sich gut vorstellen konnte, es sich zum Picknick vor einem Zelt gemütlich zu machen, ein Zelt, das allerdings sehr anders aussehen würde als das, auf welches wir uns gerade zubewegten.
Als ich die Seitenplane anhob, stach mir das Blitzlicht einer Kamera in die Augen: Ein Mann von der Spurensicherung stand über das Opfer gebeugt und lichtete es an der Stelle ab, wo es im Schatten lag ...
Ich zögerte, wenn auch nur ein wenig.
Vicki Gibson lag auf dem Rücken, ein Bein so angewinkelt,
dass der rechte Fuß unter dem anderen Knie lag. Ihre Schuhe hatten sich von den Füßen gelöst, und die Absätze steckten verdreht im Gras. Sie trug einen roten Rock, eine schwarze Bluse und einen flauschigen braunen Mantel, der im Dämmerlicht eher rostfarben wirkte. Die Arme waren zu beiden Seiten ausgebreitet. Sie hatte langes Haar, dessen Strähnen sich wie schwarze Ranken im Gras kringelten, als läge sie in einer Wasserlache.
Von einem Gesicht, das diese Bezeichnung auch verdiente, konnte keine Rede mehr sein.
Wirklich gemein.
»Also«, sagte ich zu Laura, »du hattest recht.«
Trotzdem behielt ich weiterhin die Details im Blick - eine abgelegte rote Handtasche, neben ihr der schlapp im Gras liegende Riemen. Also kein Raubüberfall. Und die Kleidung schien unversehrt zu sein. So blieb nur eine Möglichkeit.
»Andy.« Simon Duncan, unser Kontaktmann zur Gerichtsmedizin, stand neben der Leiche. Er nickte mir zu. »Gut, dass du hergekommen bist.«
»Ist doch Ehrensache.«
Simon war groß, fast kahl und von athletischer Statur. Der Pathologe neben ihm, Chris Dale, schon unter normalen Umständen ein eher kleiner und ernster Mann, erweckte jetzt, wie er da neben seinem Opfer kauerte, umso mehr diesen Eindruck. Er sah auf, kurz, gerade lang genug, um zu bestätigen, dass er meine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte.
»Ich weiß, dass es noch zu früh ist«, fing ich an, »aber gibt es vielleicht trotzdem schon etwas Greifbares?«
Simon zog eine Augenbraue hoch.
»Du hast den Fall noch nicht gelöst? Du überraschst mich, Andrew. Ich hatte fest damit gerechnet, dass das deine Verspätung erklären würde - dass du schon unterwegs bist, um den Täter festzunehmen.«
»Doch, ich habe in der Tat eine Idee«, sagte ich. »Willst du nicht versuchen, mich davon abzubringen?«
Simon trat zur Seite, um dem Mann mit der Kamera den Weg an uns vorbei zum Kopfende der Leiche frei zu machen, was auch uns einen besseren Blick verschaffte, wobei »Kopfende« nicht mehr der passende Begriff war.
Wirklich gemein. Laura hatte recht gehabt.
»Es gibt eine sehr eindeutige Verletzung«, erklärte Simon in dem Augenblick, als das Blitzlicht der Kamera grell darüber hinweghuschte. »Besser gesagt, viele Verletzungen an einer einzigen Körperstelle. Andere schwere Verletzungen gibt es nicht, soweit wir bisher sagen können. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Schädelverletzung zum Tod geführt hat und nicht nachträglich zugefügt worden ist.«
Ich nickte.
Wer auch immer Vicki Gibson überfallen hatte, hatte ihr den Kopf und das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagen. Nicht einmal der Zahnstatus würde sich mehr ermitteln lassen, überlegte ich, während ich die Verletzungen einer fachmännischen Überprüfung unterzog. Die Stirn war vollständig eingedrückt, der Hals hingegen unberührt und makellos, darüber ihr welliges Haar. Alles dazwischen war weg.
»Irgendwelche Anzeichen, dass sich das Opfer gewehrt hat?«
Simon schüttelte den Kopf. »Vermutlich hat der erste Schlag gereicht, sie außer Gefecht zu setzen. Entweder hat er sie durch die Hecke gezerrt, oder sie ist durch den Schlag in diese Richtung gefallen.«
»Zu früh, um Genaueres zu sagen«, bemerkte ich.
»Ja. Sicher ist jedenfalls, dass er viele Male auf sie eingeschlagen und auch dann nicht von ihr abgelassen hat, als sie schon tot war. Sieh dir die Stirn an, das spricht für sich.« Natürlich, das war nicht zu übersehen.
Ich ging in die Hocke und betrachtete ihre Hände. »Kein Sexualverbrechen?«
»Bisher haben wir keine Hinweise darauf.«
»Auch kein Raubüberfall.«
»Kreditkarten und Geld sind noch in der Handtasche.« Wieder zog er eine Augenbraue hoch. »Das bringt dich doch nicht etwa aus dem Konzept, oder?«
»Sag ich dir noch nicht. Waffe?«
Simon schüttelte den Kopf. »Auch dazu können wir noch nichts Genaues sagen. Jetzt nicht, und möglicherweise überhaupt nicht. Aber, da wir die Waffe nicht gefunden haben, vermute ich, dass es etwas Kleines, Hartes sein muss. Ein Hammer oder ein Rohr. Vielleicht auch ein Stein. Auf alle Fälle etwas, das sich in der Hand tragen lässt.«
Ich nickte. Die Waffe musste hart genug sein, um ein solches Desaster anzurichten, gleichzeitig aber auch wieder leicht genug, dass der Mörder sie nach vollendeter Tat mitnehmen konnte: etwas, das die Wucht eines Steins zur Wirkung brachte, ohne so schwer zu sein. Natürlich war das ein grauenhafter Gedanke. Ein massiver Stein könnte eine solche Verletzung mit nur einem oder zwei Schlägen anrichten.
Mit einem Hammer hätte es um einiges länger gedauert und vieler, vieler Schläge mehr bedurft.
Das bedeutete aber auch, dass eine Affekthandlung möglicherweise auszuschließen war. Der Täter hatte die Waffe höchstwahrscheinlich bei sich gehabt und sie anschließend wieder mitgenommen. Und die Brutalität deutete auf ein persönliches Motiv hin. Nicht immer, aber in der Regel schon.
»Na los, Sherlock Hicks, raus mit der Sprache.«
Ich erhob mich.
»Der Ex-Mann.« Dann korrigierte ich mich: »Oder Ex-Freund. Sie hat früher einen Ring getragen, jetzt aber nicht mehr. Vielleicht ein Verlobungsring.«
»War nie verheiratet.« Laura neigte den Kopf. »Aber die Leute von der IT gehen gerade ihre Akten durch. Sollten Anzeigen oder einstweilige Verfügungen vorliegen, dann werden wir es bald wissen.«
»Gibt es bestimmt«, sagte ich.
Es mag seltsam klingen, aber ich fühlte mich etwas besser. So schlimm dieser Mord auch war - und er war wirklich gemein -, wusste ich doch, dass es eine Erklärung dafür geben würde, schließlich gibt es für jeden eine. Ich behaupte nicht, dass die Erklärung immer zufriedenstellend oder vernünftig ist, und ich behaupte auch nicht, dass sie immer ausreichend ist, aber einen Grund gibt es immer, und für die Person, die die Tat begangen hat, ergibt es immer einen Sinn.
Tatsache ist, dass die meisten Verbrechen simplen statistischen Regeln folgen. Die überwiegende Zahl weiblicher Mordopfer beispielsweise wird von einer Person umgebracht, die sie kennen. In den meisten Fällen ist das der aktuelle Partner oder der Verflossene. Landesweit sterben pro Woche zwei Frauen durch die Hand von Männern, die sie angeblich lieben, dies einmal behauptet haben oder sich nur ausgemalt haben, es sei so. Da sowohl ein Raubüberfall als auch ein Sexualverbrechen ausgeschlossen werden konnten, war der Ex-Freund die naheliegende Lösung. Die meisten Morde im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt geschehen in der Wohnung, und dieser Fall hier war nah genug dran. Irgendjemand hatte gewusst, wo und wann er sie finden konnte. Und je mehr ich darüber nachdachte, sprach auch die Tatsache, dass Vicki Gibson mit ihren zweiunddreißig Jahren mit ihrer Mutter zusammenlebte, eher für einen ehemaligen als für einen aktuellen Freund.
Sehr bald, davon war ich überzeugt, würden uns die IT-Leute, vielleicht auch Carla Gibson selbst, den Namen eines Mannes liefern. Bestimmt hatten Vicki oder ihre Mutter früher schon einmal die Polizei gerufen, denn solche Dinge kommen nicht aus heiterem Himmel. Gegen Gibsons Ex-Freund würde es einen Haufen Anzeigen geben und vermutlich auch Klagen. Irgendwann hatte sie ihm angedroht, ihn zu verlassen. Und da er der Typ Mann war, der er war, hatten sich die Wut und die Herabsetzung, die jeder in einer solchen Lage empfindet, um einiges ungezügelter und aggressiver entladen als bei den meisten.
Aufgrund der vielen Fälle häuslicher Gewalt, mit denen ich es bisher zu tun gehabt habe, konnte ich mir diesen erbärmlichen Bastard sehr gut vorstellen. Wenn wir ihn schnappten, würde er vermutlich immer noch Vicki Gibson die Schuld für das in die Schuhe schieben, was ihr passiert war - selbst dann noch. In der festen Überzeugung, dass sie es war, die ihn herausgefordert hatte und sich das also selbst eingebrockt hatte.
»Wir werden sehen«, sagte Laura.
»Ja, klar.«
Ich war mir meiner Sache sicher. Eine Beziehungstat wie aus dem Lehrbuch. Grausam und grässlich, in sich aber schlüssig und schnell gelöst.
So musste es sein.
Wie sonst?
2
Sie war nicht da, als ich aufgestanden bin«, sagte Carla Gibson. »Nein«, bemerkte Laura einfühlsam. »Ich weiß.«
Die Wohnung, die sich zwei Generationen der Gibson-Familie teilten - bis zu diesem Morgen jedenfalls -, war so klein, dass sie schon durch die Anwesenheit von nur drei Personen aus den Nähten zu platzen drohte.
Wir standen im Wohnzimmer, an das sich die Küche anschloss, wenn auch vor allem in dem Sinn, dass der fadenscheinige Wohnzimmerteppich dort aufhörte, wo ein Streifen schwarz gestrichener Fußbodendielen vor der Arbeitsplatte begann. Ich lehnte an der Wand gleich neben einem angerosteten, an der Wand montierten Heißwasserboiler und Rohren, die unverputzt von oben aus der Decke kamen, um unten in schmutzigen Löchern in den Fußbodendielen wieder zu verschwinden.
Laura saß Carla an einem klapprigen Holztisch gegenüber, der, wie auch das übrige Mobiliar, ziemlich abgenutzt und schäbig war: dünnes, von vier Schrauben und einer guten Portion Hoffnung notdürftig zusammengehaltenes Balsaholz. Laura ließ sich behutsam nieder, als fürchtete sie, der Stuhl würde unter ihr nachgeben.
»Ich bin ganz leise in die Küche gegangen, um Tee zu machen. Wissen Sie, ich gehe immer ganz leise, weil sie so viel arbeitet, und ich wollte sie schlafen lassen. Aber sie war gar nicht da.«
»Ja, das wissen wir, Mrs. Gibson. Es tut mir wirklich leid.« Äußerlich wirkte die alte Dame gefasst, jetzt, nachdem das leichte Beruhigungsmittel Wirkung gezeigt hatte, das ihr die Krankenschwester vom medizinischen Dienst verabreicht hatte. Innerlich jedoch war sie immer noch aufgelöst - unsicher und zittrig. Sie sah uns kaum an, starrte stattdessen apathisch ins Leere, den Blick auf etwas Unsichtbares gerichtet, das sich jenseits der tristen Wände befand. Natürlich konnte das Medikament nicht ungeschehen machen, was passiert war, es vermochte aber zumindest den Schmerz zu lindern. Man sah ihr an, dass sie lange bittere Tränen geweint hatte und sich jetzt krampfhaft bemühte, dem Grauen des Verlustes, den sie erlitten hatte, aus dem Weg zu gehen. Außer dem Wohnzimmer gab es noch ein Bad und ein Schlafzimmer mit einem Bett, in dem Carla schlief. Vicki Gibson hatte hier geschlafen, auf dem Sofa. Es war fast auf Bodenhöhe, aber immer noch sorgfältig für die Nachtruhe bereitet, die Vicki Gibson nicht mehr bekommen hatte. Kissen und Decken waren ordentlich darauf verteilt und mit einer Patchworkdecke zugedeckt worden, die Carla, wie ich annahm, in mühevoller Handarbeit selbst genäht hatte. Das zu sehen tat weh - eine visuelle Bekräftigung, dass sie ihrer beklagenswerten Armut zum Trotz alles versuchten, das Beste daraus zu machen. Vicki arbeitete bis spät in die Nacht und fing nicht selten schon früh an: hin und wieder als Reinigungsfrau in einem Bürokomplex, dann Spätschichten im Waschsalon. Abend für Abend machte Carla ihrer Tochter das Bett auf dem Sofa fertig, und Morgen für Morgen räumte sie diese Decken ordentlich wieder weg, um aus dem behelfsmäßigen zweiten Schlafzimmer ein behelfsmäßiges Wohnzimmer zu machen.
So ging es jeden Morgen, nur an diesem nicht.
Und alles Übrige eben auch noch.
»Dann habe ich hinausgesehen«, sagte Carla, »... und da lag sie.«
»Sie müssen das alles nicht noch einmal erzählen, Mrs. Gibson. «
»Nein, nein.«
»Ich würde gerne über etwas anderes mit Ihnen sprechen.« »Ja.«
Ich wusste, dass Laura vor allem versuchte, die Frau von der Tatsache abzulenken, dass ihre Tochter da draußen noch lag. Auch in den nächsten paar Stunden würden wir die Leiche nicht entfernen, was im Hinblick auf den Umgang mit den Bewohnern dieses Hauses und der benachbarten Wohnblöcke ein logistischer Alptraum war.
Als wir das Gespräch mit ihr beendet hatten, wollte ich
Carla Gibson einen sympathischen Polizisten dalassen, der sie freundlich davon abhielt, den Balkon zu betreten, der von diesem Zimmer abging. Der Anblick des Zeltes, dort unten, war zwar um einiges weniger erschreckend als die Szene heute Morgen, wäre aber trotzdem furchtbar. Tatsache war, dass wir uns um ihre Tochter so gut kümmerten, wie uns das im Augenblick möglich war, auch wenn Angehörige nicht immer diesen Eindruck haben mögen.
»Gut«, sagte Laura. »Wollen wir stattdessen über Tom Gregory sprechen?«
»Tom ... ?«
Carla starrte sie einen Moment lang an.
»Vickis Ex-Freund.«
»Ich weiß, wer das ist, aber was hat er mit der Sache zu tun?« »Na ja«, sagte Laura. »Soviel ich weiß, war die Beziehung zwischen den beiden ziemlich wechselhaft.«
»Das wusste ich nicht.«
Ich verschränkte die Arme und schwieg, denn wechselhaft war stark untertrieben. In der Zwischenzeit, nachdem die Leiche untersucht worden war, waren die Dateien von der IT-Abteilung gekommen, denen ich entnahm, dass ich mit meiner Vermutung da draußen gar nicht so falsch gelegen hatte. Das Ausmaß der Gewalt zwischen den beiden war zwar nicht so schlimm, wie ich zunächst befürchtet hatte - aber das bedeutete nur, dass die Polizei nicht alles mitbekommen hatte. In Anbetracht der Machtdynamik und der Drohungen, die in den meisten Fällen mit häuslicher Gewalt einhergehen, scheint die Sache bei den beiden ganz anders zu liegen. Denn hinter jeder angezeigten Gewalttat verbergen sich in der Regel viele weitere von nur unwesentlich geringerer Brutalität.
Vicki Gibson hatte die Polizei jedenfalls dreimal wegen Tom Gregory gerufen. Zweimal, als sie noch zusammen waren, und das dritte Mal vor sechs Monaten, als sie sich schon getrennt hatten. Gregory war sturzbetrunken im Waschsalon aufgetaucht, so dass er von ein paar Kunden gewaltsam zur Räson gebracht werden musste.
Aus irgendwelchen Gründen hatten sich alle drei Fälle in Wohlgefallen aufgelöst, bevor es zur Anzeige gekommen war. Fälle häuslicher Gewalt, wie etwa Vergewaltigung, werden sehr oft, wie wir es nennen, verschleppt. Manchmal liegt es an uns, meistens aber eben nicht, jedenfalls heutzutage. Ich darf aber behaupten, dass es eine Menge Fälle gibt, in denen ich mehr hätte tun können. Mehr, als mir lieb sind, um ehrlich zu sein.
Laura sagte: »Hat Vicki das nie erwähnt?«
»Nein, hat sie nicht«, entgegnete Carla mit düsterem Blick. »Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Vicki das mit sich hätte machen lassen. Sie ist so eine starke Persönlichkeit, wissen Sie. So beschützend, immer um mich besorgt. Ich weiß, dass es schwer für sie ist, aber sie ist immer so gut zu mir.«
»Ich verstehe.« Sollte Laura bemerkt haben, dass Carla in der Gegenwart sprach, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Klugerweise. »Kennen Sie ihn? Mr. Gregory?« »Nein. Ich weiß, dass sie eine Zeitlang zusammen waren, aber das war, bevor sie wieder nach Hause zurückgekommen ist.«
Nach Hause.
Ich sah mich erneut um. Peter Gibson - Vickis Vater - war letztes Jahr gestorben. Ihre Eltern hatten hier sehr lange gewohnt, und Vicki war hier aufgewachsen. Ich stellte mir vor, wie sie als kleines Kind auf dem Boden herumgekrabbelt war, das Geräusch der Fernsehgeräte aus den Nachbarwohnungen von den dünnen Wänden kaum gedämpft. Vielleicht kein guter Ort, aber eine gute Familie. Manchmal reicht das, meistens aber nicht. Vicki war ihrer Wege gegangen, hatte ihr Bestes gegeben, um schließlich vom schicksalhaften sozialen Band unserer Stadt doch wieder dorthin gezogen zu werden, wo alles angefangen hatte. Ein Klischee, aber so ist es. Wo Menschen landen, hängt häufig davon ab, wo ihre Anfänge liegen. »Als sie sich trennten, habe ich ihr gesagt, dass sie nicht traurig sein solle«, fuhr Carla fort. »So etwas passiert, stimmt's? So traurig es ist, aber das Leben geht weiter.«
»Und Sie waren glücklich, sie wieder bei sich zu haben, nicht wahr?«
»Ja.« Carlas Miene verzog sich zu einem traurigen Lächeln. »Ja, das war ich. Sie ist ein gutes Kind.«
»Hat sie nie erwähnt, warum sie sich getrennt hatten?« »Nein. Aber ich bin mir sicher, dass es nicht ihre Schuld war. Das habe ich ihr auch gesagt. Sie ist eine gute Partie. Sind Sie verheiratet, Detective?«
Die Frage war, so hoffte ich, an mich gerichtet. Ich fühlte mich peinlich berührt und hatte Mitleid mit ihr.
»Ja.«
»Schade. Sie ist so ein nettes Mädchen.«
Ich stieß mich von der Wand ab und mischte mich in das Gespräch ein.
»Ist Mr. Gregory hier gewesen, nachdem sie sich getrennt hatten?«
»Nein, war er nicht.«
»Können Sie uns sagen, wo oder wie wir ihn erreichen können?«
»Ja, ich glaube schon.« Sie erhob sich und schwankte leicht. »Sie haben zusammengewohnt, bevor sie wieder nach Hause kam. Ich hole mein Adressbuch.«
»Danke, ist schon gut.« Ich hob die Hand, um sie aufzuhalten. Wir kannten die Anschrift bereits, und die Kollegen hatten festgestellt, dass er nicht zu Hause war. »Ich dachte nur, ob Sie vielleicht noch andere Aufenthaltsorte kennen. Wo er gern hinging, Freunde, Familie, bei denen er sein könnte?« »Ach so, nein, tut mir leid.« Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, der davon kaum Notiz zu nehmen schien. »So gut kenne ich ihn auch wieder nicht. Eigentlich kannte ich ihn gar nicht.«
»In Ordnung.«
Einen Versuch war es wert gewesen. Sei es aus Stolz oder Verlegenheit, Vicki Gibson hatte ihrer alten Mutter den missbräuchlichen Teil ihrer Beziehung vorenthalten. Auch das war keineswegs überraschend. Die Situation, in der sie sich befand, machte sie an sich nicht schwach, befindet man sich aber in einer solchen Lage, fühlt man sich in der Regel zwangsläufig so, und Menschen weigern sich häufig, dieses Gefühl noch zu verstärken, indem sie es sich eingestehen. Menschen, die dringend Hilfe brauchen, befinden sich meistens an dem Punkt, wo es ihnen am schwersten fällt, das zuzugeben.
Ein Trost war das zwar nicht, aber wir konnten zumindest garantieren, dass Tom Gregory mit dem, was er getan hatte, nicht davonkommen würde. Dieses Mal nicht. Auch wenn er im Augenblick von der Bildfläche verschwunden war, würde das nicht ewig dauern.
Ich war in Gedanken bereits weiter und eigentlich schon fast zur Tür hinaus, als ich die Verzweiflung bemerkte, mit der Carla Gibson mich ansah, als hätte sie auf meiner Stirn mitlesen können. Gerade wollte ich mich entschuldigen, als sie sagte: »Vicki war so stark.«
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie von Gregory sprach - und damit auf den Punkt der Unterhaltung zurückkam, an dem Laura die Beziehung der beiden als wechselhaft bezeichnet hatte. Sie wollte nicht glauben, dass ihr kleines Mädchen etwas so Schreckliches still ertragen hatte. Und ich verstand, dass es gar nicht um mich und meine Unaufmerksamkeit ging, sondern darum, dass Carla Gibson trotz des Medikaments plötzlich wieder präsent war.
»Sie war stark«, sagte ich und sah sie an. Obwohl es gar nicht um Stärke geht, weil das wie ein Urteil über die erscheinen kann, die nicht gehen, sagte ich noch einmal: »Sie war wirklich sehr stark.«
Und ich dachte:
Wir werden dich kriegen, Mr. Gregory.
Aus dem Englischen von Ulrike Clewing
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Knaur Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Steve Mosby
Steve Mosby, geboren 1976 in Horsforth/Yorkshire, studierte Philosophie und lebt als freier Schriftsteller in Leeds. Seit seiner Kindheit war Schreiben seine Leidenschaft. Mit Der 50/50-Killer und Schwarze Blumen gelang ihm der Durchbruch als hochklassiger Thrillerautor. Für seine bisher sieben Romane erhielt er 2012 den angesehenen "Dagger in the Library" der britischen Crime Writers' Association.
Bibliographische Angaben
- Autor: Steve Mosby
- 2013, 1, 432 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653432
- ISBN-13: 9783863653439
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