Bevor ich gehe
Erinnerungen für eine Zukunft ohne mich
Sie weiß, dass sie bald sterben wird. Doch die tödliche Krankheit, die ihren Körper zerstört, kann ihrem Willen nichts anhaben: Susan Spencer-Wendel ist entschlossen, jeden Tag, der ihr bleibt, zu nutzen, um ihrem Mann und ihren...
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Produktinformationen zu „Bevor ich gehe “
Sie weiß, dass sie bald sterben wird. Doch die tödliche Krankheit, die ihren Körper zerstört, kann ihrem Willen nichts anhaben: Susan Spencer-Wendel ist entschlossen, jeden Tag, der ihr bleibt, zu nutzen, um ihrem Mann und ihren drei Kindern einen Schatz gemeinsamer Erinnerungen zu hinterlassen. Also begibt sie sich mit ihnen auf die Reise. Mit ihrem Mann fährt sie nach Budapest, wo sie die ersten Jahre ihrer Ehe verbrachten. Und mit ihrer 14-jährigen Tochter kauft sie ein Brautkleid - denn wenn Marina einmal heiratet, wird Susan nicht mehr dabei sein.
"Ich bin zu beschäftigt mit dem Leben, um mir über das Sterben Gedanken zu machen."
SUSAN SPENCER-WENDEL
Klappentext zu „Bevor ich gehe “
"Ich bin zu beschäftigt mit dem Leben, um mir über das Sterben Gedanken zu machen." Susan Spencer-WendelSie weiß, dass sie bald sterben wird. Doch die tödliche Krankheit, die ihren Körper zerstört, kann ihrem Willen nichts anhaben: Susan Spencer-Wendel ist entschlossen, jeden Tag, der ihr bleibt, zu nutzen, um ihren Freunden, ihrem Mann, vor allem aber ihren drei Kindern einen Schatz schöner, gemeinsamer Erinnerungen zu hinterlassen. Also begibt sie sich mit ihnen auf Reisen, ihr bewegendes Buch lehrt uns, das Leben auszukosten, so kurz es auch sein mag.
Die Krankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) führt durch Schädigung der Nervenzellen innerhalb weniger Jahre zu Lähmungserscheinungen der Gliedmaßen, dann der Schluck- und Atemmuskulatur, schließlich zum Tod. Als Susan Spencer-Wendel, Gerichtsreporterin und Mutter dreier Kinder, mit 44 Jahren von ihrer Erkrankung erfährt, beschließt sie, zu reisen und darüber ein Buch zu schreiben, ein Wettlauf mit der Zeit. Sie fährt mit einer Freundin nach Kanada, um die berühmten Nordlichter zu sehen, und mit ihrem Mann nach Budapest, wo sie die ersten Jahre ihrer Ehe verbrachten. Mit ihrer 14-jährigen Tochter besucht sie in New York den berühmten Brautausstatter Kleinfeld, denn wenn Marina einmal heiratet, wird Susan nicht mehr dabei sein. Diese Geschichte mag tieftraurig sein, doch es ist nicht Susan Spencer-Wendels Absicht, uns das Herz zu brechen. Sie erinnert uns vielmehr daran, was angesichts unserer Sterblichkeit wirklich zählt: das Leben an jedem einzelnen Tag zu lieben.
Lese-Probe zu „Bevor ich gehe “
Bevor ich gehe von Susan Spencer-Wendel und Bret WitterVorwort: Delfinküsse
Mein Sohn Wesley wollte mit Delfinen schwimmen. Am neunten Tag des neunten Monats - dem 9. September 2012 - wurde er neun Jahre alt, und dies war sein Herzenswunsch. Ich hatte jedem meiner drei Kinder im Laufe des Sommers eine Reise versprochen an einen Ort ihrer Wahl. Um gemeinsam Zeit zu verbringen. Zeit, um Erinnerungen zu säen, die in der Zukunft Blüten tragen würden. Als Geschenk für sie - und für mich. Im Juli flog ich mit Marina, meiner Tochter im Teeniealter, nach New York. Im August verbrachten wir auf Wunsch meines elfjährigen Sohnes Aubrey eine Woche mit der ganzen Familie auf Sanibel Island vor der Westküste Floridas. Diese Reisen waren Teil eines größeren Plans: Ein Jahr, in dem ich voller Freude leben wollte. Ein Jahr, in dem ich sieben Reisen mit den sieben wichtigsten Menschen in meinem Leben unternahm. Yukon, Ungarn, Bahamas, Zypern.
Ein Jahr, in dem ich auch Reisen in mein Inneres unternehmen wollte: aus den Fotos eines ganzen Lebens Fotoalben gestalten, schreiben, einen sicheren Hafen in meinem eigenen Garten schaffen - eine an den Seiten offene Chiki-Hütte mit Palmwedeldach und bequemen Sesseln, wo ich mich mit Erinnerungen und Freunden umgab.
Reisen, die sich als noch perfekter herausstellten, als ich sie mir ausgemalt hatte.
Wesleys Ausflug war der einfachste und letzte. Eine dreistündige Fahrt mit unserem Van von unserem Zuhause im Süden Floridas zum Wasserpark Discovery Cove in Orlando.
»Was für eine wunderschöne Fahrt«, meinte meine Schwester Stephanie gut gelaunt wie immer, als wir durch die eintönige Sumpflandschaft Zentralfloridas fuhren.
... mehr
Discovery Cove besteht aus einer riesigen künstlichen Lagune. Auf einer Seite von einem Strand gesäumt, auf der gegenüberliegenden Seite von Felsen umschlossen. Palmen thronen über der üppigen Landschaft. Dem freudigen Anlass entsprechend, wirkten ihre Palmwedel wie ein Feuerwerk auf mich.
Im Sprühregen versammelten wir uns am Strand und beobachteten, wie Flossen den Spaßbereich auf der anderen Seite der Lagune durchpflügten.
»Welcher ist unserer?«, fragte Wesley. »Welcher ist unserer?«
Eine Tiertrainerin führte uns ins Wasser. Auf einmal tauchte ein Wesen vor uns auf: ein glattes graues Gesicht mit glänzenden schwarzen Augen und einem großen Mund, die Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Seine Nase wippte auf und ab, wie um uns zu signalisieren: »Ich will spielen!«
Wesley war überglücklich. Er redete in einem fort, hüpfte herum und konnte vor Aufregung kaum still stehen. Im Neoprenanzug sah er mit seinen langen blonden Haaren und blauen Augen aus wie einer der Surfer, für die ich in meiner Jugend so geschwärmt hatte.
Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn.
Aubrey und Marina standen neben ihm, nicht weniger begeistert.
»Ist es nicht gemein, sie so einzupferchen?«, fragte Marina in die Runde. In dem Moment tauchte der Delfin neben ihr auf und unwillkürlich begann sie sich über sein Blasloch lustig zu machen. Marina war fast fünfzehn Jahre alt, und in ihrem Kopf herrschte ein Wirrwarr aus jugendlichen und erwachsenen Gedanken.
Die Trainerin machte uns miteinander bekannt. Sie hieß Cindy - die Delfindame, nicht die Trainerin. Cindy schwamm langsam an uns vorbei und ließ sich von uns streicheln. Ich war erstaunt über ihre Größe: zweihundertfünfzig Kilo steinharte Muskelmasse be zweieinhalb Metern Länge.
»Und, wie fühlt sie sich an?«, fragte die Trainerin.
»Wie eine Handtasche«, witzelte mein Göttergatte John.
»Ich liebe Cindy«, platzte Wesley heraus.
Cindy war über vierzig Jahre alt. Ich fragte, ob sie Kinder habe.
»Nein, Cindy ist eine Karrierefrau«, antwortete die Trainerin.
Genau wie ich, die Journalistin.
Aber ich hatte Kinder. Hatte das Glück, mit ihnen in hüfthohem Wasser zu stehen und die Haut eines wunderbaren Meeresbewohners zu befühlen.
Die Trainerin brachte uns Handzeichen für Cindy bei. Wenn man eine Bewegung machte, als wollte man eine Angelschnur einholen, antwortete Cindy mit dem entsprechenden Geräusch.
Wesley stand vor Begeisterung der Mund offen. »Cindy ist so toll«, rief er.
Mithilfe der Trainerin umfasste Wesley Cindys Rückenflosse. Er streckte sich flach auf ihrem Rücken aus, und die nächste halbe Stunde zog Cindy uns einen nach dem anderen durch das Wasser. Erst die Kinder, dann Stephanie und John.
Als ich an der Reihe war, lehnte ich ab. »Lasst lieber Wesley noch mal mit ihr schwimmen«, sagte ich. Schließlich war es sein Tag. Und als Cindy mit ihm durch das Wasser pflügte, sprach sein Gesichtsausdruck Bände.
Wir machten an diesem Tag viele Fotos. Von Wesley. Von Aubrey und Marina. Von unserer Familie, gemeinsam und mit strahlenden Gesichtern im Regen am Strand.
Eines mag ich besonders: John hebt mich halb aus dem Wasser, damit ich Cindy auf die lächelnde Schnauze küssen kann.
In diesem Augenblick dachte ich nur an den sanften Riesen vor mir, an die kühle, glatte Nase, als ich sie küsste. Was für eine Erinnerung!
Als ich das Foto sah, dachte ich an den sanften Riesen hinter mir, der mich hochhebt und mich stützt, wie er es jeden Tag tut. Ich dachte an meine Kinder, und daran, dass ich glücklich bin, wenn sie glücklich sind. An meine Schwester und Freunde, die mich zum Lachen bringen.
Ich dachte an Wesley, dessen neunter Geburtstag wohl der letzte ist, an dem ich teilhaben werde.
Ich kann nicht gehen. Ich wurde in einem Rollstuhl zur Lagune geschoben.
Ich kann mein eigenes Gewicht nicht tragen, nicht einmal im Wasser. John musste mich aus dem Rollstuhl heben und festhalten, damit ich nicht ertrinke.
Ich kann meine Arme nicht heben, um zu essen oder meine Kinder zu umarmen. Meine Muskeln sterben ab und werden sich nie wieder erholen. Ich werde nie mehr in der Lage sein, meine Zunge so zu bewegen, dass ich die Worte »Ich liebe dich« klar und deutlich über die Lippen bringe.
Ich sterbe, rasch und unaufhaltsam.
Aber heute lebe ich.
Als ich das Foto von mir und dem Delfin sah, habe ich nicht geweint. Ich spürte keine Bitterkeit, dass ich das alles verloren habe. Nein, ich lächelte und lebte meine Freude.
Dann drehte ich mich so gut es ging in meinem Rollstuhl um und küsste John, wie ich den Delfin geküsst hatte.
Selige Unwissenheit
Der Gedanke an mein Leben auf Autopilot, mein früheres Leben, ist seltsam. Vierzig Stunden pro Woche und oft auch mehr arbeitete ich in dem Job, den ich liebte, als Gerichtsreporterin für die Palm Beach Post. Weitere vierzig Stunden widmete ich mich den tagtäglichen Geschwisterkriegen, Hausaufgaben und Terminen - Kinderarzt, Zahnarzt, Kieferorthopäde, Psychiater (kein Wunder, oder?). Mehrere Stunden verbrachte ich beim Musikunterricht meiner Kinder - oder dabei, sie hin und her zu fahren. Lange Abende saß ich Wäsche faltend an unserem Esszimmertisch. Gelegentlich fand ein Abendessen mit Freunden oder meiner Schwester Stephanie statt, die ein paar Häuser weiter wohnt. Am Ende des Tages ließ ich mich zusammen mit meinem Mann ein paar Minuten lang im Pool in unserem Garten treiben, und nur ein Streit der Kinder über das Fernsehprogramm unterbrach die Ruhe oder unser sechsjähriger Sohn Wesley, der aus heiterem Himmel Löffel bemalen wollte.
»Okay. Aber nur die weißen Plastiklöffel. Nicht die silbernen! «
Ich war froh.
Ich war glücklich.
Und wie jeder andere erwartete ich, dass es immer so weitergehen würde - Abschlussbälle, Hochzeiten, Enkelkinder, Rente, ein paar Jahrzehnte allmählichen Verfalls.
Dann blickte ich eines Sommerabends im Jahr 2009, während ich mich auszog, auf meine Hand herab.
»Ach du Scheiße!«
Ich drehte mich zu John um. »Sieh dir das an.«
Ich hob meine linke Hand. Sie war dürr und blass. Auf der Handfläche zeichneten sich Sehnen und Knochenhöcker ab.
Ich hob die rechte Hand. Sie sah normal aus.
»Du musst zum Arzt«, sagte John.
»Okay.«
Ich war zu perplex, um mehr zu sagen. Meine Hand sah aus, als ob sie gerade absterben würde. Doch ich war nicht beunruhigt. Alles, worüber ich nachdachte, war, wie ich den Arzttermin in meinem vollen Kalender unterbringen sollte.
Ich ging zu unserer Hausärztin, einer netten Frau, die mich auf fünf unterschiedliche Arten fragte, ob ich irgendwelche Schmerzen in der linken Hand oder dem Arm hatte.
»Überhaupt keine«, antwortete ich.
»Nun, dann ist es vermutlich kein Karpaltunnelsyndrom. Ich würde Sie gern an einen Neurologen überweisen.«
Und das war der Beginn meiner einjährigen Odyssee von Arzt zu Arzt. Des Versuchs, eine Ursache für meinen verkrüppelten Körperteil zu finden. Eine andere Antwort zu finden als die, die John auf eigene Faust recherchiert hatte und nach meinem ersten Termin beim Neurologen erwähnte: ALS.
Woraufhin ich fragte: »Was ist das?«
ALS, auch bekannt als Lou-Gehrig-Syndrom, ist eine neuromuskuläre Erkrankung, bei der erst die für Muskelbewegungen verantwortlichen Nerven absterben und schließlich die Muskeln selbst. Sie ist progressiv, was bedeutet, dass sie stetig voranschreitet, von Muskel zu Muskel. Die Ursachen sind nicht bekannt. Es gibt keine Behandlungsform. Und keine Heilung.
ALS würde bedeuten, dass der Tod meiner linken Hand sich auf den Arm ausbreitete. Dann auf meinen ganzen Körper. Ich würde Körperteil für Körperteil schwächer werden, bis ich ganz gelähmt war.
Und dann, normalerweise innerhalb von drei bis fünf Jahren nach Auftreten der ersten Symptome, würde ich sterben.
Nein, das durfte nicht geschehen. Nein. Es musste eine andere Erklärung geben.
Vielleicht eine Verletzung? Ein paar Monate zuvor war ich beim Inlineskaten zum Haus meiner Mutter so schlimm gestürzt, dass der Abdruck des Asphalts noch eine Stunde später auf meiner linken Hand sichtbar gewesen war.
Außerdem hatte ich eine Bandscheibenvorwölbung, die allerdings meine Hand nicht beeinträchtigen konnte.
Dr. Jose Zuniga, der erste Neurologe, bei dem ich war, vermutete die Hirayama-Krankheit, bei der man auf rätselhafte Weise seine Muskelfunktion verliert. Die Beschreibung passte auf meine Symptome, bis auf eines: Die meisten Betroffenen sind Japaner.
»Sie sind keine Japanerin«, stellte Dr. Zuniga fest.
Warum eigentlich nicht, dachte ich, ging anschließend direkt in den Supermarkt und kaufte mir Sushi. Überließ die California Rolls den Weicheiern und entschied mich stattdessen für eine Rolle mit Aal.
Es war nicht die Hirayama-Krankheit.
Ein ALS-Spezialist, Dr. Ram Ayyar, vermutete eine multifokale Neuropathie, eine progressive Muskelerkrankung, die häufig in den Händen beginnt. Im Gegensatz zu ALS gibt es für diese Krankheit einen Test. Der mich dreitausend Dollar kostete. Und der, wie ich feststellen musste, von meiner Krankenkasse nicht übernommen wurde. Diese Tatsache frustrierte mich noch mehr als das Testergebnis: negativ, keine multifokale Neuropathie.
Innerhalb von sechs Monaten ging ich zu vier verschiedenen Spezialisten. Ich flog nach Zypern, um nach möglichen Erbfaktoren zu forschen.
Als das alles zu nichts führte, ließ ich keine Tests mehr durchführen. Für mich begann ein Jahr der Verdrängung. Ein nahezu fahrlässiger Fall von Verdrängung. Ich verschloss die Augen derart fest vor der Wahrheit, dass es mir heute regelrecht peinlich ist.
Als mir im Frühjahr 2010 auf einmal meine Yogaübungen schwerfielen, ließ ich mich für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich mit dem Yoga aufhören musste, von einer Freundin in allen sechsundzwanzig Bikram-Haltungen ablichten.
Bei der goldenen Hochzeit meiner Eltern im November musste mir John mein Steak schneiden. Ich hatte keine Probleme mit dem Essen, nur das Herumhantieren mit Messer und Gabel funktionierte nicht mehr.
Als ich zu schwach war, um meine Aktentasche zu tragen, tauschte ich sie gegen einen Rollkoffer aus. »Willst wohl nach Anwalt aussehen, was?«, zog mich ein Journalistenkollege auf.
Ich sagte nichts dazu.
Im Januar 2011 fiel mir beim Zähneputzen ein Zucken in meiner Zunge auf. Ich konnte es nicht unterbinden, so sehr ich mich auch anstrengte.
Als wir ein paar Wochen später zum Abendessen bei Stephanie waren, bemerkte ich, wie sie erstaunt die Augen aufriss. John hielt mir die Gabel vor den Mund, um mich zu füttern. Moment mal, wann war das denn bei uns zur Routine geworden?
»Lass das, John!«, fuhr ich ihn unfreundlich an. »Ich kann allein essen.«
Zum Nachtisch servierte Steph Erdnussbutter-Pie. Meine Zunge weigerte sich, mir zu gehorchen. »Willst du mich umbringen? «, scherzte ich, nachdem ich es aufgegeben hatte, den klebrigen Klumpen in meinem Mund umherzuschieben.
Ich wollte es mir nicht eingestehen. Zumindest nicht bewusst.
Doch wir Menschen können uns nicht über unser Unterbewusstsein hinwegsetzen. Ich kaufte mir das Buch Buddhismus für Anfänger, versuchte angestrengt, in den Zen-Modus zu schalten und mein Gedankenkarussell anzuhalten.
Kurz nach Karneval 2011 verbrachten meine beste Freundin Nancy und ich mit unseren Ehemännern ein verlängertes Wochenende in New Orleans. So kurz nach Karneval, dass auf den Straßen noch Luftschlangen, Mardi-Gras-Perlen und Müll herumlagen.
Nancy wollte sich die Verwüstung ansehen, die der Hurrikan Katrina hinterlassen hatte. Aber mir war eher nach Ablenkung, und ich lehnte den Vorschlag ab. Deshalb standen John und ich an einem der Abende auf einmal vor einem Stripclub in der Bourbon Street.
Stripclubs sind nicht unbedingt mein Ding. Ich war zweimal in meinem Leben in einem gewesen, beide Male als Zeitungsreporterin.
Beim ersten Mal war eine Stripperin von einem Gast verklagt worden, weil diese ihm während einer Tanznummer ihren imposanten Stripperschuh ins Gesicht geschlagen hatte. Der Mann erlitt durch die Attacke eine Netzhautablösung und einen Jochbeinbruch.
Kein Scherz.
Beim zweiten Mal recherchierte ich eine Story über eine vermisste Frau, deren Verwandte in einem Etablissement namens Kitten Club arbeitete. Als ich hineinschlenderte, wirbelte sie gerade mit ihren hundert Kilo über die Bühne. Ihre Brüste sahen aus wie Zwillinge beim Wrestling.
»Lass uns da reingehen!«, sagte ich in der Bourbon Street zu John. »Mal an was völlig anderes denken.«
Der Laden war gerammelt voll. Wir wirkten wohl, als säßen die Scheine bei uns besonders locker, denn der Türsteher platzierte uns direkt vor der Bühne.
Die Nummer bestand aus drei Frauen - nackt bis auf gürtelbreite, karierte Schuluniformröcke - und einer schmuddeligen Matratze.
Eine der Frauen hatte wohl vor kurzer Zeit entbunden, ihr Körper war straff, ihr Bauch jedoch schwabbelig und mit Schwangerschaftsstreifen übersät. Ihre Brüste sahen aus, als sei die Milch gerade eingeschossen. Sie versuchte unermüdlich, uns dazu zu bringen, ihr Scheine zwischen ebendiese zu stecken.
»Na los, Süße! Mach dich locker!«, sagte sie zu mir.
»Um Himmels willen«, sagte ich zu John. »Jetzt gib ihr ein bisschen Geld fürs Baby und dann nichts wie raus hier.«
Wir suchten uns einen weniger schäbigen Laden - einen mit riesiger Bühne und Ledersesseln - und setzten uns so weit wie möglich von der Bühne weg.
Die Frauen tanzten an Stangen. Sie wanden sich, streckten sich nach oben und rutschten an ihnen herunter, wickelten sich darum, breitbeinig, vorwärts, seitwärts, kopfüber. Sie posierten wie springende Rentiere. Mehr Ablenkung ging nicht, doch ich starrte auf ihre Hände.
Haltend.
Greifend.
Stark.
Ich blickte hinunter auf meine nutzlose linke Hand in dem Wissen, dass ich nie wieder auf diese Art würde zugreifen können. Meine Karriere als Go-go-Girl war vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Am nächsten Morgen überbrachte ich Nancy beim Frühstück die schlechte Nachricht von den neuesten Modetrends aus der Bourbon Street: »Beinstulpen sind wieder voll im Kommen.«
Wir lachten, und meine Hand war vergessen.
Nancy und ich lachen immer viel zusammen.
Doch als wir uns am Flughafen zum Abschied umarmten, sah ich die Wahrheit in Nancys Augen. Sorge. Traurigkeit. Sie wusste, dass ich ALS hatte. Und ich wusste es auch.
Mitten im Flughafen von New Orleans fing ich plötzlich an zu weinen.
»Nicht weinen«, sagte Nancy. »Bitte hör auf zu weinen.«
Sie begann, den etwa achtzigjährigen Fahrer unseres Shuttlebusses zum Flughafen nachzuahmen, der geschlagene zehn Minuten lautstark mit dem Handy telefoniert hatte, ehe er ausrief: »Ach so, du bist mein COUSIN Willie!«
Wir lachten, trockneten unsere Tränen und trennten uns.
Zu Hause verfiel ich in eine tiefe Depression.
Ein Jahr lang hatte ich versucht, alle Ängste von mir zu schieben. Ich hatte auf meine Gesundheit vertraut, obwohl ich zunehmend schwächer wurde. Ich hatte mich voll ins Mutterdasein gestürzt, in meine Arbeit, meine Ehe, gute Freundschaften.
Im Frühjahr tat ich genau das, was ich nicht hatte tun wollen. Statt im Hier und Jetzt zu leben, fing ich an, mich vor einer Zukunft mit ALS zu fürchten.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, nicht mehr gehen und essen, meine Kinder nicht mehr umarmen und ihnen sagen zu können, dass ich sie liebte. Die Lähmung würde sich allmählich ausbreiten und meinen Körper unbeweglich machen, während mein Geist unangetastet bliebe. Ich würde jeden Verlust verstehen und bewusst wahrnehmen. Und dann sterben, obwohl meine Kinder noch so jung waren.
Ich versank völlig in diesen Zukunftsszenarien: Wenn ich mich an den Esstisch setzte, dachte ich darüber nach, nicht mehr kauen zu können. Nachts lag ich wach, starrte an die Zimmerdecke und dachte: »Susan, eines Tages wird das hier alles sein, wozu du fähig bist. Und zwar sehr bald.«
Es war nicht der Tod, der mir am meisten Angst machte. Am meisten fürchtete ich mich davor, völlig auf andere angewiesen zu sein. Zur Last für meine Familie und diejenigen zu werden, die ich liebte.
Ich erwähnte diese Angst einer Freundin gegenüber, die eine großartige Anwältin ist. »Oh, ALS ist schlimmer als die Todesstrafe«, witzelte sie. Ich habe nie wieder ein Wort mit ihr gewechselt.
Lange Zeit konnte ich nicht über ALS sprechen, denn ich war der gleichen Ansicht. Dass meine Zukunft schlimmer war als der Tod.
Ich sollte dem Ganzen sofort ein Ende setzen, überlegte ich. Würdevoll und selbstbestimmt.
Ich dachte ungefähr so häufig an Selbstmord, wie man einen Schmetterling sieht. Der Gedanke flatterte mir in den Sinn, ich betrachtete ihn und bewunderte seine Perfektion. Dann flog er davon, und ich vergaß ihn wieder, so flüchtig war er andererseits.
Bis er am nächsten Tag wieder auftauchte und am übernächsten erneut. Weil mein Geist ein Garten war. Gepflegt, kultiviert, aber an den Rändern ungehemmt sprießend. Ein perfekter Ort für Schmetterlinge.
Ich dachte darüber nach, einen Auftragskiller anzuheuern. In eine dunkle Gasse am anderen Ende der Stadt zu gehen, um dort »ermordet« zu werden. Vor Gericht hatte ich schon einige Auftragskiller getroffen. Ich war perfekt geeignet für vorsätzlichen Mord - an mir selbst.
Doch nach einer Weile verwarf ich den Gedanken. Dumme Idee. Unschön. Grässlich.
Ich bat Freunde um Hilfe. Schließlich wurde mir klar, dass sie dafür verhaftet werden könnten. Ich änderte meine Bitte: Kommt und lest mir vor, wenn ich mich nicht mehr bewegen kann.
Der Schmetterling kehrte zurück, unwiderstehlich.
Ich bestellte mir zwei der unzähligen Bücher über Selbstmord, die bei Amazon angeboten werden. Ich dachte viel über meine persönliche Überzeugung nach, dass wir als menschliche Wesen selbst entscheiden sollten, wie wir sterben wollen.
In der Schweiz fand ich dann eine Organisation namens Dignitas, wo unheilbar Kranke sterben können, wie sie es wünschen: Sofort. Friedlich. Legal.
Perfekt.
Dann las ich weiter: »Damit die Dienstleistung des begleiteten Freitodes in Anspruch genommen werden kann, muss jemand ... über minimale körperliche Aktionsfähigkeit verfügen (um sich das Medikament selbst zu verabreichen).«
Mit ALS würde ich die Fähigkeit verlieren, ein Glas zu heben oder den tödlichen Cocktail überhaupt zu schlucken.
Die Speiseröhre ist schließlich ein Muskelschlauch. Der absterben wird.
Ich meldete mich nicht bei Dignitas an.
Ich las die Bücher nicht.
Kennen Sie diese Leute, die über jeden noch so leisen Kopfschmerz jammern? Sich über jedes Niesen beklagen?
Ich bin nicht so.
Ich sagte kein Wort. Arbeitete weiter. Zog meine Kinder auf. Lebte. Nicht einmal John wusste von meinen Gedanken. Bis er eines Tages auf der Suche nach Briefmarken die Selbstmordbücher in meiner Schreibtischschublade fand.
»Ich habe sie durchgeblättert«, erzählte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe darüber nachgedacht. Aber nie einen entsprechenden Plan gefasst.«
»Susan, bitte ...«
»Keine Sorge. Ich könnte das nicht.« Ich hielt kurz inne. »Das würde ich unseren Kindern niemals antun.«
Ich glaube nicht, dass mein Tod das Leben meiner Familie ruinieren wird. Doch mir ist klar, dass die Art meines Sterbens ihre Fähigkeit beeinträchtigen könnte, unbeschwert zu leben. Voller Freude zu leben.
Ein Selbstmord würde meinen Kindern vermitteln, dass ich schwach war.
Aber ich bin stark.
Ich machte einen Termin beim Neurologen. Am 22. Juni 2011, vier Tage nach dem zehnten Geburtstag meines Sohnes Aubrey.
Ich war seit einem Jahr bei keinem Arzt mehr gewesen und hatte die Aufschieberei satt und die Anspannung, mit der ich den mir bevorstehenden heftigen Schlag ins Gesicht erwartete.
Den Vorabend des Termins verbrachte ich allein in Miami, weil ich mit niemandem reden wollte. John akzeptierte diesen Wunsch. Was tut man nicht aus Liebe, selbst wenn man es nicht versteht.
Ich übernachtete in der Junggesellenbude von Nancys Bruder in Miami Beach. Die Wohnung befand sich in einem alten, offenen Jugendstilgebäude am Wasser. Im zweiten Stock. Ich kämpfte mich mit meinem Übernachtungsgepäck die Treppen hinauf.
Er hatte den Schlüssel unter die Matte gelegt. Ich musste einen Nachbarn bitten, ihn für mich im Schloss umzudrehen.
Der Kühlschrank war leer, das Fenster mit einem Laken verhängt. Auf den antiken Möbeln standen Fotos von seiner und Nancys Familie. Ich erinnerte mich noch aus Kindertagen an die Möbel.
Nancys Bruder, ein Filmemacher, besitzt eine wahre Fundgrube aus Filmen und Büchern, darunter Reiseführer aus aller Welt. Ich dachte an meine eigenen ausgedehnten Reisen, an meine Freundschaft mit den Menschen auf den Fotos.
Ich dachte an die Liebe, die ich in meinem Leben erfahren hatte. Die perfekte und selbstlose Liebe, die man empfindet, wenn man sein Kind im Mondlicht stillt. Die aufregende und romantische Liebe, bei der man dem anderen im Mondlicht um jeden Preis gefallen möchte.
Ich habe Glück, dachte ich. Ich habe unglaubliche Liebe erfahren.
Ich bin zufrieden, egal, was morgen geschieht.
Nancy schrieb mir eine SMS: »Habe gehört, du bist in Miami. Denke an dich.«
»Wollte dich nicht beunruhigen«, schrieb ich zurück.
Mühsam öffnete ich die Balkontür. Setzte mich nach draußen zum Rauchen, was zur tröstenden Angewohnheit geworden war.
Ich übte mich im Alleinsein. Kein angenehmer Zustand für mich. Wir werden allein geboren und sterben allein, doch die besten Augenblicke in meinem Leben habe ich gemeinsam mit anderen verbracht.
Ich dachte an die Opfer und deren Familien, denen ich in den zehn Jahren meiner Laufbahn als Gerichtsreporterin begegnet war. Ich dachte darüber nach, wie viele von ihnen Tragödien durchgestanden hatten - und dass manche sich nie davon erholten.
Ich versuchte mich innerlich auf meine morgige Tragödie vorzubereiten.
Ich dachte: Wenn dir jemand sagt, dass du ALS hast, bleib hart. Keine Tränen. Kein Zusammenbruch. Du musst stark sein, von Anfang an.
Das war etwas, das ich im Wettkampfschwimmen gelernt hatte, wo uns der Trainer auf einen entschlossenen Start drillte. Den Kopf eingezogen und bereit, sich wie eine Rakete vom Block abzustoßen.
Ruhig und gelassen gewinnt man den Kampf, stimmt's? Das sagen sie doch immer. Ruhig bleiben.
Irgendwann hatte ich genug von der Grübelei. Ich nahm den heftigsten Film aus dem Regal: Blow. Kokain! Gewalt!
Ablenkung! Perfekt! Ich schluckte eine Schlaftablette und legte mich vollständig angezogen ins Bett.
Am Morgen fuhr ich mit dem Taxi zu einem unauffälligen Gebäude in der Innenstadt von Miami. Überall liefen Leute mit Arztkitteln und Stethoskopen herum, mit iPhones am Ohr. Ich fragte mich, welcher dieser Ärzte mein Leben verändern würde.
John kam an. Wie immer zu spät.
Er wird sogar zu meiner Beerdigung zu spät kommen, dachte ich. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln. Bleib, wie du bist, John. Bitte bleib, wie du bist.
Eine nette Vertreterin der MDA (Gesellschaft für Muskeldystrophien) ging herum und begrüßte die Patienten wie alte Freunde. Eine Schwester maß meinen Blutdruck. Er war niedriger als sonst - neunzig zu sechzig. Ich atmete langsam und tief.
Die Schwester führte uns in ein Behandlungszimmer.
Dr. Ashok Verma kam herein, ein großer, würdevoller Inder, der mit jenem entwaffnenden britisch-indischen Akzent sprach, den ich so liebe. Dr. Verma ist Chefarzt der ALS-Abteilung in der Universitätsklinik von Miami. Er sah sich meine Krankenakte an.
Er stellte ein paar Fragen, machte einige Kraftübungen mit mir, lehnte sich dann auf seinem Schreibtischstuhl zurück und zwitscherte: »Ich glaube, Sie haben ALS.«
Er klang, als wolle er mich zu einer Geburtstagsparty einladen. Lächelte dabei. Ich weiß nicht, ob es ein mitfühlendes oder ein nervöses Lächeln war, aber ich werde es nie vergessen.
Nun gut, ich hatte ja geplant, wie ich auf diese Worte reagieren würde. Ich hatte mich dafür gestählt. Ich war stark.
Ich würde vom Startblock wegschnellen. Mich explosionsartig und energiegeladen in den Kampf stürzen.
Ich legte den Kopf für den Start auf die Brust ... und fing an zu weinen.
Ich konnte nicht aufhören, genauso wenig, wie ich meinen Atem oder Herzschlag stoppen konnte. Ich weinte und weinte.
Dr. Verma plauderte in einem fort über seine ALS-Klinik und dass er mich dort aufnehmen wolle. »Wir müssen aufhören, so zu tun, als sei es etwas anderes.«
John war sichtlich genervt. »Jetzt warten Sie doch mal«, sagte er. »Lassen Sie ihr einen Moment Zeit.«
Ich erinnere mich an Rotz, der sich in meinen Nasenlöchern sammelte und hinauslief. Ich erinnere mich, dass ich daran dachte, wie gemein es von einem Journalistenkollegen gewesen war, sich über einen Mann im Zeugenstand lustig zu machen, dem der Rotz aus der Nase lief, während er weinend aussagte, sechs Menschen bei einem Autounfall getötet zu haben.
Komisch, was einem in so einem Moment durch den Kopf geht, was?
Dr. Verma hielt mir eine Schachtel Kleenex hin. John wischte mir das Gesicht ab. Ich riss mich so weit zusammen, dass ich in der Lage war, zu reden und meine Trumpfkarte auszuspielen.
Stammzellen - mein persönlicher Geheimvorrat.
Weltweit waren Wissenschaftler mit der Stammzellenforschung beschäftigt, waren auf der Suche nach Heilungsmöglichkeiten für degenerative Erkrankungen. Ich erinnerte mich an die Geschichte eines Polizeibeamten aus unserer Gegend, der an ALS litt und dessen Kumpel Spenden sammelten, um ihm eine Stammzellenbehandlung im Ausland zu ermöglichen.
Und ich verfügte über meinen eigenen Vorrat, direkt aus der Quelle des Lebens. Als meine Söhne geboren wurden, hatte ich ihr Nabelschnurblut einlagern lassen, eine Schatztruhe voller Zellen, die im Kampf gegen zukünftige Krankheiten genutzt werden konnten.
»Vielleicht«, sagte ich, »gibt es ja einen Wissenschaftler, der mich mit diesen Stammzellen behandeln könnte?«
»Das Problem besteht darin«, begann Dr. Verma zögernd, »dass die Wissenschaftler nicht wissen, wie sie die Stammzellen dazu bringen, sich an den richtigen Ort zu begeben.«
Er erzählte, er habe fünfundvierzig Patienten zur Stammzellenbehandlung ins Ausland geschickt. Keiner von ihnen wurde geheilt oder hatte dank der Behandlung länger gelebt. Alle waren hinterher ärmer als vorher. »Hier drinnen«, sagte Dr. Verma und klopfte sich auf die Hosentasche.
Ich hatte schon vor langer Zeit beschlossen, dass ich meine Familie auf der Suche nach einem Heilmittel auf keinen Fall in den Ruin stürzen würde. Ich würde mich auch nicht darum reißen, an einer Studie teilzunehmen, nur um Placebos verabreicht zu bekommen. Ich würde nicht auf Ärztejagd gehen oder wie eine Wahnsinnige googeln, auf der Suche nach jemandem, der mir falsche Hoffnungen macht.
Das war's dann wohl, dachte ich, als John mir erneut die Nase abwischte.
Schweigend gingen wir hinaus.
Schweigend fuhren wir nach Hause.
»Ich habe Hunger«, sagte John nach einer Weile und bestätigte damit, was ich schon immer geahnt hatte - dieser Mann kann einfach immer essen.
Wir hielten bei Burger King. Ich rauchte draußen auf dem Parkplatz an eine Schranke gelehnt, während John drinnen etwas zu essen kaufte.
Ich hatte mir Lou Gehrigs Abschiedsrede aus dem Jahr 1939 mehrere Male angesehen. In dieser Rede bezeichnete er sich als glücklichsten Mann der Welt, auch wenn er »ziemliches Pech hatte«. Sogar nachdem bei ihm eine Krankheit diagnostiziert worden war, die ihm zuerst sein Talent rauben würde und schließlich sein Leben.
Ich hatte mich gefragt, ob es stimmte. Meinte er das ernst? Oder war es nur ein hochtrabender Gedanke, der dem Baseballspieler in den Sinn gekommen war, als er inmitten von Zehntausenden Fans stand?
Doch dann ging es mir genauso, allein, an eine Parkplatzschranke vor Burger King gelehnt. Kein benebelter Augenblick, ich sah mein ganzes Leben vor mir, glasklar und gestochen scharf.
Vierundvierzig Jahre absolute Gesundheit. Kaum je eine Erkältung und selten mal ein Loch im Zahn.
Vierundvierzig Jahre, in denen das Schlimmste die Übelkeit war, nachdem ich auf einer Reise in Südamerika ein verdorbenes Hühnchensandwich gegessen hatte.
Ich hatte drei angenehme Schwangerschaften hinter mir, aus denen drei rosige, pummelige Babys hervorgingen. Drei komplikationslose Kaiserschnitte, bei denen ich jeweils bereits am nächsten Tag wieder auf den Beinen war.
Ich hatte beständig Liebe erfahren; hatte die Welt bereist; einen großartigen Mann geheiratet; eine erfüllende Arbeit gehabt.
Ich wusste, woher ich stammte. Nachdem ich als Baby von verantwortungsvollen Eltern adoptiert worden war, lernte ich im Alter von vierzig Jahren meine leibliche Mutter kennen und kurz darauf die Familie meines leiblichen Vaters. Ich wusste, dass ich die ALS-Erkrankung nicht von ihnen geerbt habe. Ich wusste, dass meine rosigen, pummeligen Babys mein Schicksal nicht fürchten mussten.
Ich hatte gelebt. Und noch ein Jahr vor mir. Vielleicht sogar mehr, aber so viel wusste ich, dass mindestens noch ein gesundes Jahr vor mir lag.
Dort auf dem Parkplatz vor Burger King beschloss ich, es wohlüberlegt zu verbringen.
Die Reisen zu unternehmen, von denen ich schon immer geträumt hatte, und mir jede Freude zu erfüllen, nach der ich mich sehnte.
Meinen Nachlass zu organisieren.
Einen Garten der Erinnerungen für meine Familie zu säen, der in der Zukunft Blüten tragen sollte.
Lou Gehrig war Sportler gewesen. ALS hatte sein Talent auf einen Schlag zunichtegemacht.
Aber ich war Autorin. ALS konnte meine Finger verkrüppeln und meinen Körper schwächen, doch meine Fähigkeiten konnte sie mir nicht nehmen.
Ich hatte Zeit, mich selbst zu verwirklichen. Mir einen Ort mit bequemen Sesseln zu schaffen, an dem ich denken, schreiben und mit meinen Freunden zusammensitzen konnte. Wo ich durch meinen eigenen Garten der Erinnerungen spazieren und sie niederschreiben wollte.
Ein Spaziergang, der - das hätte ich mir nie träumen lassen - zu diesem Buch wurde.
Ein Buch, das nicht von Krankheit und Verzweiflung handelt, sondern von meinem letzten wunderbaren Jahr.
Ein Geschenk an meine Kinder, damit sie wissen, wer ich war und wie sie nach einer solchen Tragödie weiterleben sollen.
Voller Freude.
Und ohne Furcht.
Wenn Lou Gehrig glücklich sein konnte, dann schaffte ich das auch.
Dann sollte ich das auch.
Ich legte meinen Kopf noch einmal auf die Brust und stählte mich auf dem Startblock für den Kampf.
»Ich bin froh, dass es vorbei ist«, sagte ich zu John, als er mit einem Kaffee für mich und einem Whopper für sich zurückkehrte. »Und ich bin noch immer unfassbar glücklich.«
Die Klinik
Die Klinik. Ach, wie ich dieses Wort liebe. Es beschwört Bilder einer freundlichen Krankenschwester herauf, von einem Bett, von Eis am Stiel und der Chance, früher aus der Schule nach Hause zu dürfen und mit Mom Seifenopern zu schauen. Dr. Vermas Klinik jedoch war das multidisziplinäre, übergreifende ALS-Klinikum am St.-Catherine-Rehabilitationszentrum in North Miami Beach und gehörte zur Universitätsklinik von Miami. Bereits der Name hätte mich stutzig machen müssen. John und ich kamen um ein Uhr mittags dort an. Drei Stunden nach meinem Termin mit Dr. Verma. Zwei Stunden nach meiner ALS-Diagnose. Eine Stunde nachdem ich gelobt hatte, voller Freude zu leben, während John einen Whopper hinuntergeschlang. Die Klinik glich eher einer Arztpraxis. Es gab einen Wartebereich mit Anmeldetresen, mehreren Türen und den typischen Arztzeitschriften. Die Patienten sahen normal aus. Ein älterer Mann mit seiner Frau. Eine ältere Frau mit ihrer hochschwangeren Tochter. Wir plauderten über ihr ungeborenes Kind.
Sie fragte uns, ob wir Kinder hätten.
Zum ersten Mal an diesem Tag entdeckte ich Tränen in Johns Augen.
Dann öffneten sich die Türen, und das medizinische Personal strömte heraus, um sich dem »Klinikalltag« zu widmen. Jeder schien in Eile zu sein, auch die Frau, die im Mittelpunkt von allem stand: Ginna, die Oberschwester. Frau Oberschwester war, wie mir schnell klar wurde, Chefin der Patientenkommandozentrale.
Sie führte uns in ein Behandlungszimmer. Herein kam die Physiotherapeutin, eine zierliche Frau mit praktischem Schuhwerk und einem klettergeschirrartigen Etwas um die Taille, als wolle sie sich von der nächsten Klippe abseilen.
Fröhlich ratterte sie Fragen herunter. »Wann haben Sie die Diagnose bekommen?«
»Heute.«
»Oh.«
Sie machte ein paar Kraftübungen mit mir. »Alles klar«, sagte sie. »Wie fühlen Sie sich?«
»Gut.«
»Sie werden Physiotherapie brauchen, um ihre Kräfte zu bewahren. Seit wann haben Sie Symptome?«
»Seit zwei Jahren.«
»Wunderbar! Dann bis zum nächsten Mal!«
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
Discovery Cove besteht aus einer riesigen künstlichen Lagune. Auf einer Seite von einem Strand gesäumt, auf der gegenüberliegenden Seite von Felsen umschlossen. Palmen thronen über der üppigen Landschaft. Dem freudigen Anlass entsprechend, wirkten ihre Palmwedel wie ein Feuerwerk auf mich.
Im Sprühregen versammelten wir uns am Strand und beobachteten, wie Flossen den Spaßbereich auf der anderen Seite der Lagune durchpflügten.
»Welcher ist unserer?«, fragte Wesley. »Welcher ist unserer?«
Eine Tiertrainerin führte uns ins Wasser. Auf einmal tauchte ein Wesen vor uns auf: ein glattes graues Gesicht mit glänzenden schwarzen Augen und einem großen Mund, die Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Seine Nase wippte auf und ab, wie um uns zu signalisieren: »Ich will spielen!«
Wesley war überglücklich. Er redete in einem fort, hüpfte herum und konnte vor Aufregung kaum still stehen. Im Neoprenanzug sah er mit seinen langen blonden Haaren und blauen Augen aus wie einer der Surfer, für die ich in meiner Jugend so geschwärmt hatte.
Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn.
Aubrey und Marina standen neben ihm, nicht weniger begeistert.
»Ist es nicht gemein, sie so einzupferchen?«, fragte Marina in die Runde. In dem Moment tauchte der Delfin neben ihr auf und unwillkürlich begann sie sich über sein Blasloch lustig zu machen. Marina war fast fünfzehn Jahre alt, und in ihrem Kopf herrschte ein Wirrwarr aus jugendlichen und erwachsenen Gedanken.
Die Trainerin machte uns miteinander bekannt. Sie hieß Cindy - die Delfindame, nicht die Trainerin. Cindy schwamm langsam an uns vorbei und ließ sich von uns streicheln. Ich war erstaunt über ihre Größe: zweihundertfünfzig Kilo steinharte Muskelmasse be zweieinhalb Metern Länge.
»Und, wie fühlt sie sich an?«, fragte die Trainerin.
»Wie eine Handtasche«, witzelte mein Göttergatte John.
»Ich liebe Cindy«, platzte Wesley heraus.
Cindy war über vierzig Jahre alt. Ich fragte, ob sie Kinder habe.
»Nein, Cindy ist eine Karrierefrau«, antwortete die Trainerin.
Genau wie ich, die Journalistin.
Aber ich hatte Kinder. Hatte das Glück, mit ihnen in hüfthohem Wasser zu stehen und die Haut eines wunderbaren Meeresbewohners zu befühlen.
Die Trainerin brachte uns Handzeichen für Cindy bei. Wenn man eine Bewegung machte, als wollte man eine Angelschnur einholen, antwortete Cindy mit dem entsprechenden Geräusch.
Wesley stand vor Begeisterung der Mund offen. »Cindy ist so toll«, rief er.
Mithilfe der Trainerin umfasste Wesley Cindys Rückenflosse. Er streckte sich flach auf ihrem Rücken aus, und die nächste halbe Stunde zog Cindy uns einen nach dem anderen durch das Wasser. Erst die Kinder, dann Stephanie und John.
Als ich an der Reihe war, lehnte ich ab. »Lasst lieber Wesley noch mal mit ihr schwimmen«, sagte ich. Schließlich war es sein Tag. Und als Cindy mit ihm durch das Wasser pflügte, sprach sein Gesichtsausdruck Bände.
Wir machten an diesem Tag viele Fotos. Von Wesley. Von Aubrey und Marina. Von unserer Familie, gemeinsam und mit strahlenden Gesichtern im Regen am Strand.
Eines mag ich besonders: John hebt mich halb aus dem Wasser, damit ich Cindy auf die lächelnde Schnauze küssen kann.
In diesem Augenblick dachte ich nur an den sanften Riesen vor mir, an die kühle, glatte Nase, als ich sie küsste. Was für eine Erinnerung!
Als ich das Foto sah, dachte ich an den sanften Riesen hinter mir, der mich hochhebt und mich stützt, wie er es jeden Tag tut. Ich dachte an meine Kinder, und daran, dass ich glücklich bin, wenn sie glücklich sind. An meine Schwester und Freunde, die mich zum Lachen bringen.
Ich dachte an Wesley, dessen neunter Geburtstag wohl der letzte ist, an dem ich teilhaben werde.
Ich kann nicht gehen. Ich wurde in einem Rollstuhl zur Lagune geschoben.
Ich kann mein eigenes Gewicht nicht tragen, nicht einmal im Wasser. John musste mich aus dem Rollstuhl heben und festhalten, damit ich nicht ertrinke.
Ich kann meine Arme nicht heben, um zu essen oder meine Kinder zu umarmen. Meine Muskeln sterben ab und werden sich nie wieder erholen. Ich werde nie mehr in der Lage sein, meine Zunge so zu bewegen, dass ich die Worte »Ich liebe dich« klar und deutlich über die Lippen bringe.
Ich sterbe, rasch und unaufhaltsam.
Aber heute lebe ich.
Als ich das Foto von mir und dem Delfin sah, habe ich nicht geweint. Ich spürte keine Bitterkeit, dass ich das alles verloren habe. Nein, ich lächelte und lebte meine Freude.
Dann drehte ich mich so gut es ging in meinem Rollstuhl um und küsste John, wie ich den Delfin geküsst hatte.
Selige Unwissenheit
Der Gedanke an mein Leben auf Autopilot, mein früheres Leben, ist seltsam. Vierzig Stunden pro Woche und oft auch mehr arbeitete ich in dem Job, den ich liebte, als Gerichtsreporterin für die Palm Beach Post. Weitere vierzig Stunden widmete ich mich den tagtäglichen Geschwisterkriegen, Hausaufgaben und Terminen - Kinderarzt, Zahnarzt, Kieferorthopäde, Psychiater (kein Wunder, oder?). Mehrere Stunden verbrachte ich beim Musikunterricht meiner Kinder - oder dabei, sie hin und her zu fahren. Lange Abende saß ich Wäsche faltend an unserem Esszimmertisch. Gelegentlich fand ein Abendessen mit Freunden oder meiner Schwester Stephanie statt, die ein paar Häuser weiter wohnt. Am Ende des Tages ließ ich mich zusammen mit meinem Mann ein paar Minuten lang im Pool in unserem Garten treiben, und nur ein Streit der Kinder über das Fernsehprogramm unterbrach die Ruhe oder unser sechsjähriger Sohn Wesley, der aus heiterem Himmel Löffel bemalen wollte.
»Okay. Aber nur die weißen Plastiklöffel. Nicht die silbernen! «
Ich war froh.
Ich war glücklich.
Und wie jeder andere erwartete ich, dass es immer so weitergehen würde - Abschlussbälle, Hochzeiten, Enkelkinder, Rente, ein paar Jahrzehnte allmählichen Verfalls.
Dann blickte ich eines Sommerabends im Jahr 2009, während ich mich auszog, auf meine Hand herab.
»Ach du Scheiße!«
Ich drehte mich zu John um. »Sieh dir das an.«
Ich hob meine linke Hand. Sie war dürr und blass. Auf der Handfläche zeichneten sich Sehnen und Knochenhöcker ab.
Ich hob die rechte Hand. Sie sah normal aus.
»Du musst zum Arzt«, sagte John.
»Okay.«
Ich war zu perplex, um mehr zu sagen. Meine Hand sah aus, als ob sie gerade absterben würde. Doch ich war nicht beunruhigt. Alles, worüber ich nachdachte, war, wie ich den Arzttermin in meinem vollen Kalender unterbringen sollte.
Ich ging zu unserer Hausärztin, einer netten Frau, die mich auf fünf unterschiedliche Arten fragte, ob ich irgendwelche Schmerzen in der linken Hand oder dem Arm hatte.
»Überhaupt keine«, antwortete ich.
»Nun, dann ist es vermutlich kein Karpaltunnelsyndrom. Ich würde Sie gern an einen Neurologen überweisen.«
Und das war der Beginn meiner einjährigen Odyssee von Arzt zu Arzt. Des Versuchs, eine Ursache für meinen verkrüppelten Körperteil zu finden. Eine andere Antwort zu finden als die, die John auf eigene Faust recherchiert hatte und nach meinem ersten Termin beim Neurologen erwähnte: ALS.
Woraufhin ich fragte: »Was ist das?«
ALS, auch bekannt als Lou-Gehrig-Syndrom, ist eine neuromuskuläre Erkrankung, bei der erst die für Muskelbewegungen verantwortlichen Nerven absterben und schließlich die Muskeln selbst. Sie ist progressiv, was bedeutet, dass sie stetig voranschreitet, von Muskel zu Muskel. Die Ursachen sind nicht bekannt. Es gibt keine Behandlungsform. Und keine Heilung.
ALS würde bedeuten, dass der Tod meiner linken Hand sich auf den Arm ausbreitete. Dann auf meinen ganzen Körper. Ich würde Körperteil für Körperteil schwächer werden, bis ich ganz gelähmt war.
Und dann, normalerweise innerhalb von drei bis fünf Jahren nach Auftreten der ersten Symptome, würde ich sterben.
Nein, das durfte nicht geschehen. Nein. Es musste eine andere Erklärung geben.
Vielleicht eine Verletzung? Ein paar Monate zuvor war ich beim Inlineskaten zum Haus meiner Mutter so schlimm gestürzt, dass der Abdruck des Asphalts noch eine Stunde später auf meiner linken Hand sichtbar gewesen war.
Außerdem hatte ich eine Bandscheibenvorwölbung, die allerdings meine Hand nicht beeinträchtigen konnte.
Dr. Jose Zuniga, der erste Neurologe, bei dem ich war, vermutete die Hirayama-Krankheit, bei der man auf rätselhafte Weise seine Muskelfunktion verliert. Die Beschreibung passte auf meine Symptome, bis auf eines: Die meisten Betroffenen sind Japaner.
»Sie sind keine Japanerin«, stellte Dr. Zuniga fest.
Warum eigentlich nicht, dachte ich, ging anschließend direkt in den Supermarkt und kaufte mir Sushi. Überließ die California Rolls den Weicheiern und entschied mich stattdessen für eine Rolle mit Aal.
Es war nicht die Hirayama-Krankheit.
Ein ALS-Spezialist, Dr. Ram Ayyar, vermutete eine multifokale Neuropathie, eine progressive Muskelerkrankung, die häufig in den Händen beginnt. Im Gegensatz zu ALS gibt es für diese Krankheit einen Test. Der mich dreitausend Dollar kostete. Und der, wie ich feststellen musste, von meiner Krankenkasse nicht übernommen wurde. Diese Tatsache frustrierte mich noch mehr als das Testergebnis: negativ, keine multifokale Neuropathie.
Innerhalb von sechs Monaten ging ich zu vier verschiedenen Spezialisten. Ich flog nach Zypern, um nach möglichen Erbfaktoren zu forschen.
Als das alles zu nichts führte, ließ ich keine Tests mehr durchführen. Für mich begann ein Jahr der Verdrängung. Ein nahezu fahrlässiger Fall von Verdrängung. Ich verschloss die Augen derart fest vor der Wahrheit, dass es mir heute regelrecht peinlich ist.
Als mir im Frühjahr 2010 auf einmal meine Yogaübungen schwerfielen, ließ ich mich für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich mit dem Yoga aufhören musste, von einer Freundin in allen sechsundzwanzig Bikram-Haltungen ablichten.
Bei der goldenen Hochzeit meiner Eltern im November musste mir John mein Steak schneiden. Ich hatte keine Probleme mit dem Essen, nur das Herumhantieren mit Messer und Gabel funktionierte nicht mehr.
Als ich zu schwach war, um meine Aktentasche zu tragen, tauschte ich sie gegen einen Rollkoffer aus. »Willst wohl nach Anwalt aussehen, was?«, zog mich ein Journalistenkollege auf.
Ich sagte nichts dazu.
Im Januar 2011 fiel mir beim Zähneputzen ein Zucken in meiner Zunge auf. Ich konnte es nicht unterbinden, so sehr ich mich auch anstrengte.
Als wir ein paar Wochen später zum Abendessen bei Stephanie waren, bemerkte ich, wie sie erstaunt die Augen aufriss. John hielt mir die Gabel vor den Mund, um mich zu füttern. Moment mal, wann war das denn bei uns zur Routine geworden?
»Lass das, John!«, fuhr ich ihn unfreundlich an. »Ich kann allein essen.«
Zum Nachtisch servierte Steph Erdnussbutter-Pie. Meine Zunge weigerte sich, mir zu gehorchen. »Willst du mich umbringen? «, scherzte ich, nachdem ich es aufgegeben hatte, den klebrigen Klumpen in meinem Mund umherzuschieben.
Ich wollte es mir nicht eingestehen. Zumindest nicht bewusst.
Doch wir Menschen können uns nicht über unser Unterbewusstsein hinwegsetzen. Ich kaufte mir das Buch Buddhismus für Anfänger, versuchte angestrengt, in den Zen-Modus zu schalten und mein Gedankenkarussell anzuhalten.
Kurz nach Karneval 2011 verbrachten meine beste Freundin Nancy und ich mit unseren Ehemännern ein verlängertes Wochenende in New Orleans. So kurz nach Karneval, dass auf den Straßen noch Luftschlangen, Mardi-Gras-Perlen und Müll herumlagen.
Nancy wollte sich die Verwüstung ansehen, die der Hurrikan Katrina hinterlassen hatte. Aber mir war eher nach Ablenkung, und ich lehnte den Vorschlag ab. Deshalb standen John und ich an einem der Abende auf einmal vor einem Stripclub in der Bourbon Street.
Stripclubs sind nicht unbedingt mein Ding. Ich war zweimal in meinem Leben in einem gewesen, beide Male als Zeitungsreporterin.
Beim ersten Mal war eine Stripperin von einem Gast verklagt worden, weil diese ihm während einer Tanznummer ihren imposanten Stripperschuh ins Gesicht geschlagen hatte. Der Mann erlitt durch die Attacke eine Netzhautablösung und einen Jochbeinbruch.
Kein Scherz.
Beim zweiten Mal recherchierte ich eine Story über eine vermisste Frau, deren Verwandte in einem Etablissement namens Kitten Club arbeitete. Als ich hineinschlenderte, wirbelte sie gerade mit ihren hundert Kilo über die Bühne. Ihre Brüste sahen aus wie Zwillinge beim Wrestling.
»Lass uns da reingehen!«, sagte ich in der Bourbon Street zu John. »Mal an was völlig anderes denken.«
Der Laden war gerammelt voll. Wir wirkten wohl, als säßen die Scheine bei uns besonders locker, denn der Türsteher platzierte uns direkt vor der Bühne.
Die Nummer bestand aus drei Frauen - nackt bis auf gürtelbreite, karierte Schuluniformröcke - und einer schmuddeligen Matratze.
Eine der Frauen hatte wohl vor kurzer Zeit entbunden, ihr Körper war straff, ihr Bauch jedoch schwabbelig und mit Schwangerschaftsstreifen übersät. Ihre Brüste sahen aus, als sei die Milch gerade eingeschossen. Sie versuchte unermüdlich, uns dazu zu bringen, ihr Scheine zwischen ebendiese zu stecken.
»Na los, Süße! Mach dich locker!«, sagte sie zu mir.
»Um Himmels willen«, sagte ich zu John. »Jetzt gib ihr ein bisschen Geld fürs Baby und dann nichts wie raus hier.«
Wir suchten uns einen weniger schäbigen Laden - einen mit riesiger Bühne und Ledersesseln - und setzten uns so weit wie möglich von der Bühne weg.
Die Frauen tanzten an Stangen. Sie wanden sich, streckten sich nach oben und rutschten an ihnen herunter, wickelten sich darum, breitbeinig, vorwärts, seitwärts, kopfüber. Sie posierten wie springende Rentiere. Mehr Ablenkung ging nicht, doch ich starrte auf ihre Hände.
Haltend.
Greifend.
Stark.
Ich blickte hinunter auf meine nutzlose linke Hand in dem Wissen, dass ich nie wieder auf diese Art würde zugreifen können. Meine Karriere als Go-go-Girl war vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Am nächsten Morgen überbrachte ich Nancy beim Frühstück die schlechte Nachricht von den neuesten Modetrends aus der Bourbon Street: »Beinstulpen sind wieder voll im Kommen.«
Wir lachten, und meine Hand war vergessen.
Nancy und ich lachen immer viel zusammen.
Doch als wir uns am Flughafen zum Abschied umarmten, sah ich die Wahrheit in Nancys Augen. Sorge. Traurigkeit. Sie wusste, dass ich ALS hatte. Und ich wusste es auch.
Mitten im Flughafen von New Orleans fing ich plötzlich an zu weinen.
»Nicht weinen«, sagte Nancy. »Bitte hör auf zu weinen.«
Sie begann, den etwa achtzigjährigen Fahrer unseres Shuttlebusses zum Flughafen nachzuahmen, der geschlagene zehn Minuten lautstark mit dem Handy telefoniert hatte, ehe er ausrief: »Ach so, du bist mein COUSIN Willie!«
Wir lachten, trockneten unsere Tränen und trennten uns.
Zu Hause verfiel ich in eine tiefe Depression.
Ein Jahr lang hatte ich versucht, alle Ängste von mir zu schieben. Ich hatte auf meine Gesundheit vertraut, obwohl ich zunehmend schwächer wurde. Ich hatte mich voll ins Mutterdasein gestürzt, in meine Arbeit, meine Ehe, gute Freundschaften.
Im Frühjahr tat ich genau das, was ich nicht hatte tun wollen. Statt im Hier und Jetzt zu leben, fing ich an, mich vor einer Zukunft mit ALS zu fürchten.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, nicht mehr gehen und essen, meine Kinder nicht mehr umarmen und ihnen sagen zu können, dass ich sie liebte. Die Lähmung würde sich allmählich ausbreiten und meinen Körper unbeweglich machen, während mein Geist unangetastet bliebe. Ich würde jeden Verlust verstehen und bewusst wahrnehmen. Und dann sterben, obwohl meine Kinder noch so jung waren.
Ich versank völlig in diesen Zukunftsszenarien: Wenn ich mich an den Esstisch setzte, dachte ich darüber nach, nicht mehr kauen zu können. Nachts lag ich wach, starrte an die Zimmerdecke und dachte: »Susan, eines Tages wird das hier alles sein, wozu du fähig bist. Und zwar sehr bald.«
Es war nicht der Tod, der mir am meisten Angst machte. Am meisten fürchtete ich mich davor, völlig auf andere angewiesen zu sein. Zur Last für meine Familie und diejenigen zu werden, die ich liebte.
Ich erwähnte diese Angst einer Freundin gegenüber, die eine großartige Anwältin ist. »Oh, ALS ist schlimmer als die Todesstrafe«, witzelte sie. Ich habe nie wieder ein Wort mit ihr gewechselt.
Lange Zeit konnte ich nicht über ALS sprechen, denn ich war der gleichen Ansicht. Dass meine Zukunft schlimmer war als der Tod.
Ich sollte dem Ganzen sofort ein Ende setzen, überlegte ich. Würdevoll und selbstbestimmt.
Ich dachte ungefähr so häufig an Selbstmord, wie man einen Schmetterling sieht. Der Gedanke flatterte mir in den Sinn, ich betrachtete ihn und bewunderte seine Perfektion. Dann flog er davon, und ich vergaß ihn wieder, so flüchtig war er andererseits.
Bis er am nächsten Tag wieder auftauchte und am übernächsten erneut. Weil mein Geist ein Garten war. Gepflegt, kultiviert, aber an den Rändern ungehemmt sprießend. Ein perfekter Ort für Schmetterlinge.
Ich dachte darüber nach, einen Auftragskiller anzuheuern. In eine dunkle Gasse am anderen Ende der Stadt zu gehen, um dort »ermordet« zu werden. Vor Gericht hatte ich schon einige Auftragskiller getroffen. Ich war perfekt geeignet für vorsätzlichen Mord - an mir selbst.
Doch nach einer Weile verwarf ich den Gedanken. Dumme Idee. Unschön. Grässlich.
Ich bat Freunde um Hilfe. Schließlich wurde mir klar, dass sie dafür verhaftet werden könnten. Ich änderte meine Bitte: Kommt und lest mir vor, wenn ich mich nicht mehr bewegen kann.
Der Schmetterling kehrte zurück, unwiderstehlich.
Ich bestellte mir zwei der unzähligen Bücher über Selbstmord, die bei Amazon angeboten werden. Ich dachte viel über meine persönliche Überzeugung nach, dass wir als menschliche Wesen selbst entscheiden sollten, wie wir sterben wollen.
In der Schweiz fand ich dann eine Organisation namens Dignitas, wo unheilbar Kranke sterben können, wie sie es wünschen: Sofort. Friedlich. Legal.
Perfekt.
Dann las ich weiter: »Damit die Dienstleistung des begleiteten Freitodes in Anspruch genommen werden kann, muss jemand ... über minimale körperliche Aktionsfähigkeit verfügen (um sich das Medikament selbst zu verabreichen).«
Mit ALS würde ich die Fähigkeit verlieren, ein Glas zu heben oder den tödlichen Cocktail überhaupt zu schlucken.
Die Speiseröhre ist schließlich ein Muskelschlauch. Der absterben wird.
Ich meldete mich nicht bei Dignitas an.
Ich las die Bücher nicht.
Kennen Sie diese Leute, die über jeden noch so leisen Kopfschmerz jammern? Sich über jedes Niesen beklagen?
Ich bin nicht so.
Ich sagte kein Wort. Arbeitete weiter. Zog meine Kinder auf. Lebte. Nicht einmal John wusste von meinen Gedanken. Bis er eines Tages auf der Suche nach Briefmarken die Selbstmordbücher in meiner Schreibtischschublade fand.
»Ich habe sie durchgeblättert«, erzählte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe darüber nachgedacht. Aber nie einen entsprechenden Plan gefasst.«
»Susan, bitte ...«
»Keine Sorge. Ich könnte das nicht.« Ich hielt kurz inne. »Das würde ich unseren Kindern niemals antun.«
Ich glaube nicht, dass mein Tod das Leben meiner Familie ruinieren wird. Doch mir ist klar, dass die Art meines Sterbens ihre Fähigkeit beeinträchtigen könnte, unbeschwert zu leben. Voller Freude zu leben.
Ein Selbstmord würde meinen Kindern vermitteln, dass ich schwach war.
Aber ich bin stark.
Ich machte einen Termin beim Neurologen. Am 22. Juni 2011, vier Tage nach dem zehnten Geburtstag meines Sohnes Aubrey.
Ich war seit einem Jahr bei keinem Arzt mehr gewesen und hatte die Aufschieberei satt und die Anspannung, mit der ich den mir bevorstehenden heftigen Schlag ins Gesicht erwartete.
Den Vorabend des Termins verbrachte ich allein in Miami, weil ich mit niemandem reden wollte. John akzeptierte diesen Wunsch. Was tut man nicht aus Liebe, selbst wenn man es nicht versteht.
Ich übernachtete in der Junggesellenbude von Nancys Bruder in Miami Beach. Die Wohnung befand sich in einem alten, offenen Jugendstilgebäude am Wasser. Im zweiten Stock. Ich kämpfte mich mit meinem Übernachtungsgepäck die Treppen hinauf.
Er hatte den Schlüssel unter die Matte gelegt. Ich musste einen Nachbarn bitten, ihn für mich im Schloss umzudrehen.
Der Kühlschrank war leer, das Fenster mit einem Laken verhängt. Auf den antiken Möbeln standen Fotos von seiner und Nancys Familie. Ich erinnerte mich noch aus Kindertagen an die Möbel.
Nancys Bruder, ein Filmemacher, besitzt eine wahre Fundgrube aus Filmen und Büchern, darunter Reiseführer aus aller Welt. Ich dachte an meine eigenen ausgedehnten Reisen, an meine Freundschaft mit den Menschen auf den Fotos.
Ich dachte an die Liebe, die ich in meinem Leben erfahren hatte. Die perfekte und selbstlose Liebe, die man empfindet, wenn man sein Kind im Mondlicht stillt. Die aufregende und romantische Liebe, bei der man dem anderen im Mondlicht um jeden Preis gefallen möchte.
Ich habe Glück, dachte ich. Ich habe unglaubliche Liebe erfahren.
Ich bin zufrieden, egal, was morgen geschieht.
Nancy schrieb mir eine SMS: »Habe gehört, du bist in Miami. Denke an dich.«
»Wollte dich nicht beunruhigen«, schrieb ich zurück.
Mühsam öffnete ich die Balkontür. Setzte mich nach draußen zum Rauchen, was zur tröstenden Angewohnheit geworden war.
Ich übte mich im Alleinsein. Kein angenehmer Zustand für mich. Wir werden allein geboren und sterben allein, doch die besten Augenblicke in meinem Leben habe ich gemeinsam mit anderen verbracht.
Ich dachte an die Opfer und deren Familien, denen ich in den zehn Jahren meiner Laufbahn als Gerichtsreporterin begegnet war. Ich dachte darüber nach, wie viele von ihnen Tragödien durchgestanden hatten - und dass manche sich nie davon erholten.
Ich versuchte mich innerlich auf meine morgige Tragödie vorzubereiten.
Ich dachte: Wenn dir jemand sagt, dass du ALS hast, bleib hart. Keine Tränen. Kein Zusammenbruch. Du musst stark sein, von Anfang an.
Das war etwas, das ich im Wettkampfschwimmen gelernt hatte, wo uns der Trainer auf einen entschlossenen Start drillte. Den Kopf eingezogen und bereit, sich wie eine Rakete vom Block abzustoßen.
Ruhig und gelassen gewinnt man den Kampf, stimmt's? Das sagen sie doch immer. Ruhig bleiben.
Irgendwann hatte ich genug von der Grübelei. Ich nahm den heftigsten Film aus dem Regal: Blow. Kokain! Gewalt!
Ablenkung! Perfekt! Ich schluckte eine Schlaftablette und legte mich vollständig angezogen ins Bett.
Am Morgen fuhr ich mit dem Taxi zu einem unauffälligen Gebäude in der Innenstadt von Miami. Überall liefen Leute mit Arztkitteln und Stethoskopen herum, mit iPhones am Ohr. Ich fragte mich, welcher dieser Ärzte mein Leben verändern würde.
John kam an. Wie immer zu spät.
Er wird sogar zu meiner Beerdigung zu spät kommen, dachte ich. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln. Bleib, wie du bist, John. Bitte bleib, wie du bist.
Eine nette Vertreterin der MDA (Gesellschaft für Muskeldystrophien) ging herum und begrüßte die Patienten wie alte Freunde. Eine Schwester maß meinen Blutdruck. Er war niedriger als sonst - neunzig zu sechzig. Ich atmete langsam und tief.
Die Schwester führte uns in ein Behandlungszimmer.
Dr. Ashok Verma kam herein, ein großer, würdevoller Inder, der mit jenem entwaffnenden britisch-indischen Akzent sprach, den ich so liebe. Dr. Verma ist Chefarzt der ALS-Abteilung in der Universitätsklinik von Miami. Er sah sich meine Krankenakte an.
Er stellte ein paar Fragen, machte einige Kraftübungen mit mir, lehnte sich dann auf seinem Schreibtischstuhl zurück und zwitscherte: »Ich glaube, Sie haben ALS.«
Er klang, als wolle er mich zu einer Geburtstagsparty einladen. Lächelte dabei. Ich weiß nicht, ob es ein mitfühlendes oder ein nervöses Lächeln war, aber ich werde es nie vergessen.
Nun gut, ich hatte ja geplant, wie ich auf diese Worte reagieren würde. Ich hatte mich dafür gestählt. Ich war stark.
Ich würde vom Startblock wegschnellen. Mich explosionsartig und energiegeladen in den Kampf stürzen.
Ich legte den Kopf für den Start auf die Brust ... und fing an zu weinen.
Ich konnte nicht aufhören, genauso wenig, wie ich meinen Atem oder Herzschlag stoppen konnte. Ich weinte und weinte.
Dr. Verma plauderte in einem fort über seine ALS-Klinik und dass er mich dort aufnehmen wolle. »Wir müssen aufhören, so zu tun, als sei es etwas anderes.«
John war sichtlich genervt. »Jetzt warten Sie doch mal«, sagte er. »Lassen Sie ihr einen Moment Zeit.«
Ich erinnere mich an Rotz, der sich in meinen Nasenlöchern sammelte und hinauslief. Ich erinnere mich, dass ich daran dachte, wie gemein es von einem Journalistenkollegen gewesen war, sich über einen Mann im Zeugenstand lustig zu machen, dem der Rotz aus der Nase lief, während er weinend aussagte, sechs Menschen bei einem Autounfall getötet zu haben.
Komisch, was einem in so einem Moment durch den Kopf geht, was?
Dr. Verma hielt mir eine Schachtel Kleenex hin. John wischte mir das Gesicht ab. Ich riss mich so weit zusammen, dass ich in der Lage war, zu reden und meine Trumpfkarte auszuspielen.
Stammzellen - mein persönlicher Geheimvorrat.
Weltweit waren Wissenschaftler mit der Stammzellenforschung beschäftigt, waren auf der Suche nach Heilungsmöglichkeiten für degenerative Erkrankungen. Ich erinnerte mich an die Geschichte eines Polizeibeamten aus unserer Gegend, der an ALS litt und dessen Kumpel Spenden sammelten, um ihm eine Stammzellenbehandlung im Ausland zu ermöglichen.
Und ich verfügte über meinen eigenen Vorrat, direkt aus der Quelle des Lebens. Als meine Söhne geboren wurden, hatte ich ihr Nabelschnurblut einlagern lassen, eine Schatztruhe voller Zellen, die im Kampf gegen zukünftige Krankheiten genutzt werden konnten.
»Vielleicht«, sagte ich, »gibt es ja einen Wissenschaftler, der mich mit diesen Stammzellen behandeln könnte?«
»Das Problem besteht darin«, begann Dr. Verma zögernd, »dass die Wissenschaftler nicht wissen, wie sie die Stammzellen dazu bringen, sich an den richtigen Ort zu begeben.«
Er erzählte, er habe fünfundvierzig Patienten zur Stammzellenbehandlung ins Ausland geschickt. Keiner von ihnen wurde geheilt oder hatte dank der Behandlung länger gelebt. Alle waren hinterher ärmer als vorher. »Hier drinnen«, sagte Dr. Verma und klopfte sich auf die Hosentasche.
Ich hatte schon vor langer Zeit beschlossen, dass ich meine Familie auf der Suche nach einem Heilmittel auf keinen Fall in den Ruin stürzen würde. Ich würde mich auch nicht darum reißen, an einer Studie teilzunehmen, nur um Placebos verabreicht zu bekommen. Ich würde nicht auf Ärztejagd gehen oder wie eine Wahnsinnige googeln, auf der Suche nach jemandem, der mir falsche Hoffnungen macht.
Das war's dann wohl, dachte ich, als John mir erneut die Nase abwischte.
Schweigend gingen wir hinaus.
Schweigend fuhren wir nach Hause.
»Ich habe Hunger«, sagte John nach einer Weile und bestätigte damit, was ich schon immer geahnt hatte - dieser Mann kann einfach immer essen.
Wir hielten bei Burger King. Ich rauchte draußen auf dem Parkplatz an eine Schranke gelehnt, während John drinnen etwas zu essen kaufte.
Ich hatte mir Lou Gehrigs Abschiedsrede aus dem Jahr 1939 mehrere Male angesehen. In dieser Rede bezeichnete er sich als glücklichsten Mann der Welt, auch wenn er »ziemliches Pech hatte«. Sogar nachdem bei ihm eine Krankheit diagnostiziert worden war, die ihm zuerst sein Talent rauben würde und schließlich sein Leben.
Ich hatte mich gefragt, ob es stimmte. Meinte er das ernst? Oder war es nur ein hochtrabender Gedanke, der dem Baseballspieler in den Sinn gekommen war, als er inmitten von Zehntausenden Fans stand?
Doch dann ging es mir genauso, allein, an eine Parkplatzschranke vor Burger King gelehnt. Kein benebelter Augenblick, ich sah mein ganzes Leben vor mir, glasklar und gestochen scharf.
Vierundvierzig Jahre absolute Gesundheit. Kaum je eine Erkältung und selten mal ein Loch im Zahn.
Vierundvierzig Jahre, in denen das Schlimmste die Übelkeit war, nachdem ich auf einer Reise in Südamerika ein verdorbenes Hühnchensandwich gegessen hatte.
Ich hatte drei angenehme Schwangerschaften hinter mir, aus denen drei rosige, pummelige Babys hervorgingen. Drei komplikationslose Kaiserschnitte, bei denen ich jeweils bereits am nächsten Tag wieder auf den Beinen war.
Ich hatte beständig Liebe erfahren; hatte die Welt bereist; einen großartigen Mann geheiratet; eine erfüllende Arbeit gehabt.
Ich wusste, woher ich stammte. Nachdem ich als Baby von verantwortungsvollen Eltern adoptiert worden war, lernte ich im Alter von vierzig Jahren meine leibliche Mutter kennen und kurz darauf die Familie meines leiblichen Vaters. Ich wusste, dass ich die ALS-Erkrankung nicht von ihnen geerbt habe. Ich wusste, dass meine rosigen, pummeligen Babys mein Schicksal nicht fürchten mussten.
Ich hatte gelebt. Und noch ein Jahr vor mir. Vielleicht sogar mehr, aber so viel wusste ich, dass mindestens noch ein gesundes Jahr vor mir lag.
Dort auf dem Parkplatz vor Burger King beschloss ich, es wohlüberlegt zu verbringen.
Die Reisen zu unternehmen, von denen ich schon immer geträumt hatte, und mir jede Freude zu erfüllen, nach der ich mich sehnte.
Meinen Nachlass zu organisieren.
Einen Garten der Erinnerungen für meine Familie zu säen, der in der Zukunft Blüten tragen sollte.
Lou Gehrig war Sportler gewesen. ALS hatte sein Talent auf einen Schlag zunichtegemacht.
Aber ich war Autorin. ALS konnte meine Finger verkrüppeln und meinen Körper schwächen, doch meine Fähigkeiten konnte sie mir nicht nehmen.
Ich hatte Zeit, mich selbst zu verwirklichen. Mir einen Ort mit bequemen Sesseln zu schaffen, an dem ich denken, schreiben und mit meinen Freunden zusammensitzen konnte. Wo ich durch meinen eigenen Garten der Erinnerungen spazieren und sie niederschreiben wollte.
Ein Spaziergang, der - das hätte ich mir nie träumen lassen - zu diesem Buch wurde.
Ein Buch, das nicht von Krankheit und Verzweiflung handelt, sondern von meinem letzten wunderbaren Jahr.
Ein Geschenk an meine Kinder, damit sie wissen, wer ich war und wie sie nach einer solchen Tragödie weiterleben sollen.
Voller Freude.
Und ohne Furcht.
Wenn Lou Gehrig glücklich sein konnte, dann schaffte ich das auch.
Dann sollte ich das auch.
Ich legte meinen Kopf noch einmal auf die Brust und stählte mich auf dem Startblock für den Kampf.
»Ich bin froh, dass es vorbei ist«, sagte ich zu John, als er mit einem Kaffee für mich und einem Whopper für sich zurückkehrte. »Und ich bin noch immer unfassbar glücklich.«
Die Klinik
Die Klinik. Ach, wie ich dieses Wort liebe. Es beschwört Bilder einer freundlichen Krankenschwester herauf, von einem Bett, von Eis am Stiel und der Chance, früher aus der Schule nach Hause zu dürfen und mit Mom Seifenopern zu schauen. Dr. Vermas Klinik jedoch war das multidisziplinäre, übergreifende ALS-Klinikum am St.-Catherine-Rehabilitationszentrum in North Miami Beach und gehörte zur Universitätsklinik von Miami. Bereits der Name hätte mich stutzig machen müssen. John und ich kamen um ein Uhr mittags dort an. Drei Stunden nach meinem Termin mit Dr. Verma. Zwei Stunden nach meiner ALS-Diagnose. Eine Stunde nachdem ich gelobt hatte, voller Freude zu leben, während John einen Whopper hinuntergeschlang. Die Klinik glich eher einer Arztpraxis. Es gab einen Wartebereich mit Anmeldetresen, mehreren Türen und den typischen Arztzeitschriften. Die Patienten sahen normal aus. Ein älterer Mann mit seiner Frau. Eine ältere Frau mit ihrer hochschwangeren Tochter. Wir plauderten über ihr ungeborenes Kind.
Sie fragte uns, ob wir Kinder hätten.
Zum ersten Mal an diesem Tag entdeckte ich Tränen in Johns Augen.
Dann öffneten sich die Türen, und das medizinische Personal strömte heraus, um sich dem »Klinikalltag« zu widmen. Jeder schien in Eile zu sein, auch die Frau, die im Mittelpunkt von allem stand: Ginna, die Oberschwester. Frau Oberschwester war, wie mir schnell klar wurde, Chefin der Patientenkommandozentrale.
Sie führte uns in ein Behandlungszimmer. Herein kam die Physiotherapeutin, eine zierliche Frau mit praktischem Schuhwerk und einem klettergeschirrartigen Etwas um die Taille, als wolle sie sich von der nächsten Klippe abseilen.
Fröhlich ratterte sie Fragen herunter. »Wann haben Sie die Diagnose bekommen?«
»Heute.«
»Oh.«
Sie machte ein paar Kraftübungen mit mir. »Alles klar«, sagte sie. »Wie fühlen Sie sich?«
»Gut.«
»Sie werden Physiotherapie brauchen, um ihre Kräfte zu bewahren. Seit wann haben Sie Symptome?«
»Seit zwei Jahren.«
»Wunderbar! Dann bis zum nächsten Mal!«
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
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Autoren-Porträt von Susan Spencer-Wendel, Bret Witter
Susan Spencer-Wendel ist in West Palm Beach, Florida, geboren, wo sie mit ihrem Mann John und ihren drei Kindern lebt. Seit 2000 arbeitete sie als Gerichtsreporterin für die Palm Beach Post. Nach ihrer ALS-Diagnose kündigte sie ihren Job, um sich den Reisen mit ihrer Familie und ihrem Buch zu widmen.Bret Witter arbeitet als Lektor und Sachbuchautor. Er wuchs in Nord Alabama auf und lebt mit seiner Frau, seinen beiden Kindern in Louisville, Kentucky.
Autoren-Interview mit Susan Spencer-Wendel
Sie sind Journalistin. Hat das Schreiben Ihnen dabei geholfen, mit Ihrer ALS-Erkrankung umzugehen? Wie hat das Schreiben Sie ganz generell geprägt?Susan Spencer: Als Journalistin muss ich die Wahrheit sagen, egal wie unangenehm sie ist. Ich kann nichts erfinden. Das hat mir sehr geholfen, der Realität von ALS ins Auge zu blicken. Tausende von Geschichten, die ich als Zeitungsreporterin geschrieben habe, haben mich darauf vorbereitet. Erstens, weil ich im Laufe meines Berufslebens menschliche Tragödien aller Art kennengelernt habe. Mir ist klar, dass immer wieder auch guten Menschen schlimme Dinge widerfahren. Zweitens weiß ich, wie man Ereignisse zu Geschichten destilliert. Schreiben ist großartig, weil es einen dazu zwingt, ungeordnete Gedanken in geordnete Worte zu fassen.
Als Sie dann schließlich anfingen, dieses Buch zu verfassen, mussten Sie einige körperliche Hürden überwinden. Erzählen Sie doch bitte, wie Sie letztendlich geschrieben haben.
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Susan Spencer: Bei ALS versagen die kleinsten Muskeln zuerst. Zum Beispiel die in den Fingern. Ich konnte nicht mehr auf einer normalen Tastatur schreiben, weil mir die Fingerkraft fehlte, um die Tasten zu drücken. Also habe ich zuerst auf einem iPad jeden Buchstaben auf einem Touchscreen getippt. Dann begann meine Hand, über den Touchscreen zu schleifen. Genau zu der Zeit habe ich den Buchvertrag abgeschlossen, was eine große Motivation für mich war, zu improvisieren. Ich hatte immer die Notizfunktion auf meinem iPhone genutzt, um schnell etwas aufzuschreiben, Einkaufslisten oder alles, was mir gerade einfiel, auf Reisen zum Beispiel, wenn ich den Laptop nicht herausholen konnte. Ich war immer froh zu wissen, dass das iPhone zur Hand war. So konnte ich immer und überall schreiben. Zum Beispiel wenn ich beim Musikunterricht meiner Kinder auf sie wartete und Ähnliches. Also hielt ich das iPhone in der linken Hand, legte es flach auf meine verkrümmten Finger und tippte mit meinem rechten Daumen. 89.000 Wörter in vier Monaten, einen Buchstaben nach dem anderen. So stark war mein Antrieb. Auf dem Telefon kann ich nur sieben Zeilen gleichzeitig sehen, was genau genommen ein Segen ist, denn so konzentriert man sich auf den Satz, den man vor sich hat. Aktive Verben. Wenige Adjektive. Ich hatte eine Gliederung, ein Rezept für das Buch, ein absolutes Muss für so ein Unterfangen, denke ich. Mein Coautor Bret Witter hat mir dabei sehr geholfen. Er hatte immer das Ganze, das Buch, im Blick, während ich nur auf diesen winzigen Bildschirm schaute. Er erinnerte mich immer wieder daran, wo ich war, wenn ich von meinen Erinnerungen überwältigt wurde.
Sie schreiben darüber, wie man das Leben mit Freude betrachtet. Ist es das, was Ihre Leser aus der Lektüre mitnehmen sollen: dass man auch unter schlimmsten Umständen große Freude empfinden kann?
Susan Spencer: Natürlich. Ich versuche, keine weisen Ratschläge zu erteilen, aber ich hoffe, ich werde die Menschen dazu bringen, es so zu sehen. Und ich will, dass sie sich glücklich fühlen.
Ist diese Botschaft insbesondere wichtig für Ihre Kinder?
Susan Spencer: Auf jeden Fall. Ich hoffe, dass sie merken: „Meine Mutter war nicht selbstmitleidig. Also will ich es auch nicht sein."
Viele Menschen mit der Diagnose ALS würden sich entweder in einer Höhle verkriechen oder von Arzt zu Arzt laufen, um ihr Leben ein kleines bisschen zu verlängern. Warum haben Sie beschlossen, das anders anzugehen?
Susan Spencer: Das Problem ist: Eine Höhle hat keine Fenster. Und auch wenn ich an die Türen zahlloser Ärzte klopfte, ich fände nichts hinter diesen Türen. Es gibt keine Heilung. Punkt. Ich bin realistisch: Eine neue Therapie, ein neues Medikament würden für mich zu spät kommen. Ich gebe ja nicht auf, ich akzeptiere nur, das ist ein Unterschied. In meinem Kopf lief eine Kettenreaktion ab, auch wenn ich nicht weiß, was sie auslöste. Wie eine Orchidee, die im Vorgarten vor sich hinkümmert und eines Tages eine Blüte treibt. Die Faktoren waren einfach da. Die Natur selbst war ein entscheidender Faktor für mich. Die Natur ist vollkommen. Fotosynthese, Bestäubung, Empfängnis. Oder die Monarchfalter, die Tausende von Kilometern bis nach Mexiko fliegen, um sich dort zu versammeln. Diese Ameisenart im Regenwald, die fliegen kann, wenn sie von den Baumkronen fällt. Die Gesetze der Physik. Dass Objekte in Bewegung Energie haben. Ich habe nicht den Willen, den Antrieb, also auch nicht die Energie, gegen die wunderbare Natur anzukämpfen. Ein anderer wichtiger Faktor ist mein Mann John. Ich möchte, dass er die Chance auf ein anderes Leben hat und nicht belastet ist mit einer invaliden Ehefrau. Wünsche sind die Ursache allen Leidens, davon bin ich überzeugt. Etwas zu wollen, was man nicht bekommen kann. Das Gegenmittel ist, es nicht zu wollen. Ich versuche mich darin, keine Heilung zu wollen, mich auf den Tod vorzubereiten. Den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Mit Würde in die Nacht hinauszugehen.
Und wie geht es Ihren Kindern dabei, fragen sich die Leute.
Susan Spencer: Man darf nicht vergessen, dass es MEINE Kinder sind. Ich weiß, was für sie das Beste ist. Ich weiß, dass sie gut versorgt sein werden. Ich kenne die Liebe, die sie umgibt. Ich weiß, wenn ich das Unvermeidliche würdig akzeptiere, können sie es auch. Ich weiß, dass sie die gleiche Stärke haben wie ich. Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt.
Ihre „therapeutischen" Reisen waren nicht einfach zu bewerkstelligen. Sie haben in körperlicher Hinsicht einiges auf sich genommen, um an ferne Orte zu gelangen. Waren diese Reisen die teilweise beängstigenden Situationen, in die Sie gerieten, wert?
Susan Spencer: Unbedingt. Ich würde auch nicht von beängstigend sprechen. Wir sind ja nicht mit Haien geschwommen. Wenn ich in Wreck Beach oben auf der Treppe erschöpft war, hatte ich keine Angst. Ich war eher besorgt. Ich liebe das Reisen. Also war es ganz selbstverständlich, es zu tun, und überhaupt nicht schwierig. Aber es wäre unmöglich gewesen ohne die Hilfe von John, Nancy und Steph. Wenn die drei im Buch wie Heilige erscheinen, dann, weil sie Heilige sind.
Susan Spencer: Bei ALS versagen die kleinsten Muskeln zuerst. Zum Beispiel die in den Fingern. Ich konnte nicht mehr auf einer normalen Tastatur schreiben, weil mir die Fingerkraft fehlte, um die Tasten zu drücken. Also habe ich zuerst auf einem iPad jeden Buchstaben auf einem Touchscreen getippt. Dann begann meine Hand, über den Touchscreen zu schleifen. Genau zu der Zeit habe ich den Buchvertrag abgeschlossen, was eine große Motivation für mich war, zu improvisieren. Ich hatte immer die Notizfunktion auf meinem iPhone genutzt, um schnell etwas aufzuschreiben, Einkaufslisten oder alles, was mir gerade einfiel, auf Reisen zum Beispiel, wenn ich den Laptop nicht herausholen konnte. Ich war immer froh zu wissen, dass das iPhone zur Hand war. So konnte ich immer und überall schreiben. Zum Beispiel wenn ich beim Musikunterricht meiner Kinder auf sie wartete und Ähnliches. Also hielt ich das iPhone in der linken Hand, legte es flach auf meine verkrümmten Finger und tippte mit meinem rechten Daumen. 89.000 Wörter in vier Monaten, einen Buchstaben nach dem anderen. So stark war mein Antrieb. Auf dem Telefon kann ich nur sieben Zeilen gleichzeitig sehen, was genau genommen ein Segen ist, denn so konzentriert man sich auf den Satz, den man vor sich hat. Aktive Verben. Wenige Adjektive. Ich hatte eine Gliederung, ein Rezept für das Buch, ein absolutes Muss für so ein Unterfangen, denke ich. Mein Coautor Bret Witter hat mir dabei sehr geholfen. Er hatte immer das Ganze, das Buch, im Blick, während ich nur auf diesen winzigen Bildschirm schaute. Er erinnerte mich immer wieder daran, wo ich war, wenn ich von meinen Erinnerungen überwältigt wurde.
Sie schreiben darüber, wie man das Leben mit Freude betrachtet. Ist es das, was Ihre Leser aus der Lektüre mitnehmen sollen: dass man auch unter schlimmsten Umständen große Freude empfinden kann?
Susan Spencer: Natürlich. Ich versuche, keine weisen Ratschläge zu erteilen, aber ich hoffe, ich werde die Menschen dazu bringen, es so zu sehen. Und ich will, dass sie sich glücklich fühlen.
Ist diese Botschaft insbesondere wichtig für Ihre Kinder?
Susan Spencer: Auf jeden Fall. Ich hoffe, dass sie merken: „Meine Mutter war nicht selbstmitleidig. Also will ich es auch nicht sein."
Viele Menschen mit der Diagnose ALS würden sich entweder in einer Höhle verkriechen oder von Arzt zu Arzt laufen, um ihr Leben ein kleines bisschen zu verlängern. Warum haben Sie beschlossen, das anders anzugehen?
Susan Spencer: Das Problem ist: Eine Höhle hat keine Fenster. Und auch wenn ich an die Türen zahlloser Ärzte klopfte, ich fände nichts hinter diesen Türen. Es gibt keine Heilung. Punkt. Ich bin realistisch: Eine neue Therapie, ein neues Medikament würden für mich zu spät kommen. Ich gebe ja nicht auf, ich akzeptiere nur, das ist ein Unterschied. In meinem Kopf lief eine Kettenreaktion ab, auch wenn ich nicht weiß, was sie auslöste. Wie eine Orchidee, die im Vorgarten vor sich hinkümmert und eines Tages eine Blüte treibt. Die Faktoren waren einfach da. Die Natur selbst war ein entscheidender Faktor für mich. Die Natur ist vollkommen. Fotosynthese, Bestäubung, Empfängnis. Oder die Monarchfalter, die Tausende von Kilometern bis nach Mexiko fliegen, um sich dort zu versammeln. Diese Ameisenart im Regenwald, die fliegen kann, wenn sie von den Baumkronen fällt. Die Gesetze der Physik. Dass Objekte in Bewegung Energie haben. Ich habe nicht den Willen, den Antrieb, also auch nicht die Energie, gegen die wunderbare Natur anzukämpfen. Ein anderer wichtiger Faktor ist mein Mann John. Ich möchte, dass er die Chance auf ein anderes Leben hat und nicht belastet ist mit einer invaliden Ehefrau. Wünsche sind die Ursache allen Leidens, davon bin ich überzeugt. Etwas zu wollen, was man nicht bekommen kann. Das Gegenmittel ist, es nicht zu wollen. Ich versuche mich darin, keine Heilung zu wollen, mich auf den Tod vorzubereiten. Den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Mit Würde in die Nacht hinauszugehen.
Und wie geht es Ihren Kindern dabei, fragen sich die Leute.
Susan Spencer: Man darf nicht vergessen, dass es MEINE Kinder sind. Ich weiß, was für sie das Beste ist. Ich weiß, dass sie gut versorgt sein werden. Ich kenne die Liebe, die sie umgibt. Ich weiß, wenn ich das Unvermeidliche würdig akzeptiere, können sie es auch. Ich weiß, dass sie die gleiche Stärke haben wie ich. Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt.
Ihre „therapeutischen" Reisen waren nicht einfach zu bewerkstelligen. Sie haben in körperlicher Hinsicht einiges auf sich genommen, um an ferne Orte zu gelangen. Waren diese Reisen die teilweise beängstigenden Situationen, in die Sie gerieten, wert?
Susan Spencer: Unbedingt. Ich würde auch nicht von beängstigend sprechen. Wir sind ja nicht mit Haien geschwommen. Wenn ich in Wreck Beach oben auf der Treppe erschöpft war, hatte ich keine Angst. Ich war eher besorgt. Ich liebe das Reisen. Also war es ganz selbstverständlich, es zu tun, und überhaupt nicht schwierig. Aber es wäre unmöglich gewesen ohne die Hilfe von John, Nancy und Steph. Wenn die drei im Buch wie Heilige erscheinen, dann, weil sie Heilige sind.
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Susan Spencer-Wendel , Bret Witter
- 2013, 448 Seiten, 45 Abbildungen, Maße: 13,3 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Falk, Dietlind; Kögeböhn, Lisa; Wais, Johanna
- Übersetzer: Dietlind Falk, Lisa Kögeböhn, Johanna Wais
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453200373
- ISBN-13: 9783453200371
- Erscheinungsdatum: 22.04.2013
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