Blutköder (ePub)
Es ist etwas faul in der Heimat der Grizzly-Bären...
Der Waterton-Glacier National Peace Park liegt im Grenzgebiert von Montana und Kanada:
Park-Rangerin Anna Pigeon hat den Auftrag, aus Mississippi ist also weit weg von zu Hause, als sie den Auftrag...
Der Waterton-Glacier National Peace Park liegt im Grenzgebiert von Montana und Kanada:
Park-Rangerin Anna Pigeon hat den Auftrag, aus Mississippi ist also weit weg von zu Hause, als sie den Auftrag...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Blutköder (ePub)“
Es ist etwas faul in der Heimat der Grizzly-Bären...
Der Waterton-Glacier National Peace Park liegt im Grenzgebiert von Montana und Kanada:
Park-Rangerin Anna Pigeon hat den Auftrag, aus Mississippi ist also weit weg von zu Hause, als sie den Auftrag annimmt, anhand von DNA-Proben die Wanderungsverläufe der hier heimischen Grizzly-Bären zu analysieren. Zusammen mit der Biologin Joan Rand und dem jugendlichen Umweltaktivist Rory begibt sie sich auf die Spur der Tiere. Die Forscher sind gerade einmal zwei Nächte in der Wildnis unterwegs, da drehen die Bären den Spieß um, besuchen ihre Verfolger und verwüsten ihr Lager.
Am nächsten Morgen fehlt von Rory jede Spur. Die groß angelegte Suchaktion fördert zwar nicht den jungen Mann zutage, dafür eine verstümmelte Frauenleiche und die Verletzungen sehen ganz und gar nicht so aus, als hätte ein Bär sie verschuldet...
"Nevada Barr ist eine der Allerbesten!" The Boston Globe
Der Waterton-Glacier National Peace Park liegt im Grenzgebiert von Montana und Kanada:
Park-Rangerin Anna Pigeon hat den Auftrag, aus Mississippi ist also weit weg von zu Hause, als sie den Auftrag annimmt, anhand von DNA-Proben die Wanderungsverläufe der hier heimischen Grizzly-Bären zu analysieren. Zusammen mit der Biologin Joan Rand und dem jugendlichen Umweltaktivist Rory begibt sie sich auf die Spur der Tiere. Die Forscher sind gerade einmal zwei Nächte in der Wildnis unterwegs, da drehen die Bären den Spieß um, besuchen ihre Verfolger und verwüsten ihr Lager.
Am nächsten Morgen fehlt von Rory jede Spur. Die groß angelegte Suchaktion fördert zwar nicht den jungen Mann zutage, dafür eine verstümmelte Frauenleiche und die Verletzungen sehen ganz und gar nicht so aus, als hätte ein Bär sie verschuldet...
"Nevada Barr ist eine der Allerbesten!" The Boston Globe
Lese-Probe zu „Blutköder (ePub)“
Blutköder von Nevada Barr1
Mit Ausnahme eines neun Wochen alten australischen
Schäferhundwelpen, der schnupperte und jaulte, als habe er
eine Schatztruhe entdeckt und suche nun einen Weg hinein,
waren alle so höflich, über Annas Geruchsnote hinwegzusehen.
Unter der Aufsicht von Joan Rand, der leitenden Biologin
des bahnbrechenden Bären-DNA-Projekts im Glacier-Nationalpark,
hatte Anna den Vormittag mit einer Tätigkeit verbracht,
die derart ekelhaft war, dass selbst Müllmänner einen
großen Bogen um sie gemacht und sich ehrfürchtig die Nase
zugehalten hätten.
Unweit der Kläranlage des Parks, hinter einem zwei Meter
hohen, mit Elektrodrähten versehenen Maschendrahtzaun
und außerdem geschützt von einem mit sechs weiteren Elektrodrähten
ausgestatteten Aluminiumschuppen von der
Größe eines altmodischen Doppelplumpsklos, wurden die
Köstlichkeiten gelagert, die der aufgeregte schwarz-weiße
Welpe nun witterte: zwei Zweihundert-Liter-Fässer, gefüllt
mit einer Mischung aus Kuhblut und Fischabfällen, die erhitzt
und dann zweieinhalb Monate lang zum Gären in den
sogenannten »Brauschuppen« gestellt worden waren.
Joan, offenbar von Geburt an frei von Würgereiz, hatte
Anna fröhlich gezeigt, wie man mit einer Hand die Fischstückchen
heraussiebte, während man mit der anderen die
dunkelrote Flüssigkeit in Ein-Liter-Plastikflaschen schöpfte.
... mehr
»Mit den Fingern klappt es am besten«, hatte Rand erklärt.
»Forschung pur, glamouröser kann es überhaupt nicht mehr
werden.« Bei diesen Worten bedachte sie Anna mit einem
Grinsen, das kleine, schiefe, sehr weiße Zähne sehen ließ
und unter gewöhnlichen Umständen ansteckend gewesen
wäre.
Als Anna nun im Büro des Labors stand und der Welpe
anfing, an ihren Schnürsenkeln zu lecken, war sie froh, dass
sie der Versuchung, das Lächeln zu erwidern, nicht erlegen
war. In diesem Fall hätte sich der üble Gestank, den sie nur
als Eau de Cadavre, den typischen Geruch des Todes oder
Teufelskotze beschreiben konnte, vermutlich auch über ihre
Zähne gelegt.
»Mit der Zeit lässt es nach.« Eine freundliche Frau mit
schulterlangem braunen Haar blickte von ihrem Computer
auf, als würde Anna ihre Gedanken ebenso freigiebig verbreiten
wie den Gestank. »Es dauert eben ein wenig. Hast du
schon mit Stinktierködern gearbeitet?«
»Das wird der Nachtisch«, entgegnete Anna mit finsterer
Miene, worauf die Frau lachte.
»Das ist der beste Köder. Joan sagt, sie wälzen sich darin
und spielen wie zu groß geratene Hunde. Das Zeug stinkt so
erbärmlich, dass man es in Schraubdeckelgläser abfüllen
muss, weil der Geruch Plastik durchdringt.«
Anna dachte an die Köder aus Blut und Stinktiersekret.
Beide waren gründlich erforscht worden, und man hatte die
verschiedensten Duftnoten erprobt und wieder verworfen,
bis man die gefunden hatte, die für Grizzlybären am unwiderstehlichsten
waren. Bald würde Anna, Behälter mit
diesen Gerüchen auf dem Rücken, ins Herz des Bärenlandes
marschieren, in den zu Montana gehörenden Teil des
Waterton-Glacier International Peace Parks, und zwar nur
bewaffnet mit einer Dose Pfefferspray, zur Abwehr der
größten Allesfresser in diesen Breitengraden.
Der Welpe bellte und stützte tapsige große Pfoten auf
Annas Oberschenkel. Sein schwarz abgesetzter Schwanz beschrieb
kurze, kräftige Bögen. »Du würdest dich wohl am
liebsten in mir wälzen, was?«, meinte Anna. Als er wieder
bellte, musste sie das Bedürfnis unterdrücken, ihn hochzu-
heben, um sein weiches Babyfell nicht mit ihren schmutzigen
Händen zu verunreinigen. Deshalb wandte sie sich
von seinen flehenden braunen Augen ab, um die Farbkopien
zu betrachten, die den Ursus horribilis darstellten und mit
Heftzwecken an der Pinnwand über dem Konferenztisch befestigt
waren. Der dicke Muskel zwischen den Schulterblättern
diente nach allgemeiner Auffassung dem Zweck, die
wichtigste Funktion der zwölf Zentimeter langen Krallen zu
unterstützen - das Graben. Das Fell war grau und mit silbrigen
Fäden durchzogen. Die runden, plumpen Ohren erinnerten
an die eines Teddybären. Das Gebiss wirkte weniger
friedlich, denn die Eckzähne waren etwa drei Zentimeter
lang und ausgezeichnet an die Ernährungsgewohnheiten des
Bären angepasst. Grizzlys fraßen Aas, Pflanzen, Eichhörnchen,
Insekten - und manchmal auch Menschen.
Anna dachte über den letzten Punkt nach und hielt sich vor
Augen, dass sie Lockstoffe bei sich tragen, damit hantieren
und nachts daneben schlafen würde.
Sie trat näher heran und musterte die gewaltigen Schädel
und die kräftigen Kiefer auf den Fotos. Tatzen, die einen
starken Mann umwerfen, und Krallen, die ihm mühelos die
Gedärme aus dem Leib reißen konnten. Dennoch empfand
sie keine Angst.
Mitglieder der Einsatzgruppe, die die Bären im Park überwachte
und Auseinandersetzungen zwischen den Tieren und
Besuchern schlichtete, beklagten sich ebenso wie die hiesigen
Parkpolizisten regelmäßig darüber, wie verblödet die Amerikaner
seien, weil sie die Bären als Kuscheltiere betrachteten.
Ein Mann musste sogar daran gehindert werden, seinem fünfjährigen
Sohn Eiscreme ins Gesicht zu schmieren, um zu
fotografieren, wie ein Bär es ableckte.
Anna kannte sich zu gut mit den Lebensgewohnheiten
wilder Tiere aus, um Bären für harmlos zu halten. Allerdings
gehörte sie zu einer zweiten und nicht minder gefährlichen
Art von Dummköpfen, zu den Leuten nämlich, die sich
wilden Tieren, ganz gleich ob nun mit Flügeln, Fell oder
Zähnen ausgestattet, spirituell verbunden fühlten. Die Überzeugung,
dass sie sie als Fürsprecherin erkennen und sie
nicht angreifen würden, verhinderte die notwendige und
lebenserhaltende Angst davor, zerrissen und verschlungen zu
werden. Allerdings erstreckte sich diese Wahnvorstellung
nicht auf afrikanische Löwen. Von ihnen konnte man nun
wirklich nicht erwarten, dass sie ausländische Touristen verschonten,
denn schließlich hatte jeder hin und wieder Lust
auf eine Abwechslung auf dem Speisezettel. Aber amerikanische
Löwen und Bären ...
Anna musste über sich selbst lachen. Zum Glück war sie
nicht so leichtsinnig, die Kameradschaft zwischen den Arten
auf die Probe zu stellen. Außerdem hätte sie diese Gefühle
niemals einem anderen Menschen gestanden. Am allerwenigsten
Joan Rand, ihrer Aufseherin, Ausbilderin und Begleiterin
während der neunzehn Tage, die sie sich mit dem
Bären-DNA-Projekt im Glacier-Park vertraut machen würde.
Das hier erworbene Wissen würde ihr helfen, die Tierwelt
an ihrem Arbeitsplatz, dem Natchez Trace Parkway in
Mississippi, besser zu betreuen.
»So, meine stinkende kleine Freundin, dein Urlaubsgepäck
ist fertig«, verkündete Joan, die gerade aus dem Allerheiligsten
kam. Rand war zwar von Geburt Amerikanerin, lebte allerdings
schon lange an der Grenze zum französischsprachigen
Teil Kanadas und konnte, wenn sie wollte, genauso klingen
wie Pepé Le Pew, das Pariser Comic-Stinktier. Anna lachte.
Joan erinnerte sich gewiss noch an Pepe, denn sie war etwa in
Annas Alter, befand sich also irgendwo in dem fruchtbaren
Tal der mittleren Lebensjahre zwischen fünfundvierzig und
fünfundfünfzig.
Anna hatte Joan auf Anhieb sympathisch gefunden. Rand
war mit ihren einssechzig ziemlich kurz geraten und pummelig.
Sie hatte die schmalen Schultern eines Menschen, der
nicht viel tragen konnte, und den breiten Hintern und die
kräftigen Oberschenkel einer Person, der es ohne Weiteres
gelingen würde, einen Ausbilder bei der Armee in Grund und
Boden zu marschieren.
Anna mochte ihren scharfen Verstand, ihre raue Stimme
und ihre Schlagfertigkeit, auch wenn sie die beiden Tage, die
sie nun schon zusammenarbeiteten, nicht als ungezwungen
erlebt hatte. Sie wurde das Gefühl nicht los, ständig nach
einem Gesprächsthema suchen zu müssen. Meistens wurde
das Schweigen mit Arbeit überspielt. War das nicht möglich,
breitete sich rasch Beklommenheit aus, aber Anna hatte noch
Hoffnung.
Inzwischen hatte die Bärenforscherin den Stinktier-Akzent
abgelegt und rückte ihre gewaltige Brille zurecht. »Setz dich.
Das ist Rory Van Slyke, unser Sherpa von Earthwatch und
Mädchen für alles. Er hat versprochen, im Fall eines Bärenangriffs
seinen knackigen jungen Körper zu opfern, damit
wir beide überleben und unser wichtiges Werk vollenden
können.«
Rory, den Joan gerade vorgestellt hatte, lächelte schüchtern.
Während ihrer Jahre als Mitarbeiterin eines Nationalparks
war Anna nur einmal Angehörigen der Organisation
Earthwatch begegnet. Als sie vor einiger Zeit als Parkpolizistin
im Isle Royale National Park Bootspatrouillen auf dem
Lake Superior gefahren war, hatten Mitglieder von Earthwatch
- eines unabhängigen, mit Spenden finanzierten und
von ehrenamtlichen Mitarbeitern betriebenen Umweltverbandes
- gemeinsam mit der Nationalen Parkverwaltung die
Lebensgewohnheiten der Elche erforscht. Die freiwilligen
Helfer hatten die undankbare Aufgabe gehabt, die unwegsamsten
Gebiete eines unwirtlichen Nationalparks zu durchstreifen,
nach toten und verwesenden Elchen zu suchen, die
Zecken an den Kadavern zu zählen und die ansehnlichsten
Exemplare der Parasiten für eine spätere Untersuchung mitzunehmen.
Das taten sie nicht nur gern, sondern bezahlten
sogar für dieses Privileg, was hieß, dass Uneigennützigkeit
doch kein Mythos war. Alle Earthwatcher, die Anna bis jetzt
kennengelernt hatte, waren jung wie Rory Van Slyke. Wahrscheinlich
lag das daran, dass ein Erwachsener diese Plackerei
nicht überlebt hätte.
»Wie geht es dir?«, sagte Anna, ohne nachzudenken.
»Gut, vielen Dank. Und dir?«
Es war schon lange her, dass jemand diese altmodische Begrüßungsformel
zu Ende gebracht hatte. Offenbar war Rory
gut - oder streng - erzogen worden.
»Ausgezeichnet«, entgegnete sie. Der Junge - der junge
Mann - hatte eine leise, helle Stimme, die klang, als hätte er
den Stimmbruch noch vor sich, obwohl seine Pubertät gewiss
schon ein paar Jahre zurücklag. Er wirkte zwar nicht kräftig
genug, um als Sherpa viel herzumachen, doch als Bärenköder
würde er schon genügen: zierlicher Körperbau, zarte Haut,
dichtes blondes Haar und dunkelblaue Augen mit Wimpern,
die so farblos waren, dass man sie fast nicht sah.
»Der Plan lautet wie folgt.« Joan breitete eine topografische
Karte auf dem Tisch vor Anna aus und beugte sich dann über
ihre Schulter, um mit dem Finger zu zeigen. Sie stank
ebenfalls zum Himmel. Es war schön, sich einer Gruppe zuordnen
zu können.
»Wir haben den Park in acht Kilometer lange und acht
Kilometer breite Sektoren unterteilt«, erklärte Joan, legte eine
Schablone aus durchsichtigem Plastik auf die Landkarte und
richtete sie anhand von Koordinaten aus, die sie auswendig
wusste. »Jeder Sektor ist nummeriert und mit einer Haarfalle
ausgestattet. Damit wollen wir nicht den ganzen Bären
fangen, sondern nur sichergehen, dass durchziehende Tiere
Proben ihres Fells für die Studie hinterlassen. Die Fallen
befinden sich so nah wie möglich an den natürlichen Wanderrouten
der Bären: Bergpässen, der Mündung von Lawinen-
rinnen und so weiter. Also reden wir hier von Gewaltmärschen
querfeldein, wie ihr sie noch nicht erlebt habt.
Diese Sternchen«, sie deutete mit einem kurzen, gebräunten
Zeigefinger auf die Filzstiftmarkierungen auf der Schablone,
»stehen für die zuletzt aufgestellten Fallen. Sie sind jetzt seit
zwei Wochen vor Ort. Wir drei werden uns fünf Sektoren
vornehmen: Nummer dreihunderteinunddreißig, dreiundzwanzig,
zweiundfünfzig, dreiundfünfzig und vierundsechzig.
Hier in der Mitte und am Westhang des Flattop Mountain.
Unsere Aufgabe besteht darin, das Fell aus den alten Fallen
einzusammeln, die Fallen zu demontieren und sie anderswo
wieder aufzubauen.«
Sie legte eine zweite Plastikschablone auf die erste, sodass
eine weitere Anordnung von Sternchen zu sehen war. »Zumindest
so nah, wie wir an die entsprechenden Orte herankommen
können. Punkte in einem gemütlichen Büro zu
markieren hat nur wenig mit dem zu tun, was man in felsigem,
bergigem oder mit Unterholz bewachsenem Gelände
tatsächlich vorfindet.
Nachdem der Draht der Falle gespannt ist, gießen wir den
Nektar der Götter - das ist das Parfüm aus Blut und Fischgedärmen,
das du an uns zu ignorieren versuchst, Rory -
hinein und lassen das Ganze ein paar Wochen lang stehen.
Während wir dort herumlaufen, werden wir auch den Flattop
Mountain Trail unterhalb des Fifty Mountain Camps bis zur
Mitte des Waterton-Tals und den West Flattop Mountain
Trail zwischen der Kontinental-Trennlinie und dem Dixon-
Gletscher unter die Lupe nehmen. Bären sind wie wir: Sie
entscheiden sich wenn möglich für den einfachsten Weg. Deshalb
haben wir einige Bäume entlang der Wanderwege
markiert, an denen sie sich gerne scheuern. Dort sammeln wir
Haarproben und auch Kotproben ein, falls wir welche
finden.«
Der Vortrag war für Rory bestimmt. Anna hatte ihn bereits
gehört, als Joan und ihre Vorgesetzte Kate ihr die herausfordernde
Aufgabe erklärt hatten, die es bedeutete, Daten
für das DNA-Projekt zu gewinnen. Die Idee dazu stammte
von Kate Kedal, einer Wissenschaftlerin, die im Auftrag des
USGS - des amerikanischen geografischen Forschungsinstituts
- und der Nationalen Parkaufsicht tätig war.
Aus dem sichergestellten Fell und dem Kot würde man
die DNA einzelner Bären extrahieren. Dank moderner, vom
Labor der University of Idaho eingesetzter Techniken war es
möglich, Geschlecht und Spezies zu bestimmen und einzelne
Bären zu identifizieren. Anhand dieser Informationen hoffte
man, die genaue Anzahl der Bären sowie die Entwicklung der
Population, Wanderwege und Bewegungsmuster ermitteln zu
können. Die Fallen dienten dem Zweck, jedem einzelnen
Bären im Park die Möglichkeit zu geben, sich mitzählen zu
lassen.
»Wir werden fünf Tage lang unterwegs sein«, fügte Joan
hinzu. »Morgen in aller Früh geht es los.«
Eine Weile betrachteten die drei wortlos die Karte, als
würde sie jeden Moment ihre Geheimnisse preisgeben.
»Hey«, brach Joan das Schweigen. »Vielleicht treffen wir ja
deine Leute, Rory.«
Das Schnauben des jungen Mannes, ein kleiner Luftschwall
aus geblähten Nüstern, sprach Bände, was seine - offenbar
nicht sehr positive - Einstellung zu einem Treffen mit
seinen Eltern anging. Anna musterte ihn aus dem Augenwinkel.
Der Flaum auf seinen Wangen war anscheinend erst
vor Kurzem einem Bart gewichen, der so hell war, dass er
abends eher funkelte als Schatten warf. Sie schätzte Rory auf
siebzehn oder achtzehn. Wahrscheinlich war es sein erstes
großes Abenteuer fern von zu Hause. Und nun hatten Mom
und Dad einen Weg gefunden, sich an seine Fersen zu heften.
»Was machen deine Eltern denn hier?«, erkundigte sich
Anna, um festzustellen, ob sie mit ihrer Vermutung richtig
lag, und lauschte mit einer Miene, die Uneingeweihte als
harmlos eingestuft hätten.
»Mom und Dad zelten eine Woche lang im Fifty Mountain
Camp. Mom hatte das plötzliche Bedürfnis, zur Natur zurückzukehren.
«
»Was für ein Zufall«, stichelte Anna, neugierig, wie er
reagieren würde. Wenn man schon teuflisch stank, konnte
man genauso gut teuflisch gemein sein.
»Mom ist irgendwie ...« Rorys Stimme erstarb. Anna
konnte keine Böswilligkeit heraushören. Er wirkte eher genervt.
»Sie hat einen Familientick und möchte, dass alle zusammen
sind. Sie weiß nämlich, dass sie mich sonst kaum
zu Gesicht kriegt. Wenn überhaupt. Aber ihr fällt ja immer
etwas ein, sich zu amüsieren. Und Les musste natürlich hinterhertrotten.
«
Inzwischen klang er gehässig. Für einen so jungen
Menschen sogar sehr.
»Les?«, hakte Anna interessiert nach, weil es ihr nun einmal
im Blut lag.
»Mein Dad. Carolyn ist meine Stiefmutter.«
Hätte Anna aus irgendeinem unerklärlichen Grund beschlossen,
die Welt mit ihrem Nachwuchs zu bevölkern, wäre
es sehr kränkend für sie gewesen, wenn ihre Kinder in einem
Ton über sie gesprochen hätten wie Rory über seinen Dad.
Und dass er für seine Stiefmutter freundlichere Worte fand,
hätte noch zusätzlich Salz in die Wunde gerieben.
»Ich bezweifle, dass wir sie auch nur aus der Ferne sehen
werden«, meinte Joan. »Diese winzige Karte hier bildet ein
ziemlich großes Gebiet ab, wenn man zu Fuß unterwegs
ist.« Dass Joan das Familienthema beendete, indem sie
gewissermaßen eine eiserne Tür zuschlug, weckte in Anna den
Verdacht, sie könnte in ihrem anderen Leben Mutter sein.
Sofern sie ein anderes Leben hatte. In den achtundvierzig
Stunden, die Anna Rand nun kannte, hatte sie sich abgerackert
wie eine Frau, die sich von einem Erpresser freikaufen
muss. Das hieß nicht, dass ihr Humor und Lebensfreude
gefehlt hätten. Aber sie forderte sich, als hätte jemand ihr
Sicherheitsgefühl als Geisel genommen, um es nur im Austausch
gegen harte Arbeit wieder herauszugeben.
Eine klassische Arbeitssüchtige.
Annas Schwester Molly hatte die gleichen Symptome gezeigt,
bis sie es beinahe mit dem Leben bezahlt und sich dann,
im hohen Alter von fünfundfünfzig Jahren, vielleicht zum
ersten Mal, verliebt hatte. Molly war Psychiaterin. Sie hätte
Joan erklären können, dass die Menge der Arbeit nie genug
sein würde. Doch falls Joan tatsächlich arbeitssüchtig war,
würde sie nicht einmal die Zeit zum Zuhören haben.
Persönlich hatte Anna eine Schwäche für Arbeitssüchtige.
Insbesondere, wenn sie ihre Untergebenen waren. Im Grunde
genommen erwiesen Menschen, die sich abmühten, um einen
Quadratzentimeter Wildnis zu bewahren oder eine Larve der
Köcherfliege vor Umweltgiften zu retten, der Gesellschaft
einen Dienst. Und falls besagte Gesellschaft dank einer göttlichen
Gnade endlich aufwachte, würden diese Retter, Spezies
um Spezies, Korallenriff um Korallenriff, Wasserscheide um
Wasserscheide, die Welt vor dem Untergang bewahren.
Anna hatte schon so oft einen Rucksack gepackt, dass sie
nicht länger brauchte als ein erfahrener Pilot, um sich auf
einen viertägigen Ausflug vorzubereiten. Die fünf Liter Blut
und Gedärme waren ordentlich in einem Behälter aus Hartplastik
verstaut, den Rory tragen würde. Anna und Joan
teilten den Rest der Ausrüstung unter sich auf: Heftklammern
zum Befestigen von Drähten, Hämmer, Röhrchen mit
Ethanol für die Kotproben, Umschläge für Haare, ein Logbuch,
um wichtige Angaben zu den Fallen festzuhalten - zum
Beispiel, wo genau in dem viele Tausend Quadratkilometer
großen Nationalpark sich jede der hundert Quadratmeter
umfassenden Fallen befand, damit das nächste Forscherteam
sie nicht suchen musste. Die Stinktierköder, insgesamt fünf,
wogen nahezu nichts. Wolle, getränkt mit aus einem Katalog
für Jägerbedarf bestelltem Duftstoff, wurde erst in Filmdosen
und danach in ein Schraubdeckelglas gesteckt und wanderte
dann in Annas Rucksack. Es dauerte keine zwei Stunden, alles
zu Joans Zufriedenheit zu erledigen.
Den restlichen Abend verbrachten die beiden Frauen an
dem zerkratzten Eichentisch in Joans Essecke und studierten
Berichte, die Zusammentreffen mit Bären dokumentierten.
Joan wohnte in einem Haus auf dem Parkgelände, in dem
Anna sich merkwürdig heimisch fühlte. Unterkünfte wie
diese ähnelten sich auf eine Weise, die in ihr ein seltsames,
unwirkliches Déjà-vu-Gefühl auslöste.
Das lag nicht nur an dem typischen Grundriss aus dem
Jahr 1966: drei Schlafzimmer, ein L-förmiges Wohnzimmer
und eine lange, schmale Küche, geplant zu einer Zeit, als die
Nationale Parkaufsicht zum letzten Mal nennenswerte Mittel
für den Bau von Wohnraum für ihre Mitarbeiter erhalten
hatte. Der Grund war eher die Einrichtung. Wildhüter,
Forscher und Umweltschützer hatten unweigerlich Poster
vom Park an den Wänden, ein oder zwei Indianermasken im
Regal, Navajo-Läufer auf dem strapazierfähigen Teppichboden
und nicht zusammenpassendes, unzerbrechliches Plastikgeschirr
in der Küche.
Dass die Umgebung so sehr ihren Erwartungen entsprach,
hatte Annas angeborene Neugier gedämpft. Nun erinnerte sie
sich wieder an ihre Vermutungen, was die Familienverhältnisse
ihrer Gastgeberin betraf, nahm die Lesebrille aus dem
Drugstore ab, zu der sie sich inzwischen bekannte, um Dinge
aus der Nähe sehen zu können, und blickte sich in dem
kleinen Wohnzimmer um.
Auf dem Fernseher, zwischen einer Kokopelli-Puppe auf
einem ojo de Dios und dem Schädel eines großen Nagetiers,
entdeckte sie die gerahmten Schulfotos zweier Jungen,
entweder zweieiige Zwillinge oder fast im gleichen Alter.
Beide waren ungewöhnlich schön, der lebendig gewordene
Traum jedes Pädophilen.
Es erschreckte Anna, dass sie so über Kinder dachte. Finstere
Grübeleien, düstere Vorahnungen und die Neigung,
die Welt als schmutzig und gefährlich zu betrachten, war
bei Gesetzeshütern eine Berufskrankheit - selbst bei Park-
polizisten, die ihre Tage in einer wunderschönen Landschaft
inmitten von gutartigen, wenn auch manchmal irregeleiteten,
Touristen verbrachten.
Ihre Beförderung zur Bezirksleiterin der Parkpolizei im
Natchez Trace Parkway forderte ihren Tribut. Da eine Straße
durch den Park verlief, hatte Anna hauptsächlich polizeiliche
Aufgaben, denn Asphalt übte eine magische Anziehungskraft
auf Verbrecher aus.
Die Jungen auf den Fotos waren jedoch keine potenziellen
Opfer, sondern verkörperten die Zukunft. »Sind das deine
Söhne?«, fragte Anna, nachdem sie ihre innere Einstellung
dementsprechend justiert hatte.
»Luke und John«, erwiderte Joan.
Bewährte biblische Namen. Anna schmunzelte. »Was ist
aus Matthew und Mark geworden?«
»Fehlgeburten.«
Annas Verstand kam schliddernd zum Stehen. Ein
schlechter Witz hatte einen Nerv getroffen. »Mist«, sagte sie.
»Stimmt.«
Schweigen entstand, nur dass es diesmal seltsam angenehm
war, was Anna angesichts des Auslösers umso mehr erstaunte.
»John schließt in diesem Jahr die Highschool ab. Luke ist
im dritten Jahr. Ich bin in der Stillzeit gleich wieder
schwanger geworden. Wieder ein Ammenmärchen dahin. Sie
wohnen bei ihrem Dad in Denver.«
Eine weitere Erklärung erübrigte sich. Die Arbeit in einem
Nationalpark, so wundervoll sie auch sein mochte, war die
Hölle für jede Ehe. Anna kannte die traurigen Fotos, die versprengte
Familien zeigten, nur zu gut.
Begleitet von einem besorgniserregenden Knirschen -
Anna hoffte, dass es die hölzerne Stuhllehne und nicht Joans
Bandscheiben waren - erhob sich die Forscherin, holte die
Fotos vom Fernseher und stellte sie zwischen die Berichte und
die Röhrchen für die Stuhlproben auf den Tisch.
»Hübsche Jungen«, meinte Anna, um ihre schwarzen
pädophilen Gedanken wiedergutzumachen.
»Ihr Vater war ein wahrer Adonis. Ist er immer noch. Und
er weiß es auch. Macht die kleinen Mädchen nach wie vor
verrückt.«
Ein weiteres Kapitel derselben alten Geschichte.
»Aha«, sagte Anna.
»Falls ich je wieder heirate, dann einen reichen alten Buckligen
mit schlechten Zähnen.«
Anna nahm eines der Fotos und betrachtete es, einfach nur
deshalb, weil sie glaubte, dass Joan die Bilder geholt hatte, um
sie eingehend bewundern zu lassen.
»John?«
»Luke. Er ist zwar der Jüngere, aber größer.«
Die braunen Augen, die wegen der leicht nach unten gebogenen
äußeren Augenwinkel ein wenig melancholisch
wirkten, waren die seiner Mutter. Ansonsten war er ganz und
gar nach dem Adonis geraten. »Er sieht ein bisschen aus wie
Rory Van Slyke«, stellte Anna fest. Allerdings war »aussehen«
nicht ganz das richtige Wort. Die beiden Jungen ähnelten sich
zwar oberflächlich, doch es waren vor allem die Augen, die
diesen Eindruck erweckten. Sie blickten so eindringlich drein,
wie es bei einem derart jungen Menschen eigentlich nicht sein
sollte. So, als hätte er in der Zeit, die für andere eine unbeschwerte
Kindheit war, schon genug vom Leben gesehen, um
davon enttäuscht zu sein.
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete Joan.
Ihr Tonfall hatte etwas Wehmütiges. Joan vermisste ihre
Söhne und hatte den jungen Van Slyke vielleicht aus den Mitgliedern
von Earthwatch herausgepickt, weil er sie an Luke erinnerte.
Offenbar hatte Joan bemerkt, dass sie sich eine Blöße
gegeben hatte, und empfand das als peinlich. Jedenfalls war
der Moment der Vertrautheit vorbei.
»Berichte über Begegnungen mit Bären«, verkündete sie
gekünstelt fröhlich. »Da wird einem nie langweilig. Ich lese
dir einen vor.« Die Formulare waren ein Versuch, jedes Zusammentreffen
mit einem Bären im Park zu dokumentieren.
Touristen und Parkmitarbeiter füllten sie aus, um das Verhalten
und den Aufenthaltsort der Grizzlys und ihrer weniger
beängstigenden Cousins, der Schwarzbären, nachzuvollziehen.
Die Formulare hatten Spalten, in die man den Ort der
Beobachtung, das Datum, die Uhrzeit, den eigenen Namen,
die Farbe des Bären und was man gerade getan hatte eintragen
konnte. Am unterhaltsamsten, wenn auch nicht immer am
aufschlussreichsten, war die Spalte für die Kommentare, in
der das Verhalten des Bären geschildert wurde.
Joan kramte in den Berichten. Anna bemerkte, dass
sie dabei unauffällig die Fotos ihrer Söhne in die andere
Richtung drehte. »Hier haben wir es. Hör dir das an: ›Großer
Bär. Gewaltig, ein wahrer Riese, ein richtiger Brocken. Fünfhundert
bis sechshundert Kilo.‹«
»Zu groß?«
»Bei Weitem. Im Glacier werden die Grizzlys nicht so groß
wie in Alaska, wo sie Zugriff auf eiweißreiche Lachse haben.
Hier wiegt ein durchschnittliches Männchen hundertfünfundsiebzig
bis zweihundert Kilo, die Weibchen ein bisschen
weniger. Wir bekommen viele übertriebene Berichte. Aber ich
mache es den Leuten nicht zum Vorwurf. Wenn man allein
im finsteren Wald ist und plötzlich vor einem Bären steht,
verdoppelt das Biest meistens seine Größe.«
Joans gute Laune wirkte aufgesetzt. Das Gleichgewicht war
noch nicht wieder hergestellt. Die Geister von Matthew,
Mark, Luke und John schwebten weiterhin über den Röhrchen
für die Kotproben. Anna fragte sich, ob es mit den
Jungen Probleme gab oder ob es an Joan lag.
»Ich habe hier einen guten«, versuchte sie, die Situation
zu überspielen. Sie blätterte zurück, bis sie ein mit fliederfarbenem
Tuschestift ausgefülltes Formular vor sich hatte.
»5. August. Kein Ort. Keine Uhrzeit. Kein Name. Spezies:
Grizzly. Alter: sechsundzwanzig. Farbe: blond. Keine Ahnung,
was das heißt. War der Bär sechsundzwanzig und blond oder
der Beobachter?«
»Blond kommt bei unseren Bären selten vor.«
»Das ist aber noch nicht das Komische. Hör zu.« Anna las
die Spalte für die Kommentare vor. »›Verhalten des Bären:
jonglieren mit etwas, das wie ein Igel aussah. Verhalten des
Beobachters: dastehen und staunen.‹«
Als Joan lachte, legte sich die Anspannung wieder.
Anekdoten über die Albernheiten der Touristen waren ein zuverlässiges
Mittel, um Normalität in den Parkalltag einkehren
zu lassen. »Solche Berichte bestätigen mir immer wieder, dass
Timothy Leary noch lebt und mit Elvis Drogen einwirft«,
sagte die Forscherin.
Es war nach zehn in Joans Gästezimmer, das wie jedes Gästezimmer
in einer Unterkunft für Parkmitarbeiter, in dem
Anna je übernachtet hatte, mit einer eigenartigen Mischung
aus Möbeln mit starker Tendenz in Richtung Fünfzigerjahre
und Wal-Mart eingerichtet war. Der Wandschrank enthielt
die üblichen Rucksäcke, Wintermäntel und für Minustemperaturen
geeignete Schlafsäcke. Anna lag, eine alte, schon oft
gelesene Ausgabe von The Wind Chill Factor auf der Brust,
wach im Bett. Wie damals als Kind erkannte sie die Umrisse
von Tieren in den Wasserflecken an der Decke und dachte an
die anstehende Wanderung.
Es war schon Monate her, dass sie etwas Anstrengenderes
unternommen hatte, als auf ihrem Allerwertesten im
Streifenwagen zu sitzen. Die schwersten Gegenstände, die sie
für gewöhnlich hob, waren der Block mit den Bußgeldformularen
und ein Kugelschreiber aus Behördenbeständen.
In ihrer Verzweiflung hatte sie sich sogar für einen Aerobic-
Kurs im baptistischen Gesundheitszentrum in Clinton,
Mississippi, eingeschrieben, war jedoch nur zweimal hingegangen.
Eine Voraussetzung für die Teilnahme an der Fortbildungsmaßnahme
war die Fähigkeit, einen fünfundzwanzig
Kilo schweren Rucksack zu tragen. Anna hatte nicht gelogen.
Sie konnte fünfundzwanzig Kilo tragen. Nur wie weit, das
würde sich noch zeigen.
Sie hoffte, dass sie die anderen nicht aufhalten würde.
Außerdem hoffte sie, dass Rory Van Slyke, der Joans abwesenden
Söhnen auf so unheimliche Weise ähnelte, für die
Forscherin nur einen Transporteur des Blutes geopferter Kühe
verkörperte - nicht die Geister tot geborener Apostel.
Auch eine Begegnung mit ein paar Bärenjungen wäre
schön gewesen.
Solange die Bärenmama sie nicht entdeckte.
2
Da Joan Rand eine kleine Frau mit großem Verstand war,
bewegte sich das Gewicht der Rucksäcke eher im Bereich
zwanzig als fünfundzwanzig Kilo, eine Tatsache, für die Anna,
wie sie wusste, im Laufe des Tages zunehmend dankbar sein
würde. Die ersten viereinhalb Kilometer Fußmarsch führten
geradeaus durch verhältnismäßig ebenes Terrain. Bei der
zweiten Etappe ging es über steile Serpentinen achthundert
Meter bergauf.
Rorys Rucksack war ein wenig schwerer, wie es sich für ein
jüngeres, stärkeres, höher gewachseneres und vor allem
untergeordnetes Mitglied einer Expedition gehörte. Achthundert
Meter waren eine Strecke, die Anna in ihrer Zeit im
Guadalupe Mountains National Park zweimal pro Woche
zurückgelegt hatte, um von ihrem Stützpunkt aus das Hochland
zu erreichen. Obwohl sie damals jünger, kräftiger und
durchtrainierter gewesen war, hatte sie die Kletterpartie als
mörderisch empfunden.
Ein Mitarbeiter des Teams, dessen Aufgabe es war, bei
Auseinandersetzungen zwischen Bären und Touristen zu
vermitteln, nahm sie mit dem Auto ein Stück die berühmte
Going to the Sun Road hinauf mit, die durch den malerischsten
Teil des Nationalparks führte. Die Straße war in den
Zwanziger- und Dreißigerjahren erbaut worden, als Arbeitskräfte
noch genauso billig gewesen waren wie Wildnis wertlos.
Er setzte sie in Packer's Roost ab, einer Station für Reiter
und Wanderer am Fuße des Flattop Mountain.
Anders als einige Parks, in denen Anna gearbeitet hatte, war
der Glacier eine ursprüngliche, keine wiederhergestellte
Wildnis. Der Großteil des Gebiets war von Holzwirtschaft,
Bergwerksgesellschaften und Viehzucht verschont geblieben.
Die Bäume waren alt, und das Land trug nur die Narben von
Naturphänomenen wie Waldbränden, Überschwemmungen
und Lawinen. Lediglich die alte Brandschutztrasse, der sie am
Anfang des Berghangs folgten, war eine der seltenen Ausnahmen.
Da man sie damals von Bäumen befreit und anschließend
sich selbst überlassen hatte, hatte sie etwas Märchenhaftes an
sich. Ein breiter Streifen aus zartgrünem Moos bildete den
Rand des ausgetretenen schmalen Pfades und ähnelte einem
mit winzigen, sternförmigen Blüten bewachsenen natürlichen
Teppich. Über ihren Köpfen sperrten die fedrigen Kronen
von Föhren und Zedern das Sonnenlicht aus. Ein kräftiger,
berauschender Duft, wie man ihn nur in den Bergen des Westens
findet, lag in der Luft. Mit jedem Atemzug fühlte Anna
sich in eine andere Welt versetzt und schwelgte beim Gehen
in angenehmen Erinnerungen an die südlichen Cascades in
Lassen Volcanic und dem Zipfel der Rocky Mountains in
Durango, kurz bevor das alpengleiche Grün an den roten Tafelbergen
von New Mexico endete.
Die Einheimischen in Montana beschwerten sich über eine
ungewöhnliche Hitzewelle, dank derer die Quecksilbersäule
auf um die dreißig Grad gestiegen war. Doch Anna, die
gerade einem August in Mississippi entronnen war, genoss die
Kühle und den Schatten.
Joan marschierte, gefolgt von Rory, voran. Anna bildete die
Nachhut. Im Laufe der Jahre hatte sie die Erfahrung gemacht,
dass es möglich war, sich aus der Gesprächszone herauszuhalten
und sich am Alleinsein zu erfreuen, wenn man einfach
langsamer wurde und ein wenig zurückblieb. Hier kam
auch noch die Stille hinzu.
Nichts rührte sich. Kein Vogel flatterte in den Baumkronen
und brachte Nadeln und Laub zum Rascheln. Kein Insekt
summte. Kein Eichhörnchen schnatterte im Geäst und beschwerte
sich über die Ruhestörung. Anna fragte sich, ob in
den Wäldern im Westen schon immer ein so ungewöhnliches
Schweigen geherrscht hatte. Oder waren ihre Ohren inzwischen
an das ständige Konzert des Lebens gewöhnt, das in
den Wäldern des tiefen Südens aufgespielt wurde?
Möglicherweise hatte ja auch ein riesiges Raubtier mit
spitzen Zähnen die Geschöpfe des Waldes vorübergehend
zum Verstummen gebracht.
Anna wartete auf den wohlig-gruseligen Schauder, der eigentlich
auf einen solchen Gedanken folgen musste, doch
diesmal ausblieb. Ihre Todesangst vor Feuerameisen erstreckte
sich offenbar nicht auf Grizzlys. Sie merkte Rory an, dass er
ihre Gelassenheit nicht teilte. Auf der Fahrt hierher hatte der
Parkmitarbeiter sie mit der Schilderung eines Bärenangriffs
unterhalten, mit dem er vor zwei Sommern zu tun gehabt
hatte. Im Gebiet Middle Fork am südlichen Rand des Parks
waren drei Wanderer verwundet worden.
Joan, die zwar Mitleid mit den bedauernswerten Touristen
hatte, jedoch eindeutig für den beschuldigten Bären Partei ergriff,
hatte daraufhin ihre Version der Ereignisse zum Besten
gegeben. Nur in den seltensten Fällen kämen Menschen zu
Tode. Grizzlys, erklärte Joan, griffen normalerweise nicht in
der Absicht an, den Betreffenden aufzufressen. Sie behielten
ihre Jungen zwei oder sogar drei Jahre bei sich und seien deshalb
neben Menschen und Menschenaffen die Lebewesen, die
die längste Zeit mit der Aufzucht ihres Nachwuchses verbrächten.
Sie zeigten den Kleinen, wie man überlebte, wo
man in trockenen Jahren Wasser fand, welche Pflanzen essbar
waren und wo sie wuchsen. Eine Grizzlybärin sei erst mit
sechs Jahren fortpflanzungsfähig und brächte im Laufe ihres
Lebens nur fünf bis zehn Junge zur Welt. Die Folge daraus sei
ein stark ausgeprägter Beschützerinstinkt. Wenn sie jemanden
- sei es ein anderer Bär oder ein Mensch - als Bedrohung
wahrnähme, habe sie also nicht die Absicht, ihn zu fressen,
sondern nur, ihm ordentlich Angst einzujagen.
Ganz selten griffe sie eine Gruppe von vier oder mehr Per-
sonen an, da sie die Gefahr für sich und ihre Familie als übermächtig
einschätze und sich deshalb für die Flucht entschiede.
Deshalb empfehle die Parkverwaltung Besuchern,
sich niemals allein auf den Weg zu machen.
Der fragliche Bär war von zwei Wanderern überrascht
worden, hatte sich auf sie gestürzt und sie verletzt - »So
schlimm war es offenbar nicht«, fügte Joan hinzu. »Sie
konnten noch gehen.« - und war dann auf seiner Flucht mit
einem dritten Pechvogel zusammengestoßen.
»Es ist niemand ums Leben gekommen«, betonte Joan.
»Wenn der Bär sie hätte umbringen wollen, wären sie jetzt
tot. Wenn er Lust gehabt hätte, sie aufzufressen, hätte er sie
weggeschleppt, es getan und die Reste für später in einer
flachen Grube versteckt. Ergo hatte der Bär weder vor, sie zu
töten, noch, sie zu verspeisen.«
Nach Rorys Miene zu urteilen, war »sie zu töten und zu
verspeisen« das Einzige, was von dem Vortrag hängen geblieben
war. Seit sie unterwegs waren, spähte er immer wieder
in den Wald wie ein Mann auf der Flucht.
Anna war überzeugt, dass sie es nicht bemerken würden,
falls ein Bär sie beobachten oder verfolgen sollte. Da im
Glacier im Winter tiefer Schnee lag und es im kurzen
Sommer jeden Nachmittag regnete, hatten die Wälder hier
nicht die offene, an eine Kathedrale erinnernde Gestalt wie
die an den östlichen Hängen der Sierra oder am Südzipfel der
Cascades. Im Glacier war der Boden dick mit toten und
umgestürzten Bäumen bedeckt, die nie verbrannt oder fortgeschafft
worden waren. An manchen Stellen lagen sie, geschichtet
wie Mikadostäbchen, übereinander. Farne, Heidelbeeren,
Bärentrauben, Elsbeeren, die schulterhohe schwarze
Himbeere mit ihren breiten Blättern und eine Vielzahl weiterer
Pflanzen, die Anna nicht beim Namen nennen konnte,
rankten sich zwischen dem verrottenden Holz.
Und ein Bär, der sich verstecken wollte, würde das auch
tun.
Als Anna ihren Gedanken in den Wald folgte, wurde ihr
zum ersten Mal klar, was für eine Plackerei es werden würde,
sich querfeldein durchs Unterholz zu kämpfen, um die Fallen
zu kontrollieren und zu versetzen. Insgeheim war sie erleichtert,
dass das Hochland ihr Ziel war, das zum Teil oberhalb
der Baumgrenze lag. Dass ein gutes Stück außerdem dem
Waldbrand von 1998 zum Opfer gefallen war, würde das Vorwärtskommen
auch ein wenig erleichtern.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie, als sie um eine
Kurve bog, beinahe mit Rory Van Slyke zusammengeprallt
wäre. Auf der von den Wildhütern herausgegebenen Liste von
Verhaltensweisen zur Gefahrenabwehr im Land der Bären
stand »Sei immer aufmerksam« gleich hinter »Gehe niemals
allein los«. Bis jetzt hatte Anna in beiden Punkten kläglich
versagt.
»Hier hätten wir einen«, stellte Joan gerade fest, als Anna
angestolpert kam. »Das ist einer der Scheuerbäume, die wir
markiert haben. Ihr müsst nach einer gelben Raute wie dieser
Ausschau halten.« Sie wies auf ein Stück reflektierenden
Kunststoff, der in einer Höhe, die ein Durchschnittsmensch
gerade mal mit dem Hammer erreichen konnte, an den
Stamm genagelt war.
»Wir nummerieren sie auch, damit wir genau wissen, an
welchem Baum eine Probe sichergestellt wurde. Die Nummern
stehen auf der Rückseite des Baums unten am Stamm.
Wir wollen die Bäume zwar im Auge behalten, aber nicht
jeden Wanderer im Park darauf aufmerksam machen.«
»Wofür ist der Stacheldraht?«, fragte Rory. Im gleichen
Moment bemerkte Anna die Stückchen, die in unregelmäßigen
Abständen an den Baum geheftet waren.
»Das kratzt sie ein bisschen tiefer und zieht die Unterwolle
heraus, an der mit größerer Wahrscheinlichkeit ein wenig
Haut hängt, sodass wir leichter an die DNA-Proben herankommen.
«
»Macht sie das nicht wütend?« Rory stand die Furcht vor
einem aufgebrachten Grizzlybären, der sich womöglich in der
näheren Umgebung herumtrieb, ins Gesicht geschrieben.
»Nein«, beruhigte ihn Joan. »Sie mögen das. Das haben wir
daran festgestellt, dass sie die mit Draht versehenen Bäume
nicht meiden. Sie scheinen sie sogar vorzuziehen. Siehst du
die Spuren?«
Das Moos wies die Tatzenabdrücke vieler Bären auf, die
den Weg vom Scheuerbaum zum Pfad genommen hatten.
Zwei Abdrücke waren vom Hinundhertreten auf der Stelle
größer als die anderen.
»Spitze, was?« Anna musste zustimmen.
»Funktioniert das mit dem Pfefferspray wirklich?«, erkundigte
sich Rory.
»Es ist das gleiche Spray, das wir auch in der Polizeiarbeit
benutzen«, erwiderte Anna. »Es besteht aus einem Extrakt aus
superscharfen Chilischoten. Wahrscheinlich klappt es also
auch bei Bären. Außer sie haben Geschmack an mexikanischem
Essen gefunden. Dann könnte es appetitanregend
wirken.«
Joan warf ihr einen Blick zu, der zwar einerseits belustigt
war, aber andererseits klarstellte, dass Rory zu ärgern als Zeitvertreib
eindeutig ausschied. »Wir werden gar nicht erst in
eine Situation geraten, in der wir die Probe aufs Exempel
machen müssen«, verkündete sie mit Nachdruck.
»Rory, du bist wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Die
meisten Jungen lieben Bären. Ich bekomme sogar Fanpost,
weil ich die Bärenfrau vom Glacier-Nationalpark bin.« Joans
Tonfall war zwar freundlich wie immer, dennoch konnte man
nicht überhören, dass die Forscherin gekränkt war. Schließlich
machte Rory mit seiner Angst die Bären schlecht. »Ein
Junge schickt mir alle paar Tage eine Mail. Er zeichnet eine
Karte und möchte wissen, wohin die Bären zum Fressen
ziehen.«
»Ich mag Bären«, verteidigte sich Rory.
»Das wirst du schon noch«, versprach Joan.
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Copyright der Originalausgabe © 2001 by Nevada Barr
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Übersetzung: Karin Dufner
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Redaktion: Sandra Lode
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Satz: Lydia Kühn
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
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ISBN 978-3-86800-449-6
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
»Mit den Fingern klappt es am besten«, hatte Rand erklärt.
»Forschung pur, glamouröser kann es überhaupt nicht mehr
werden.« Bei diesen Worten bedachte sie Anna mit einem
Grinsen, das kleine, schiefe, sehr weiße Zähne sehen ließ
und unter gewöhnlichen Umständen ansteckend gewesen
wäre.
Als Anna nun im Büro des Labors stand und der Welpe
anfing, an ihren Schnürsenkeln zu lecken, war sie froh, dass
sie der Versuchung, das Lächeln zu erwidern, nicht erlegen
war. In diesem Fall hätte sich der üble Gestank, den sie nur
als Eau de Cadavre, den typischen Geruch des Todes oder
Teufelskotze beschreiben konnte, vermutlich auch über ihre
Zähne gelegt.
»Mit der Zeit lässt es nach.« Eine freundliche Frau mit
schulterlangem braunen Haar blickte von ihrem Computer
auf, als würde Anna ihre Gedanken ebenso freigiebig verbreiten
wie den Gestank. »Es dauert eben ein wenig. Hast du
schon mit Stinktierködern gearbeitet?«
»Das wird der Nachtisch«, entgegnete Anna mit finsterer
Miene, worauf die Frau lachte.
»Das ist der beste Köder. Joan sagt, sie wälzen sich darin
und spielen wie zu groß geratene Hunde. Das Zeug stinkt so
erbärmlich, dass man es in Schraubdeckelgläser abfüllen
muss, weil der Geruch Plastik durchdringt.«
Anna dachte an die Köder aus Blut und Stinktiersekret.
Beide waren gründlich erforscht worden, und man hatte die
verschiedensten Duftnoten erprobt und wieder verworfen,
bis man die gefunden hatte, die für Grizzlybären am unwiderstehlichsten
waren. Bald würde Anna, Behälter mit
diesen Gerüchen auf dem Rücken, ins Herz des Bärenlandes
marschieren, in den zu Montana gehörenden Teil des
Waterton-Glacier International Peace Parks, und zwar nur
bewaffnet mit einer Dose Pfefferspray, zur Abwehr der
größten Allesfresser in diesen Breitengraden.
Der Welpe bellte und stützte tapsige große Pfoten auf
Annas Oberschenkel. Sein schwarz abgesetzter Schwanz beschrieb
kurze, kräftige Bögen. »Du würdest dich wohl am
liebsten in mir wälzen, was?«, meinte Anna. Als er wieder
bellte, musste sie das Bedürfnis unterdrücken, ihn hochzu-
heben, um sein weiches Babyfell nicht mit ihren schmutzigen
Händen zu verunreinigen. Deshalb wandte sie sich
von seinen flehenden braunen Augen ab, um die Farbkopien
zu betrachten, die den Ursus horribilis darstellten und mit
Heftzwecken an der Pinnwand über dem Konferenztisch befestigt
waren. Der dicke Muskel zwischen den Schulterblättern
diente nach allgemeiner Auffassung dem Zweck, die
wichtigste Funktion der zwölf Zentimeter langen Krallen zu
unterstützen - das Graben. Das Fell war grau und mit silbrigen
Fäden durchzogen. Die runden, plumpen Ohren erinnerten
an die eines Teddybären. Das Gebiss wirkte weniger
friedlich, denn die Eckzähne waren etwa drei Zentimeter
lang und ausgezeichnet an die Ernährungsgewohnheiten des
Bären angepasst. Grizzlys fraßen Aas, Pflanzen, Eichhörnchen,
Insekten - und manchmal auch Menschen.
Anna dachte über den letzten Punkt nach und hielt sich vor
Augen, dass sie Lockstoffe bei sich tragen, damit hantieren
und nachts daneben schlafen würde.
Sie trat näher heran und musterte die gewaltigen Schädel
und die kräftigen Kiefer auf den Fotos. Tatzen, die einen
starken Mann umwerfen, und Krallen, die ihm mühelos die
Gedärme aus dem Leib reißen konnten. Dennoch empfand
sie keine Angst.
Mitglieder der Einsatzgruppe, die die Bären im Park überwachte
und Auseinandersetzungen zwischen den Tieren und
Besuchern schlichtete, beklagten sich ebenso wie die hiesigen
Parkpolizisten regelmäßig darüber, wie verblödet die Amerikaner
seien, weil sie die Bären als Kuscheltiere betrachteten.
Ein Mann musste sogar daran gehindert werden, seinem fünfjährigen
Sohn Eiscreme ins Gesicht zu schmieren, um zu
fotografieren, wie ein Bär es ableckte.
Anna kannte sich zu gut mit den Lebensgewohnheiten
wilder Tiere aus, um Bären für harmlos zu halten. Allerdings
gehörte sie zu einer zweiten und nicht minder gefährlichen
Art von Dummköpfen, zu den Leuten nämlich, die sich
wilden Tieren, ganz gleich ob nun mit Flügeln, Fell oder
Zähnen ausgestattet, spirituell verbunden fühlten. Die Überzeugung,
dass sie sie als Fürsprecherin erkennen und sie
nicht angreifen würden, verhinderte die notwendige und
lebenserhaltende Angst davor, zerrissen und verschlungen zu
werden. Allerdings erstreckte sich diese Wahnvorstellung
nicht auf afrikanische Löwen. Von ihnen konnte man nun
wirklich nicht erwarten, dass sie ausländische Touristen verschonten,
denn schließlich hatte jeder hin und wieder Lust
auf eine Abwechslung auf dem Speisezettel. Aber amerikanische
Löwen und Bären ...
Anna musste über sich selbst lachen. Zum Glück war sie
nicht so leichtsinnig, die Kameradschaft zwischen den Arten
auf die Probe zu stellen. Außerdem hätte sie diese Gefühle
niemals einem anderen Menschen gestanden. Am allerwenigsten
Joan Rand, ihrer Aufseherin, Ausbilderin und Begleiterin
während der neunzehn Tage, die sie sich mit dem
Bären-DNA-Projekt im Glacier-Park vertraut machen würde.
Das hier erworbene Wissen würde ihr helfen, die Tierwelt
an ihrem Arbeitsplatz, dem Natchez Trace Parkway in
Mississippi, besser zu betreuen.
»So, meine stinkende kleine Freundin, dein Urlaubsgepäck
ist fertig«, verkündete Joan, die gerade aus dem Allerheiligsten
kam. Rand war zwar von Geburt Amerikanerin, lebte allerdings
schon lange an der Grenze zum französischsprachigen
Teil Kanadas und konnte, wenn sie wollte, genauso klingen
wie Pepé Le Pew, das Pariser Comic-Stinktier. Anna lachte.
Joan erinnerte sich gewiss noch an Pepe, denn sie war etwa in
Annas Alter, befand sich also irgendwo in dem fruchtbaren
Tal der mittleren Lebensjahre zwischen fünfundvierzig und
fünfundfünfzig.
Anna hatte Joan auf Anhieb sympathisch gefunden. Rand
war mit ihren einssechzig ziemlich kurz geraten und pummelig.
Sie hatte die schmalen Schultern eines Menschen, der
nicht viel tragen konnte, und den breiten Hintern und die
kräftigen Oberschenkel einer Person, der es ohne Weiteres
gelingen würde, einen Ausbilder bei der Armee in Grund und
Boden zu marschieren.
Anna mochte ihren scharfen Verstand, ihre raue Stimme
und ihre Schlagfertigkeit, auch wenn sie die beiden Tage, die
sie nun schon zusammenarbeiteten, nicht als ungezwungen
erlebt hatte. Sie wurde das Gefühl nicht los, ständig nach
einem Gesprächsthema suchen zu müssen. Meistens wurde
das Schweigen mit Arbeit überspielt. War das nicht möglich,
breitete sich rasch Beklommenheit aus, aber Anna hatte noch
Hoffnung.
Inzwischen hatte die Bärenforscherin den Stinktier-Akzent
abgelegt und rückte ihre gewaltige Brille zurecht. »Setz dich.
Das ist Rory Van Slyke, unser Sherpa von Earthwatch und
Mädchen für alles. Er hat versprochen, im Fall eines Bärenangriffs
seinen knackigen jungen Körper zu opfern, damit
wir beide überleben und unser wichtiges Werk vollenden
können.«
Rory, den Joan gerade vorgestellt hatte, lächelte schüchtern.
Während ihrer Jahre als Mitarbeiterin eines Nationalparks
war Anna nur einmal Angehörigen der Organisation
Earthwatch begegnet. Als sie vor einiger Zeit als Parkpolizistin
im Isle Royale National Park Bootspatrouillen auf dem
Lake Superior gefahren war, hatten Mitglieder von Earthwatch
- eines unabhängigen, mit Spenden finanzierten und
von ehrenamtlichen Mitarbeitern betriebenen Umweltverbandes
- gemeinsam mit der Nationalen Parkverwaltung die
Lebensgewohnheiten der Elche erforscht. Die freiwilligen
Helfer hatten die undankbare Aufgabe gehabt, die unwegsamsten
Gebiete eines unwirtlichen Nationalparks zu durchstreifen,
nach toten und verwesenden Elchen zu suchen, die
Zecken an den Kadavern zu zählen und die ansehnlichsten
Exemplare der Parasiten für eine spätere Untersuchung mitzunehmen.
Das taten sie nicht nur gern, sondern bezahlten
sogar für dieses Privileg, was hieß, dass Uneigennützigkeit
doch kein Mythos war. Alle Earthwatcher, die Anna bis jetzt
kennengelernt hatte, waren jung wie Rory Van Slyke. Wahrscheinlich
lag das daran, dass ein Erwachsener diese Plackerei
nicht überlebt hätte.
»Wie geht es dir?«, sagte Anna, ohne nachzudenken.
»Gut, vielen Dank. Und dir?«
Es war schon lange her, dass jemand diese altmodische Begrüßungsformel
zu Ende gebracht hatte. Offenbar war Rory
gut - oder streng - erzogen worden.
»Ausgezeichnet«, entgegnete sie. Der Junge - der junge
Mann - hatte eine leise, helle Stimme, die klang, als hätte er
den Stimmbruch noch vor sich, obwohl seine Pubertät gewiss
schon ein paar Jahre zurücklag. Er wirkte zwar nicht kräftig
genug, um als Sherpa viel herzumachen, doch als Bärenköder
würde er schon genügen: zierlicher Körperbau, zarte Haut,
dichtes blondes Haar und dunkelblaue Augen mit Wimpern,
die so farblos waren, dass man sie fast nicht sah.
»Der Plan lautet wie folgt.« Joan breitete eine topografische
Karte auf dem Tisch vor Anna aus und beugte sich dann über
ihre Schulter, um mit dem Finger zu zeigen. Sie stank
ebenfalls zum Himmel. Es war schön, sich einer Gruppe zuordnen
zu können.
»Wir haben den Park in acht Kilometer lange und acht
Kilometer breite Sektoren unterteilt«, erklärte Joan, legte eine
Schablone aus durchsichtigem Plastik auf die Landkarte und
richtete sie anhand von Koordinaten aus, die sie auswendig
wusste. »Jeder Sektor ist nummeriert und mit einer Haarfalle
ausgestattet. Damit wollen wir nicht den ganzen Bären
fangen, sondern nur sichergehen, dass durchziehende Tiere
Proben ihres Fells für die Studie hinterlassen. Die Fallen
befinden sich so nah wie möglich an den natürlichen Wanderrouten
der Bären: Bergpässen, der Mündung von Lawinen-
rinnen und so weiter. Also reden wir hier von Gewaltmärschen
querfeldein, wie ihr sie noch nicht erlebt habt.
Diese Sternchen«, sie deutete mit einem kurzen, gebräunten
Zeigefinger auf die Filzstiftmarkierungen auf der Schablone,
»stehen für die zuletzt aufgestellten Fallen. Sie sind jetzt seit
zwei Wochen vor Ort. Wir drei werden uns fünf Sektoren
vornehmen: Nummer dreihunderteinunddreißig, dreiundzwanzig,
zweiundfünfzig, dreiundfünfzig und vierundsechzig.
Hier in der Mitte und am Westhang des Flattop Mountain.
Unsere Aufgabe besteht darin, das Fell aus den alten Fallen
einzusammeln, die Fallen zu demontieren und sie anderswo
wieder aufzubauen.«
Sie legte eine zweite Plastikschablone auf die erste, sodass
eine weitere Anordnung von Sternchen zu sehen war. »Zumindest
so nah, wie wir an die entsprechenden Orte herankommen
können. Punkte in einem gemütlichen Büro zu
markieren hat nur wenig mit dem zu tun, was man in felsigem,
bergigem oder mit Unterholz bewachsenem Gelände
tatsächlich vorfindet.
Nachdem der Draht der Falle gespannt ist, gießen wir den
Nektar der Götter - das ist das Parfüm aus Blut und Fischgedärmen,
das du an uns zu ignorieren versuchst, Rory -
hinein und lassen das Ganze ein paar Wochen lang stehen.
Während wir dort herumlaufen, werden wir auch den Flattop
Mountain Trail unterhalb des Fifty Mountain Camps bis zur
Mitte des Waterton-Tals und den West Flattop Mountain
Trail zwischen der Kontinental-Trennlinie und dem Dixon-
Gletscher unter die Lupe nehmen. Bären sind wie wir: Sie
entscheiden sich wenn möglich für den einfachsten Weg. Deshalb
haben wir einige Bäume entlang der Wanderwege
markiert, an denen sie sich gerne scheuern. Dort sammeln wir
Haarproben und auch Kotproben ein, falls wir welche
finden.«
Der Vortrag war für Rory bestimmt. Anna hatte ihn bereits
gehört, als Joan und ihre Vorgesetzte Kate ihr die herausfordernde
Aufgabe erklärt hatten, die es bedeutete, Daten
für das DNA-Projekt zu gewinnen. Die Idee dazu stammte
von Kate Kedal, einer Wissenschaftlerin, die im Auftrag des
USGS - des amerikanischen geografischen Forschungsinstituts
- und der Nationalen Parkaufsicht tätig war.
Aus dem sichergestellten Fell und dem Kot würde man
die DNA einzelner Bären extrahieren. Dank moderner, vom
Labor der University of Idaho eingesetzter Techniken war es
möglich, Geschlecht und Spezies zu bestimmen und einzelne
Bären zu identifizieren. Anhand dieser Informationen hoffte
man, die genaue Anzahl der Bären sowie die Entwicklung der
Population, Wanderwege und Bewegungsmuster ermitteln zu
können. Die Fallen dienten dem Zweck, jedem einzelnen
Bären im Park die Möglichkeit zu geben, sich mitzählen zu
lassen.
»Wir werden fünf Tage lang unterwegs sein«, fügte Joan
hinzu. »Morgen in aller Früh geht es los.«
Eine Weile betrachteten die drei wortlos die Karte, als
würde sie jeden Moment ihre Geheimnisse preisgeben.
»Hey«, brach Joan das Schweigen. »Vielleicht treffen wir ja
deine Leute, Rory.«
Das Schnauben des jungen Mannes, ein kleiner Luftschwall
aus geblähten Nüstern, sprach Bände, was seine - offenbar
nicht sehr positive - Einstellung zu einem Treffen mit
seinen Eltern anging. Anna musterte ihn aus dem Augenwinkel.
Der Flaum auf seinen Wangen war anscheinend erst
vor Kurzem einem Bart gewichen, der so hell war, dass er
abends eher funkelte als Schatten warf. Sie schätzte Rory auf
siebzehn oder achtzehn. Wahrscheinlich war es sein erstes
großes Abenteuer fern von zu Hause. Und nun hatten Mom
und Dad einen Weg gefunden, sich an seine Fersen zu heften.
»Was machen deine Eltern denn hier?«, erkundigte sich
Anna, um festzustellen, ob sie mit ihrer Vermutung richtig
lag, und lauschte mit einer Miene, die Uneingeweihte als
harmlos eingestuft hätten.
»Mom und Dad zelten eine Woche lang im Fifty Mountain
Camp. Mom hatte das plötzliche Bedürfnis, zur Natur zurückzukehren.
«
»Was für ein Zufall«, stichelte Anna, neugierig, wie er
reagieren würde. Wenn man schon teuflisch stank, konnte
man genauso gut teuflisch gemein sein.
»Mom ist irgendwie ...« Rorys Stimme erstarb. Anna
konnte keine Böswilligkeit heraushören. Er wirkte eher genervt.
»Sie hat einen Familientick und möchte, dass alle zusammen
sind. Sie weiß nämlich, dass sie mich sonst kaum
zu Gesicht kriegt. Wenn überhaupt. Aber ihr fällt ja immer
etwas ein, sich zu amüsieren. Und Les musste natürlich hinterhertrotten.
«
Inzwischen klang er gehässig. Für einen so jungen
Menschen sogar sehr.
»Les?«, hakte Anna interessiert nach, weil es ihr nun einmal
im Blut lag.
»Mein Dad. Carolyn ist meine Stiefmutter.«
Hätte Anna aus irgendeinem unerklärlichen Grund beschlossen,
die Welt mit ihrem Nachwuchs zu bevölkern, wäre
es sehr kränkend für sie gewesen, wenn ihre Kinder in einem
Ton über sie gesprochen hätten wie Rory über seinen Dad.
Und dass er für seine Stiefmutter freundlichere Worte fand,
hätte noch zusätzlich Salz in die Wunde gerieben.
»Ich bezweifle, dass wir sie auch nur aus der Ferne sehen
werden«, meinte Joan. »Diese winzige Karte hier bildet ein
ziemlich großes Gebiet ab, wenn man zu Fuß unterwegs
ist.« Dass Joan das Familienthema beendete, indem sie
gewissermaßen eine eiserne Tür zuschlug, weckte in Anna den
Verdacht, sie könnte in ihrem anderen Leben Mutter sein.
Sofern sie ein anderes Leben hatte. In den achtundvierzig
Stunden, die Anna Rand nun kannte, hatte sie sich abgerackert
wie eine Frau, die sich von einem Erpresser freikaufen
muss. Das hieß nicht, dass ihr Humor und Lebensfreude
gefehlt hätten. Aber sie forderte sich, als hätte jemand ihr
Sicherheitsgefühl als Geisel genommen, um es nur im Austausch
gegen harte Arbeit wieder herauszugeben.
Eine klassische Arbeitssüchtige.
Annas Schwester Molly hatte die gleichen Symptome gezeigt,
bis sie es beinahe mit dem Leben bezahlt und sich dann,
im hohen Alter von fünfundfünfzig Jahren, vielleicht zum
ersten Mal, verliebt hatte. Molly war Psychiaterin. Sie hätte
Joan erklären können, dass die Menge der Arbeit nie genug
sein würde. Doch falls Joan tatsächlich arbeitssüchtig war,
würde sie nicht einmal die Zeit zum Zuhören haben.
Persönlich hatte Anna eine Schwäche für Arbeitssüchtige.
Insbesondere, wenn sie ihre Untergebenen waren. Im Grunde
genommen erwiesen Menschen, die sich abmühten, um einen
Quadratzentimeter Wildnis zu bewahren oder eine Larve der
Köcherfliege vor Umweltgiften zu retten, der Gesellschaft
einen Dienst. Und falls besagte Gesellschaft dank einer göttlichen
Gnade endlich aufwachte, würden diese Retter, Spezies
um Spezies, Korallenriff um Korallenriff, Wasserscheide um
Wasserscheide, die Welt vor dem Untergang bewahren.
Anna hatte schon so oft einen Rucksack gepackt, dass sie
nicht länger brauchte als ein erfahrener Pilot, um sich auf
einen viertägigen Ausflug vorzubereiten. Die fünf Liter Blut
und Gedärme waren ordentlich in einem Behälter aus Hartplastik
verstaut, den Rory tragen würde. Anna und Joan
teilten den Rest der Ausrüstung unter sich auf: Heftklammern
zum Befestigen von Drähten, Hämmer, Röhrchen mit
Ethanol für die Kotproben, Umschläge für Haare, ein Logbuch,
um wichtige Angaben zu den Fallen festzuhalten - zum
Beispiel, wo genau in dem viele Tausend Quadratkilometer
großen Nationalpark sich jede der hundert Quadratmeter
umfassenden Fallen befand, damit das nächste Forscherteam
sie nicht suchen musste. Die Stinktierköder, insgesamt fünf,
wogen nahezu nichts. Wolle, getränkt mit aus einem Katalog
für Jägerbedarf bestelltem Duftstoff, wurde erst in Filmdosen
und danach in ein Schraubdeckelglas gesteckt und wanderte
dann in Annas Rucksack. Es dauerte keine zwei Stunden, alles
zu Joans Zufriedenheit zu erledigen.
Den restlichen Abend verbrachten die beiden Frauen an
dem zerkratzten Eichentisch in Joans Essecke und studierten
Berichte, die Zusammentreffen mit Bären dokumentierten.
Joan wohnte in einem Haus auf dem Parkgelände, in dem
Anna sich merkwürdig heimisch fühlte. Unterkünfte wie
diese ähnelten sich auf eine Weise, die in ihr ein seltsames,
unwirkliches Déjà-vu-Gefühl auslöste.
Das lag nicht nur an dem typischen Grundriss aus dem
Jahr 1966: drei Schlafzimmer, ein L-förmiges Wohnzimmer
und eine lange, schmale Küche, geplant zu einer Zeit, als die
Nationale Parkaufsicht zum letzten Mal nennenswerte Mittel
für den Bau von Wohnraum für ihre Mitarbeiter erhalten
hatte. Der Grund war eher die Einrichtung. Wildhüter,
Forscher und Umweltschützer hatten unweigerlich Poster
vom Park an den Wänden, ein oder zwei Indianermasken im
Regal, Navajo-Läufer auf dem strapazierfähigen Teppichboden
und nicht zusammenpassendes, unzerbrechliches Plastikgeschirr
in der Küche.
Dass die Umgebung so sehr ihren Erwartungen entsprach,
hatte Annas angeborene Neugier gedämpft. Nun erinnerte sie
sich wieder an ihre Vermutungen, was die Familienverhältnisse
ihrer Gastgeberin betraf, nahm die Lesebrille aus dem
Drugstore ab, zu der sie sich inzwischen bekannte, um Dinge
aus der Nähe sehen zu können, und blickte sich in dem
kleinen Wohnzimmer um.
Auf dem Fernseher, zwischen einer Kokopelli-Puppe auf
einem ojo de Dios und dem Schädel eines großen Nagetiers,
entdeckte sie die gerahmten Schulfotos zweier Jungen,
entweder zweieiige Zwillinge oder fast im gleichen Alter.
Beide waren ungewöhnlich schön, der lebendig gewordene
Traum jedes Pädophilen.
Es erschreckte Anna, dass sie so über Kinder dachte. Finstere
Grübeleien, düstere Vorahnungen und die Neigung,
die Welt als schmutzig und gefährlich zu betrachten, war
bei Gesetzeshütern eine Berufskrankheit - selbst bei Park-
polizisten, die ihre Tage in einer wunderschönen Landschaft
inmitten von gutartigen, wenn auch manchmal irregeleiteten,
Touristen verbrachten.
Ihre Beförderung zur Bezirksleiterin der Parkpolizei im
Natchez Trace Parkway forderte ihren Tribut. Da eine Straße
durch den Park verlief, hatte Anna hauptsächlich polizeiliche
Aufgaben, denn Asphalt übte eine magische Anziehungskraft
auf Verbrecher aus.
Die Jungen auf den Fotos waren jedoch keine potenziellen
Opfer, sondern verkörperten die Zukunft. »Sind das deine
Söhne?«, fragte Anna, nachdem sie ihre innere Einstellung
dementsprechend justiert hatte.
»Luke und John«, erwiderte Joan.
Bewährte biblische Namen. Anna schmunzelte. »Was ist
aus Matthew und Mark geworden?«
»Fehlgeburten.«
Annas Verstand kam schliddernd zum Stehen. Ein
schlechter Witz hatte einen Nerv getroffen. »Mist«, sagte sie.
»Stimmt.«
Schweigen entstand, nur dass es diesmal seltsam angenehm
war, was Anna angesichts des Auslösers umso mehr erstaunte.
»John schließt in diesem Jahr die Highschool ab. Luke ist
im dritten Jahr. Ich bin in der Stillzeit gleich wieder
schwanger geworden. Wieder ein Ammenmärchen dahin. Sie
wohnen bei ihrem Dad in Denver.«
Eine weitere Erklärung erübrigte sich. Die Arbeit in einem
Nationalpark, so wundervoll sie auch sein mochte, war die
Hölle für jede Ehe. Anna kannte die traurigen Fotos, die versprengte
Familien zeigten, nur zu gut.
Begleitet von einem besorgniserregenden Knirschen -
Anna hoffte, dass es die hölzerne Stuhllehne und nicht Joans
Bandscheiben waren - erhob sich die Forscherin, holte die
Fotos vom Fernseher und stellte sie zwischen die Berichte und
die Röhrchen für die Stuhlproben auf den Tisch.
»Hübsche Jungen«, meinte Anna, um ihre schwarzen
pädophilen Gedanken wiedergutzumachen.
»Ihr Vater war ein wahrer Adonis. Ist er immer noch. Und
er weiß es auch. Macht die kleinen Mädchen nach wie vor
verrückt.«
Ein weiteres Kapitel derselben alten Geschichte.
»Aha«, sagte Anna.
»Falls ich je wieder heirate, dann einen reichen alten Buckligen
mit schlechten Zähnen.«
Anna nahm eines der Fotos und betrachtete es, einfach nur
deshalb, weil sie glaubte, dass Joan die Bilder geholt hatte, um
sie eingehend bewundern zu lassen.
»John?«
»Luke. Er ist zwar der Jüngere, aber größer.«
Die braunen Augen, die wegen der leicht nach unten gebogenen
äußeren Augenwinkel ein wenig melancholisch
wirkten, waren die seiner Mutter. Ansonsten war er ganz und
gar nach dem Adonis geraten. »Er sieht ein bisschen aus wie
Rory Van Slyke«, stellte Anna fest. Allerdings war »aussehen«
nicht ganz das richtige Wort. Die beiden Jungen ähnelten sich
zwar oberflächlich, doch es waren vor allem die Augen, die
diesen Eindruck erweckten. Sie blickten so eindringlich drein,
wie es bei einem derart jungen Menschen eigentlich nicht sein
sollte. So, als hätte er in der Zeit, die für andere eine unbeschwerte
Kindheit war, schon genug vom Leben gesehen, um
davon enttäuscht zu sein.
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete Joan.
Ihr Tonfall hatte etwas Wehmütiges. Joan vermisste ihre
Söhne und hatte den jungen Van Slyke vielleicht aus den Mitgliedern
von Earthwatch herausgepickt, weil er sie an Luke erinnerte.
Offenbar hatte Joan bemerkt, dass sie sich eine Blöße
gegeben hatte, und empfand das als peinlich. Jedenfalls war
der Moment der Vertrautheit vorbei.
»Berichte über Begegnungen mit Bären«, verkündete sie
gekünstelt fröhlich. »Da wird einem nie langweilig. Ich lese
dir einen vor.« Die Formulare waren ein Versuch, jedes Zusammentreffen
mit einem Bären im Park zu dokumentieren.
Touristen und Parkmitarbeiter füllten sie aus, um das Verhalten
und den Aufenthaltsort der Grizzlys und ihrer weniger
beängstigenden Cousins, der Schwarzbären, nachzuvollziehen.
Die Formulare hatten Spalten, in die man den Ort der
Beobachtung, das Datum, die Uhrzeit, den eigenen Namen,
die Farbe des Bären und was man gerade getan hatte eintragen
konnte. Am unterhaltsamsten, wenn auch nicht immer am
aufschlussreichsten, war die Spalte für die Kommentare, in
der das Verhalten des Bären geschildert wurde.
Joan kramte in den Berichten. Anna bemerkte, dass
sie dabei unauffällig die Fotos ihrer Söhne in die andere
Richtung drehte. »Hier haben wir es. Hör dir das an: ›Großer
Bär. Gewaltig, ein wahrer Riese, ein richtiger Brocken. Fünfhundert
bis sechshundert Kilo.‹«
»Zu groß?«
»Bei Weitem. Im Glacier werden die Grizzlys nicht so groß
wie in Alaska, wo sie Zugriff auf eiweißreiche Lachse haben.
Hier wiegt ein durchschnittliches Männchen hundertfünfundsiebzig
bis zweihundert Kilo, die Weibchen ein bisschen
weniger. Wir bekommen viele übertriebene Berichte. Aber ich
mache es den Leuten nicht zum Vorwurf. Wenn man allein
im finsteren Wald ist und plötzlich vor einem Bären steht,
verdoppelt das Biest meistens seine Größe.«
Joans gute Laune wirkte aufgesetzt. Das Gleichgewicht war
noch nicht wieder hergestellt. Die Geister von Matthew,
Mark, Luke und John schwebten weiterhin über den Röhrchen
für die Kotproben. Anna fragte sich, ob es mit den
Jungen Probleme gab oder ob es an Joan lag.
»Ich habe hier einen guten«, versuchte sie, die Situation
zu überspielen. Sie blätterte zurück, bis sie ein mit fliederfarbenem
Tuschestift ausgefülltes Formular vor sich hatte.
»5. August. Kein Ort. Keine Uhrzeit. Kein Name. Spezies:
Grizzly. Alter: sechsundzwanzig. Farbe: blond. Keine Ahnung,
was das heißt. War der Bär sechsundzwanzig und blond oder
der Beobachter?«
»Blond kommt bei unseren Bären selten vor.«
»Das ist aber noch nicht das Komische. Hör zu.« Anna las
die Spalte für die Kommentare vor. »›Verhalten des Bären:
jonglieren mit etwas, das wie ein Igel aussah. Verhalten des
Beobachters: dastehen und staunen.‹«
Als Joan lachte, legte sich die Anspannung wieder.
Anekdoten über die Albernheiten der Touristen waren ein zuverlässiges
Mittel, um Normalität in den Parkalltag einkehren
zu lassen. »Solche Berichte bestätigen mir immer wieder, dass
Timothy Leary noch lebt und mit Elvis Drogen einwirft«,
sagte die Forscherin.
Es war nach zehn in Joans Gästezimmer, das wie jedes Gästezimmer
in einer Unterkunft für Parkmitarbeiter, in dem
Anna je übernachtet hatte, mit einer eigenartigen Mischung
aus Möbeln mit starker Tendenz in Richtung Fünfzigerjahre
und Wal-Mart eingerichtet war. Der Wandschrank enthielt
die üblichen Rucksäcke, Wintermäntel und für Minustemperaturen
geeignete Schlafsäcke. Anna lag, eine alte, schon oft
gelesene Ausgabe von The Wind Chill Factor auf der Brust,
wach im Bett. Wie damals als Kind erkannte sie die Umrisse
von Tieren in den Wasserflecken an der Decke und dachte an
die anstehende Wanderung.
Es war schon Monate her, dass sie etwas Anstrengenderes
unternommen hatte, als auf ihrem Allerwertesten im
Streifenwagen zu sitzen. Die schwersten Gegenstände, die sie
für gewöhnlich hob, waren der Block mit den Bußgeldformularen
und ein Kugelschreiber aus Behördenbeständen.
In ihrer Verzweiflung hatte sie sich sogar für einen Aerobic-
Kurs im baptistischen Gesundheitszentrum in Clinton,
Mississippi, eingeschrieben, war jedoch nur zweimal hingegangen.
Eine Voraussetzung für die Teilnahme an der Fortbildungsmaßnahme
war die Fähigkeit, einen fünfundzwanzig
Kilo schweren Rucksack zu tragen. Anna hatte nicht gelogen.
Sie konnte fünfundzwanzig Kilo tragen. Nur wie weit, das
würde sich noch zeigen.
Sie hoffte, dass sie die anderen nicht aufhalten würde.
Außerdem hoffte sie, dass Rory Van Slyke, der Joans abwesenden
Söhnen auf so unheimliche Weise ähnelte, für die
Forscherin nur einen Transporteur des Blutes geopferter Kühe
verkörperte - nicht die Geister tot geborener Apostel.
Auch eine Begegnung mit ein paar Bärenjungen wäre
schön gewesen.
Solange die Bärenmama sie nicht entdeckte.
2
Da Joan Rand eine kleine Frau mit großem Verstand war,
bewegte sich das Gewicht der Rucksäcke eher im Bereich
zwanzig als fünfundzwanzig Kilo, eine Tatsache, für die Anna,
wie sie wusste, im Laufe des Tages zunehmend dankbar sein
würde. Die ersten viereinhalb Kilometer Fußmarsch führten
geradeaus durch verhältnismäßig ebenes Terrain. Bei der
zweiten Etappe ging es über steile Serpentinen achthundert
Meter bergauf.
Rorys Rucksack war ein wenig schwerer, wie es sich für ein
jüngeres, stärkeres, höher gewachseneres und vor allem
untergeordnetes Mitglied einer Expedition gehörte. Achthundert
Meter waren eine Strecke, die Anna in ihrer Zeit im
Guadalupe Mountains National Park zweimal pro Woche
zurückgelegt hatte, um von ihrem Stützpunkt aus das Hochland
zu erreichen. Obwohl sie damals jünger, kräftiger und
durchtrainierter gewesen war, hatte sie die Kletterpartie als
mörderisch empfunden.
Ein Mitarbeiter des Teams, dessen Aufgabe es war, bei
Auseinandersetzungen zwischen Bären und Touristen zu
vermitteln, nahm sie mit dem Auto ein Stück die berühmte
Going to the Sun Road hinauf mit, die durch den malerischsten
Teil des Nationalparks führte. Die Straße war in den
Zwanziger- und Dreißigerjahren erbaut worden, als Arbeitskräfte
noch genauso billig gewesen waren wie Wildnis wertlos.
Er setzte sie in Packer's Roost ab, einer Station für Reiter
und Wanderer am Fuße des Flattop Mountain.
Anders als einige Parks, in denen Anna gearbeitet hatte, war
der Glacier eine ursprüngliche, keine wiederhergestellte
Wildnis. Der Großteil des Gebiets war von Holzwirtschaft,
Bergwerksgesellschaften und Viehzucht verschont geblieben.
Die Bäume waren alt, und das Land trug nur die Narben von
Naturphänomenen wie Waldbränden, Überschwemmungen
und Lawinen. Lediglich die alte Brandschutztrasse, der sie am
Anfang des Berghangs folgten, war eine der seltenen Ausnahmen.
Da man sie damals von Bäumen befreit und anschließend
sich selbst überlassen hatte, hatte sie etwas Märchenhaftes an
sich. Ein breiter Streifen aus zartgrünem Moos bildete den
Rand des ausgetretenen schmalen Pfades und ähnelte einem
mit winzigen, sternförmigen Blüten bewachsenen natürlichen
Teppich. Über ihren Köpfen sperrten die fedrigen Kronen
von Föhren und Zedern das Sonnenlicht aus. Ein kräftiger,
berauschender Duft, wie man ihn nur in den Bergen des Westens
findet, lag in der Luft. Mit jedem Atemzug fühlte Anna
sich in eine andere Welt versetzt und schwelgte beim Gehen
in angenehmen Erinnerungen an die südlichen Cascades in
Lassen Volcanic und dem Zipfel der Rocky Mountains in
Durango, kurz bevor das alpengleiche Grün an den roten Tafelbergen
von New Mexico endete.
Die Einheimischen in Montana beschwerten sich über eine
ungewöhnliche Hitzewelle, dank derer die Quecksilbersäule
auf um die dreißig Grad gestiegen war. Doch Anna, die
gerade einem August in Mississippi entronnen war, genoss die
Kühle und den Schatten.
Joan marschierte, gefolgt von Rory, voran. Anna bildete die
Nachhut. Im Laufe der Jahre hatte sie die Erfahrung gemacht,
dass es möglich war, sich aus der Gesprächszone herauszuhalten
und sich am Alleinsein zu erfreuen, wenn man einfach
langsamer wurde und ein wenig zurückblieb. Hier kam
auch noch die Stille hinzu.
Nichts rührte sich. Kein Vogel flatterte in den Baumkronen
und brachte Nadeln und Laub zum Rascheln. Kein Insekt
summte. Kein Eichhörnchen schnatterte im Geäst und beschwerte
sich über die Ruhestörung. Anna fragte sich, ob in
den Wäldern im Westen schon immer ein so ungewöhnliches
Schweigen geherrscht hatte. Oder waren ihre Ohren inzwischen
an das ständige Konzert des Lebens gewöhnt, das in
den Wäldern des tiefen Südens aufgespielt wurde?
Möglicherweise hatte ja auch ein riesiges Raubtier mit
spitzen Zähnen die Geschöpfe des Waldes vorübergehend
zum Verstummen gebracht.
Anna wartete auf den wohlig-gruseligen Schauder, der eigentlich
auf einen solchen Gedanken folgen musste, doch
diesmal ausblieb. Ihre Todesangst vor Feuerameisen erstreckte
sich offenbar nicht auf Grizzlys. Sie merkte Rory an, dass er
ihre Gelassenheit nicht teilte. Auf der Fahrt hierher hatte der
Parkmitarbeiter sie mit der Schilderung eines Bärenangriffs
unterhalten, mit dem er vor zwei Sommern zu tun gehabt
hatte. Im Gebiet Middle Fork am südlichen Rand des Parks
waren drei Wanderer verwundet worden.
Joan, die zwar Mitleid mit den bedauernswerten Touristen
hatte, jedoch eindeutig für den beschuldigten Bären Partei ergriff,
hatte daraufhin ihre Version der Ereignisse zum Besten
gegeben. Nur in den seltensten Fällen kämen Menschen zu
Tode. Grizzlys, erklärte Joan, griffen normalerweise nicht in
der Absicht an, den Betreffenden aufzufressen. Sie behielten
ihre Jungen zwei oder sogar drei Jahre bei sich und seien deshalb
neben Menschen und Menschenaffen die Lebewesen, die
die längste Zeit mit der Aufzucht ihres Nachwuchses verbrächten.
Sie zeigten den Kleinen, wie man überlebte, wo
man in trockenen Jahren Wasser fand, welche Pflanzen essbar
waren und wo sie wuchsen. Eine Grizzlybärin sei erst mit
sechs Jahren fortpflanzungsfähig und brächte im Laufe ihres
Lebens nur fünf bis zehn Junge zur Welt. Die Folge daraus sei
ein stark ausgeprägter Beschützerinstinkt. Wenn sie jemanden
- sei es ein anderer Bär oder ein Mensch - als Bedrohung
wahrnähme, habe sie also nicht die Absicht, ihn zu fressen,
sondern nur, ihm ordentlich Angst einzujagen.
Ganz selten griffe sie eine Gruppe von vier oder mehr Per-
sonen an, da sie die Gefahr für sich und ihre Familie als übermächtig
einschätze und sich deshalb für die Flucht entschiede.
Deshalb empfehle die Parkverwaltung Besuchern,
sich niemals allein auf den Weg zu machen.
Der fragliche Bär war von zwei Wanderern überrascht
worden, hatte sich auf sie gestürzt und sie verletzt - »So
schlimm war es offenbar nicht«, fügte Joan hinzu. »Sie
konnten noch gehen.« - und war dann auf seiner Flucht mit
einem dritten Pechvogel zusammengestoßen.
»Es ist niemand ums Leben gekommen«, betonte Joan.
»Wenn der Bär sie hätte umbringen wollen, wären sie jetzt
tot. Wenn er Lust gehabt hätte, sie aufzufressen, hätte er sie
weggeschleppt, es getan und die Reste für später in einer
flachen Grube versteckt. Ergo hatte der Bär weder vor, sie zu
töten, noch, sie zu verspeisen.«
Nach Rorys Miene zu urteilen, war »sie zu töten und zu
verspeisen« das Einzige, was von dem Vortrag hängen geblieben
war. Seit sie unterwegs waren, spähte er immer wieder
in den Wald wie ein Mann auf der Flucht.
Anna war überzeugt, dass sie es nicht bemerken würden,
falls ein Bär sie beobachten oder verfolgen sollte. Da im
Glacier im Winter tiefer Schnee lag und es im kurzen
Sommer jeden Nachmittag regnete, hatten die Wälder hier
nicht die offene, an eine Kathedrale erinnernde Gestalt wie
die an den östlichen Hängen der Sierra oder am Südzipfel der
Cascades. Im Glacier war der Boden dick mit toten und
umgestürzten Bäumen bedeckt, die nie verbrannt oder fortgeschafft
worden waren. An manchen Stellen lagen sie, geschichtet
wie Mikadostäbchen, übereinander. Farne, Heidelbeeren,
Bärentrauben, Elsbeeren, die schulterhohe schwarze
Himbeere mit ihren breiten Blättern und eine Vielzahl weiterer
Pflanzen, die Anna nicht beim Namen nennen konnte,
rankten sich zwischen dem verrottenden Holz.
Und ein Bär, der sich verstecken wollte, würde das auch
tun.
Als Anna ihren Gedanken in den Wald folgte, wurde ihr
zum ersten Mal klar, was für eine Plackerei es werden würde,
sich querfeldein durchs Unterholz zu kämpfen, um die Fallen
zu kontrollieren und zu versetzen. Insgeheim war sie erleichtert,
dass das Hochland ihr Ziel war, das zum Teil oberhalb
der Baumgrenze lag. Dass ein gutes Stück außerdem dem
Waldbrand von 1998 zum Opfer gefallen war, würde das Vorwärtskommen
auch ein wenig erleichtern.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie, als sie um eine
Kurve bog, beinahe mit Rory Van Slyke zusammengeprallt
wäre. Auf der von den Wildhütern herausgegebenen Liste von
Verhaltensweisen zur Gefahrenabwehr im Land der Bären
stand »Sei immer aufmerksam« gleich hinter »Gehe niemals
allein los«. Bis jetzt hatte Anna in beiden Punkten kläglich
versagt.
»Hier hätten wir einen«, stellte Joan gerade fest, als Anna
angestolpert kam. »Das ist einer der Scheuerbäume, die wir
markiert haben. Ihr müsst nach einer gelben Raute wie dieser
Ausschau halten.« Sie wies auf ein Stück reflektierenden
Kunststoff, der in einer Höhe, die ein Durchschnittsmensch
gerade mal mit dem Hammer erreichen konnte, an den
Stamm genagelt war.
»Wir nummerieren sie auch, damit wir genau wissen, an
welchem Baum eine Probe sichergestellt wurde. Die Nummern
stehen auf der Rückseite des Baums unten am Stamm.
Wir wollen die Bäume zwar im Auge behalten, aber nicht
jeden Wanderer im Park darauf aufmerksam machen.«
»Wofür ist der Stacheldraht?«, fragte Rory. Im gleichen
Moment bemerkte Anna die Stückchen, die in unregelmäßigen
Abständen an den Baum geheftet waren.
»Das kratzt sie ein bisschen tiefer und zieht die Unterwolle
heraus, an der mit größerer Wahrscheinlichkeit ein wenig
Haut hängt, sodass wir leichter an die DNA-Proben herankommen.
«
»Macht sie das nicht wütend?« Rory stand die Furcht vor
einem aufgebrachten Grizzlybären, der sich womöglich in der
näheren Umgebung herumtrieb, ins Gesicht geschrieben.
»Nein«, beruhigte ihn Joan. »Sie mögen das. Das haben wir
daran festgestellt, dass sie die mit Draht versehenen Bäume
nicht meiden. Sie scheinen sie sogar vorzuziehen. Siehst du
die Spuren?«
Das Moos wies die Tatzenabdrücke vieler Bären auf, die
den Weg vom Scheuerbaum zum Pfad genommen hatten.
Zwei Abdrücke waren vom Hinundhertreten auf der Stelle
größer als die anderen.
»Spitze, was?« Anna musste zustimmen.
»Funktioniert das mit dem Pfefferspray wirklich?«, erkundigte
sich Rory.
»Es ist das gleiche Spray, das wir auch in der Polizeiarbeit
benutzen«, erwiderte Anna. »Es besteht aus einem Extrakt aus
superscharfen Chilischoten. Wahrscheinlich klappt es also
auch bei Bären. Außer sie haben Geschmack an mexikanischem
Essen gefunden. Dann könnte es appetitanregend
wirken.«
Joan warf ihr einen Blick zu, der zwar einerseits belustigt
war, aber andererseits klarstellte, dass Rory zu ärgern als Zeitvertreib
eindeutig ausschied. »Wir werden gar nicht erst in
eine Situation geraten, in der wir die Probe aufs Exempel
machen müssen«, verkündete sie mit Nachdruck.
»Rory, du bist wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Die
meisten Jungen lieben Bären. Ich bekomme sogar Fanpost,
weil ich die Bärenfrau vom Glacier-Nationalpark bin.« Joans
Tonfall war zwar freundlich wie immer, dennoch konnte man
nicht überhören, dass die Forscherin gekränkt war. Schließlich
machte Rory mit seiner Angst die Bären schlecht. »Ein
Junge schickt mir alle paar Tage eine Mail. Er zeichnet eine
Karte und möchte wissen, wohin die Bären zum Fressen
ziehen.«
»Ich mag Bären«, verteidigte sich Rory.
»Das wirst du schon noch«, versprach Joan.
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Copyright der Originalausgabe © 2001 by Nevada Barr
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by
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Übersetzung: Karin Dufner
Projektleitung: Librisco Consult
Redaktion: Sandra Lode
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© Paul Aniszewski;
© Aaron Amat; © sobur)
Satz: Lydia Kühn
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-449-6
2014 2013 2012 2011
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Autoren-Porträt von Nevada Barr
Nevada Barr stammt aus der Kleinstadt Yerington im US-Bundesstaat Nevada. Sie war lange als Schauspielerin tätig und verfasste nebenbei Reiseführer und Restaurantkritiken. Aus Interesse an Natur- und Umweltthemen arbeitete sie jahrelang im Sommer in amerikanischen Nationalparks. Inzwischen ist sie ausschließlich als freie Autorin tätig. Die Romane um die Park-Rangerin Anna Pigeon wurden mehrfach ausgezeichnet und sind in den USA Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nevada Barr
- 2012, 325 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863657012
- ISBN-13: 9783863657017
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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