Der Tod hat scharfe Krallen
Dixie Hemingway, Katzensitter aus Leidenschaft, hat einen neuen Auftrag: Sie kümmert sich um Cheddar, eine rote Kurzhaarkatze, deren Besitzer krank ist. Doch bald hat die Hobbyermittlerin auch einen neuen Fall, denn Mr. Stern ist nicht nur der...
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Produktinformationen zu „Der Tod hat scharfe Krallen “
Dixie Hemingway, Katzensitter aus Leidenschaft, hat einen neuen Auftrag: Sie kümmert sich um Cheddar, eine rote Kurzhaarkatze, deren Besitzer krank ist. Doch bald hat die Hobbyermittlerin auch einen neuen Fall, denn Mr. Stern ist nicht nur der Großvater einer hinreißenden kleinen Enkelin, er ist auch in dunkle Machenschaften verstrickt. Und es gibt einflussreiche Leute, die auch vor der Entführung eines Babys nicht zurückschrecken, um ihre schwarzen Millionen zu retten. Dixie Hemingway heftet sich an ihre Fersen. Und das alles auf eigene Faust ...
Lese-Probe zu „Der Tod hat scharfe Krallen “
Der Tod hat scharfe Krallen von Blaize Clement1
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Ich habe gelesen, dass zwei Quantenteilchen, wenn sie aufeinanderprallen - wenn sie sich beispielsweise im subatomaren Supermarkt bei den Milchprodukten zufällig anrempeln -, auf geheimnisvolle Weise, die keiner so richtig versteht, für immer miteinander verbunden bleiben. Die beiden können noch so weit voneinander entfernt sein, was dem einen zustößt, beeinflusst das andere. Aber nicht nur das, sie werden eine irgendwie unheimliche, unbeschreibliche Form von Kommunikation aufrechterhalten und über Raum und Zeit hinweg ständig Informationen miteinander austauschen.
Ruby und ich waren ein bisschen so wie diese sonderbaren Teilchen. Von dem Moment an, als ich die Tür öffnete und sie mit ihrem Baby im Arm dastehen sah, spürten wir eine starke Verbundenheit, die eigentlich keine von uns beiden wirklich beabsichtigte. Es war eine Kraft, der wir einfach nicht widerstehen konnten.
Ich traf Ruby an jenem Morgen, als ich zum ersten Mal im Haus ihres Großvaters vorbeischaute. Ihr Großvater, Mr Stern, hatte silbergraues Haar und war eine drahtig schlanke, kerzengerade Erscheinung. Mr Stern hatte sich beim Tennisspielen einen Bizepsriss zugezogen. Er war nicht die Sorte Mann, die deswegen viel Aufhebens gemacht hätte, sein Arzt jedoch hatte darauf bestanden, dass er den Arm vorläufig in einer Schlinge tragen sollte. An der Stelle kam ich ins Spiel. Mr Stern lebte mit einer roten American Shorthair zusammen und hatte mich gebeten, ihm zweimal täglich bei der Versorgung seiner Katze zu helfen, bis sein Arm wieder intakt war. Als wir die Vereinbarung getroffen hatten, hatte keiner von uns beiden gewusst, dass Ruby mit ihrem Baby im Anmarsch war. Wir hatten auch nicht gewusst, was wir beide in den kommenden Tagen durchmachen würden, nicht körperlich, sondern vor allem psychisch.
Ich heiße Dixie Hemingway, weder verwandt noch verschwägert mit Sie-wissen-schon, und bin Tiersitterin auf Siesta Key, einer halbtropischen Barriereinsel vor der Küste von Sarasota, Florida. Bis vor fast vier Jahren war ich Deputy im Sheriff 's Departement von Sarasota County. Ich trug eine Waffe und hatte sogar Preise für meine Schießkünste eingeheimst. Verbrechensschauplätze betrat ich mit jenem lockeren Selbstvertrauen, das auf Ausbildung und Erfahrung basiert. Ich glaubte an mich, glaubte daran, dass ich jede Situation meistern würde, die auf mich zukam, weil ich stark war, tough, und weil ich die Dinge im Griff hatte. Wenn ich ruhig in den Spiegel sah, blickten mir zwei furchtlose Augen entgegen. Dann jedoch explodierte meine Welt, zerfiel in Myriaden scharfkantiger Splitter, und dieser furchtlose Blick war für immer dahin.
An jenem Donnerstagmorgen Mitte September, als ich Mr Stern und Ruby erstmals begegnete, ging es mir seit geraumer Zeit wieder besser. Ich hatte mich am eigenen Schopf herausgezogen aus dem kalten, dunklen Loch der Verzweiflung und hatte wieder Spaß am Leben gefunden. Sogar auf das Wagnis einer neuen Liebe hatte ich mich wieder eingelassen. Eigentlich war ich glücklich. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich unvorsichtig wurde und mir dadurch eine Menge Ärger aufhalste.
Normalerweise besuche ich meine Kunden vorab, um die Tiere kennenzulernen und um ihren Besitzern schriftlich zu bestätigen, dass ich Verbandsmitglied und vorschriftsgemäß versichert bin. Wir besprechen meine Aufgaben und mein Honorar, und wir machen einen Vertrag. Aber da die Sache bei Mr Stern irgendwie dringlich schien, war mein erster Besuch bei ihm zugleich mein erster Arbeitstag.
Mr Stern wohnte in einer der älteren Gegenden am nördlichen Ende von Siesta Key; als auf dem Immobilienmarkt Südwestfloridas eine Art Massenhysterie ausbrach, wurden dort nette Häuschen, die vielleicht gerade mal 200 000 Dollar wert waren, als Abrissbuden verkauft, um an ihre Stelle millionenteure Paläste zu setzen.
Mr Sterns Haus war ein einstöckiger bescheidener Bau in einem satten Kobaltton. Ein solches Haus, kobaltblau, wäre andernorts auf der Welt vielleicht als exzentrisch aufgefallen, auf Siesta Key jedoch, wo sich die Häuser hinter einem dichten Pflanzengewucher von Grün, Rot und Gold verstecken, scheint das genau der Farbton zu sein, den Gott für Häuser als passend vorgesehen hatte. Es stand zu dicht an einem pompös protzigen Palast auf der einen Seite, mit einem weiteren Prunkbau auf der anderen Seite, zu dem ein weitläufiger, ungepflegter Rasen gehörte. Auf dem Rasen stand ein Schild, das die unmittelbar bevorstehende Zwangsversteigerung des Anwesens ankündigte - ein ziemlich deutlicher Hinweis darauf, dass der Immobilienboom ein Ende gefunden hatte und der Geldwert einer Immobilie von nun an wieder auf ihrem tatsächlichen Wert basieren würde, anstatt von vorübergehenden menschlichen Launen abzuhängen.
Mr Stern war so schlank wie ein Halm Dünengras, hatte korrekt gekämmtes graues Haar, buschige Brauen über eindringlich blauen Augen und eine so kerzengerade Haltung, dass sich die Frage erübrigte, ob er vielleicht mal beim Militär gewesen wäre. Er ließ es mich sowieso gleich wissen. Er erzählte mir auch, dass er mit Katzen gar nichts am Hut habe und nur deshalb eine besäße, weil seine Enkelin ihre Katze zurückgelassen und er diese nun am Hals hätte. Während er mir das sagte, hielt er Cheddar, so hieß der Kater, sanft in seinem gesunden Arm umfasst.
Die »American Shorthair« ist eine typisch amerikanische Katze. Ihre Vorfahren kamen mit den ersten Siedlern ins Land. Sie erwiesen sich als hervorragende Mäusejäger - die Katzen, nicht die Siedler - und waren berühmt für ihr schönes Gesicht und ihr sanftmütiges Wesen. Letzteres vor allem kann man von den ersten Siedlern wahrlich nicht behaupten.
Cheddar zeigte sich gänzlich ungerührt angesichts der wenig freundlichen Äußerung seines Herrchens gegenüber Katzen. Tatsächlich schienen sich seine Lippen sogar leicht nach oben zu einem heimlichen Lächeln zu verziehen, und ab und zu sah er mich an und zwinkerte mir zu, als gäbe er mir quasi auf Katzenart zu verstehen, Unter uns gesagt, was der so von sich gibt, ist sowieso lauter Quatsch.
Nachdem Mr Stern mir klargemacht hatte, dass mit ihm nicht zu spaßen sei, führte er mich kurz durchs Haus. Viel dunkles Leder, noch dunkleres Holz, Gemälde in wuchtigen Goldrahmen, grüppchenweise hier und da ein paar Fotos an den Wänden verstreut, eine bis unter die Decke zugestellte Bibliothek, in der es leicht nach verschimmeltem Papier und abgestandenem Pfeifentabaksqualm roch. Die einzige Ausnahme bildete ein sonnendurchflutetes Zimmer mit Blümchentapete und Kinderbettchen in einer Ecke. Sonst entsprach das Haus haargenau dem Bild eines kultivierten Gentlemans und Eigenbrötlers, der selten Gäste empfing.
Im Esszimmer öffnete Mr Stern mit großer Geste eine zweiflügelige Glastür auf einen großen, stellenweise mit Terrakotta gepflasterten Gartenhof. »Das hier ist unser Lieblingsplatz. «
Ich konnte gleich sehen, warum. Verputzte Mauern erstreckten sich bis zu einer Höhe von gut viereinhalb Metern, blühende Kletterpflanzen rankten daran empor. Schmetterlinge und Kolibris mit rubinroter Kehle umschwirrten die Blüten von Trompeten-Geißblatt, Carolina-Jasmin, Feuerstrauch und Klettertrompete. Umrahmt wurde der Hof von einem dichten Gewirr aus Kanadischem Schneeball, Orangenraute, Taubenbeere, Gelber Trompetenblume, Feuerbusch und Zylinderputzer. Den Mittelpunkt bildete ein Bassin mit einer Umrandung aus Felsgestein, das an drei Seiten zusätzlich mit Astern, Seidenblumen, Goldraute, Lobelien und Verbenen bepflanzt war, während sich an seiner Rückseite ein sanfter Wasserstrom über kunstvoll aufgeschichtete schwarze Felsen ergoss. Im Inneren des Bassins zogen unterarmgroße, orangefarbene Fische zwischen Seerosen und grünen Wasserpflanzen träge ihre Bahnen.
Cheddar entwand sich aus dem Arm seines Herrchens und machte einen Satz auf den Verandaboden, um von dort aus stracks auf das Wasserbecken zuzumarschieren, wo er mit jener begeisterten Verzückung, mit welcher Frauen gemeinhin vor Sonderangeboten von Jimmy Choo stehen, die Koi-Karpfen betrachtete.
Ich sagte: »Traumhaft schön.«
Mr Stern nickte stolz. »Die Lücken zwischen den Steinen machen den Wasserfall zu einer Art Musikinstrument. Den Klang kann ich durch eine Veränderung des Wasserdrucks beliebig verändern. Ich kann es murmeln lassen, gurgeln oder tosen, einfach indem ich an einem Rädchen drehe. Bei Dunkelheit kann ich verschiedenfarbige Lichter in den Zwischenräumen über Zeitschaltuhren abwechselnd aufleuchten lassen oder herunterdimmen. Je nachdem. Cheddar und ich sitzen manchmal bis Mitternacht hier draußen, hören dem Wasserfall zu und beobachten die Lichtshow.«
So redet ein Mann normalerweise nur von der trauten Zweisamkeit mit seiner Frau oder der Geliebten. Ich fand es rührend und irgendwie süß zugleich, dass Mr Stern im Grunde seines Herzens ein Romantiker war, der nach außen Strenge demonstrierte, seine sensiblen Seiten jedoch mit einer Katze teilte.
Ein sirrendes Geräusch wie von Flügeln ließ uns hinauf zu einem über uns kreisenden Fischadler blicken. Er hielt die Kois auf dieselbe Art wie Cheddar im Auge, aber das Risiko, dass er einen erwischen würde, war wesentlich größer. Fischadler besitzen die Fähigkeit, aus der Luft herunterzustoßen und sich in Sekundenschnelle einen Fisch aus dem Wasser zu greifen. Während ich den Fischadler beobachtete, sah ich eine dunkelhaarige Frau aus einem der oberen Fenster des noch bewohnten Nachbarhauses schauen. Sie wandte den Kopf zur Seite, als hätte sie etwas abgelenkt, und war schon im nächsten Moment verschwunden. Da erschien eine andere Frau. Sie war älter und hatte die Frisur einer Business-Frau, exakt und professionell gemacht. Als sie mich sah, war sie plötzlich wie geschockt und machte ein wütendes, böses Gesicht. Dann schloss sie ruckartig die Gardinen, und mir blieb nur der Blick auf das strahlende Weiß des Vorhangfutters.
Die gespeicherte Hitze des Terrakottabodens kroch an meinen nackten Beinen hoch, aber oben um meine Schultern zog es plötzlich kühl. So unwahrscheinlich es schien, die Feindseligkeit der Businesslady war durchaus persönlich gemeint und galt eindeutig mir.
Der Fischadler zog einen weiteren Kreis, blieb dann momentlang über der Mauer in der Luft stehen und streckte seine staksigen Beine aus, um zu einer Landung auf der Mauer anzusetzen. Just in dem Moment jedoch, als seine Krallen das Trompeten-Geißblatt gerade streiften, stieg er in die Höhe und flog davon.
Mr Stern lächelte verschmitzt. »Diese Vögel sind verdammt klug. Die Oberseite der Mauer ist nämlich mit einer Spirale von Bandstacheldraht gesichert. Sie liegt unter den Blüten unsichtbar verborgen, aber dieser Fischadler spürte die Gefahr.«
Der Schatten des Fischadlers hatte auch die Kois gewarnt. Alle waren sie unter Felsen und Seerosenblättern verschwunden. Es war klug von den Kois, in Deckung zu gehen, denn in dem von Mr Stern geschaffenen Gartenparadies befanden sich Leben und Tod in einer genau austarierten Balance.
Hätte ich hellsichtig in die Zukunft blicken und also wissen können, dass in diesem Moment Ruby aufkreuzen und Gefahr für uns alle bringen sollte, wäre ich dem Beispiel des Fischadlers und der Kois gefolgt. Ich hätte mich versteckt, bis die Gefahr vorüber gewesen wäre, oder ich wäre auf der Stelle getürmt und nie wieder zurückgekommen. Aber ich besitze nun mal keine übernatürlichen Kräfte, und der finstere Blick der Frau von nebenan mochte noch so beunruhigend sein, Angst hatte ich trotzdem keine.
Wenigstens noch nicht.
2
Mr Stern hob Cheddar mit seinem gesunden Arm hoch, und ich folgte den beiden ins Haus. Dort platzte ich mit der Frage an Mr Stern heraus, ob er denn die Frau von nebenan vielleicht kennen würde. Dabei war mir durchaus klar, ich hätte lieber den Mund halten sollen. Schließlich lautet eine Kardinalregel für Leute, die in fremden Häusern arbeiten, tunlichst bloß keine neugierigen Fragen über die Bewohner oder deren Nachbarn zu stellen.
Ohne auf meine Frage einzugehen, sagte Mr Stern: »Cheddar nimmt gerne ein pochiertes Ei zum Frühstück. Wissen Sie, wie man so was zubereitet?«
Ich sagte: »Wie wär's, wenn ich ein weichgekochtes Ei für Sie zubereite, während ich für Cheddar eines pochiere?« Menschenwesen zu versorgen, gehört nicht zu meinen Aufgaben, aber irgendetwas an Mr Sterns Auftreten - harte Schale, weicher Kern - erinnerte mich an meinen Großvater, einen Mann, den ich von ganzem Herzen liebte.
Er sagte: »Kochen Sie drei für mich, eins etwas länger, damit es hart wird. Das esse ich dann zu Mittag.«
Während ich Cheddar das pochierte Ei servierte, holte sich Mr Stern einen Teller und nahm am Küchentresen Platz. Ich sagte: »Wie wär's? Soll ich Ihnen vielleicht auch Toast und Kaffee machen?«
»Ich brauche kein Kindermädchen, Ms Hemingway.« Er zeigte auf einen kleinen Flachbildfernseher an der Küchenwand. »Wenn Sie bitte so nett wären, den anzumachen. Ich würde mir gerne die Nachrichten ansehen.«
Ich fand die Fernbedienung, schaltete an und reichte das Teil an Mr Stern weiter, der sich mit der freien Hand auf die Hosentaschen klopfte. »Verflixt! Ich hab meine Brille in der Bibliothek vergessen. Wären Sie so lieb, sie mir zu holen?«
Prompt düste ich in die Bibliothek, um nach seiner Brille zu sehen, und fand sie auf einer Kommode vor einem kleinen Sofa. Als ich sie mir schnappte, klingelte es an der Tür.
Mr Stern rief: »Machen Sie bitte auf? Egal, wer da ist, ich will niemanden sehen.«
Ich rannte zur Tür und öffnete sie mit der Absicht, höflich, aber nicht einladend zu wirken.
Eine junge Frau mit überdimensionaler dunkler Brille und einer tief über dem Blondhaar ins Gesicht gezogenen Baseballkappe stand so dicht vor der Tür, dass sie der Luftzug beim Öffnen fast hereingezogen hätte. Sie trug hautenge Jeans und eine weiße Schlabberbluse, dazu High-Heels, sodass sie mich um etliche Zentimeter überragte. Auf dem Arm hielt sie ein Baby in einem rosa Strampler, von der einen Schulter baumelte eine große Schlauchtasche, von der anderen eine Windeltasche, und die Hand, mit der sie das Baby gegen ihre Brust stützte, umklammerte die Griffe einer beutelartigen ledernen Handtasche. Sie warf einen verstohlenen Blick über die Schulter zurück zu einem Taxi, welches rückwärts aus der Einfahrt rollte. Ich hatte den Eindruck, sie fürchtete, jemand könnte ihre Ankunft bemerkt haben.
Alles an ihr erschien mir merkwürdig bekannt, doch ich hatte keine Ahnung, wer sie war.
Ihr Kopf wandte sich mir zu, auf dem Gesicht dieser Ausdruck, den ich wahrscheinlich auch zeigte, dieses Ich kenne Sie, nein doch nicht.
Sie sagte: »Wer sind Sie?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schnellte sie nach vorne, als hätte sie jedes Recht einzutreten.
Aus der Küche tönte Mr Stern: »Wer war es denn?«
Die junge Frau rief: »Ich bin's, Großpapa.«
Schritte näherten sich, und ich konnte seinen Groll geradezu spüren, eher er überhaupt, gefolgt von Cheddar, in der Eingangshalle erschien.
Seine Stimme klang frostig: »Was willst du hier, Ruby?«
Einen Moment lang wirkte sie enttäuscht, zeigte aber dann den zuversichtlichen Ausdruck eines Kindes, das annimmt, es würde schon klappen, wenn man es nur ein zweites Mal versucht. Sie stellte die Schlauchtasche auf den Boden und nahm die dunkle Brille ab. Ohne diese wirkte sie noch jünger, kaum Anfang zwanzig. Das war der Moment, in dem ich sie erkannte. Sie sah aus wie ich. Nicht wie die Person, die ich jetzt bin, sondern wie jene von vor zehn Jahren. Sie wirkte genauso unglücklich und verzweifelt.
Vielleicht weil ich mich daran erinnerte, wie es sich anfühlte, so unglücklich zu sein, oder vielleicht weil sie mich an eine eigene, nun überwundene Entwicklungsstufe erinnerte, jedenfalls spürte ich ihre Qualen körperlich, als würde mir jemand eine gestachelte Keule gegen die Brust schlagen.
Cheddar trottete zu ihrer Schlauchtasche und schnupperte daran. Dabei sahen wir ihm alle zu, als ob er durch kluges Verhalten diesen peinlichen Moment vielleicht ein bisschen entspannen könnte.
Die Frau sagte: »Ich kann sonst nirgendwo hin, Opi.«
»Warum gehst du denn nicht zu deinem sogenannten Ehemann? Oder hat dich Zack zugunsten einer anderen Rennfahrer-Tussi rausgeworfen?«
Wäre seine Äußerung nicht so voller Verachtung gewesen, man hätte sie auch als kleinen Scherz nehmen können. Aber an seiner Eiseskälte war so gar nichts Spaßiges.
Die Frau jedenfalls hatte ihn verstanden, und ihre Zuversicht war dahin. »Bitte, Opilein, wir machen auch bestimmt keinen Ärger.«
Er schnaubte verächtlich und machte eine abweisende Handbewegung, welche das Baby erschreckte und Cheddar auf die Tasche steigen ließ, von wo aus Cheddar ihn mit Blicken fixierte. Das Baby heulte unvermittelt los, wie Babys das nun mal gerne tun, und Mr Stern wirkte schockiert angesichts der Lautstärke, die so ein kleines Wesen hervorbringen kann. Hier versagte seine Kontrolle. Die junge Frau machte den Eindruck, als würde sie auch gleich losheulen, und begann, das Baby sanft zu wiegen, als ob sie es dadurch beruhigen könnte.
Ich habe einen totalen Narren an Babys gefressen und will sie, sobald mir nur eines unter die Augen kommt, immer sofort knuddeln. Sobald eines weint, reagiere ich wie ein Pawlow'scher Hund, dem schon beim Klang einer Glocke das Wasser im Mund zusammenläuft. Ohne zu fragen, trat ich nach vorne und nahm die Kleine auf den Arm. Ich drückte sie eng an mich, um ihr das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, flüsterte sanfte Laute gegen das schwankende Köpfchen und klopfte im Rhythmus des Herzschlags, den Babys um Mutterleib hören, sanft auf den Rücken. So hatte ich Christy immer beruhigt, als sie noch klein war, und einen Moment lang verlor ich mich in dem Duft von Unschuld und dem Gefühl zarter Haut, die meinen Hals wie Magnolienblätter streifte. Als hätte sie eine erfahrene Hand erkannt, hörte sie auf zu schreien und sah mich mit großen, ernsten Augen an.
Die Frau sagte: »Ihr Name ist Opal.«
»Hübscher Name.«
»Meine Großmutter hieß so.« Mr Sterns Gesicht überschattete die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Schmerz. »Du kannst von mir aus bleiben. Aber eins garantier ich dir, deine Klamotten trägt dir keiner hinterher. Ordnung ist schließlich das halbe Leben.«
Als sie das Baby wieder zu sich nahm, sagte sie: »Schon mit dreizehn habe ich aufgehört, meine Sachen wahllos auf dem Boden rumzuwerfen, Opa.«
Das Baby kräuselte die Unterlippe, als würde es gleich wieder losheulen. Die Frau sagte: »Ich muss die Kleine wickeln und füttern.«
Mr Stern sagte: »Dein altes Zimmer ist unverändert.«
Sollte sie einen Widerspruch darin gesehen haben, wenn sich Mr Stern in einem Moment wie der Wüterich des Jahres verhielt und schon im nächsten Moment sagte, er habe ihr Zimmer komplett unverändert gelassen, dann zeigte sie davon nichts. Indem sie sich nach unten beugte, um die Schlauchtasche zu nehmen, drückte sie Cheddar sanft beiseite und stakste daraufhin durch die Eingangshalle, während Opals Köpfchen auf ihrer Schulter hin- und herbaumelte. Cheddar sprang ihnen vergnügt hinterher.
Mr Stern und ich sahen einander mit nachdenklichen Gesichtern an. Er sagte: »Das ist meine Enkeltochter Ruby. Sie behauptet, sie sei mit einem Dragracing-Rennfahrer namens Zack verheiratet. Vielleicht stimmt's ja auch, ich weiß es nicht. Drag-Rennen jedenfalls sind Beschleunigungsrennen. «
Ich sagte: »Ist sie dieselbe Enkelin, die Cheddar bei Ihnen zurückgelassen hat?«
»Ich hab nur die eine.«
Ich sagte: »Dann werden Sie mich ja wohl jetzt nicht mehr brauchen.«
Er schnaubte. »Ach, auf Ruby ist doch kein Verlass. Ich will, dass Sie weiterhin kommen.«
Angesichts der angespannten Stimmung im Hause Stern beeilte ich mich, Cheddars Toilette sauberzumachen. Ich befand mich in einem Gästebadezimmer am anderen Ende des Flurs, an dem auch das Zimmer mit der Blümchentapete lag, und während ich die Kiste auswusch und mit einer Mischung aus Wasser und Wasserstoffperoxyd nachspülte, hörte ich Ruby mit sanfter Stimme zu ihrem Baby sprechen. Sie klang so wie ich meiner Erinnerung zufolge geklungen hatte, als Christy ein Baby war - die Stimme einer jungen Mutter, für die ihr Kind ein und alles war.
Als ich mit Cheddars Katzenklo fertig war und den Flur entlangging, spähte ich durch die offene Tür des Kinderzimmers. Ruby hatte das Kinderbett vor eine nun offene Schiebetür aus Glas gerollt, die den Zugang zu einer kleinen, sonnendurchfluteten Veranda freigab. Opal und Cheddar lagen zusammen in dem Bettchen. Cheddars Nase berührte Opals Kinn, und Opal fiepte wie ein Entenküken. Ruby strahlte vor Glück. Mr Stern mochte wohl gesagt haben, auf Ruby sei kein Verlass, aber eine Person, die sich Zeit für ihr Baby nimmt und gut zu Tieren ist, steht ganz oben auf meiner Liste vertrauenswürdiger Menschen.
Ich blieb kurz im Flur stehen. »Das Kinderbett ist wunderschön. «
War es auch. Das Design war eindeutig skandinavisch - diese kühlen Regionen bringen offenbar Köpfe mit einem besonderen Sinn für Klarheit und Funktionalität hervor -, und es bestand aus einem auf großen, auf Rollen montierten Metallrahmen. Kopf- und Fußteil waren gepolstert, die Seitenwände bestanden aus mit feinem Netz bespannten, abklappbaren Metallrahmen. Somit vereinigte es alle Vorteile eines regulären Kinderbetts aus Holz, jedoch ohne diese gefährlichen Gittersprossen oder lose sitzendem Gazematerial. Ich war beeindruckt, dass die Menschheit in den sechs Jahren, nachdem ich ein Kinderbett gekauft hatte, so große Fortschritte erzielt hatte. Ruby sah auf und lächelte.
»Schon ich bin als Baby dringelegen. Tatsächlich lag sogar schon meine Mutter in dem Bett, als sie ein Baby war. Ich glaube, es wird gar nicht mehr hergestellt.« Die Vorstellung, dass ein Möbelstück drei Generationen lang hielt, schien ihr kaum fassbar.
Sie nahm Cheddar aus dem Bett und setzte ihn auf den Boden. »Tut mir leid, Cheddar, aber nun ist es Zeit für Opals Nickerchen.«
Kurzhaarkatzen sind vermutlich Taoisten. Sie akzeptieren die Realität, wie sie ist, ohne viel Aufhebens zu machen. Mit ihren kurzen Beinen können sie sowieso keine großen Sprünge machen wie Abessinier oder die Russisch Blau; also beobachtete Cheddar Ruby, wie sie die Seitenwand hochklappte, zog einen Sprung über die Oberkante kurz in Erwägung und gähnte - das Katzen-Pendant zu einem Schulterzucken. Als hätte er von Anfang an vorgehabt, unter Opals Bett zu schlafen, kroch er darunter und rollte sich auf dem Fußboden zusammen. Ich wette, kein Tierarzt wird je eine American Shorthair mit hohem Blutdruck zu Gesicht bekommen.
Ich verabschiedete mich von Ruby und Opal mit einem angedeuteten Winken und verließ die beiden. Mr Stern fand ich in der Bibliothek. Er las weder, noch sah er fern, saß nur auf dem Sofa und starrte vor sich hin. Die Wand hinter ihm zierte eine Ansammlung gerahmter Schwarz-Weiß-Fotos junger uniformierter Männer. Einer davon, ein Hüne mit durchdringenden Augen, war anscheinend ihr Kommandeur. Er sah aus wie die jüngere Version von Mr Stern, und ich fragte mich kurz, ob er sein Sohn sein könnte. Dann erblickte ich ein Banner mit rotem amerikanischen Adler und der Aufschrift: The 281st Engineer Combat Battalion, 1944 und mir wurde klar, dass es sich um Mr Stern selbst handelte. Die Tatsache erinnerte mich daran, dass wir uns nie vorstellen können, welche Geschichte die Menschen haben, denen wir begegnen, vor welche Herausforderungen sie gestellt waren und was für Verluste sie erlitten hatten.
Er sagte: »Ich glaube, Cheddar erinnert sich an Ruby.« Dabei klang er traurig, als fühlte er sich im Stich gelassen.
So behutsam wie möglich sagte ich: »Katzen sind gerne mit Babys zusammen.«
Die Vorstellung, er sei eventuell nicht wegen Ruby, sondern wegen des Babys verlassen worden, schien ihm zu gefallen. Ich meinerseits fand, dass aufgrund der komplexen Emotionen zwischen Mr Stern und seiner Enkelin mein ursprünglich klar umrissener Einsatz in diesem Haus ganz schön kompliziert geworden war.
Ich sagte: »Bis später dann. Heute Nachmittag.«
Als hätte jemand das Signal dazu gegeben, sprang Mr Stern auf und stellte sich kerzengerade in Position. Er begleitete mich bis zur Tür und noch ein Stück weit nach draußen und sah mir zu, wie ich in meinen Bronco stieg. Ich schenkte ihm mein bezauberndstes Lächeln und winkte ihm zu wie bei einer Flottenparade. Daraufhin nickte er feierlich wie ein General zur Begrüßung Untergebener, lief jedoch plötzlich voran und positionierte sich hinter dem Bronco, um mich mit seinem gesunden Arm herauszuwinken.
Ich knurrte. Mr Stern entpuppte sich damit als einer jener Männer, die annehmen, ohne männliche Unterstützung wäre eine Frau am Steuer selbstverständlich verloren. Eine Haltung, die auch die Spannungen zwischen ihm und Ruby teilweise ein bisschen erklärte. Aber okay, sollte er doch glauben, als Mann müsse er einem hilflosen Frauchen dabei helfen, aus einer Einfahrt herauszustoßen. Mir fiel dabei kein Zacken aus der Krone.
Normalerweise hätte ich den Rückspiegel benutzt, um zu sehen, ob hinten frei war, aber mit Mr Stern im Nacken, der mich mit übertriebener Gestik gerade nach hinten herauslotste, fühlte ich mich verpflichtet, mich umzusehen und so zu tun, als würde ich mich nach ihm richten. Als ich jedoch den Kopf nach hinten über die Schulter wandte, sah ich wieder diese jüngere Frau im Nachbarhaus. Dieses Mal war sie an einem der vorderen Fenster, und ich sah sie etwas genauer. Sie war füllig und nicht sonderlich attraktiv, und etwas an ihr wirkte unscharf und verschwommen wie auf diesen alten Sepiaaufnahmen von Einwanderern, die hundert Jahre zuvor in dieses Land gekommen waren. Ich hielt den Blick auf sie gerichtet, bis eine Palme mir die Sicht versperrte, und dann erinnerte ich mich wieder an diesen Mr Stern, der wild gestikulierend auf der Straße stand.
Er war flink wie ein Windhund, das muss ich ihm zugestehen, sprang im richtigen Moment aus dem Weg und tappte rückwärts den Bordstein entlang, wobei er mir mit kreisenden Bewegungen andeutete, doch endlich einzuschlagen. Das Problem war nur, dass er mir die falsche Richtung vorgab.
Aber sei's drum, geschenkt. Parkte ich halt falsch herum aus.
Ich winkte Mr Stern noch einmal zu wie der Star der Flottenparade und fuhr in der falschen Richtung los, vorbei an dem leerstehenden Haus, das zur Versteigerung anstand. Im Rückspiegel sah ich, wie Mr Stern zurückging und seine offene Haustür ansteuerte. Ich sah auch, einen halben Häuserblock hinter mir, eine lange schwarze Limousine am Straßenrand anfahren. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Die Leute in den gehobenen Wohngegenden von Siesta Key fahren ständig in Limousinen zum Flughafen. Es war auch überhaupt nichts Beunruhigendes daran, wie das Auto im selben Abstand hinter mir herfuhr. Die Straße eignete sich nicht zum Überholen, weshalb wir beide gleichmäßig schnell dahinfuhren.
Ich hatte die Absicht gehabt, an einer Seitenstraße zu wenden und zur nächsten Hauptstraße zurückzufahren, aber die Wohnstraßen auf Siesta Key sind nicht lang und an dieser gab es keine Seitenstraße. Letztlich handelte es sich hier um eine Sackstraße, an deren Ende ich einen U-Turn machte. Der Fahrer der Limousine vollzog dasselbe Wendemanöver, und ich spürte mich kurz auf besondere Weise mit ihm verbunden, da wir beide überrascht worden waren. Als ich an Mr Sterns Haus vorbeifuhr, warf ich einen Blick zu den Fenstern, an denen ich die junge Frau gesehen hatte, aber es war nichts zu sehen, außer dem gleißenden Sonnenlicht, das die Fenster reflektierten.
An den Fenstern der Limousine, die dicht hinter mir folgte, war aus demselben Grund auch nichts zu erkennen, denn die Fenster der Limousine waren schwarz gefärbt. Um ehrlich zu sein, es interessierte mich gar nicht, wer in der Limousine saß. Meine Gedanken waren zurückgewandert zu Ruby und ihrer Traurigkeit, zu Opal, einem der süßesten Babys, das ich je gesehen hatte, und zu Mr Stern, der sich kalt und gefühllos gegenüber seinen Mitmenschen zeigte, jedoch zusammen mit seiner Katze im nächtlichen Innenhof die romantischen Lichtspiele auf seinem Wasserfall verfolgte.
Schließlich sagte ich mir, dass jede Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist und dass der Grund für das Unglück von Mr Sterns Familie, worin er auch bestehen mochte, nicht das Geringste mit mir zu tun hatte. Egal, wie sehr ich Rubys Kummer nachvollziehen konnte, egal wie süß ihr Baby war, und egal, wie überzeugt ich davon war, dass sich unter Mr Sterns rauer Schale ein weicher Kern verbarg, es ging mich schlicht und einfach nichts an. Ich war, mit Verlaub, nur eine einfache Tiersitterin, sonst nichts.
An der Einmündung in die Higel Avenue wartete ich eine Lücke in dem in beiden Richtungen dichten Verkehr ab. Schließlich bog ich südwärts rechts ab, gab kräftig Gas. Von der Limousine im Rückspiegel war nichts mehr zu sehen. Stattdessen tauchte direkt hinter mir ein riesiges Insekt mit langen gelben Fühlern und einem schwarz-gelb gestreiften Körper auf. Das Insekt war auf dem Dach eines dunkelgrünen Vans montiert und lenkte meine Gedanken von Ruby und Mr Stern ab, indem ich mich fragte, ob das Ungeheuer wohl als Reklame für einen Tierpräparator oder einen Kammerjäger diente.
Später sollte ich mich fragen, warum ich mich so leicht ablenken lassen konnte. Meine einzige Entschuldigung war die, dass es seit ungefähr sechs Wochen wieder einen Mann in meinem Leben gab. Und daran war ich noch nicht gewöhnt.
3
Nach längerer Entwöhnung wieder liiert zu sein, kommt einer Art von peinlichem Dauerschluckauf gleich. Was normalerweise glatt und reibungslos abläuft, wird von ruckartigen Erkenntnisanfällen unterbrochen. Wie zum Beispiel im Supermarkt, wenn es dich plötzlich reißt und du dich fragst, ob du vielleicht anstatt drei sechs Pfirsiche kaufen solltest - falls er mal bei dir übernachtet und auch gerne einen Pfirsich hätte, wenn du einen isst. Dabei weiß du nicht einmal, ob er Pfirsiche mag, und so stehst du wie eine komplette Idiotin vor den Pfirsichen und fragst dich, wie es sein kann, dass du nicht weißt, ob der Mann, den du liebst, Pfirsiche mag. Oder wenn du nach dem Duschen das Handtuch mit exakt aufeinander ausgerichteten Enden aufhängst, falls er rein zufällig in dein Bad kommen und dich kritisieren sollte, warum du das Handtuch schief aufhängst. Oder wenn dir nicht klar ist, in welche Richtung überhaupt sich die ganze Beziehung entwickelt oder sich deiner Meinung nach entwickeln sollte. Schon beim Gedanken daran wird dir ganz schwummrig im Kopf.
Diese Gedanken hatte ich, als ich die Higel Avenue verließ und über den Ocean Drive in Richtung Village Diner fuhr, den ich nach Erledigung meiner Pflichten als Tiersitterin jeden Vormittag ansteuere. Mittlerweile war es fast zehn Uhr. Ich befand mich seit vier auf den Beinen, ohne jegliche Zufuhr von Koffein oder Essen, und ich freute mich auf ein Frühstück und ein ausgiebiges Schläfchen.
Zu meiner Entschuldigung kann ich sagen, ich war verliebt, hungrig und müde, als ich auf den mit Muschelschalen bestreuten Parkplatz neben dem Diner fuhr, und somit fiel mir die schwarze Limousine gar nicht weiter auf, die dicht neben mir in die benachbarte Parkbucht rollte. Wie schon gesagt, Siesta Key ist als Urlaubsort bei wohlhabenden Touristen äußerst beliebt, weshalb dicke Limousinen hier fast so zahlreich vorkommen wie Graureiher oder Fischreiher. Als ich aber die Wagentür öffnete und aussteigen wollte, ging die hintere Tür der Limousine ebenfalls auf, sodass ich quasi festsaß. Im Geiste zuckte ich nur mit den Schultern. Wie jeder Ganzjahresbewohner auf Siesta Key bestens weiß, sind manche Touristen dermaßen unhöflich und rüde, dass wir diese Rabauken am liebsten auf der Stelle in den Golf schmeißen würden, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass sie unsere Wirtschaft so schön in Gang halten.
Freundlich wie ein Praktikant bei der Handelskammer machte ich die Tür meines Bronco wieder zu und wartete, ließ also der fraglichen Person aus dem Fond der Limousine den Vortritt. Im nächsten Moment sprang ein Riesenkerl mit Sturmhaube an der vorderen Beifahrertür aus der Limousine, ein weiterer Maskierter sprang hinten heraus. In kürzester Zeit, es dauerte vielleicht nur eine Nanosekunde, hatten sie mir eine Hand auf den Mund gepresst, mich fixiert und mich in den geräumigen Fond der Limousine gezwängt. Selbst mitten im Geschehen, als ich, völlig geschockt, um mich schlug und schrie und brüllte und mich zu wehren versuchte, bewertete ich cool ihr Vorgehen. Diese Typen waren echte Profis.
Die Türen knallten zu, und die Limousine rollte rückwärts vom Parkplatz und fuhr mit normaler Geschwindigkeit den Ocean Drive entlang. Beide Männer waren hinten eingestiegen, sodass nur der Fahrer vorne saß. Er hielt den Blick geradeaus gerichtet, sodass ich nur seinen Hinterkopf sehen konnte. Einer der Männer auf dem Rücksitz befestigte ein Stück Klebeband auf meinem Mund, und noch ehe wir die Higel Avenue erreichten, hatten sie mir Arme und Beine gefesselt. Als der Wagen links abbog, zogen sie mir eine schwarze Mütze über den Kopf.
Obwohl ich nun also quasi blind war, kriegte ich mit, dass sie nach dem Knick, den die Higel Avenue nahm, weiter über den Siesta Drive und die Nordbrücke auf das Festland fuhren. Ein paar Sekunden lang knurrte ich böse, was aber reine Energieverschwendung war. Also beruhigte ich mich wieder und versuchte, auf alles zu achten, was mir später bei der Identifizierung der Männer behilflich sein könnte. Viel war es nicht. Die Männer im Fond sprachen ebenso wie der Fahrer kein Wort.
Nach ungefähr der Zeit, die man bis zum Tamiami Trail braucht, stoppte die Limousine, wartete und bog links ab. Wir fuhren nach Norden, also in Richtung Sarasota und Hafen. Falls sie mich auf ein Schiff bringen wollten, dann wäre dies der richtige Ort. Ob sie an der Stadt Sarasota mit ihren Läden, Theatern und Restaurants interessiert waren, bezweifelte ich.
Sie könnten den Tamiami Trail auch links verlassen und über die Brücke in Richtung Bird Key, St. Armands Key, Lido Key, Longboat Key oder Anna Maria Island fahren. Auf diesen Inseln leben reiche Leute, wenn also irgendein Multimillionär diese Schlägertypen engagiert hatte, um mich zu entführen, bringen sie mich vielleicht zum Schloss dieser Person. Aber wer sollte mich schon entführen wollen?
Aber wir verließen den Tamiami Trail nicht, sondern fuhren geradeaus weiter. Aber wohin? Mir gingen alle möglichen Ziele durch den Kopf, aber ich glaubte nicht, dass das Ringling Museum of Art darunter sein könnte oder das Ringling College of Art and Design oder der Sarasota Airport. Die Fahrt setzte sich fort, und nach einer Weile hörte ich auf, über mögliche Ziele nachzugrübeln. Stattdessen begann ich mich zu fragen, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand auf die Idee kam, dass mich jemand entführt hatte. Das war ziemlich deprimierend, weil es womöglich Stunden dauern könnte.
Aber ich lebte nun mal alleine, und mein Tagesablauf war völlig außer der Reihe. Ich stehe täglich um vier Uhr morgens auf. An den meisten Tagen habe ich vor zehn Uhr keinerlei Kontakt mit einem Wesen, das keine vier Beine und kein Fell hat. Um diese Zeit kehre ich im Village Diner zum Frühstücken ein. Ich bin dort Stammgast, und es würde auffallen, wenn ich einmal nicht komme. Tanisha, die Köchin, weiß genau, wann ich eintrudle, und sobald Judy, die Kellnerin, den Kaffee an meinen Stammplatz bringt, bereitet Tanisha bereits meine üblichen zwei Eier zu, beidseitig gebraten, mit extraknusprigen Bratkartoffeln sowie einem Brötchen. Hin und wieder jedoch lasse ich das Frühstück dort aus irgendeinem Grund ausfallen, sodass weder Tanisha noch Judy mich vermissen würden, sollte ich einmal nicht erscheinen. Sie würden gewiss nicht die Polizei anrufen und sagen, ich sei vielleicht entführt worden.
Jedoch machten beide auch mal Pause, und beide gingen nach Ende ihrer Schicht nach Hause. Beim Anblick meines Bronco auf dem Parkplatz würden sie sich fragen, warum das Auto da steht, ich aber nicht da gewesen war. Zumindest würden sie sich diese Frage stellen, wenn sie den Bronco als mein Auto erkannten. In dem Punkt war ich mir nicht sicher. Ich kannte Judy und Tanisha nun wirklich sehr gut, wusste aber nicht, welches Auto die beiden fuhren. Ich sah sie nur im Diner, nicht am Steuer ihres Autos, was umgekehrt auch für die beiden zutraf. Mist. Nach Lage der Dinge konnte mein Bronco also zwei, drei Tage auf diesem Parkplatz herumstehen, bis jemand auch nur den geringsten Verdacht schöpfen würde.
Michael, mein Bruder, würde mich vermissen, aber auch nicht gleich. Er und sein Lebenspartner Paco leben an der Golfseite in dem Holzrahmenhaus, in dem Michael und ich bei unseren Großeltern aufgewachsen waren. Ich wohne direkt daneben in einem Appartement über einem vierteiligen Carport. Michael ist Feuerwehrmann beim Sarasota Fire Departement und arbeitet im 24 /48-Stunden-Rhythmus, was bedeutet, er ist 24 Stunden im Dienst und hat dann 48 Stunden frei. Er hatte seinen Dienst an diesem Morgen um acht Uhr angetreten, würde also vor dem nächsten Tag nicht nach Hause kommen. Paco ist Undercoveragent im Sheriff 's Departement von Sarasota County. Seine Einsätze finden unregelmäßig und unangekündigt statt; es war also ungewiss, ob er nach Hause kommen und sich fragen würde, wo ich abgeblieben sei.
Und dann gab es noch Guidry, seines Zeichens Mordermittler im Sheriff 's Departement von Sarasota County. Guidry mit seinen ruhigen grauen Augen, seiner markanten Nase und einem Gesicht, das so todernst wirkt, bis man die kleinen Lachfältchen an den Augenwinkeln entdeckt. Guidry, der mein Herz erbeben ließ, wenn wir zusammen waren, aber wir waren nicht regelmäßig zusammen, weil wir beiden noch nicht bereit waren für was Festes. Wir beide waren eher von der spontanen Sorte. Jedenfalls sagten wir das, einander und uns selbst, aber irgendwie hatte unsere Spontaneität zu einer beträchtlichen Zahl gemeinsam verbrachter Abende und auch Nächte geführt, was uns beide scheu machte wie Wildkatzen, die »es« zwar wollen, aber auch davor zurückschrecken.
Wenn Guidry bei mir anrufen sollte und ich nicht antwortete, würde er vermuten, ich bürstete gerade eine Katze oder reinigte gerade ein Katzenklo. Sollte er es daraufhin noch mal versuchen, würde er glauben, ich holte gerade Informationen über einen neuen Kunden ein oder steckte in einem Stau fest. Wenn ich aber nicht zurückrief, würde er sicher annehmen, dass etwas nicht stimmte. Doch selbst in dem Fall würde er nicht vermuten, dass ich entführt worden war. Ich meine, wer wird schon entführt? Die Sprösslinge reicher Eltern. Die Bosse multinationaler Konzerne. Drogenbosse im Auftrag rivalisierender Banden. Politiker in der Dritten Welt. Aber bitteschön doch keine Tiersitter.
Als die Limousine nach rechts abbog, hatte ich längst die Orientierung verloren. Ich wusste lediglich, dass wir ein gutes Stück nördlich von Sarasota waren. Nach einer Strecke von gefühlten zwei oder drei Meilen fuhren wir wieder nach links. Ich hörte das Aufheulen hochdrehender Motoren und spürte das Rumpeln über Highway-Nahtstellen, weshalb ich vermutete, dass wir auf den Highway 301 eingebogen waren. Nach abermals etlichen Meilen bogen wir wieder nach rechts ab und fuhren so lange geradeaus, dass wir wohl den Interstate Highway 75 gequert haben mussten, ehe wir nach links, zweimal nach rechts und dann wieder links auf eine Straße eingebogen waren, von welcher der Kies gegen die Unterseite der Limousine prasselte.
Abermals ging es links ab, dann kam die Limousine zum Stillstand. Ich hörte elektronische Beep-Geräusche, als würde jemand ein Tastenfeld benutzen, dann ein Schleifgeräusch wie von Metall auf Asphalt. Dann rollte die Limousine abermals ein kurzes Stück nach vorne und blieb stehen.
Einer der Männer zog mir die Mütze vom Kopf. »Okay, Kleines, wir sind da.«
Ich sah aus dem Fenster auf ein gepflastertes Areal, auf dem ein Flugzeug vor einem Hangar stand. Mit Flugzeugen kenne ich mich nicht allzu gut aus, aber mir war klar, für ein Privatflugzeug war diese Maschine ziemlich groß. Ein kunstvoll mit Bäumen und blühenden Sträuchern bepflanzter Streifen trennte den Hangar von einem weitläufigen Haus mit niedriger, geschwungener Dachlinie. Der Hangar sah beinahe aus wie eine gewöhnliche freistehende Garage, nur dass der Bau groß genug war für ein ziemlich großes Flugzeug.
Ein großgewachsener, breitschultriger Mann trat aus dem Hangar wie Donald Trump höchstpersönlich, gerade im Begriff, jemanden zu feuern. Er war von mittlerem Alter, hatte graumeliertes, von einer Stirnglatze streng zurückgekämmtes Haar, eisblaue Augen und ein Pferdegesicht, das eigentlich nicht schlecht aussah, hätte er nicht so finster dreingeblickt.
Der Fahrer der Limousine ließ das Fenster heruntergleiten und grinste. »Hi, Tuck. Hier ist die Kleine. Wir haben sie vom Haus des Alten aus verfolgt.«
Der Mann beugte sich herunter, um ins Auto zu sehen, und die beiden maskierten Männer packten mich noch fester an den Armen und drehten mich herum, um mich zur Besichtigung freizugeben. Ich tat mein Bestes, keine Furcht zu zeigen, als ich ihm finster entgegenblickte.
Sein Blick glitt einige Male an mir auf und ab, woraufhin er den Mund verzog und kurz ein erschrockenes Gesicht machte. Dann kehrte seine eiskalte Arroganz zurück. »Das ist die Falsche!«
Der Fahrer drehte sich halb nach mir um, um mich anzusehen. »Sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher! Meine Güte, bin ich denn von lauter Trotteln umgeben!«
Sein kalter Blick fixierte mich. »Ma'am, Sie sollen wissen, dass ich damit nichts zu tun habe. Ich weiß absolut nichts darüber, was diese Männer im Schilde führen.«
Seine Wut wieder auf den Fahrer gerichtet, sagte er: »Sieh zu, dass du mir diese peinliche Angelegenheit vom Hals schaffst, Vern!«
»Vom Hals schaffen in der Bedeutung von ...«
»Nein, du Volltrottel! Ich meine, schaff die Sache aus der Welt! Ohne dass jemand verletzt wird! Verstanden?«
Hinter ihm waren noch einige weitere Männer aus dem Hangar hervorgekommen, um einen Blick auf die falsche Geisel auf dem Rücksitz der Limousine zu erhaschen. Ich hatte den Eindruck, mit ihnen wäre ich sehr viel besser dran als mit Vern, weshalb ich versuchte, zu quieken und zu quietschen, so laut ich konnte, es eilte aber niemand herbei, um mir das Isolierband vom Mund zu reißen.
Mit dem Klang verletzter Ehre und anmaßender Selbstgerechtigkeit in der Stimme sagte Vern: »Was soll ich denn jetzt bloß mit ihr machen?«
»Du hast die Sache doch verbockt. Also sieh zu, was du jetzt machst! Und lass dich hier erst wieder blicken, wenn du zur Vernunft gekommen bist.«
Er schlurfte zurück in den Hangar, und die Rolltore glitten langsam herab. Vern wartete, bis die Tore schließlich mit dem dumpfen Geräusch finaler Endgültigkeit auf dem Pflaster aufsetzten. Dann startete er wutentbrannt den Wagen, wendete mit quietschenden Reifen und raste durch die offene Einfahrt nach draußen. Ich konnte zwar nichts sehen, aber ich war mir sicher, dass sich die Tore hinter uns schlossen. Ich fragte mich, ob der Mann den Code zum Öffnen des Tors ändern würde.
Die Männer auf dem Rücksitz ließen mir etwas mehr Spielraum. Einer von ihnen wandte sich mir zu und sprach durch den Schlitz in seiner Maske.
»Da haben wir wohl einen Fehler gemacht.« Er klang zuversichtlich, als glaubte er, ich würde die Sache vergessen.
Der andere sagte: »Vern, was soll denn jetzt mit der Kleinen passieren?«
Das hätte ich auch gern gewusst.
Sie hatten mir die Mütze nicht wieder aufgesetzt, und in dem Spiegel im Armaturenbrett an der Fahrerseite konnte ich sehen, wie Verns Stirn sich in der Anstrengung darüber kräuselte, was er nun mit mir anstellen sollte. Ziemlich klar war, dass mir, was auch immer ihm einfallen würde, nicht sonderlich gefallen würde.
Er fasste mich im Spiegel ins Auge. »Du hast keine Chance, Lady. Wenn du nicht dichthältst, sagen wir einfach, dass du lügst. Du stehst alleine da mit deiner Aussage.«
Ich nickte und versuchte einen kleinmütigen Eindruck zu machen, was mich einiges an Überwindung kostete. Ich versuchte, auch verängstigt zu wirken, was mir keinerlei Probleme bereitete.
Wir traten die Rückfahrt an, zuerst entlang der kurvigen einspurigen Schotterpiste, dann über einige Straßen, an denen die Grundstücke mindestens ein Tagwerk groß waren, mit hier und da ein oder zwei grasenden Pferden drauf. Ich wusste, wir waren in den Außenbezirken irgendeiner Kleinstadt, aber die Gegend war mir nicht vertraut. Dazu kam, dass Vern anscheinend gar keine feste Route im Kopf hatte, sondern einfach ziellos drauflos fuhr, in der Hoffnung, ihm würde etwas einfallen.
Schließlich näherten wir uns einer Auffahrt zum Interstate Highway 75, wo es eine Raststätte mit Tankstellen und diversen Fastfood-Läden gab. Vern bog auf einen freien Parkplatz hinter einer »Friendly's«-Filiale. Mit dem Motor im Leerlauf wandte er sich mir zu.
»Okay, es geht folgendermaßen weiter. Wir nehmen dir jetzt die Fesseln ab, lassen dich frei und hauen ab. Du wirst uns nicht dabei beobachten. Wenn wir weg sind, kannst du zu Friendly's latschen und dir ein Taxi rufen. Das wird dich dorthin zurückbringen, wo wir dich aufgegriffen haben. Und du wirst die Klappe halten und keinem was von der Sache erzählen. Comprende?«
Ich nickte, versuchte aber gleichzeitig mir sein Gesicht zu merken, während er sprach. Die obere Zahnreihe war bei ihm ganz bedeckt, während die unteren Zähne, Raucherzähne, am Ansatz schwarz waren, bei magentafarbenem Zahnfleisch. Beim Sprechen waren die Unterzähne sichtbar, was ihm das Aussehen einer Bulldogge verlieh. »Wenn du uns verrätst, schnappen wir dich. Und beim nächsten Mal wird garantiert keine Fahrt ins Blaue daraus. Kapiert?«
Ich nickte abermals. So heftig wie ich nur konnte.
Er sagte: »Okay, nehmt ihr die Fesseln ab.«
Damit meinte er, sie sollten das Isolierband durchtrennen, womit sie mir die Hand- und Fußgelenke zusammengebunden hatten. Was isoliert man eigentlich mit Isolierband? Ich weiß lediglich, mittlerweile auch aus eigener Erfahrung, dass das Zeug Kidnappern ihr Handwerk deutlich erleichtert.
In den Sturmhauben konnte ich die Augen der Männer erkennen, und ich hatte den Eindruck, sie wirkten verunsichert und auch irgendwie betreten. Was man von Vern nicht gerade behaupten konnte. Vern war wie jeder Loser auf dieser Welt nur mit Selbstmitleid beschäftigt.
Ich war gelehrig wie eine Ragdoll-Katze und verhielt mich absolut ruhig. Als sie das Isolierband von meinen Handund Fußgelenken entfernt hatten, drückte mir Vern einen 50-Dollar-Schein in die Hand.
»Für's Taxi.«
Einer der anderen Männer murmelte zustimmend. Dann öffneten sie die Autotür und machten Platz, damit ich aussteigen konnte. Kaum war ich draußen, knallte die Autotür zu, und die Limousine raste vom Parkplatz. Ich hätte mich entgegen unserer Abmachung umdrehen können, um die Nummernschilder zu identifizieren, aber der Wagen war außer Sichtweite, bevor mein Körper überhaupt aufgehört hatte zu zittern.
Vorsichtig hob ich das Isolierband an einer Ecke an, um es dann nach und nach von meinem Mund abzuziehen. Das fühlte sich an, als ob ein Teil meiner Lippe gleich mit abgehen würde, aber es blutete nicht. Das Klebeband zwischen Daumen und Zeigefinger weit von mir haltend, wankte ich nach vorne zum Eingang des Restaurants. Eine Familie kam gerade heraus, und der Vater hielt mir die Tür auf. Ich bedankte mich bei ihm und steuerte direkt das hinten liegende Damenklo an.
Wie ich gehofft hatte, befand sich neben einer ganzen Reihe von Waschbecken ein Spender für Papierhandtücher an der Wand. Es waren diese glatten, braunen Tücher, zum Händetrocknen gänzlich ungeeignet, dafür aber ideal, um Fingerabdruckspuren auf einem Stück Isolierband zu sichern. Ich zog ein Handtuch heraus, wickelte es lose um das Klebeband, welches ich dann in einer der Taschen meiner Cargohose verschwinden ließ. Dann lehnte ich mich an den Tresen und zitterte erst einmal eine ganze Weile. Adrenalin hat diese Wirkung. Nachdem ich meine Fassung mehr oder weniger wiedererlangt hatte, ging ich auf die Toilette, wusch mir dann das Gesicht und die Hände und begutachtete meine geschwollenen Lippen im Spiegel. Frauen, die gerne Lippen wie Angela Jolie hätten, können teure Collagenspritzen komplett vergessen. Es genügt völlig, wenn sie sich alle paar Tage ein Stück Isolierband vom Mund reißen.
Jetzt blieb mir nur noch, mein Handy aus der Tasche zu ziehen und Guidry anzurufen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Christian Kennerknecht
Ich habe gelesen, dass zwei Quantenteilchen, wenn sie aufeinanderprallen - wenn sie sich beispielsweise im subatomaren Supermarkt bei den Milchprodukten zufällig anrempeln -, auf geheimnisvolle Weise, die keiner so richtig versteht, für immer miteinander verbunden bleiben. Die beiden können noch so weit voneinander entfernt sein, was dem einen zustößt, beeinflusst das andere. Aber nicht nur das, sie werden eine irgendwie unheimliche, unbeschreibliche Form von Kommunikation aufrechterhalten und über Raum und Zeit hinweg ständig Informationen miteinander austauschen.
Ruby und ich waren ein bisschen so wie diese sonderbaren Teilchen. Von dem Moment an, als ich die Tür öffnete und sie mit ihrem Baby im Arm dastehen sah, spürten wir eine starke Verbundenheit, die eigentlich keine von uns beiden wirklich beabsichtigte. Es war eine Kraft, der wir einfach nicht widerstehen konnten.
Ich traf Ruby an jenem Morgen, als ich zum ersten Mal im Haus ihres Großvaters vorbeischaute. Ihr Großvater, Mr Stern, hatte silbergraues Haar und war eine drahtig schlanke, kerzengerade Erscheinung. Mr Stern hatte sich beim Tennisspielen einen Bizepsriss zugezogen. Er war nicht die Sorte Mann, die deswegen viel Aufhebens gemacht hätte, sein Arzt jedoch hatte darauf bestanden, dass er den Arm vorläufig in einer Schlinge tragen sollte. An der Stelle kam ich ins Spiel. Mr Stern lebte mit einer roten American Shorthair zusammen und hatte mich gebeten, ihm zweimal täglich bei der Versorgung seiner Katze zu helfen, bis sein Arm wieder intakt war. Als wir die Vereinbarung getroffen hatten, hatte keiner von uns beiden gewusst, dass Ruby mit ihrem Baby im Anmarsch war. Wir hatten auch nicht gewusst, was wir beide in den kommenden Tagen durchmachen würden, nicht körperlich, sondern vor allem psychisch.
Ich heiße Dixie Hemingway, weder verwandt noch verschwägert mit Sie-wissen-schon, und bin Tiersitterin auf Siesta Key, einer halbtropischen Barriereinsel vor der Küste von Sarasota, Florida. Bis vor fast vier Jahren war ich Deputy im Sheriff 's Departement von Sarasota County. Ich trug eine Waffe und hatte sogar Preise für meine Schießkünste eingeheimst. Verbrechensschauplätze betrat ich mit jenem lockeren Selbstvertrauen, das auf Ausbildung und Erfahrung basiert. Ich glaubte an mich, glaubte daran, dass ich jede Situation meistern würde, die auf mich zukam, weil ich stark war, tough, und weil ich die Dinge im Griff hatte. Wenn ich ruhig in den Spiegel sah, blickten mir zwei furchtlose Augen entgegen. Dann jedoch explodierte meine Welt, zerfiel in Myriaden scharfkantiger Splitter, und dieser furchtlose Blick war für immer dahin.
An jenem Donnerstagmorgen Mitte September, als ich Mr Stern und Ruby erstmals begegnete, ging es mir seit geraumer Zeit wieder besser. Ich hatte mich am eigenen Schopf herausgezogen aus dem kalten, dunklen Loch der Verzweiflung und hatte wieder Spaß am Leben gefunden. Sogar auf das Wagnis einer neuen Liebe hatte ich mich wieder eingelassen. Eigentlich war ich glücklich. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich unvorsichtig wurde und mir dadurch eine Menge Ärger aufhalste.
Normalerweise besuche ich meine Kunden vorab, um die Tiere kennenzulernen und um ihren Besitzern schriftlich zu bestätigen, dass ich Verbandsmitglied und vorschriftsgemäß versichert bin. Wir besprechen meine Aufgaben und mein Honorar, und wir machen einen Vertrag. Aber da die Sache bei Mr Stern irgendwie dringlich schien, war mein erster Besuch bei ihm zugleich mein erster Arbeitstag.
Mr Stern wohnte in einer der älteren Gegenden am nördlichen Ende von Siesta Key; als auf dem Immobilienmarkt Südwestfloridas eine Art Massenhysterie ausbrach, wurden dort nette Häuschen, die vielleicht gerade mal 200 000 Dollar wert waren, als Abrissbuden verkauft, um an ihre Stelle millionenteure Paläste zu setzen.
Mr Sterns Haus war ein einstöckiger bescheidener Bau in einem satten Kobaltton. Ein solches Haus, kobaltblau, wäre andernorts auf der Welt vielleicht als exzentrisch aufgefallen, auf Siesta Key jedoch, wo sich die Häuser hinter einem dichten Pflanzengewucher von Grün, Rot und Gold verstecken, scheint das genau der Farbton zu sein, den Gott für Häuser als passend vorgesehen hatte. Es stand zu dicht an einem pompös protzigen Palast auf der einen Seite, mit einem weiteren Prunkbau auf der anderen Seite, zu dem ein weitläufiger, ungepflegter Rasen gehörte. Auf dem Rasen stand ein Schild, das die unmittelbar bevorstehende Zwangsversteigerung des Anwesens ankündigte - ein ziemlich deutlicher Hinweis darauf, dass der Immobilienboom ein Ende gefunden hatte und der Geldwert einer Immobilie von nun an wieder auf ihrem tatsächlichen Wert basieren würde, anstatt von vorübergehenden menschlichen Launen abzuhängen.
Mr Stern war so schlank wie ein Halm Dünengras, hatte korrekt gekämmtes graues Haar, buschige Brauen über eindringlich blauen Augen und eine so kerzengerade Haltung, dass sich die Frage erübrigte, ob er vielleicht mal beim Militär gewesen wäre. Er ließ es mich sowieso gleich wissen. Er erzählte mir auch, dass er mit Katzen gar nichts am Hut habe und nur deshalb eine besäße, weil seine Enkelin ihre Katze zurückgelassen und er diese nun am Hals hätte. Während er mir das sagte, hielt er Cheddar, so hieß der Kater, sanft in seinem gesunden Arm umfasst.
Die »American Shorthair« ist eine typisch amerikanische Katze. Ihre Vorfahren kamen mit den ersten Siedlern ins Land. Sie erwiesen sich als hervorragende Mäusejäger - die Katzen, nicht die Siedler - und waren berühmt für ihr schönes Gesicht und ihr sanftmütiges Wesen. Letzteres vor allem kann man von den ersten Siedlern wahrlich nicht behaupten.
Cheddar zeigte sich gänzlich ungerührt angesichts der wenig freundlichen Äußerung seines Herrchens gegenüber Katzen. Tatsächlich schienen sich seine Lippen sogar leicht nach oben zu einem heimlichen Lächeln zu verziehen, und ab und zu sah er mich an und zwinkerte mir zu, als gäbe er mir quasi auf Katzenart zu verstehen, Unter uns gesagt, was der so von sich gibt, ist sowieso lauter Quatsch.
Nachdem Mr Stern mir klargemacht hatte, dass mit ihm nicht zu spaßen sei, führte er mich kurz durchs Haus. Viel dunkles Leder, noch dunkleres Holz, Gemälde in wuchtigen Goldrahmen, grüppchenweise hier und da ein paar Fotos an den Wänden verstreut, eine bis unter die Decke zugestellte Bibliothek, in der es leicht nach verschimmeltem Papier und abgestandenem Pfeifentabaksqualm roch. Die einzige Ausnahme bildete ein sonnendurchflutetes Zimmer mit Blümchentapete und Kinderbettchen in einer Ecke. Sonst entsprach das Haus haargenau dem Bild eines kultivierten Gentlemans und Eigenbrötlers, der selten Gäste empfing.
Im Esszimmer öffnete Mr Stern mit großer Geste eine zweiflügelige Glastür auf einen großen, stellenweise mit Terrakotta gepflasterten Gartenhof. »Das hier ist unser Lieblingsplatz. «
Ich konnte gleich sehen, warum. Verputzte Mauern erstreckten sich bis zu einer Höhe von gut viereinhalb Metern, blühende Kletterpflanzen rankten daran empor. Schmetterlinge und Kolibris mit rubinroter Kehle umschwirrten die Blüten von Trompeten-Geißblatt, Carolina-Jasmin, Feuerstrauch und Klettertrompete. Umrahmt wurde der Hof von einem dichten Gewirr aus Kanadischem Schneeball, Orangenraute, Taubenbeere, Gelber Trompetenblume, Feuerbusch und Zylinderputzer. Den Mittelpunkt bildete ein Bassin mit einer Umrandung aus Felsgestein, das an drei Seiten zusätzlich mit Astern, Seidenblumen, Goldraute, Lobelien und Verbenen bepflanzt war, während sich an seiner Rückseite ein sanfter Wasserstrom über kunstvoll aufgeschichtete schwarze Felsen ergoss. Im Inneren des Bassins zogen unterarmgroße, orangefarbene Fische zwischen Seerosen und grünen Wasserpflanzen träge ihre Bahnen.
Cheddar entwand sich aus dem Arm seines Herrchens und machte einen Satz auf den Verandaboden, um von dort aus stracks auf das Wasserbecken zuzumarschieren, wo er mit jener begeisterten Verzückung, mit welcher Frauen gemeinhin vor Sonderangeboten von Jimmy Choo stehen, die Koi-Karpfen betrachtete.
Ich sagte: »Traumhaft schön.«
Mr Stern nickte stolz. »Die Lücken zwischen den Steinen machen den Wasserfall zu einer Art Musikinstrument. Den Klang kann ich durch eine Veränderung des Wasserdrucks beliebig verändern. Ich kann es murmeln lassen, gurgeln oder tosen, einfach indem ich an einem Rädchen drehe. Bei Dunkelheit kann ich verschiedenfarbige Lichter in den Zwischenräumen über Zeitschaltuhren abwechselnd aufleuchten lassen oder herunterdimmen. Je nachdem. Cheddar und ich sitzen manchmal bis Mitternacht hier draußen, hören dem Wasserfall zu und beobachten die Lichtshow.«
So redet ein Mann normalerweise nur von der trauten Zweisamkeit mit seiner Frau oder der Geliebten. Ich fand es rührend und irgendwie süß zugleich, dass Mr Stern im Grunde seines Herzens ein Romantiker war, der nach außen Strenge demonstrierte, seine sensiblen Seiten jedoch mit einer Katze teilte.
Ein sirrendes Geräusch wie von Flügeln ließ uns hinauf zu einem über uns kreisenden Fischadler blicken. Er hielt die Kois auf dieselbe Art wie Cheddar im Auge, aber das Risiko, dass er einen erwischen würde, war wesentlich größer. Fischadler besitzen die Fähigkeit, aus der Luft herunterzustoßen und sich in Sekundenschnelle einen Fisch aus dem Wasser zu greifen. Während ich den Fischadler beobachtete, sah ich eine dunkelhaarige Frau aus einem der oberen Fenster des noch bewohnten Nachbarhauses schauen. Sie wandte den Kopf zur Seite, als hätte sie etwas abgelenkt, und war schon im nächsten Moment verschwunden. Da erschien eine andere Frau. Sie war älter und hatte die Frisur einer Business-Frau, exakt und professionell gemacht. Als sie mich sah, war sie plötzlich wie geschockt und machte ein wütendes, böses Gesicht. Dann schloss sie ruckartig die Gardinen, und mir blieb nur der Blick auf das strahlende Weiß des Vorhangfutters.
Die gespeicherte Hitze des Terrakottabodens kroch an meinen nackten Beinen hoch, aber oben um meine Schultern zog es plötzlich kühl. So unwahrscheinlich es schien, die Feindseligkeit der Businesslady war durchaus persönlich gemeint und galt eindeutig mir.
Der Fischadler zog einen weiteren Kreis, blieb dann momentlang über der Mauer in der Luft stehen und streckte seine staksigen Beine aus, um zu einer Landung auf der Mauer anzusetzen. Just in dem Moment jedoch, als seine Krallen das Trompeten-Geißblatt gerade streiften, stieg er in die Höhe und flog davon.
Mr Stern lächelte verschmitzt. »Diese Vögel sind verdammt klug. Die Oberseite der Mauer ist nämlich mit einer Spirale von Bandstacheldraht gesichert. Sie liegt unter den Blüten unsichtbar verborgen, aber dieser Fischadler spürte die Gefahr.«
Der Schatten des Fischadlers hatte auch die Kois gewarnt. Alle waren sie unter Felsen und Seerosenblättern verschwunden. Es war klug von den Kois, in Deckung zu gehen, denn in dem von Mr Stern geschaffenen Gartenparadies befanden sich Leben und Tod in einer genau austarierten Balance.
Hätte ich hellsichtig in die Zukunft blicken und also wissen können, dass in diesem Moment Ruby aufkreuzen und Gefahr für uns alle bringen sollte, wäre ich dem Beispiel des Fischadlers und der Kois gefolgt. Ich hätte mich versteckt, bis die Gefahr vorüber gewesen wäre, oder ich wäre auf der Stelle getürmt und nie wieder zurückgekommen. Aber ich besitze nun mal keine übernatürlichen Kräfte, und der finstere Blick der Frau von nebenan mochte noch so beunruhigend sein, Angst hatte ich trotzdem keine.
Wenigstens noch nicht.
2
Mr Stern hob Cheddar mit seinem gesunden Arm hoch, und ich folgte den beiden ins Haus. Dort platzte ich mit der Frage an Mr Stern heraus, ob er denn die Frau von nebenan vielleicht kennen würde. Dabei war mir durchaus klar, ich hätte lieber den Mund halten sollen. Schließlich lautet eine Kardinalregel für Leute, die in fremden Häusern arbeiten, tunlichst bloß keine neugierigen Fragen über die Bewohner oder deren Nachbarn zu stellen.
Ohne auf meine Frage einzugehen, sagte Mr Stern: »Cheddar nimmt gerne ein pochiertes Ei zum Frühstück. Wissen Sie, wie man so was zubereitet?«
Ich sagte: »Wie wär's, wenn ich ein weichgekochtes Ei für Sie zubereite, während ich für Cheddar eines pochiere?« Menschenwesen zu versorgen, gehört nicht zu meinen Aufgaben, aber irgendetwas an Mr Sterns Auftreten - harte Schale, weicher Kern - erinnerte mich an meinen Großvater, einen Mann, den ich von ganzem Herzen liebte.
Er sagte: »Kochen Sie drei für mich, eins etwas länger, damit es hart wird. Das esse ich dann zu Mittag.«
Während ich Cheddar das pochierte Ei servierte, holte sich Mr Stern einen Teller und nahm am Küchentresen Platz. Ich sagte: »Wie wär's? Soll ich Ihnen vielleicht auch Toast und Kaffee machen?«
»Ich brauche kein Kindermädchen, Ms Hemingway.« Er zeigte auf einen kleinen Flachbildfernseher an der Küchenwand. »Wenn Sie bitte so nett wären, den anzumachen. Ich würde mir gerne die Nachrichten ansehen.«
Ich fand die Fernbedienung, schaltete an und reichte das Teil an Mr Stern weiter, der sich mit der freien Hand auf die Hosentaschen klopfte. »Verflixt! Ich hab meine Brille in der Bibliothek vergessen. Wären Sie so lieb, sie mir zu holen?«
Prompt düste ich in die Bibliothek, um nach seiner Brille zu sehen, und fand sie auf einer Kommode vor einem kleinen Sofa. Als ich sie mir schnappte, klingelte es an der Tür.
Mr Stern rief: »Machen Sie bitte auf? Egal, wer da ist, ich will niemanden sehen.«
Ich rannte zur Tür und öffnete sie mit der Absicht, höflich, aber nicht einladend zu wirken.
Eine junge Frau mit überdimensionaler dunkler Brille und einer tief über dem Blondhaar ins Gesicht gezogenen Baseballkappe stand so dicht vor der Tür, dass sie der Luftzug beim Öffnen fast hereingezogen hätte. Sie trug hautenge Jeans und eine weiße Schlabberbluse, dazu High-Heels, sodass sie mich um etliche Zentimeter überragte. Auf dem Arm hielt sie ein Baby in einem rosa Strampler, von der einen Schulter baumelte eine große Schlauchtasche, von der anderen eine Windeltasche, und die Hand, mit der sie das Baby gegen ihre Brust stützte, umklammerte die Griffe einer beutelartigen ledernen Handtasche. Sie warf einen verstohlenen Blick über die Schulter zurück zu einem Taxi, welches rückwärts aus der Einfahrt rollte. Ich hatte den Eindruck, sie fürchtete, jemand könnte ihre Ankunft bemerkt haben.
Alles an ihr erschien mir merkwürdig bekannt, doch ich hatte keine Ahnung, wer sie war.
Ihr Kopf wandte sich mir zu, auf dem Gesicht dieser Ausdruck, den ich wahrscheinlich auch zeigte, dieses Ich kenne Sie, nein doch nicht.
Sie sagte: »Wer sind Sie?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schnellte sie nach vorne, als hätte sie jedes Recht einzutreten.
Aus der Küche tönte Mr Stern: »Wer war es denn?«
Die junge Frau rief: »Ich bin's, Großpapa.«
Schritte näherten sich, und ich konnte seinen Groll geradezu spüren, eher er überhaupt, gefolgt von Cheddar, in der Eingangshalle erschien.
Seine Stimme klang frostig: »Was willst du hier, Ruby?«
Einen Moment lang wirkte sie enttäuscht, zeigte aber dann den zuversichtlichen Ausdruck eines Kindes, das annimmt, es würde schon klappen, wenn man es nur ein zweites Mal versucht. Sie stellte die Schlauchtasche auf den Boden und nahm die dunkle Brille ab. Ohne diese wirkte sie noch jünger, kaum Anfang zwanzig. Das war der Moment, in dem ich sie erkannte. Sie sah aus wie ich. Nicht wie die Person, die ich jetzt bin, sondern wie jene von vor zehn Jahren. Sie wirkte genauso unglücklich und verzweifelt.
Vielleicht weil ich mich daran erinnerte, wie es sich anfühlte, so unglücklich zu sein, oder vielleicht weil sie mich an eine eigene, nun überwundene Entwicklungsstufe erinnerte, jedenfalls spürte ich ihre Qualen körperlich, als würde mir jemand eine gestachelte Keule gegen die Brust schlagen.
Cheddar trottete zu ihrer Schlauchtasche und schnupperte daran. Dabei sahen wir ihm alle zu, als ob er durch kluges Verhalten diesen peinlichen Moment vielleicht ein bisschen entspannen könnte.
Die Frau sagte: »Ich kann sonst nirgendwo hin, Opi.«
»Warum gehst du denn nicht zu deinem sogenannten Ehemann? Oder hat dich Zack zugunsten einer anderen Rennfahrer-Tussi rausgeworfen?«
Wäre seine Äußerung nicht so voller Verachtung gewesen, man hätte sie auch als kleinen Scherz nehmen können. Aber an seiner Eiseskälte war so gar nichts Spaßiges.
Die Frau jedenfalls hatte ihn verstanden, und ihre Zuversicht war dahin. »Bitte, Opilein, wir machen auch bestimmt keinen Ärger.«
Er schnaubte verächtlich und machte eine abweisende Handbewegung, welche das Baby erschreckte und Cheddar auf die Tasche steigen ließ, von wo aus Cheddar ihn mit Blicken fixierte. Das Baby heulte unvermittelt los, wie Babys das nun mal gerne tun, und Mr Stern wirkte schockiert angesichts der Lautstärke, die so ein kleines Wesen hervorbringen kann. Hier versagte seine Kontrolle. Die junge Frau machte den Eindruck, als würde sie auch gleich losheulen, und begann, das Baby sanft zu wiegen, als ob sie es dadurch beruhigen könnte.
Ich habe einen totalen Narren an Babys gefressen und will sie, sobald mir nur eines unter die Augen kommt, immer sofort knuddeln. Sobald eines weint, reagiere ich wie ein Pawlow'scher Hund, dem schon beim Klang einer Glocke das Wasser im Mund zusammenläuft. Ohne zu fragen, trat ich nach vorne und nahm die Kleine auf den Arm. Ich drückte sie eng an mich, um ihr das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, flüsterte sanfte Laute gegen das schwankende Köpfchen und klopfte im Rhythmus des Herzschlags, den Babys um Mutterleib hören, sanft auf den Rücken. So hatte ich Christy immer beruhigt, als sie noch klein war, und einen Moment lang verlor ich mich in dem Duft von Unschuld und dem Gefühl zarter Haut, die meinen Hals wie Magnolienblätter streifte. Als hätte sie eine erfahrene Hand erkannt, hörte sie auf zu schreien und sah mich mit großen, ernsten Augen an.
Die Frau sagte: »Ihr Name ist Opal.«
»Hübscher Name.«
»Meine Großmutter hieß so.« Mr Sterns Gesicht überschattete die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Schmerz. »Du kannst von mir aus bleiben. Aber eins garantier ich dir, deine Klamotten trägt dir keiner hinterher. Ordnung ist schließlich das halbe Leben.«
Als sie das Baby wieder zu sich nahm, sagte sie: »Schon mit dreizehn habe ich aufgehört, meine Sachen wahllos auf dem Boden rumzuwerfen, Opa.«
Das Baby kräuselte die Unterlippe, als würde es gleich wieder losheulen. Die Frau sagte: »Ich muss die Kleine wickeln und füttern.«
Mr Stern sagte: »Dein altes Zimmer ist unverändert.«
Sollte sie einen Widerspruch darin gesehen haben, wenn sich Mr Stern in einem Moment wie der Wüterich des Jahres verhielt und schon im nächsten Moment sagte, er habe ihr Zimmer komplett unverändert gelassen, dann zeigte sie davon nichts. Indem sie sich nach unten beugte, um die Schlauchtasche zu nehmen, drückte sie Cheddar sanft beiseite und stakste daraufhin durch die Eingangshalle, während Opals Köpfchen auf ihrer Schulter hin- und herbaumelte. Cheddar sprang ihnen vergnügt hinterher.
Mr Stern und ich sahen einander mit nachdenklichen Gesichtern an. Er sagte: »Das ist meine Enkeltochter Ruby. Sie behauptet, sie sei mit einem Dragracing-Rennfahrer namens Zack verheiratet. Vielleicht stimmt's ja auch, ich weiß es nicht. Drag-Rennen jedenfalls sind Beschleunigungsrennen. «
Ich sagte: »Ist sie dieselbe Enkelin, die Cheddar bei Ihnen zurückgelassen hat?«
»Ich hab nur die eine.«
Ich sagte: »Dann werden Sie mich ja wohl jetzt nicht mehr brauchen.«
Er schnaubte. »Ach, auf Ruby ist doch kein Verlass. Ich will, dass Sie weiterhin kommen.«
Angesichts der angespannten Stimmung im Hause Stern beeilte ich mich, Cheddars Toilette sauberzumachen. Ich befand mich in einem Gästebadezimmer am anderen Ende des Flurs, an dem auch das Zimmer mit der Blümchentapete lag, und während ich die Kiste auswusch und mit einer Mischung aus Wasser und Wasserstoffperoxyd nachspülte, hörte ich Ruby mit sanfter Stimme zu ihrem Baby sprechen. Sie klang so wie ich meiner Erinnerung zufolge geklungen hatte, als Christy ein Baby war - die Stimme einer jungen Mutter, für die ihr Kind ein und alles war.
Als ich mit Cheddars Katzenklo fertig war und den Flur entlangging, spähte ich durch die offene Tür des Kinderzimmers. Ruby hatte das Kinderbett vor eine nun offene Schiebetür aus Glas gerollt, die den Zugang zu einer kleinen, sonnendurchfluteten Veranda freigab. Opal und Cheddar lagen zusammen in dem Bettchen. Cheddars Nase berührte Opals Kinn, und Opal fiepte wie ein Entenküken. Ruby strahlte vor Glück. Mr Stern mochte wohl gesagt haben, auf Ruby sei kein Verlass, aber eine Person, die sich Zeit für ihr Baby nimmt und gut zu Tieren ist, steht ganz oben auf meiner Liste vertrauenswürdiger Menschen.
Ich blieb kurz im Flur stehen. »Das Kinderbett ist wunderschön. «
War es auch. Das Design war eindeutig skandinavisch - diese kühlen Regionen bringen offenbar Köpfe mit einem besonderen Sinn für Klarheit und Funktionalität hervor -, und es bestand aus einem auf großen, auf Rollen montierten Metallrahmen. Kopf- und Fußteil waren gepolstert, die Seitenwände bestanden aus mit feinem Netz bespannten, abklappbaren Metallrahmen. Somit vereinigte es alle Vorteile eines regulären Kinderbetts aus Holz, jedoch ohne diese gefährlichen Gittersprossen oder lose sitzendem Gazematerial. Ich war beeindruckt, dass die Menschheit in den sechs Jahren, nachdem ich ein Kinderbett gekauft hatte, so große Fortschritte erzielt hatte. Ruby sah auf und lächelte.
»Schon ich bin als Baby dringelegen. Tatsächlich lag sogar schon meine Mutter in dem Bett, als sie ein Baby war. Ich glaube, es wird gar nicht mehr hergestellt.« Die Vorstellung, dass ein Möbelstück drei Generationen lang hielt, schien ihr kaum fassbar.
Sie nahm Cheddar aus dem Bett und setzte ihn auf den Boden. »Tut mir leid, Cheddar, aber nun ist es Zeit für Opals Nickerchen.«
Kurzhaarkatzen sind vermutlich Taoisten. Sie akzeptieren die Realität, wie sie ist, ohne viel Aufhebens zu machen. Mit ihren kurzen Beinen können sie sowieso keine großen Sprünge machen wie Abessinier oder die Russisch Blau; also beobachtete Cheddar Ruby, wie sie die Seitenwand hochklappte, zog einen Sprung über die Oberkante kurz in Erwägung und gähnte - das Katzen-Pendant zu einem Schulterzucken. Als hätte er von Anfang an vorgehabt, unter Opals Bett zu schlafen, kroch er darunter und rollte sich auf dem Fußboden zusammen. Ich wette, kein Tierarzt wird je eine American Shorthair mit hohem Blutdruck zu Gesicht bekommen.
Ich verabschiedete mich von Ruby und Opal mit einem angedeuteten Winken und verließ die beiden. Mr Stern fand ich in der Bibliothek. Er las weder, noch sah er fern, saß nur auf dem Sofa und starrte vor sich hin. Die Wand hinter ihm zierte eine Ansammlung gerahmter Schwarz-Weiß-Fotos junger uniformierter Männer. Einer davon, ein Hüne mit durchdringenden Augen, war anscheinend ihr Kommandeur. Er sah aus wie die jüngere Version von Mr Stern, und ich fragte mich kurz, ob er sein Sohn sein könnte. Dann erblickte ich ein Banner mit rotem amerikanischen Adler und der Aufschrift: The 281st Engineer Combat Battalion, 1944 und mir wurde klar, dass es sich um Mr Stern selbst handelte. Die Tatsache erinnerte mich daran, dass wir uns nie vorstellen können, welche Geschichte die Menschen haben, denen wir begegnen, vor welche Herausforderungen sie gestellt waren und was für Verluste sie erlitten hatten.
Er sagte: »Ich glaube, Cheddar erinnert sich an Ruby.« Dabei klang er traurig, als fühlte er sich im Stich gelassen.
So behutsam wie möglich sagte ich: »Katzen sind gerne mit Babys zusammen.«
Die Vorstellung, er sei eventuell nicht wegen Ruby, sondern wegen des Babys verlassen worden, schien ihm zu gefallen. Ich meinerseits fand, dass aufgrund der komplexen Emotionen zwischen Mr Stern und seiner Enkelin mein ursprünglich klar umrissener Einsatz in diesem Haus ganz schön kompliziert geworden war.
Ich sagte: »Bis später dann. Heute Nachmittag.«
Als hätte jemand das Signal dazu gegeben, sprang Mr Stern auf und stellte sich kerzengerade in Position. Er begleitete mich bis zur Tür und noch ein Stück weit nach draußen und sah mir zu, wie ich in meinen Bronco stieg. Ich schenkte ihm mein bezauberndstes Lächeln und winkte ihm zu wie bei einer Flottenparade. Daraufhin nickte er feierlich wie ein General zur Begrüßung Untergebener, lief jedoch plötzlich voran und positionierte sich hinter dem Bronco, um mich mit seinem gesunden Arm herauszuwinken.
Ich knurrte. Mr Stern entpuppte sich damit als einer jener Männer, die annehmen, ohne männliche Unterstützung wäre eine Frau am Steuer selbstverständlich verloren. Eine Haltung, die auch die Spannungen zwischen ihm und Ruby teilweise ein bisschen erklärte. Aber okay, sollte er doch glauben, als Mann müsse er einem hilflosen Frauchen dabei helfen, aus einer Einfahrt herauszustoßen. Mir fiel dabei kein Zacken aus der Krone.
Normalerweise hätte ich den Rückspiegel benutzt, um zu sehen, ob hinten frei war, aber mit Mr Stern im Nacken, der mich mit übertriebener Gestik gerade nach hinten herauslotste, fühlte ich mich verpflichtet, mich umzusehen und so zu tun, als würde ich mich nach ihm richten. Als ich jedoch den Kopf nach hinten über die Schulter wandte, sah ich wieder diese jüngere Frau im Nachbarhaus. Dieses Mal war sie an einem der vorderen Fenster, und ich sah sie etwas genauer. Sie war füllig und nicht sonderlich attraktiv, und etwas an ihr wirkte unscharf und verschwommen wie auf diesen alten Sepiaaufnahmen von Einwanderern, die hundert Jahre zuvor in dieses Land gekommen waren. Ich hielt den Blick auf sie gerichtet, bis eine Palme mir die Sicht versperrte, und dann erinnerte ich mich wieder an diesen Mr Stern, der wild gestikulierend auf der Straße stand.
Er war flink wie ein Windhund, das muss ich ihm zugestehen, sprang im richtigen Moment aus dem Weg und tappte rückwärts den Bordstein entlang, wobei er mir mit kreisenden Bewegungen andeutete, doch endlich einzuschlagen. Das Problem war nur, dass er mir die falsche Richtung vorgab.
Aber sei's drum, geschenkt. Parkte ich halt falsch herum aus.
Ich winkte Mr Stern noch einmal zu wie der Star der Flottenparade und fuhr in der falschen Richtung los, vorbei an dem leerstehenden Haus, das zur Versteigerung anstand. Im Rückspiegel sah ich, wie Mr Stern zurückging und seine offene Haustür ansteuerte. Ich sah auch, einen halben Häuserblock hinter mir, eine lange schwarze Limousine am Straßenrand anfahren. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Die Leute in den gehobenen Wohngegenden von Siesta Key fahren ständig in Limousinen zum Flughafen. Es war auch überhaupt nichts Beunruhigendes daran, wie das Auto im selben Abstand hinter mir herfuhr. Die Straße eignete sich nicht zum Überholen, weshalb wir beide gleichmäßig schnell dahinfuhren.
Ich hatte die Absicht gehabt, an einer Seitenstraße zu wenden und zur nächsten Hauptstraße zurückzufahren, aber die Wohnstraßen auf Siesta Key sind nicht lang und an dieser gab es keine Seitenstraße. Letztlich handelte es sich hier um eine Sackstraße, an deren Ende ich einen U-Turn machte. Der Fahrer der Limousine vollzog dasselbe Wendemanöver, und ich spürte mich kurz auf besondere Weise mit ihm verbunden, da wir beide überrascht worden waren. Als ich an Mr Sterns Haus vorbeifuhr, warf ich einen Blick zu den Fenstern, an denen ich die junge Frau gesehen hatte, aber es war nichts zu sehen, außer dem gleißenden Sonnenlicht, das die Fenster reflektierten.
An den Fenstern der Limousine, die dicht hinter mir folgte, war aus demselben Grund auch nichts zu erkennen, denn die Fenster der Limousine waren schwarz gefärbt. Um ehrlich zu sein, es interessierte mich gar nicht, wer in der Limousine saß. Meine Gedanken waren zurückgewandert zu Ruby und ihrer Traurigkeit, zu Opal, einem der süßesten Babys, das ich je gesehen hatte, und zu Mr Stern, der sich kalt und gefühllos gegenüber seinen Mitmenschen zeigte, jedoch zusammen mit seiner Katze im nächtlichen Innenhof die romantischen Lichtspiele auf seinem Wasserfall verfolgte.
Schließlich sagte ich mir, dass jede Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist und dass der Grund für das Unglück von Mr Sterns Familie, worin er auch bestehen mochte, nicht das Geringste mit mir zu tun hatte. Egal, wie sehr ich Rubys Kummer nachvollziehen konnte, egal wie süß ihr Baby war, und egal, wie überzeugt ich davon war, dass sich unter Mr Sterns rauer Schale ein weicher Kern verbarg, es ging mich schlicht und einfach nichts an. Ich war, mit Verlaub, nur eine einfache Tiersitterin, sonst nichts.
An der Einmündung in die Higel Avenue wartete ich eine Lücke in dem in beiden Richtungen dichten Verkehr ab. Schließlich bog ich südwärts rechts ab, gab kräftig Gas. Von der Limousine im Rückspiegel war nichts mehr zu sehen. Stattdessen tauchte direkt hinter mir ein riesiges Insekt mit langen gelben Fühlern und einem schwarz-gelb gestreiften Körper auf. Das Insekt war auf dem Dach eines dunkelgrünen Vans montiert und lenkte meine Gedanken von Ruby und Mr Stern ab, indem ich mich fragte, ob das Ungeheuer wohl als Reklame für einen Tierpräparator oder einen Kammerjäger diente.
Später sollte ich mich fragen, warum ich mich so leicht ablenken lassen konnte. Meine einzige Entschuldigung war die, dass es seit ungefähr sechs Wochen wieder einen Mann in meinem Leben gab. Und daran war ich noch nicht gewöhnt.
3
Nach längerer Entwöhnung wieder liiert zu sein, kommt einer Art von peinlichem Dauerschluckauf gleich. Was normalerweise glatt und reibungslos abläuft, wird von ruckartigen Erkenntnisanfällen unterbrochen. Wie zum Beispiel im Supermarkt, wenn es dich plötzlich reißt und du dich fragst, ob du vielleicht anstatt drei sechs Pfirsiche kaufen solltest - falls er mal bei dir übernachtet und auch gerne einen Pfirsich hätte, wenn du einen isst. Dabei weiß du nicht einmal, ob er Pfirsiche mag, und so stehst du wie eine komplette Idiotin vor den Pfirsichen und fragst dich, wie es sein kann, dass du nicht weißt, ob der Mann, den du liebst, Pfirsiche mag. Oder wenn du nach dem Duschen das Handtuch mit exakt aufeinander ausgerichteten Enden aufhängst, falls er rein zufällig in dein Bad kommen und dich kritisieren sollte, warum du das Handtuch schief aufhängst. Oder wenn dir nicht klar ist, in welche Richtung überhaupt sich die ganze Beziehung entwickelt oder sich deiner Meinung nach entwickeln sollte. Schon beim Gedanken daran wird dir ganz schwummrig im Kopf.
Diese Gedanken hatte ich, als ich die Higel Avenue verließ und über den Ocean Drive in Richtung Village Diner fuhr, den ich nach Erledigung meiner Pflichten als Tiersitterin jeden Vormittag ansteuere. Mittlerweile war es fast zehn Uhr. Ich befand mich seit vier auf den Beinen, ohne jegliche Zufuhr von Koffein oder Essen, und ich freute mich auf ein Frühstück und ein ausgiebiges Schläfchen.
Zu meiner Entschuldigung kann ich sagen, ich war verliebt, hungrig und müde, als ich auf den mit Muschelschalen bestreuten Parkplatz neben dem Diner fuhr, und somit fiel mir die schwarze Limousine gar nicht weiter auf, die dicht neben mir in die benachbarte Parkbucht rollte. Wie schon gesagt, Siesta Key ist als Urlaubsort bei wohlhabenden Touristen äußerst beliebt, weshalb dicke Limousinen hier fast so zahlreich vorkommen wie Graureiher oder Fischreiher. Als ich aber die Wagentür öffnete und aussteigen wollte, ging die hintere Tür der Limousine ebenfalls auf, sodass ich quasi festsaß. Im Geiste zuckte ich nur mit den Schultern. Wie jeder Ganzjahresbewohner auf Siesta Key bestens weiß, sind manche Touristen dermaßen unhöflich und rüde, dass wir diese Rabauken am liebsten auf der Stelle in den Golf schmeißen würden, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass sie unsere Wirtschaft so schön in Gang halten.
Freundlich wie ein Praktikant bei der Handelskammer machte ich die Tür meines Bronco wieder zu und wartete, ließ also der fraglichen Person aus dem Fond der Limousine den Vortritt. Im nächsten Moment sprang ein Riesenkerl mit Sturmhaube an der vorderen Beifahrertür aus der Limousine, ein weiterer Maskierter sprang hinten heraus. In kürzester Zeit, es dauerte vielleicht nur eine Nanosekunde, hatten sie mir eine Hand auf den Mund gepresst, mich fixiert und mich in den geräumigen Fond der Limousine gezwängt. Selbst mitten im Geschehen, als ich, völlig geschockt, um mich schlug und schrie und brüllte und mich zu wehren versuchte, bewertete ich cool ihr Vorgehen. Diese Typen waren echte Profis.
Die Türen knallten zu, und die Limousine rollte rückwärts vom Parkplatz und fuhr mit normaler Geschwindigkeit den Ocean Drive entlang. Beide Männer waren hinten eingestiegen, sodass nur der Fahrer vorne saß. Er hielt den Blick geradeaus gerichtet, sodass ich nur seinen Hinterkopf sehen konnte. Einer der Männer auf dem Rücksitz befestigte ein Stück Klebeband auf meinem Mund, und noch ehe wir die Higel Avenue erreichten, hatten sie mir Arme und Beine gefesselt. Als der Wagen links abbog, zogen sie mir eine schwarze Mütze über den Kopf.
Obwohl ich nun also quasi blind war, kriegte ich mit, dass sie nach dem Knick, den die Higel Avenue nahm, weiter über den Siesta Drive und die Nordbrücke auf das Festland fuhren. Ein paar Sekunden lang knurrte ich böse, was aber reine Energieverschwendung war. Also beruhigte ich mich wieder und versuchte, auf alles zu achten, was mir später bei der Identifizierung der Männer behilflich sein könnte. Viel war es nicht. Die Männer im Fond sprachen ebenso wie der Fahrer kein Wort.
Nach ungefähr der Zeit, die man bis zum Tamiami Trail braucht, stoppte die Limousine, wartete und bog links ab. Wir fuhren nach Norden, also in Richtung Sarasota und Hafen. Falls sie mich auf ein Schiff bringen wollten, dann wäre dies der richtige Ort. Ob sie an der Stadt Sarasota mit ihren Läden, Theatern und Restaurants interessiert waren, bezweifelte ich.
Sie könnten den Tamiami Trail auch links verlassen und über die Brücke in Richtung Bird Key, St. Armands Key, Lido Key, Longboat Key oder Anna Maria Island fahren. Auf diesen Inseln leben reiche Leute, wenn also irgendein Multimillionär diese Schlägertypen engagiert hatte, um mich zu entführen, bringen sie mich vielleicht zum Schloss dieser Person. Aber wer sollte mich schon entführen wollen?
Aber wir verließen den Tamiami Trail nicht, sondern fuhren geradeaus weiter. Aber wohin? Mir gingen alle möglichen Ziele durch den Kopf, aber ich glaubte nicht, dass das Ringling Museum of Art darunter sein könnte oder das Ringling College of Art and Design oder der Sarasota Airport. Die Fahrt setzte sich fort, und nach einer Weile hörte ich auf, über mögliche Ziele nachzugrübeln. Stattdessen begann ich mich zu fragen, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand auf die Idee kam, dass mich jemand entführt hatte. Das war ziemlich deprimierend, weil es womöglich Stunden dauern könnte.
Aber ich lebte nun mal alleine, und mein Tagesablauf war völlig außer der Reihe. Ich stehe täglich um vier Uhr morgens auf. An den meisten Tagen habe ich vor zehn Uhr keinerlei Kontakt mit einem Wesen, das keine vier Beine und kein Fell hat. Um diese Zeit kehre ich im Village Diner zum Frühstücken ein. Ich bin dort Stammgast, und es würde auffallen, wenn ich einmal nicht komme. Tanisha, die Köchin, weiß genau, wann ich eintrudle, und sobald Judy, die Kellnerin, den Kaffee an meinen Stammplatz bringt, bereitet Tanisha bereits meine üblichen zwei Eier zu, beidseitig gebraten, mit extraknusprigen Bratkartoffeln sowie einem Brötchen. Hin und wieder jedoch lasse ich das Frühstück dort aus irgendeinem Grund ausfallen, sodass weder Tanisha noch Judy mich vermissen würden, sollte ich einmal nicht erscheinen. Sie würden gewiss nicht die Polizei anrufen und sagen, ich sei vielleicht entführt worden.
Jedoch machten beide auch mal Pause, und beide gingen nach Ende ihrer Schicht nach Hause. Beim Anblick meines Bronco auf dem Parkplatz würden sie sich fragen, warum das Auto da steht, ich aber nicht da gewesen war. Zumindest würden sie sich diese Frage stellen, wenn sie den Bronco als mein Auto erkannten. In dem Punkt war ich mir nicht sicher. Ich kannte Judy und Tanisha nun wirklich sehr gut, wusste aber nicht, welches Auto die beiden fuhren. Ich sah sie nur im Diner, nicht am Steuer ihres Autos, was umgekehrt auch für die beiden zutraf. Mist. Nach Lage der Dinge konnte mein Bronco also zwei, drei Tage auf diesem Parkplatz herumstehen, bis jemand auch nur den geringsten Verdacht schöpfen würde.
Michael, mein Bruder, würde mich vermissen, aber auch nicht gleich. Er und sein Lebenspartner Paco leben an der Golfseite in dem Holzrahmenhaus, in dem Michael und ich bei unseren Großeltern aufgewachsen waren. Ich wohne direkt daneben in einem Appartement über einem vierteiligen Carport. Michael ist Feuerwehrmann beim Sarasota Fire Departement und arbeitet im 24 /48-Stunden-Rhythmus, was bedeutet, er ist 24 Stunden im Dienst und hat dann 48 Stunden frei. Er hatte seinen Dienst an diesem Morgen um acht Uhr angetreten, würde also vor dem nächsten Tag nicht nach Hause kommen. Paco ist Undercoveragent im Sheriff 's Departement von Sarasota County. Seine Einsätze finden unregelmäßig und unangekündigt statt; es war also ungewiss, ob er nach Hause kommen und sich fragen würde, wo ich abgeblieben sei.
Und dann gab es noch Guidry, seines Zeichens Mordermittler im Sheriff 's Departement von Sarasota County. Guidry mit seinen ruhigen grauen Augen, seiner markanten Nase und einem Gesicht, das so todernst wirkt, bis man die kleinen Lachfältchen an den Augenwinkeln entdeckt. Guidry, der mein Herz erbeben ließ, wenn wir zusammen waren, aber wir waren nicht regelmäßig zusammen, weil wir beiden noch nicht bereit waren für was Festes. Wir beide waren eher von der spontanen Sorte. Jedenfalls sagten wir das, einander und uns selbst, aber irgendwie hatte unsere Spontaneität zu einer beträchtlichen Zahl gemeinsam verbrachter Abende und auch Nächte geführt, was uns beide scheu machte wie Wildkatzen, die »es« zwar wollen, aber auch davor zurückschrecken.
Wenn Guidry bei mir anrufen sollte und ich nicht antwortete, würde er vermuten, ich bürstete gerade eine Katze oder reinigte gerade ein Katzenklo. Sollte er es daraufhin noch mal versuchen, würde er glauben, ich holte gerade Informationen über einen neuen Kunden ein oder steckte in einem Stau fest. Wenn ich aber nicht zurückrief, würde er sicher annehmen, dass etwas nicht stimmte. Doch selbst in dem Fall würde er nicht vermuten, dass ich entführt worden war. Ich meine, wer wird schon entführt? Die Sprösslinge reicher Eltern. Die Bosse multinationaler Konzerne. Drogenbosse im Auftrag rivalisierender Banden. Politiker in der Dritten Welt. Aber bitteschön doch keine Tiersitter.
Als die Limousine nach rechts abbog, hatte ich längst die Orientierung verloren. Ich wusste lediglich, dass wir ein gutes Stück nördlich von Sarasota waren. Nach einer Strecke von gefühlten zwei oder drei Meilen fuhren wir wieder nach links. Ich hörte das Aufheulen hochdrehender Motoren und spürte das Rumpeln über Highway-Nahtstellen, weshalb ich vermutete, dass wir auf den Highway 301 eingebogen waren. Nach abermals etlichen Meilen bogen wir wieder nach rechts ab und fuhren so lange geradeaus, dass wir wohl den Interstate Highway 75 gequert haben mussten, ehe wir nach links, zweimal nach rechts und dann wieder links auf eine Straße eingebogen waren, von welcher der Kies gegen die Unterseite der Limousine prasselte.
Abermals ging es links ab, dann kam die Limousine zum Stillstand. Ich hörte elektronische Beep-Geräusche, als würde jemand ein Tastenfeld benutzen, dann ein Schleifgeräusch wie von Metall auf Asphalt. Dann rollte die Limousine abermals ein kurzes Stück nach vorne und blieb stehen.
Einer der Männer zog mir die Mütze vom Kopf. »Okay, Kleines, wir sind da.«
Ich sah aus dem Fenster auf ein gepflastertes Areal, auf dem ein Flugzeug vor einem Hangar stand. Mit Flugzeugen kenne ich mich nicht allzu gut aus, aber mir war klar, für ein Privatflugzeug war diese Maschine ziemlich groß. Ein kunstvoll mit Bäumen und blühenden Sträuchern bepflanzter Streifen trennte den Hangar von einem weitläufigen Haus mit niedriger, geschwungener Dachlinie. Der Hangar sah beinahe aus wie eine gewöhnliche freistehende Garage, nur dass der Bau groß genug war für ein ziemlich großes Flugzeug.
Ein großgewachsener, breitschultriger Mann trat aus dem Hangar wie Donald Trump höchstpersönlich, gerade im Begriff, jemanden zu feuern. Er war von mittlerem Alter, hatte graumeliertes, von einer Stirnglatze streng zurückgekämmtes Haar, eisblaue Augen und ein Pferdegesicht, das eigentlich nicht schlecht aussah, hätte er nicht so finster dreingeblickt.
Der Fahrer der Limousine ließ das Fenster heruntergleiten und grinste. »Hi, Tuck. Hier ist die Kleine. Wir haben sie vom Haus des Alten aus verfolgt.«
Der Mann beugte sich herunter, um ins Auto zu sehen, und die beiden maskierten Männer packten mich noch fester an den Armen und drehten mich herum, um mich zur Besichtigung freizugeben. Ich tat mein Bestes, keine Furcht zu zeigen, als ich ihm finster entgegenblickte.
Sein Blick glitt einige Male an mir auf und ab, woraufhin er den Mund verzog und kurz ein erschrockenes Gesicht machte. Dann kehrte seine eiskalte Arroganz zurück. »Das ist die Falsche!«
Der Fahrer drehte sich halb nach mir um, um mich anzusehen. »Sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher! Meine Güte, bin ich denn von lauter Trotteln umgeben!«
Sein kalter Blick fixierte mich. »Ma'am, Sie sollen wissen, dass ich damit nichts zu tun habe. Ich weiß absolut nichts darüber, was diese Männer im Schilde führen.«
Seine Wut wieder auf den Fahrer gerichtet, sagte er: »Sieh zu, dass du mir diese peinliche Angelegenheit vom Hals schaffst, Vern!«
»Vom Hals schaffen in der Bedeutung von ...«
»Nein, du Volltrottel! Ich meine, schaff die Sache aus der Welt! Ohne dass jemand verletzt wird! Verstanden?«
Hinter ihm waren noch einige weitere Männer aus dem Hangar hervorgekommen, um einen Blick auf die falsche Geisel auf dem Rücksitz der Limousine zu erhaschen. Ich hatte den Eindruck, mit ihnen wäre ich sehr viel besser dran als mit Vern, weshalb ich versuchte, zu quieken und zu quietschen, so laut ich konnte, es eilte aber niemand herbei, um mir das Isolierband vom Mund zu reißen.
Mit dem Klang verletzter Ehre und anmaßender Selbstgerechtigkeit in der Stimme sagte Vern: »Was soll ich denn jetzt bloß mit ihr machen?«
»Du hast die Sache doch verbockt. Also sieh zu, was du jetzt machst! Und lass dich hier erst wieder blicken, wenn du zur Vernunft gekommen bist.«
Er schlurfte zurück in den Hangar, und die Rolltore glitten langsam herab. Vern wartete, bis die Tore schließlich mit dem dumpfen Geräusch finaler Endgültigkeit auf dem Pflaster aufsetzten. Dann startete er wutentbrannt den Wagen, wendete mit quietschenden Reifen und raste durch die offene Einfahrt nach draußen. Ich konnte zwar nichts sehen, aber ich war mir sicher, dass sich die Tore hinter uns schlossen. Ich fragte mich, ob der Mann den Code zum Öffnen des Tors ändern würde.
Die Männer auf dem Rücksitz ließen mir etwas mehr Spielraum. Einer von ihnen wandte sich mir zu und sprach durch den Schlitz in seiner Maske.
»Da haben wir wohl einen Fehler gemacht.« Er klang zuversichtlich, als glaubte er, ich würde die Sache vergessen.
Der andere sagte: »Vern, was soll denn jetzt mit der Kleinen passieren?«
Das hätte ich auch gern gewusst.
Sie hatten mir die Mütze nicht wieder aufgesetzt, und in dem Spiegel im Armaturenbrett an der Fahrerseite konnte ich sehen, wie Verns Stirn sich in der Anstrengung darüber kräuselte, was er nun mit mir anstellen sollte. Ziemlich klar war, dass mir, was auch immer ihm einfallen würde, nicht sonderlich gefallen würde.
Er fasste mich im Spiegel ins Auge. »Du hast keine Chance, Lady. Wenn du nicht dichthältst, sagen wir einfach, dass du lügst. Du stehst alleine da mit deiner Aussage.«
Ich nickte und versuchte einen kleinmütigen Eindruck zu machen, was mich einiges an Überwindung kostete. Ich versuchte, auch verängstigt zu wirken, was mir keinerlei Probleme bereitete.
Wir traten die Rückfahrt an, zuerst entlang der kurvigen einspurigen Schotterpiste, dann über einige Straßen, an denen die Grundstücke mindestens ein Tagwerk groß waren, mit hier und da ein oder zwei grasenden Pferden drauf. Ich wusste, wir waren in den Außenbezirken irgendeiner Kleinstadt, aber die Gegend war mir nicht vertraut. Dazu kam, dass Vern anscheinend gar keine feste Route im Kopf hatte, sondern einfach ziellos drauflos fuhr, in der Hoffnung, ihm würde etwas einfallen.
Schließlich näherten wir uns einer Auffahrt zum Interstate Highway 75, wo es eine Raststätte mit Tankstellen und diversen Fastfood-Läden gab. Vern bog auf einen freien Parkplatz hinter einer »Friendly's«-Filiale. Mit dem Motor im Leerlauf wandte er sich mir zu.
»Okay, es geht folgendermaßen weiter. Wir nehmen dir jetzt die Fesseln ab, lassen dich frei und hauen ab. Du wirst uns nicht dabei beobachten. Wenn wir weg sind, kannst du zu Friendly's latschen und dir ein Taxi rufen. Das wird dich dorthin zurückbringen, wo wir dich aufgegriffen haben. Und du wirst die Klappe halten und keinem was von der Sache erzählen. Comprende?«
Ich nickte, versuchte aber gleichzeitig mir sein Gesicht zu merken, während er sprach. Die obere Zahnreihe war bei ihm ganz bedeckt, während die unteren Zähne, Raucherzähne, am Ansatz schwarz waren, bei magentafarbenem Zahnfleisch. Beim Sprechen waren die Unterzähne sichtbar, was ihm das Aussehen einer Bulldogge verlieh. »Wenn du uns verrätst, schnappen wir dich. Und beim nächsten Mal wird garantiert keine Fahrt ins Blaue daraus. Kapiert?«
Ich nickte abermals. So heftig wie ich nur konnte.
Er sagte: »Okay, nehmt ihr die Fesseln ab.«
Damit meinte er, sie sollten das Isolierband durchtrennen, womit sie mir die Hand- und Fußgelenke zusammengebunden hatten. Was isoliert man eigentlich mit Isolierband? Ich weiß lediglich, mittlerweile auch aus eigener Erfahrung, dass das Zeug Kidnappern ihr Handwerk deutlich erleichtert.
In den Sturmhauben konnte ich die Augen der Männer erkennen, und ich hatte den Eindruck, sie wirkten verunsichert und auch irgendwie betreten. Was man von Vern nicht gerade behaupten konnte. Vern war wie jeder Loser auf dieser Welt nur mit Selbstmitleid beschäftigt.
Ich war gelehrig wie eine Ragdoll-Katze und verhielt mich absolut ruhig. Als sie das Isolierband von meinen Handund Fußgelenken entfernt hatten, drückte mir Vern einen 50-Dollar-Schein in die Hand.
»Für's Taxi.«
Einer der anderen Männer murmelte zustimmend. Dann öffneten sie die Autotür und machten Platz, damit ich aussteigen konnte. Kaum war ich draußen, knallte die Autotür zu, und die Limousine raste vom Parkplatz. Ich hätte mich entgegen unserer Abmachung umdrehen können, um die Nummernschilder zu identifizieren, aber der Wagen war außer Sichtweite, bevor mein Körper überhaupt aufgehört hatte zu zittern.
Vorsichtig hob ich das Isolierband an einer Ecke an, um es dann nach und nach von meinem Mund abzuziehen. Das fühlte sich an, als ob ein Teil meiner Lippe gleich mit abgehen würde, aber es blutete nicht. Das Klebeband zwischen Daumen und Zeigefinger weit von mir haltend, wankte ich nach vorne zum Eingang des Restaurants. Eine Familie kam gerade heraus, und der Vater hielt mir die Tür auf. Ich bedankte mich bei ihm und steuerte direkt das hinten liegende Damenklo an.
Wie ich gehofft hatte, befand sich neben einer ganzen Reihe von Waschbecken ein Spender für Papierhandtücher an der Wand. Es waren diese glatten, braunen Tücher, zum Händetrocknen gänzlich ungeeignet, dafür aber ideal, um Fingerabdruckspuren auf einem Stück Isolierband zu sichern. Ich zog ein Handtuch heraus, wickelte es lose um das Klebeband, welches ich dann in einer der Taschen meiner Cargohose verschwinden ließ. Dann lehnte ich mich an den Tresen und zitterte erst einmal eine ganze Weile. Adrenalin hat diese Wirkung. Nachdem ich meine Fassung mehr oder weniger wiedererlangt hatte, ging ich auf die Toilette, wusch mir dann das Gesicht und die Hände und begutachtete meine geschwollenen Lippen im Spiegel. Frauen, die gerne Lippen wie Angela Jolie hätten, können teure Collagenspritzen komplett vergessen. Es genügt völlig, wenn sie sich alle paar Tage ein Stück Isolierband vom Mund reißen.
Jetzt blieb mir nur noch, mein Handy aus der Tasche zu ziehen und Guidry anzurufen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Christian Kennerknecht
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Autoren-Porträt von BLAIZE CLEMENT
Blaize Clement war 25 Jahre lang als Psychologin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie hat zwei Kinder und fünf Enkel und lebt in Sarasota, Florida. Ihre Romane um die Tiersitterin Dixie Hemingway trugen der Autorin lobende Vergleiche mit Katzenkrimi-Altmeisterin Lilian Jackson Braun ein.
Bibliographische Angaben
- Autor: BLAIZE CLEMENT
- 2013, 1, 272 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863658426
- ISBN-13: 9783863658427
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