Pinien im Wind
Mitten in den Kriegswirren des Jahres 1943 scheint im Herzen der Toskana die Zeit stehengeblieben zu sein. Cecilia, die Tochter eines Weingut-Padrones, verliebt sich in den deutschen Offizier Alexander. Doch dann zerbricht die Allianz zwischen Italien und Deutschland
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Produktinformationen zu „Pinien im Wind “
Mitten in den Kriegswirren des Jahres 1943 scheint im Herzen der Toskana die Zeit stehengeblieben zu sein. Cecilia, die Tochter eines Weingut-Padrones, verliebt sich in den deutschen Offizier Alexander. Doch dann zerbricht die Allianz zwischen Italien und Deutschland
Lese-Probe zu „Pinien im Wind “
Pinien im Wind von Francesca SantiniNeapel, November 1942
Cecilia hörte das Dröhnen der Flugzeuge und zuckte zusammen. Sie widerstand nur mühsam dem Impuls, aufzuspringen und in den Keller zu fliehen, so wie es die meisten Menschen in der Stadt vermutlich in diesem Augenblick taten.
Seit dem ersten Bombenangriff auf italienischem Festland in der vergangenen Woche war damit zu rechnen, dass die Alliierten ihre Attacken aus der Luft fortsetzen würden. Doch Cecilias Entsetzen war genauso schlimm wie beim ersten Mal, und als sie das Heulen niedergehender Bomben und die anschließenden Explosionen hörte, hätte sie am liebsten die Hände auf die Ohren gepresst und sich in einer Ecke verkrochen, bis es aufhörte. Doch natürlich tat sie nichts dergleichen. Sie gab sich kühl und gelassen und beruhigte die Kinder. Die größeren versuchten aufzustehen, während die kleineren weinten und nach ihren Müttern riefen. Andere wiederum lagen nur apathisch da, vor Angst wie gelähmt und die Augen weit aufgerissen und flehend auf Cecilia gerichtet, als läge es in ihrer Macht, die Bedrohung abzuwenden.
Acht Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren befanden sich in dem Krankenzimmer, und im Moment war Cecilia die Einzige vom gesamten Personal, die ihnen die Angst nehmen konnte - und das auch nur, weil sie zufällig im Zimmer gewesen war, als der Angriff begonnen hatte.
»Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, sagte sie gefasst, Euch geschieht nichts!«
»Aber die Tommies werfen Bomben auf uns«, rief ein kleiner Junge aus. »Eine wird uns treffen, und dann wird das ganze Krankenhaus abbrennen!«
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»Meine Mutter soll kommen«, schluchzte eines der Mädchen, eine Fünfjährige mit eingegipstem Beinchen. »Ich will nach Hause! Ich will nicht sterben! Die Tommies sollen keine Bomben auf mich werfen!«
Cecilia wandte sich zu ihr um. »Das tun sie nicht! Sie werden nicht auf das Krankenhaus zielen, ganz bestimmt nicht!«
Die Kleine hörte nicht auf sie, sondern weinte in stummem Entsetzen vor sich hin, die Händchen um die Gitter ihres Betts gekrampft.
Cecilia ging zu ihr, wobei sie einen Blick auf die am Fußende befestigte Patientenkarte warf. »Marina ... Das ist doch dein Name, oder?«
Die Kleine nickte und schluckte krampfhaft, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen.
»Weißt du, wer ich bin, Marina?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Du bist die Dottora!«, rief ein anderes Mädchen. Es war vor einer Woche am Blinddarm operiert worden und würde in den nächsten Tagen wieder entlassen werden.
»Richtig«, sagte Cecilia. »Ich bin eure Ärztin, und ich sage euch, dass die Tommies keine Bomben auf kranke Kinder werfen. Doktoren dürfen ihre Patienten nicht belügen.«
»Das stimmt nicht«, behauptete der kleine Junge, der sich eben noch so lautstark gefürchtet hatte. Er hieß Matteo und war an der Leiste operiert worden. »Der andere Doktor hat gesagt, dass die Spritze nicht wehtut, aber sie tat doch weh!«
Marina unterbrach ihr Schluchzen und wandte sich zu ihm um. »Das war nur, weil du ein Jammerlappen bist!«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach der Kleine empört.
»Wohl wahr! Wohl wahr!«
Cecilia unterdrückte ein Schmunzeln - und stellte gleichzeitig fest, dass ihr Vorhaben, die Kinder abzulenken, immerhin teilweise geglückt war. Die meisten hatten aufgehört zu weinen und konzentrierten sich auf die Unterhaltung zwischen ihr und den Kindern.
Doch dann wurde das Dröhnen der Flugzeugmotoren von einem pfeifenden Heulen übertönt. Das Krachen des Einschlags fiel mit dem entsetzten Kreischen der Kinder zusammen; die Bombe musste ganz in der Nähe eingeschlagen sein, denn die Detonation war so gewaltig, dass sie das Gebäude erschütterte.
Bisher hatten die Alliierten nur die Hafenanlagen und die Bahnhöfe bombardiert, jedenfalls waren das die offiziellen Verlautbarungen, die täglich auf BBC zu hören waren. Doch Cecilia hatte in den vergangenen Tagen auch Bombentrichter an Stellen gesehen, wo vorher normale Wohnhäuser gestanden hatten. Ganze Familien waren ausgelöscht worden, und diejenigen, die das Glück gehabt hatten, während des Angriffs nicht zu Hause zu sein, hatten hinterher vor den Trümmern ihrer Habe gestanden. Seitdem waren die Menschen klug genug, beim Ertönen der Alarmsirenen rechtzeitig die Luftschutzkeller aufzusuchen, die von der Stadtverwaltung in aller Eile eingerichtet worden waren. Doch auch dabei gerieten sie in Gefahr, denn es gab nicht genug Bunker für alle; Cecilia hatte einen Teil der Leute behandelt, die beim letzten Angriff bei ihrem Bemühen, rechtzeitig in die Schutzräume zu gelangen, brutal niedergetrampelt oder zu Boden gestoßen worden waren.
Was das Krankenhaus betraf, so hatte die Verwaltung die Devise ausgegeben, dass die Menschen hier sicher seien, doch das erneute Röhren der schweren Liberators über den Dächern von Neapel und das Sirren der überall um sie herum niederfallenden Bomben schienen diese Annahme zu widerlegen.
Dann war mit einem Mal ein anderes Motorengeräusch zu hören. Es war nicht so dunkel wie das der großen Bomber der Alliierten, die Cecilia schon mehrfach über die Stadt hatte hinwegziehen sehen, aber es klang nicht minder bedrohlich. Ein ohrenbetäubendes, näherkommendes Dröhnen, das anschwoll, bis nichts anderes mehr zu hören war, und gleichzeitig setzte ein stakkatoartiges Hämmern ein, scharf und durchdringend laut.
Sturzbomber, dachte Cecilia. Das Krankenhaus wurde von Sturzbombern angegriffen!
Irgendwo in der Nähe ging Glas zu Bruch, und unter ihren Füßen wackelte der Boden. Salvenweise erschütterten die Einschläge der Bordgeschütze das Gebäude. Cecilia spürte das Krachen bis in die Fingerspitzen, und die Kinder schrien voller Panik auf, als die Fensterscheiben in einem Schauer von Splittern ins Zimmer hineinbarsten.
In rasender Eile lief sie von einem Bettchen zum anderen und kontrollierte den Zustand der Kinder. Wie durch ein Wunder war keines von ihnen von den Schüssen oder den herumfliegenden Glasstücken getroffen worden. In Marinas Gipsbein steckte eine riesige gezackte Scherbe, doch sie schien weiter keinen Schaden angerichtet zu haben. Die Kleine starrte ihr Bein an, das Gesichtchen eine starre Maske der Angst.
»Na, da wirst du aber viel zu erzählen haben, wenn du wieder nach Hause kommst«, sagte Cecilia mit gespielter Munterkeit. Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, ergriff sie die Glasscherbe und zog sie aus dem Gips.
Die Kinder weinten und schrien durcheinander, doch ein Teil dieser Gefühlsäußerungen war auch auf die nachlassende Anspannung zurückzuführen. Fürs Erste schien die Gefahr vorbei. Der Tiefflieger war wieder aufgestiegen; das Knattern der Propeller entfernte sich. Auch das dumpfe Dröhnen der Liberators war nur noch schwach zu hören. Offenbar waren die Alliierten für diesmal fertig mit Neapel.
Etwas Nasses lief Cecilia über das Gesicht, und zuerst glaubte sie, dass sie ebenso wie die Kinder die Beherrschung verloren und angefangen hatte zu weinen. Doch als sie ungeduldig mit der Hand über die Wangen fuhr, um die vermeintlichen Tränen wegzuwischen, waren ihre Finger anschließend voller Blut.
*
Der Schnitt dicht über ihrer rechten Braue ging bis auf den Knochen; einer ihrer Kollegen, der einen flüchtigen Blick darauf warf, versicherte ihr, dass sie unglaubliches Glück gehabt hätte.
»Zwei Zentimeter weiter unten, und du wärst jetzt halbseitig blind.« Er drückte ihre Finger gegen die Kompresse. »Gut festhalten!« Und schon eilte er weiter, zu den Verwundeten, die seit dem Bombenangriff zu Dutzenden von draußen hereingeschafft wurden. Das Nähen eines - wenn auch tiefen - Schnitts konnte warten, im Gegensatz zu den vielen schweren Verletzungen der Bombenopfer.
Cecilia lehnte zusammengesunken auf dem Schemel, den eine der Schwestern im Materialraum für sie bereitgestellt hatte, bevor auch sie wieder losgerannt war, um sich um die Verletzten zu kümmern.
Cecilia drückte die blutgetränkte Kompresse gegen die Wunde und verfluchte sich für das Gefühl der Schwäche in ihren Beinen, das sie jedes Mal, wenn sie aufstehen wollte, wieder zurücksinken ließ.
Amphetamin, dachte sie. Ich brauche ein Aufputschmittel und einen Verband, dann kann ich weitermachen!
Ohne Verband würde es nicht gehen, das hatte sie schon festgestellt, als sie die Kompresse gegen eine frische Lage von dem Mull ausgetauscht hatte, den die Schwester ihr hektisch zur Selbstbehandlung hingelegt hatte. Sobald sie aufhörte, auf die Wunde zu drücken, blutete sie so stark, dass es ihr in die Augen lief. Eine Ärztin, die ihre Patienten nicht ordentlich sehen konnte, taugte nicht viel. Und eine, die zitterte wie eine Pappel im Wind, schon gar nicht. Wütend betrachtete Cecilia ihre freie Hand. Ihre Finger bebten, als wären sie an eine versteckte Stromquelle angeschlossen. Sie ballte sie zur Faust, doch es half nichts, das Zittern wollte nicht aufhören.
Es stank durchdringend nach Rauch. Irgendwo in der Nähe, vielleicht sogar im Krankenhaus, musste es gebrannt haben, doch offenbar hatte man das Feuer rasch gelöscht. Dafür mehrten sich andere Anzeichen für die entsetzlichen Folgen des Angriffs. Schmerzensschreie, Gewimmer und lautes Schluchzen drangen vom Gang durch die offen stehende Tür herein. Das Stimmengewirr schwoll stetig an und verdichtete sich schließlich, bis es in Cecilias Ohren zu einem unaufhörlichen, betäubenden Summen wurde.
Die Tür stand offen, und Cecilia sah, wie Verletzte auf Tragen oder Rollliegen durch den Gang transportiert wurden. Überall schien planlose Hektik zu herrschen. Ärzte und Schwestern kamen in den Materialraum gestürzt, sie holten kistenweise Nachschub an Spritzen und Verbandsmaterial, das mit bedrohlicher Geschwindigkeit zusammenschmolz.
Cecilia atmete tief durch und hielt einen der vorbeihuschenden weißen Schemen am Ärmel fest. »Ich brauche Amphetamin«, sagte sie. »Sofort!«
Der Kollege, ein erfahrener Arzt in den Fünfzigern, blieb neben ihr stehen und schaute ihr prüfend ins Gesicht. »Du bist bleich wie Kreide. Ich fürchte, du hast einen Schock. Außerdem blutest du wie abgestochen. Du solltest dich rasch hinlegen. Ich schicke eine Schwester mit einem Bett, und später komme ich dann zum Nähen, in Ordnung?«
Er wollte sich abwenden und wieder hinauseilen, aber Cecilia hielt ihn fest. Sie zeigte auf den Schrank, in dem die Medikamente aufbewahrt wurden. »Spritz mir ein Kreis- laufmittel, um den Rest kümmere ich mich selbst.« Rasch fügte sie hinzu: »Ich höre die Leute draußen schreien. Ihr braucht alle Hilfe, die ihr kriegen könnt, auch meine.«
Ihr Kollege zögerte kurz, sah dann aber offenbar ein, dass sie recht hatte. Beim Setzen der Spritze zitterte seine Hand ein wenig, und um ein Haar hätte er die Vene verfehlt.
»Was ist passiert?«, fragte sie. »Wieso haben die Tiefflieger der Tommies das Gebäude beschossen?«
»Nicht das Gebäude«, sagte ihr Kollege, während er den Kolben der Spritze niederdrückte. »Sie haben einen Konvoi beschossen, der gerade hier angekommen war.«
»Was für einen Konvoi?«
»Ein halbes Dutzend deutscher Armeelaster. Sanitätsbataillon. Sie kamen vom Hafen, um Verwundete zu bringen.«
»Deutsche Soldaten?«
»Nein, italienische. Glaubst du vielleicht, hier würde sonst so ein Aufstand herrschen? Die Tommies haben eine Korvette vor der Küste bombardiert, und die Deutschen waren zufällig da. Sie haben die Überlebenden herausgefischt und sie hergebracht.«
Verachtung lag in seiner Stimme, aber sie richtete sich ganz offensichtlich nicht nur gegen die Alliierten, die für den Angriff verantwortlich waren.
Cecilia nahm es schweigend zur Kenntnis, ebenso wie seine nachfolgende Bemerkung, die er mit unüberhörbarer Verbitterung vorbrachte. »Dieser verfluchte Krieg! Wie konnten wir uns je mit den Deutschen einlassen! Es sind unsere Jungs, die für diesen Nazikrieg da draußen sterben! In Afrika und auf dem Balkan, und nun auch hier!«
Sie wusste, dass er einen Sohn hatte, der in Tunesien kämpfte, weshalb sie davon absah, seine Worte zu kommentieren. Ohnehin hätte sie nichts sagen können, was sich von seiner eigenen Ansicht unterschied. Sie war derselben Meinung wie er, der, wie sie sich genau erinnerte, noch vor wenigen Monaten Sympathie für die Fascia bekundet hatte. Davon war nicht mehr viel übrig geblieben. Die Beliebtheit Benito Mussolinis und seiner Schwarzhemden hatte sich mit jeder Bombe, die auf Italien niederfiel, drastisch verringert. Mit dem Einsetzen der grausamen Luftangriffe auf italienische Städte begann es den meisten Menschen, sogar den Faschisten hierzulande, zu dämmern, dass das sogenannte Achsenbündnis zwischen Italien und Deutschland doch keine so gute Idee gewesen war. Hitler hatte einen allseitigen Krieg angezettelt, und nun steckte Italien nolens volens mit drin, wobei der eigentliche Schrecken darin bestand, dass die Kampfhandlungen, die sich bisher in scheinbar sicherer Ferne abgespielt hatten, nach dem Eintritt der Amerikaner in den Krieg schlagartig näher gerückt waren - in Gestalt eines tödlichen Bombenregens auf italienische Städte. Die Faschisten mochten immer noch großmäulig den baldigen Sieg propagieren, aber wenn dem wirklich so wäre, fragte es sich, warum die Kämpfe in Afrika sich nun schon so lange hinzogen und dabei immer mehr Boden preisgegeben wurde.
Der Arzt nahm sich die Zeit, Cecilias Wunde zu versorgen. Mit raschen, geschickten Stichen vernähte er den Schnitt und legte anschließend einen Kopfverband an. »Jetzt siehst du aus wie ein paar von den armen Jungs, die sie vorhin gebracht haben.« Er blickte ihr prüfend in die Augen. »Wie fühlst du dich?«
Sie lächelte in flüchtiger Dankbarkeit. »Besser.«
Das war die Wahrheit. Das Mittel hatte bereits angefangen zu wirken. Sie fühlte sich von frischer Energie durchströmt, und als sie von dem Schemel aufstand, war von dem Schwindel, der sie noch vor einer Viertelstunde niedergezwungen hatte, nichts mehr zu spüren. Auch das Zittern hatte aufgehört. Sie würde ohne Probleme arbeiten können.
Ihr war klar, dass sie in ein paar Stunden die Zeche für ihren neu erwachten Tatendurst würde zahlen müssen, doch im Augenblick war nur wichtig, dass sie helfen konnte.
Sie erwog kurz, einen frischen Kittel anzuziehen, weil der, den sie trug, von ihrem Blut befleckt war, doch ein Blick auf die Arbeitskleidung ihres Kollegen überzeugte sie davon, dass sie sich die Mühe auch sparen konnte. Er sah aus, als käme er aus einem Schlachthof.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte sie ihm hinaus auf den Gang.
*
Der Anblick übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie sagte sich, dass sie nach all den Schreien und dem Stöhnen, das sie vorhin gehört hatte, nichts anderes hatte erwarten können. Trotzdem war es weit schrecklicher als alles, was sie bisher gesehen hatte.
Sie hatte schon Kinder versorgt, die nach Unfällen ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Sie hatte offene Brüche eingerichtet, scheußliche Platzwunden vernäht, ausgedehnte Quetschungen und andere Traumata behandelt. Aber noch nie hatte sie so viele Schwerstverletzte auf einmal gesehen, noch dazu solche, denen MP-Geschosse die Körper zerschlagen und Bombentrümmer die Gliedmaßen abgerissen hatten. Überall war Blut.
Auf den ersten Blick schienen es etliche Dutzend Soldaten zu sein, die von Helfern hergebracht worden waren und nun auf Tragen und Liegen in den Gängen, den viel zu kleinen Räumen der Notambulanz und den einzelnen Untersuchungszimmern lagen. Cecilia sah auf den ersten Blick, dass die meisten von ihnen dringend operiert werden mussten. So wie einer der Soldaten, dem eine Hand abgerissen worden war. Jemand hatte ihm den Unterarm abgebunden und Morphium gespritzt. Er starrte blicklos auf den zerfetzten Stumpf, als hätte er den Verlust noch nicht recht begriffen. Die Wunde musste dringend chirurgisch versorgt werden, doch im Augenblick waren beide Operationsräume in Betrieb, wie an den roten Warnlampen über den Türen zu sehen war. Vermutlich die beiden schlimmsten Fälle von allen - obwohl beim Anblick der anderen kaum vorstellbar war, dass es überhaupt noch schlimmere gab.
Manche der Verletzten waren bewusstlos, vielleicht sogar tot. Alle waren sie in Marineuniform und triefend nass. Ein bleicher junger Mann, der ihr bei näherem Hinsehen noch ein Junge zu sein schien, lag zusammengesunken an der Wand. Er hatte offenbar versucht, sich von der Trage wegzuschleppen, und niemand hatte darauf geachtet. Die Schwestern und Ärzte kümmerten sich um die Männer, die zu verbluten drohten.
Cecilia eilte zu dem Jungen und tastete nach seinem Puls. Sie fand keinen und drückte ihm das Stethoskop gegen die Brust. Kein Herzschlag.
Sie holte erschüttert Luft und wandte sich der nächsten Trage zu. Der junge Marinekadett, der darauf kauerte, wirkte nur wenig älter als der Tote, der keine zwei Meter von ihm entfernt an der Wand lag. Er trug einen blutgetränkten Augenverband, kaum mehr als eine provisorische Kompresse. Tränen liefen aus seinem gesunden Auge, als er zu ihr hochsah. »Madonna, was ist mit meinem Gesicht passiert? Ich habe etwas gegen die Schmerzen bekommen, aber ich weiß nicht, was mit meinem Auge los ist. Könnten Sie nachschauen und es mir sagen? Bitte!«
Sie blickte sich um und suchte nach einer Lücke, durch die sie die Rolltrage hindurch zu einem der Untersuchungszimmer schieben könnte, doch nicht nur der Gang war rettungslos zugestellt, sondern auch die wenigen schmalen Räume der Ambulanz. Man hatte bereits begonnen, das Labor und sogar den Verwaltungstrakt für die medizinische Notversorgung freizuräumen. Cecilia sah, wie weiter vorn auf dem Gang Ärzte gemeinsam mit dem Hausmeister Stühle und Schreibpulte an der Wand stapelten, um Platz für die Verwundeten zu schaffen.
Der Blick des Jungen war verzweifelt. Er war bei vollem Bewusstsein, und sein Kreislauf schien stabil zu sein, womit er fraglos einer der weniger dringenden Fälle war, doch das, worum er Cecilia bat, würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Vorsichtig hob sie die Kompresse an einem Ende an und schaute darunter. Scharf einatmend, nahm sie die Hand des Jungen. Seine Finger zitterten, so wie vorhin noch ihre. »Wie heißt du?«, fragte sie, so, wie sie es immer bei den Kindern tat, um Nähe herzustellen und ihnen die Angst zu nehmen.
»Angelo«, sagte er mit erstickter Stimme. »Es ist weg, oder? Mein Auge ist weg!«
Sie nickte und drückte seine Hand, mehr konnte sie im Augenblick nicht für ihn tun. Er fiel schluchzend in sich zusammen, und sie ging weiter, dem Bedürfnis widerstehend, ihn tröstend in die Arme zu nehmen. Er war beinahe noch ein Kind, und nun war er ein Krüppel. Sie wandte sich dem nächsten Kadetten zu, der wie die beiden anderen kaum dem Knabenalter entwachsen war. Er hatte eine Schuss- wunde am Bauch, die nicht allzu gefährlich aussah. Das Projektil hatte nur seine Seite gestreift und dabei vermutlich eine Rippe geprellt. Er atmete heftig und war bleich, doch die Wunde war glatt und sah sauber aus. Es blutete zwar stark, doch das ließ sich mit einem Druckverband beheben. Cecilia eilte zurück in den Materialraum, holte ein Tablett mit den benötigten Materialien und versorgte den jungen Marinesoldaten.
»Die anderen sind alle tot«, sagte er mit erstickter Stimme. »Nur wir sind übrig geblieben. Die meisten hat die Bombe erwischt. Weg, genau wie die ganze Korvette. Erschlagen, verbrannt, ertrunken. Ich habe sie gesehen, wissen Sie. Sie schwammen im Wasser. Manche ohne Köpfe, ohne Arme. Nur noch Fetzen.« Er weinte.
»Hast du Schmerzen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf, doch es war klar, dass er log. »Du musst es nicht aushalten«, sagte sie sanft. Sie gab ihm eine Spritze und strich ihm leicht über die Stirn, bevor sie weiterging. Wut stieg in ihr auf und überlagerte das Mitleid und das Entsetzen.
Jungen!, dachte sie. Das hier waren doch alles noch Jungen! Welche Verbrecher hatten sich erdreistet, sie in Uniformen zu stecken und sie in den Krieg zu schicken?
Cecilia kämpfte sich durch das Gewimmel von Ärzten, Schwestern und Patienten, das im Gang und den umliegenden Räumen für drangvolle Enge sorgte. Dabei wurde sie zum ersten Mal gewahr, dass sich auch deutsche Soldaten in der Ambulanz befanden. Sie hatten ebenfalls Verletzte zu beklagen, wie auf den ersten Blick zu erkennen war.
Man hatte sie alle in dasselbe Zimmer gebracht, den Raum, in dem sonst die Aufnahmeuntersuchungen stattfanden. Cecilia zählte fünf Männer in Wehrmachtuniformen, von denen zwei mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Stühlen saßen und zwei weitere auf Tragen lagen, die auf dem Fußboden neben den - mit regulären Patienten belegten - Krankenbetten abgestellt worden waren. Ein sechster, dessen linker Arm notdürftig bandagiert war, ging zwischen den anderen umher und redete leise mit ihnen.
Cecilia hatte nicht damit gerechnet, hier auch Deutsche vorzufinden, obwohl es natürlich nahelag, dass sie bei dem Angriff nicht ungeschoren davongekommen waren. Schließlich war es ihr Konvoi, den die Alliierten beschossen hatten.
Der Soldat mit dem bandagierten Arm drehte sich zu ihr um, als sie hereinkam. Sie kannte sich nicht sonderlich gut mit Rangabzeichen bei der deutschen Wehrmacht aus, aber an den Schulteraufschlägen meinte sie erkennen zu können, dass er einen höheren Offiziersrang bekleidete.
»Suora, können Sie meinen Männern helfen?«, sagte er in flüssigem, nahezu akzentfreiem Italienisch.
»Dottora.« Sie verbesserte ihn automatisch, so wie sie es immer tat, wenn Patienten sie für eine Krankenschwester hielten. Es kam immer wieder vor, denn der Prozentsatz an weiblichen Ärzten war in Italien verschwindend gering. An diesem Krankenhaus war sie zufälligerweise nicht die Einzige; eine weitere Ärztin arbeitete auf der Frauenstation. Doch zu Verwechslungen kam es immer wieder, und es verging kaum eine Woche, in der sie nicht mindestens einmal bei einem Patienten darauf hinweisen musste, dass sie weder für die Bettpfannen noch für das Servieren der Mahlzeiten zuständig war.
»Verzeihung, Dottora«, sagte der deutsche Offizier. Seine Blicke wanderten von ihrem Gesicht zu ihrem Hals, wo sie das Stethoskop hängen hatte, unverzichtbares ärztliches Gerät und zugleich deutlich sichtbarer Ausweis ihres Berufsstandes. »Meine Männer leiden Schmerzen«, fuhr er mit höflicher Stimme, aber leicht ungeduldigem Unterton fort. »Zwei von ihnen sind ziemlich schlimm verletzt, einer mit Bauchschuss. Bisher hat sich noch niemand um sie gekümmert. Ich sehe zwar, dass Sie hier alle Hände voll zu tun haben. « Er wies hinaus auf den Gang, wo immer noch das reinste Tohuwabohu herrschte. »Aber vielleicht bleibt zwischendurch Zeit, um meinen Männern wenigstens ein Schmerzmittel zu geben. Ich hätte es selbst getan, aber unser Laster ist eben da draußen mitsamt allen Medizinvorräten in Grund und Boden gebombt worden.«
Ein alter Mann in einem der Krankenhausbetten spuckte aus. »Nazis«, sagte er verächtlich. »Es ist euer Krieg, eure Schuld! Wärt ihr doch zu Hause geblieben, ihr Hitlerpack!«
Einer seiner Zimmergenossen, an Jahren um einiges jünger als der Alte, widersprach ihm verärgert. »Halt's Maul, du dämlicher Bolschewist! Wir werden den Sieg davontragen, daran gibt es keinen Zweifel! Benito Mussolini weiß, was er tut! Er allein hat unser Land groß gemacht, und er wird dafür sorgen, dass es noch größer wird!«
»Du armer Irrer«, sagte der Alte mit höhnischem Lachen. »Warte noch ein paar Wochen, dann sprechen wir uns wieder! Dann werdet auch ihr Faschisten merken, welchem Trugbild ihr so viele Jahre nachgelaufen seid! Ihr werdet alle noch kriegen, was ihr verdient!«
Der jüngere Mann, der ganz offensichtlich tatsächlich Mitglied der Fascia war, plusterte sich auf und setzte zu wütendem Protest an, doch Cecilia schnitt ihm das Wort ab. »Ruhe«, befahl sie. »Hier gibt es Kranke und Verletzte. Dies ist nicht der rechte Ort, um über Politik zu schwadronieren. Wer sich unbedingt darüber auslassen will, soll ins Parteibüro oder auf eine Versammlung gehen.«
Die Männer schwiegen, eher verblüfft als eingeschüchtert.
»Die hat aber Haare auf den Zähnen«, kam es murmelnd von einem der anderen Patienten.
Cecilia achtete nicht darauf. Sie beugte sich über einen der verletzten deutschen Soldaten, einen jungen Mann im selben Alter wie die Italiener, die sie vorhin draußen auf dem Gang versorgt hatte. Er lag verkrümmt auf einer Roll- trage und hatte tatsächlich einen Bauchschuss erlitten, aber Cecilia zweifelte ernstlich, dass er durchkommen würde. Auch bei einer sofortigen Notoperation wäre er vermutlich kaum zu retten. Sein Puls ging schwach und zitternd, seine Haut war kühl und feucht. Er war bewusstlos und hatte wahrscheinlich starke innere Blutungen. Doch natürlich musste für ihn getan werden, was möglich war, alles andere wäre sträflich gewesen. Cecilia eilte aus dem Zimmer, zu einem der beiden Operationssäle, aus dem gerade ein frisch operierter Patient auf den Gang geschoben wurde. »Ich habe hier drüben einen Bauchschuss«, rief sie quer durch das Gedränge zu dem Chirurgen hinüber, der in der offenen Tür stand.
»Einen Deutschen?«, fragte er.
»Einen Bauchschuss«, sagte sie mit Bestimmtheit.
Über seine blutbefleckte Gesichtsmaske hinweg musterte er zuerst sie und dann den Soldaten, dessen Hand abgerissen worden war und den zwei der Schwestern gerade als nächsten Patienten für eine Operation vorbereiteten.
»Er kann länger warten«, erklärte Cecilia kategorisch. »Sein Zustand ist stabil, genau wie der aller anderen hier auf dem Gang.«
Der Chirurg gab achselzuckend nach, und Cecilia beorderte die Schwestern in das Krankenzimmer, um mit ihrer Hilfe den verletzten Deutschen in den Operationssaal zu verfrachten.
Als sie zurückkam, um nach den anderen Verwundeten zu schauen, nickte der deutsche Offizier ihr zu. »Danke«, sagte er leise.
Sie musterte ihn scharf. Er war kreidebleich, und auf seiner Stirn stand in dicken Tropfen der Schweiß. Er zitterte, was zum Teil an seiner Verletzung, zum Teil aber mit Sicherheit auch an der Kälte lag. Sie froren alle hier drin, denn es zog eisig von draußen durch die zerbrochenen Fenster herein. Einige der regulären Patienten hatten sich schon lautstark beschwert, wie Cecilia am Rande mitbekommen hatte.
»Wie schwer ist Ihre Verletzung?«, fragte sie.
»Das kann warten. Kümmern Sie sich zuerst um meine Männer.«
Sie zuckte die Achseln. Er hatte recht. Solange er noch stehen konnte, war er nicht in akuter Lebensgefahr, was man von den anderen Soldaten vielleicht nicht behaupten konnte. Sie beugte sich über den Mann, den die Sanitäter auf einer Trage neben einem der Betten abgelegt hatten. Er war tot. Bedauernd blickte sie zu dem Offizier auf und schüttelte stumm den Kopf.
Er stieß einen Fluch auf Deutsch aus und wandte das Gesicht zur Seite. Sie sah, dass er stärker zitterte als vorher, und noch während sie dazu ansetzte, ihm zu sagen, er solle sich lieber setzen, wankte er leicht. Mit zwei Schritten war sie bei ihm und stützte ihn. Vage nahm sie wahr, dass er nach Schweiß und Pulver und Blut roch, jene besondere, durchdringend scharfe Ausdünstung, die seit dem Bombenangriff das ganze Krankenhaus erfüllte.
»Kommen Sie, ich sehe mir Ihre Verletzung an«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf und deutete auf den letzten seiner Männer, den sie sich noch nicht angeschaut hatte. »Er zuerst «, sagte er.
»Gehen Sie nur mit ihr, Herr Major«, sagte der Soldat auf Deutsch. »Ich halt's schon aus. Sie haben es ja schon untersucht und gesagt, dass das Bein dranbleibt. Mehr muss ich gar nicht wissen. Hauptsache, ich verliere es nicht, alles andere werde ich überstehen.«
»Was fehlt Ihnen denn?«, fragte Cecilia, ebenfalls auf Deutsch. Sie beugte sich über ihn.
»Da soll mich doch einer«, sagte der Soldat. Sein Gesicht war grau und verzerrt, und seine Stimme bebte vor Anstrengung, sich nichts von seinen Schmerzen anmerken zu lassen. »Eine italienische Ärztin, die unsere Sprache versteht!«
»Nur ein bisschen«, sagte sie.
»Was ist mit Ihrem Kopf passiert?«, wollte er wissen.
»Eine Scherbe von einem Fenster. Nichts Schlimmes.« Sie deutete auf sein Bein. »Das Knie?«
»Das Knie«, bestätigte der Soldat bereitwillig. Seine Zähne knirschten aufeinander, als sie die Wunde kurz untersuchte.
»Die Kniescheibe ist zerschmettert«, sagte der Offizier. Er war neben sie getreten und streckte den unversehrten Arm aus, um ein Stück von dem zerfetzten Hosenstoff am Bein des Soldaten zur Seite zu ziehen. »Er muss operiert werden, die Wunde ist voller Dreck und Knochensplitter.«
Er hatte recht, Cecilia sah es auf den ersten Blick. Das Knie des Soldaten war eine einzige Masse blutigen, zerfetzten Fleisches. Hier konnte nur eine ordentlich durchgeführte Operation helfen. Doch der Verwundete würde warten müssen, bis einer der beiden OP-Säle frei wurde. Danach wäre der Krieg für ihn vorbei. Das Bein würde steif bleiben, aber er würde es behalten. Und sein Leben dazu. Cecilia gab ihm rasch eine Spritze und drückte kurz seine Hand, bevor sie sich aufrichtete und sich dem Offizier zuwandte.
»Sind Sie ein Sanitäter?«
Er schüttelte den Kopf. »Ein Kollege. Stabsarzt.«
Sie nickte, leicht verwirrt von dieser unerwarteten Information, und betrachtete seinen behelfsmäßig verbundenen Arm. »Im Moment sind Sie eher Patient. Können Sie allein gehen?«
»Wohin?«
»Nur ein paar Schritte.«
*
Sie stützte ihn vorsorglich auf dem Weg über den Gang. In Ermangelung anderweitiger freier Behandlungsräume brachte sie ihn in das enge, mit Schränken und Regalen vollgestellte Materialzimmer und bot ihm den Schemel an, auf dem sie selbst vorhin noch gesessen hatte.
Während sie den stümperhaften Verband von seinem Arm entfernte und ihm anschließend aus der blutbesudelten, zerrissenen Uniformjacke half, konnte sie nicht umhin, ihn näher zu betrachten. Schon beim ersten Anblick war ihr aufgefallen, wie groß er war. Sie war selbst nicht gerade klein, aber wenn er neben ihr stand, überragte er sie fast um Haupteslänge. Sein Haar war dunkel und seine Haut stark gebräunt, sodass man ihn beinahe für einen Südländer hätte halten können, wenn nicht seine Augen gewesen wären - sie waren von einem überraschend hellen Blau.
»Wer hat das verbunden?«, wollte sie wissen, um sich abzulenken.
»Ich selbst, mit einer Hand. Danach sieht es vermutlich auch aus, wie? Normalerweise kann ich es besser.«
Cecilia gab keine Antwort, konnte aber nicht umhin, bei seiner Frage seinen Blick erneut zu erwidern. Winzige Fältchen lagen um seine Augen, und auch von der Nase bis zu den Mundwinkeln zogen sich sichtbare Kerben. Er war nicht mehr ganz jung. Sie schätzte, dass er ein paar Jahre älter war als sie, vielleicht Mitte dreißig.
Die Wunde an seinem Oberarm war ein Schnitt, um einiges größer und breiter als der an ihrer Stirn. Er ging bis tief in die unteren Muskelschichten.
»Wie ist das passiert?«, fragte sie, diesmal wieder auf Italienisch. Er konnte sich in ihrer Muttersprache weit besser verständigen als sie sich in seiner.
»Eine Scherbe von einem Fenster«, sagte er. Es klang ein wenig lakonisch. »Vom Fenster eines unserer Lastwagen.« Mit schwachem Grinsen setzte er hinzu: »Damit haben wir sozusagen eine Gemeinsamkeit, oder?«
Sie fand es nicht besonders komisch, dafür tat ihr der Kopf zu weh. Doch seine Schmerzen mussten deutlich schlimmer sein, zumal er, ebenso wie vorher seine Männer, noch kein Mittel dagegen bekommen hatte.
Sie wusch sich die Hände und betäubte dann den Bereich rund um seine Wunde mit einer Spritze. Er zuckte nur leicht zusammen, gab aber kein Geräusch von sich.
»Ich werde nähen«, sagte sie. »Wir müssen noch einen Moment warten, bis die Betäubung wirkt.«
»Dann sollte ich mich in der Zwischenzeit vielleicht vorstellen. « Er lüftete kurz die Sitzfläche und deutete eine Verbeugung an. »Major Alexander Behring aus Berlin. Stabsarzt bei der Heeresleitung Süd.«
»Cecilia Zaguri.« Ihre eigene Vorstellung kam eher mechanisch; im Normalfall hätte sie ihren Namen lieber für sich behalten. Es kam ziemlich oft vor, dass männliche Patienten versuchten, während der Behandlung mit ihr anzubandeln. In dem Punkt machten sie ebenso wenig einen Unterschied zwischen ihr und den Krankenschwestern wie sonst auch.
»Sie sind die erste Kollegin, die ich in Italien sehe«, sagte er.
»Vielleicht waren Sie noch nicht so oft in Italien.«
»Doch, sehr oft. Aber Ärztinnen habe ich hier noch keine getroffen.«
»Man merkt, dass Sie nicht zum ersten Mal in unserem Land sind. Sie sprechen sehr gut Italienisch.« Cecilia nahm steriles Nahtmaterial aus einer der Instrumentenschubladen
und legte Kompressen für einen frischen Verband bereit.
»Ich kam als Kind oft her«, erklärte Alexander Behring.
»Auch nach Neapel?«
»Manchmal. Meist fuhr ich aber woandershin. Nach Rom, Venedig, Florenz. Immer wieder nach Florenz. Mein Vater war Kunsthistoriker. Er liebte Florenz und kannte es bis in den letzten Winkel. Und meine Großmutter mütterlicherseits war Italienerin, bei ihr lernte ich die Sprache.«
»Wo lebte sie? Ihre Großmutter, meine ich.«
Cecilia sagte sich, dass sie ihn nur danach fragte, um die Zeit bis zum Legen der Wundnaht zu überbrücken. Sie redete immer mit ihren Patienten, das nahm ihnen die Angst und entspannte sie vor einem Eingriff. Doch die leise Unruhe, die sie unter dem Blick dieser durchdringend hellen Augen spürte, ließ sich nicht leugnen. Sie nahm seine Gegenwart nicht nur wie die eines beliebigen Patienten oder Kollegen wahr, sondern wie die eines Mannes. Es war ein Gefühl, das sie lange nicht gehabt hatte, und sie konnte nicht recht sagen, ob es ihr gefiel, und noch weniger, ob sie das überhaupt wollte.
»Meine Großmutter lebte in Arezzo«, sagte Alexander. »Das Haus, in dem sie bis zu ihrem Tod wohnte, gibt es immer noch, es wird von einem Vetter bewohnt. Ich besuche ihn und seine Familie manchmal.«
Sie hatte ebenfalls Verwandtschaft in Arezzo, es wäre also naheliegend gewesen, ihn nach dem Namen seines Vetters zu fragen. Vielleicht hatten sie sogar gemeinsame Bekannte. Doch sie rief sich rechtzeitig zur Ordnung. Dies war nicht die passende Zeit für lockere Konversation. Er war einer der Männer, die für den Krieg, den hierzulande niemand wollte, verantwortlich waren.
Schweigend begann sie, seine Wunde zu nähen, und ebenso schweigend ließ er es über sich ergehen. Sein Arm, an dem die Muskeln stark ausgeprägt waren, zuckte hin und wieder unter ihrer Berührung, doch das war eher reflexbedingt. Das Mittel musste die Schmerzempfindungen weitgehend ausgeschaltet haben.
»Stammen Sie aus Neapel?«, fragte Alexander nach einer Weile.
Sie schüttelte den Kopf. »Aus der Toskana.«
»Jetzt sagen Sie nur, aus Arezzo!«
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nein, so klein ist die Welt nun doch nicht. Aber sehr weit davon entfernt ist es auch nicht. Meine Familie hat ein Weingut oberhalb vom Val di Chiana, in der Nähe eines Örtchens namens Montechiano.«
»In der Gegend war ich schon«, entgegnete Alexander. »Es ist wunderschön dort. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Paradies gegen Neapel einzutauschen?«
»Es gab verschiedene Gründe«, sagte sie ausweichend.
Cecilia merkte, dass sein Blick ihre Hand streifte, und unwillkürlich fragte sie sich, ob man noch Spuren des Eherings sehen konnte. Doch das war unmöglich; sie trug seit über einem halben Jahr keinen mehr. Nach Giacomos Tod hatte sie eine Zeit lang beide Ringe getragen; ihren am Ringfinger, seinen am Mittelfinger. Doch Giacomos Ring war ihr zu groß gewesen, er war ihr ständig vom Finger gerutscht, sodass sie ihn nach einer Weile abgelegt hatte, aus Angst, ihn zu verlieren. Ihren eigenen Ehering danach trotzdem noch zu tragen war ihr mit der Zeit merkwürdig vorgekommen; sie hatte den Eindruck, als gehörte er nicht mehr an ihre Hand, sondern zu Giacomos Ring, und so hatte sie eines Tages ihren Ring zu dem seinen in die Schmuckschatulle zurückgelegt, mit der Giacomo damals zu ihr vor den Traualtar getreten war. Hin und wieder klappte Cecilia das Kästchen auf und schaute sie an. Zwei Teile eines Ganzen, passend zueinander gefertigt und für immer zusammengefügt. Zwei Stücke goldener Erinnerung, scheinbar unberührt auf nachtblauem Samt, als hätte es die vier Jahre, die sie getragen worden waren, nie gegeben.
»Soweit ich weiß, gibt es in der Toskana einige ordentliche Krankenhäuser«, meinte Alexander. »Und ein paar davon sind sicher größer als dieses hier.«
»Das ist mir bekannt«, versetzte Cecilia. »Ich habe sogar ein paar Jahre in einem davon gearbeitet, bis mir nach einem Ortswechsel war.« Sie merkte, dass es ablehnend klang, aber sie hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen.
Der Deutsche schien es zu bemerken und verfiel in Schweigen, doch sie spürte seine Blicke auf sich, während sie den Schnitt zu Ende vernähte. Anschließend verband sie den Oberarm, flink und mit geübten Bewegungen.
»Cecilia«, sagte er leise. »Darf ich Sie so nennen?«
Überrumpelt blickte sie zu ihm hoch, doch bevor sie etwas sagen konnte, streckte er die Hand aus und reichte sie ihr. »Ich möchte Ihnen danken. Sie sind selbst verletzt, ihr Kittel ist voll von ihrem eigenen Blut, und Sie sind so blass, dass Sie der gekalkten Wand da hinter Ihnen Konkurrenz machen könnten. Trotzdem haben Sie sich um meine Männer und um mich gekümmert. Das war anständig von Ihnen.«
»Ich bin Ärztin«, sagte sie ein wenig steif. »Außerdem haben Sie und Ihre Männer unsere Soldaten aus dem Wasser gefischt und hergebracht.«
»Ich bin ebenfalls Arzt«, gab er zurück. »Es war meine Pflicht. Sogar für die Tommies hätte ich das getan.«
Sie nickte müde. »Ich weiß. Es ist ... alles so furchtbar, nicht wahr?«
»Das ist es.« Er blickte sie unverwandt an. »Es ist so furchtbar, dass es für einen Arzt kaum zu ertragen ist.«
Sie erwiderte seinen Blick, und sie war überrascht, wie stark sie seine Verzweiflung nachempfand. Für ihn musste es weit schlimmer sein als für sie. Sie hatte vorhin zum ersten Mal Bombenopfer gesehen und versorgt. Er tat es vermutlich schon seit Jahren, so wie alle Ärzte im Krieg. Sicher sah er jeden Tag junge Männer, von Bomben, Granaten und Gewehrkugeln verstümmelt oder zerfetzt.
»Es war sehr mutig von Ihnen, die verletzten Kadetten hierherzufahren«, sagte sie impulsiv. »Sie haben sie gerettet!«
»Und dabei mit unserem Konvoi die Sturzbomber angelockt. Wer sollte uns dafür dankbar sein, außer Ihnen vielleicht? Von den anderen hier bestimmt keiner. Niemanden hat es gekümmert, dass auch wir verletzt waren und Schmerzen hatten.«
Cecilia fühlte sich auf unerklärliche Art schuldig. »Sie müssen das verstehen. Vieles ist nicht gerade leicht für meine Landsleute in dieser schrecklichen Zeit.«
Alexander senkte den Kopf. »Ich weiß. Es tut mir leid. Seit hier die Bomben fallen, denken längst nicht mehr alle Italiener, dass sie an der Seite der Deutschen ausharren und diesen Krieg bis zum Ende mit führen müssen. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich verbittert wirke. Ich bin ... ein bisschen durcheinander. Ich habe seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen.«
Cecilia musterte ihn besorgt. »Und dann noch die Verletzung! «
»Die ist schon vergessen, dank Ihrer kompetenten Hilfe. Ihre Nahtführung war übrigens hervorragend, wenn ich das sagen darf.« Ein schwaches Lächeln trat auf seine Lippen, das sie unwillkürlich erwiderte.
»Das war's«, sagte sie, während sie die Endstücke des Verbands befestigte. »Fertig.«
»Danke«, sagte er höflich. Er erhob sich von dem Schemel und zog die Reste seines zerfetzten Hemdärmels über die Mullbinde.
»Was tun Sie überhaupt hier in Neapel?«, entfuhr es Cecilia. Ihr wurde bewusst, wie absurd die Frage war, aber auch, was in Wahrheit unausgesprochen zwischen ihnen stand. Welche Richtung nahm der Krieg? Wohin würde es führen, dass die Alliierten seit Beginn des Monats italienische Städte bombardierten und zugleich mehr und mehr deutsche Divisionen einrückten? Wie tief würden die Deutschen Italien noch in das Unausweichliche hineinziehen?
»Wir sind gewissermaßen nur auf der Durchreise«, antwortete Alexander Behring. Er wirkte mit einem Mal zutiefst erschöpft. Zwischen seinen Brauen stand eine Furche, als er auf sie herabblickte. »Auf dem Weg nach Afrika.«
Plötzlich kam es ihr so vor, als zeichnete sich hinter der hochgewachsenen Gestalt des Deutschen ein zusätzlicher Schatten auf der Wand ab, wie ein dunkles Menetekel. Und dann war da noch etwas, das sie verunsicherte. Es hing mit ihm zusammen, mit dem Mann. Er hatte eine faszinierende Ausstrahlung, die etwas in ihr zum Schwingen brachte, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Die Art, wie er sie ansah, machte sie nervös, aber nicht in einer Weise, dass es unangenehm gewesen wäre, im Gegenteil.
»Afrika?«, wiederholte Cecilia mit gepresster Stimme.
Er nickte, und sie verstand, auch ohne dass er es weiter ausführen musste. Es war, als könnte sie auf einmal spüren, wie die Schrecken des Krieges näherkamen. Die Niederlage von El Alamein war erst der Anfang vom Ende gewesen. Die Alliierten würden die deutschen und italienischen Verbände in Nordafrika weiter und weiter zurücktreiben. Bald würden Landungstruppen über das Mittelmeer nach Norden vorstoßen. Nach Sizilien und Sardinien. Möglicherweise sogar auf das italienische Festland. Was danach kam, wusste der Himmel allein.
»Cecilia«, sagte er, und diesmal lag etwas Drängendes in seiner Stimme. Es klang beinahe verzweifelt. »Darf ich Sie wiedersehen?« Er holte Luft. »Ich würde mich gern für Ihre Hilfe revanchieren. Was halten Sie von einem Besuch in einem Konzert? Mögen Sie Musik?«
Sie mochte Jazz, aber in einer Vorstellung war sie noch nicht gewesen. »Für Konzerte habe ich keine Zeit.«
»Dann Kino. Oder ein Abendessen.«
»Lieber nicht. Mit dem Arm brauchen Sie noch Ruhe.«
»Ich will keine Ruhe. Ich möchte mit Ihnen ausgehen.«
»Aber Sie haben doch gar keine Zeit zum Ausgehen.« Sie lächelte, doch sie fühlte sich verunsichert. »Sie müssen in den Krieg.«
»Ich bin noch für ein paar Tage hier.«
»Major ...«
»Alexander.«
Sie zögerte und überlegte, ob sie behaupten sollte, verheiratet oder sonstwie in festen Händen zu sein, doch das würde er durchschauen, denn in dem Fall hätte sie seine Einladung sofort mit dieser Begründung abgelehnt. »Ich habe den Rest der Woche Nachmittagsdienst«, sagte sie daher wahrheitsgemäß. »Abends noch auszugehen wäre mir zu anstrengend. Sie müssten das eigentlich wissen, da Sie selbst Arzt sind.« Sie räusperte sich. »Welche Fachrichtung haben Sie eigentlich?«
»Ich bin Chirurg. Und Sie?«
»Kinderärztin.«
»Na ja, allgemein heißt es, dass die Chirurgie wesentlich anstrengender ist als die Pädiatrie. Würden Sie mir darin zustimmen? « Er schien nicht wirklich eine Antwort zu erwarten. Zum ersten Mal lächelte er, und Cecilia konnte sehen, dass er in der rechten Wange ein Grübchen hatte. Seine Nähe hatte sie schon vorher beunruhigt, und durch dieses Lächeln vergrößerte sich ihre Unsicherheit noch. Er ging zur Tür des kleinen Raums, und obwohl ihm die Anstrengungen der letzten Stunden ins Gesicht geschrieben standen, waren seine Bewegungen geschmeidig und mühelos. »Ich melde mich«, sagte er einfach.
Copyright © 2014 by Francesca Santini Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Meine Mutter soll kommen«, schluchzte eines der Mädchen, eine Fünfjährige mit eingegipstem Beinchen. »Ich will nach Hause! Ich will nicht sterben! Die Tommies sollen keine Bomben auf mich werfen!«
Cecilia wandte sich zu ihr um. »Das tun sie nicht! Sie werden nicht auf das Krankenhaus zielen, ganz bestimmt nicht!«
Die Kleine hörte nicht auf sie, sondern weinte in stummem Entsetzen vor sich hin, die Händchen um die Gitter ihres Betts gekrampft.
Cecilia ging zu ihr, wobei sie einen Blick auf die am Fußende befestigte Patientenkarte warf. »Marina ... Das ist doch dein Name, oder?«
Die Kleine nickte und schluckte krampfhaft, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen.
»Weißt du, wer ich bin, Marina?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Du bist die Dottora!«, rief ein anderes Mädchen. Es war vor einer Woche am Blinddarm operiert worden und würde in den nächsten Tagen wieder entlassen werden.
»Richtig«, sagte Cecilia. »Ich bin eure Ärztin, und ich sage euch, dass die Tommies keine Bomben auf kranke Kinder werfen. Doktoren dürfen ihre Patienten nicht belügen.«
»Das stimmt nicht«, behauptete der kleine Junge, der sich eben noch so lautstark gefürchtet hatte. Er hieß Matteo und war an der Leiste operiert worden. »Der andere Doktor hat gesagt, dass die Spritze nicht wehtut, aber sie tat doch weh!«
Marina unterbrach ihr Schluchzen und wandte sich zu ihm um. »Das war nur, weil du ein Jammerlappen bist!«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach der Kleine empört.
»Wohl wahr! Wohl wahr!«
Cecilia unterdrückte ein Schmunzeln - und stellte gleichzeitig fest, dass ihr Vorhaben, die Kinder abzulenken, immerhin teilweise geglückt war. Die meisten hatten aufgehört zu weinen und konzentrierten sich auf die Unterhaltung zwischen ihr und den Kindern.
Doch dann wurde das Dröhnen der Flugzeugmotoren von einem pfeifenden Heulen übertönt. Das Krachen des Einschlags fiel mit dem entsetzten Kreischen der Kinder zusammen; die Bombe musste ganz in der Nähe eingeschlagen sein, denn die Detonation war so gewaltig, dass sie das Gebäude erschütterte.
Bisher hatten die Alliierten nur die Hafenanlagen und die Bahnhöfe bombardiert, jedenfalls waren das die offiziellen Verlautbarungen, die täglich auf BBC zu hören waren. Doch Cecilia hatte in den vergangenen Tagen auch Bombentrichter an Stellen gesehen, wo vorher normale Wohnhäuser gestanden hatten. Ganze Familien waren ausgelöscht worden, und diejenigen, die das Glück gehabt hatten, während des Angriffs nicht zu Hause zu sein, hatten hinterher vor den Trümmern ihrer Habe gestanden. Seitdem waren die Menschen klug genug, beim Ertönen der Alarmsirenen rechtzeitig die Luftschutzkeller aufzusuchen, die von der Stadtverwaltung in aller Eile eingerichtet worden waren. Doch auch dabei gerieten sie in Gefahr, denn es gab nicht genug Bunker für alle; Cecilia hatte einen Teil der Leute behandelt, die beim letzten Angriff bei ihrem Bemühen, rechtzeitig in die Schutzräume zu gelangen, brutal niedergetrampelt oder zu Boden gestoßen worden waren.
Was das Krankenhaus betraf, so hatte die Verwaltung die Devise ausgegeben, dass die Menschen hier sicher seien, doch das erneute Röhren der schweren Liberators über den Dächern von Neapel und das Sirren der überall um sie herum niederfallenden Bomben schienen diese Annahme zu widerlegen.
Dann war mit einem Mal ein anderes Motorengeräusch zu hören. Es war nicht so dunkel wie das der großen Bomber der Alliierten, die Cecilia schon mehrfach über die Stadt hatte hinwegziehen sehen, aber es klang nicht minder bedrohlich. Ein ohrenbetäubendes, näherkommendes Dröhnen, das anschwoll, bis nichts anderes mehr zu hören war, und gleichzeitig setzte ein stakkatoartiges Hämmern ein, scharf und durchdringend laut.
Sturzbomber, dachte Cecilia. Das Krankenhaus wurde von Sturzbombern angegriffen!
Irgendwo in der Nähe ging Glas zu Bruch, und unter ihren Füßen wackelte der Boden. Salvenweise erschütterten die Einschläge der Bordgeschütze das Gebäude. Cecilia spürte das Krachen bis in die Fingerspitzen, und die Kinder schrien voller Panik auf, als die Fensterscheiben in einem Schauer von Splittern ins Zimmer hineinbarsten.
In rasender Eile lief sie von einem Bettchen zum anderen und kontrollierte den Zustand der Kinder. Wie durch ein Wunder war keines von ihnen von den Schüssen oder den herumfliegenden Glasstücken getroffen worden. In Marinas Gipsbein steckte eine riesige gezackte Scherbe, doch sie schien weiter keinen Schaden angerichtet zu haben. Die Kleine starrte ihr Bein an, das Gesichtchen eine starre Maske der Angst.
»Na, da wirst du aber viel zu erzählen haben, wenn du wieder nach Hause kommst«, sagte Cecilia mit gespielter Munterkeit. Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, ergriff sie die Glasscherbe und zog sie aus dem Gips.
Die Kinder weinten und schrien durcheinander, doch ein Teil dieser Gefühlsäußerungen war auch auf die nachlassende Anspannung zurückzuführen. Fürs Erste schien die Gefahr vorbei. Der Tiefflieger war wieder aufgestiegen; das Knattern der Propeller entfernte sich. Auch das dumpfe Dröhnen der Liberators war nur noch schwach zu hören. Offenbar waren die Alliierten für diesmal fertig mit Neapel.
Etwas Nasses lief Cecilia über das Gesicht, und zuerst glaubte sie, dass sie ebenso wie die Kinder die Beherrschung verloren und angefangen hatte zu weinen. Doch als sie ungeduldig mit der Hand über die Wangen fuhr, um die vermeintlichen Tränen wegzuwischen, waren ihre Finger anschließend voller Blut.
*
Der Schnitt dicht über ihrer rechten Braue ging bis auf den Knochen; einer ihrer Kollegen, der einen flüchtigen Blick darauf warf, versicherte ihr, dass sie unglaubliches Glück gehabt hätte.
»Zwei Zentimeter weiter unten, und du wärst jetzt halbseitig blind.« Er drückte ihre Finger gegen die Kompresse. »Gut festhalten!« Und schon eilte er weiter, zu den Verwundeten, die seit dem Bombenangriff zu Dutzenden von draußen hereingeschafft wurden. Das Nähen eines - wenn auch tiefen - Schnitts konnte warten, im Gegensatz zu den vielen schweren Verletzungen der Bombenopfer.
Cecilia lehnte zusammengesunken auf dem Schemel, den eine der Schwestern im Materialraum für sie bereitgestellt hatte, bevor auch sie wieder losgerannt war, um sich um die Verletzten zu kümmern.
Cecilia drückte die blutgetränkte Kompresse gegen die Wunde und verfluchte sich für das Gefühl der Schwäche in ihren Beinen, das sie jedes Mal, wenn sie aufstehen wollte, wieder zurücksinken ließ.
Amphetamin, dachte sie. Ich brauche ein Aufputschmittel und einen Verband, dann kann ich weitermachen!
Ohne Verband würde es nicht gehen, das hatte sie schon festgestellt, als sie die Kompresse gegen eine frische Lage von dem Mull ausgetauscht hatte, den die Schwester ihr hektisch zur Selbstbehandlung hingelegt hatte. Sobald sie aufhörte, auf die Wunde zu drücken, blutete sie so stark, dass es ihr in die Augen lief. Eine Ärztin, die ihre Patienten nicht ordentlich sehen konnte, taugte nicht viel. Und eine, die zitterte wie eine Pappel im Wind, schon gar nicht. Wütend betrachtete Cecilia ihre freie Hand. Ihre Finger bebten, als wären sie an eine versteckte Stromquelle angeschlossen. Sie ballte sie zur Faust, doch es half nichts, das Zittern wollte nicht aufhören.
Es stank durchdringend nach Rauch. Irgendwo in der Nähe, vielleicht sogar im Krankenhaus, musste es gebrannt haben, doch offenbar hatte man das Feuer rasch gelöscht. Dafür mehrten sich andere Anzeichen für die entsetzlichen Folgen des Angriffs. Schmerzensschreie, Gewimmer und lautes Schluchzen drangen vom Gang durch die offen stehende Tür herein. Das Stimmengewirr schwoll stetig an und verdichtete sich schließlich, bis es in Cecilias Ohren zu einem unaufhörlichen, betäubenden Summen wurde.
Die Tür stand offen, und Cecilia sah, wie Verletzte auf Tragen oder Rollliegen durch den Gang transportiert wurden. Überall schien planlose Hektik zu herrschen. Ärzte und Schwestern kamen in den Materialraum gestürzt, sie holten kistenweise Nachschub an Spritzen und Verbandsmaterial, das mit bedrohlicher Geschwindigkeit zusammenschmolz.
Cecilia atmete tief durch und hielt einen der vorbeihuschenden weißen Schemen am Ärmel fest. »Ich brauche Amphetamin«, sagte sie. »Sofort!«
Der Kollege, ein erfahrener Arzt in den Fünfzigern, blieb neben ihr stehen und schaute ihr prüfend ins Gesicht. »Du bist bleich wie Kreide. Ich fürchte, du hast einen Schock. Außerdem blutest du wie abgestochen. Du solltest dich rasch hinlegen. Ich schicke eine Schwester mit einem Bett, und später komme ich dann zum Nähen, in Ordnung?«
Er wollte sich abwenden und wieder hinauseilen, aber Cecilia hielt ihn fest. Sie zeigte auf den Schrank, in dem die Medikamente aufbewahrt wurden. »Spritz mir ein Kreis- laufmittel, um den Rest kümmere ich mich selbst.« Rasch fügte sie hinzu: »Ich höre die Leute draußen schreien. Ihr braucht alle Hilfe, die ihr kriegen könnt, auch meine.«
Ihr Kollege zögerte kurz, sah dann aber offenbar ein, dass sie recht hatte. Beim Setzen der Spritze zitterte seine Hand ein wenig, und um ein Haar hätte er die Vene verfehlt.
»Was ist passiert?«, fragte sie. »Wieso haben die Tiefflieger der Tommies das Gebäude beschossen?«
»Nicht das Gebäude«, sagte ihr Kollege, während er den Kolben der Spritze niederdrückte. »Sie haben einen Konvoi beschossen, der gerade hier angekommen war.«
»Was für einen Konvoi?«
»Ein halbes Dutzend deutscher Armeelaster. Sanitätsbataillon. Sie kamen vom Hafen, um Verwundete zu bringen.«
»Deutsche Soldaten?«
»Nein, italienische. Glaubst du vielleicht, hier würde sonst so ein Aufstand herrschen? Die Tommies haben eine Korvette vor der Küste bombardiert, und die Deutschen waren zufällig da. Sie haben die Überlebenden herausgefischt und sie hergebracht.«
Verachtung lag in seiner Stimme, aber sie richtete sich ganz offensichtlich nicht nur gegen die Alliierten, die für den Angriff verantwortlich waren.
Cecilia nahm es schweigend zur Kenntnis, ebenso wie seine nachfolgende Bemerkung, die er mit unüberhörbarer Verbitterung vorbrachte. »Dieser verfluchte Krieg! Wie konnten wir uns je mit den Deutschen einlassen! Es sind unsere Jungs, die für diesen Nazikrieg da draußen sterben! In Afrika und auf dem Balkan, und nun auch hier!«
Sie wusste, dass er einen Sohn hatte, der in Tunesien kämpfte, weshalb sie davon absah, seine Worte zu kommentieren. Ohnehin hätte sie nichts sagen können, was sich von seiner eigenen Ansicht unterschied. Sie war derselben Meinung wie er, der, wie sie sich genau erinnerte, noch vor wenigen Monaten Sympathie für die Fascia bekundet hatte. Davon war nicht mehr viel übrig geblieben. Die Beliebtheit Benito Mussolinis und seiner Schwarzhemden hatte sich mit jeder Bombe, die auf Italien niederfiel, drastisch verringert. Mit dem Einsetzen der grausamen Luftangriffe auf italienische Städte begann es den meisten Menschen, sogar den Faschisten hierzulande, zu dämmern, dass das sogenannte Achsenbündnis zwischen Italien und Deutschland doch keine so gute Idee gewesen war. Hitler hatte einen allseitigen Krieg angezettelt, und nun steckte Italien nolens volens mit drin, wobei der eigentliche Schrecken darin bestand, dass die Kampfhandlungen, die sich bisher in scheinbar sicherer Ferne abgespielt hatten, nach dem Eintritt der Amerikaner in den Krieg schlagartig näher gerückt waren - in Gestalt eines tödlichen Bombenregens auf italienische Städte. Die Faschisten mochten immer noch großmäulig den baldigen Sieg propagieren, aber wenn dem wirklich so wäre, fragte es sich, warum die Kämpfe in Afrika sich nun schon so lange hinzogen und dabei immer mehr Boden preisgegeben wurde.
Der Arzt nahm sich die Zeit, Cecilias Wunde zu versorgen. Mit raschen, geschickten Stichen vernähte er den Schnitt und legte anschließend einen Kopfverband an. »Jetzt siehst du aus wie ein paar von den armen Jungs, die sie vorhin gebracht haben.« Er blickte ihr prüfend in die Augen. »Wie fühlst du dich?«
Sie lächelte in flüchtiger Dankbarkeit. »Besser.«
Das war die Wahrheit. Das Mittel hatte bereits angefangen zu wirken. Sie fühlte sich von frischer Energie durchströmt, und als sie von dem Schemel aufstand, war von dem Schwindel, der sie noch vor einer Viertelstunde niedergezwungen hatte, nichts mehr zu spüren. Auch das Zittern hatte aufgehört. Sie würde ohne Probleme arbeiten können.
Ihr war klar, dass sie in ein paar Stunden die Zeche für ihren neu erwachten Tatendurst würde zahlen müssen, doch im Augenblick war nur wichtig, dass sie helfen konnte.
Sie erwog kurz, einen frischen Kittel anzuziehen, weil der, den sie trug, von ihrem Blut befleckt war, doch ein Blick auf die Arbeitskleidung ihres Kollegen überzeugte sie davon, dass sie sich die Mühe auch sparen konnte. Er sah aus, als käme er aus einem Schlachthof.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte sie ihm hinaus auf den Gang.
*
Der Anblick übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie sagte sich, dass sie nach all den Schreien und dem Stöhnen, das sie vorhin gehört hatte, nichts anderes hatte erwarten können. Trotzdem war es weit schrecklicher als alles, was sie bisher gesehen hatte.
Sie hatte schon Kinder versorgt, die nach Unfällen ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Sie hatte offene Brüche eingerichtet, scheußliche Platzwunden vernäht, ausgedehnte Quetschungen und andere Traumata behandelt. Aber noch nie hatte sie so viele Schwerstverletzte auf einmal gesehen, noch dazu solche, denen MP-Geschosse die Körper zerschlagen und Bombentrümmer die Gliedmaßen abgerissen hatten. Überall war Blut.
Auf den ersten Blick schienen es etliche Dutzend Soldaten zu sein, die von Helfern hergebracht worden waren und nun auf Tragen und Liegen in den Gängen, den viel zu kleinen Räumen der Notambulanz und den einzelnen Untersuchungszimmern lagen. Cecilia sah auf den ersten Blick, dass die meisten von ihnen dringend operiert werden mussten. So wie einer der Soldaten, dem eine Hand abgerissen worden war. Jemand hatte ihm den Unterarm abgebunden und Morphium gespritzt. Er starrte blicklos auf den zerfetzten Stumpf, als hätte er den Verlust noch nicht recht begriffen. Die Wunde musste dringend chirurgisch versorgt werden, doch im Augenblick waren beide Operationsräume in Betrieb, wie an den roten Warnlampen über den Türen zu sehen war. Vermutlich die beiden schlimmsten Fälle von allen - obwohl beim Anblick der anderen kaum vorstellbar war, dass es überhaupt noch schlimmere gab.
Manche der Verletzten waren bewusstlos, vielleicht sogar tot. Alle waren sie in Marineuniform und triefend nass. Ein bleicher junger Mann, der ihr bei näherem Hinsehen noch ein Junge zu sein schien, lag zusammengesunken an der Wand. Er hatte offenbar versucht, sich von der Trage wegzuschleppen, und niemand hatte darauf geachtet. Die Schwestern und Ärzte kümmerten sich um die Männer, die zu verbluten drohten.
Cecilia eilte zu dem Jungen und tastete nach seinem Puls. Sie fand keinen und drückte ihm das Stethoskop gegen die Brust. Kein Herzschlag.
Sie holte erschüttert Luft und wandte sich der nächsten Trage zu. Der junge Marinekadett, der darauf kauerte, wirkte nur wenig älter als der Tote, der keine zwei Meter von ihm entfernt an der Wand lag. Er trug einen blutgetränkten Augenverband, kaum mehr als eine provisorische Kompresse. Tränen liefen aus seinem gesunden Auge, als er zu ihr hochsah. »Madonna, was ist mit meinem Gesicht passiert? Ich habe etwas gegen die Schmerzen bekommen, aber ich weiß nicht, was mit meinem Auge los ist. Könnten Sie nachschauen und es mir sagen? Bitte!«
Sie blickte sich um und suchte nach einer Lücke, durch die sie die Rolltrage hindurch zu einem der Untersuchungszimmer schieben könnte, doch nicht nur der Gang war rettungslos zugestellt, sondern auch die wenigen schmalen Räume der Ambulanz. Man hatte bereits begonnen, das Labor und sogar den Verwaltungstrakt für die medizinische Notversorgung freizuräumen. Cecilia sah, wie weiter vorn auf dem Gang Ärzte gemeinsam mit dem Hausmeister Stühle und Schreibpulte an der Wand stapelten, um Platz für die Verwundeten zu schaffen.
Der Blick des Jungen war verzweifelt. Er war bei vollem Bewusstsein, und sein Kreislauf schien stabil zu sein, womit er fraglos einer der weniger dringenden Fälle war, doch das, worum er Cecilia bat, würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Vorsichtig hob sie die Kompresse an einem Ende an und schaute darunter. Scharf einatmend, nahm sie die Hand des Jungen. Seine Finger zitterten, so wie vorhin noch ihre. »Wie heißt du?«, fragte sie, so, wie sie es immer bei den Kindern tat, um Nähe herzustellen und ihnen die Angst zu nehmen.
»Angelo«, sagte er mit erstickter Stimme. »Es ist weg, oder? Mein Auge ist weg!«
Sie nickte und drückte seine Hand, mehr konnte sie im Augenblick nicht für ihn tun. Er fiel schluchzend in sich zusammen, und sie ging weiter, dem Bedürfnis widerstehend, ihn tröstend in die Arme zu nehmen. Er war beinahe noch ein Kind, und nun war er ein Krüppel. Sie wandte sich dem nächsten Kadetten zu, der wie die beiden anderen kaum dem Knabenalter entwachsen war. Er hatte eine Schuss- wunde am Bauch, die nicht allzu gefährlich aussah. Das Projektil hatte nur seine Seite gestreift und dabei vermutlich eine Rippe geprellt. Er atmete heftig und war bleich, doch die Wunde war glatt und sah sauber aus. Es blutete zwar stark, doch das ließ sich mit einem Druckverband beheben. Cecilia eilte zurück in den Materialraum, holte ein Tablett mit den benötigten Materialien und versorgte den jungen Marinesoldaten.
»Die anderen sind alle tot«, sagte er mit erstickter Stimme. »Nur wir sind übrig geblieben. Die meisten hat die Bombe erwischt. Weg, genau wie die ganze Korvette. Erschlagen, verbrannt, ertrunken. Ich habe sie gesehen, wissen Sie. Sie schwammen im Wasser. Manche ohne Köpfe, ohne Arme. Nur noch Fetzen.« Er weinte.
»Hast du Schmerzen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf, doch es war klar, dass er log. »Du musst es nicht aushalten«, sagte sie sanft. Sie gab ihm eine Spritze und strich ihm leicht über die Stirn, bevor sie weiterging. Wut stieg in ihr auf und überlagerte das Mitleid und das Entsetzen.
Jungen!, dachte sie. Das hier waren doch alles noch Jungen! Welche Verbrecher hatten sich erdreistet, sie in Uniformen zu stecken und sie in den Krieg zu schicken?
Cecilia kämpfte sich durch das Gewimmel von Ärzten, Schwestern und Patienten, das im Gang und den umliegenden Räumen für drangvolle Enge sorgte. Dabei wurde sie zum ersten Mal gewahr, dass sich auch deutsche Soldaten in der Ambulanz befanden. Sie hatten ebenfalls Verletzte zu beklagen, wie auf den ersten Blick zu erkennen war.
Man hatte sie alle in dasselbe Zimmer gebracht, den Raum, in dem sonst die Aufnahmeuntersuchungen stattfanden. Cecilia zählte fünf Männer in Wehrmachtuniformen, von denen zwei mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Stühlen saßen und zwei weitere auf Tragen lagen, die auf dem Fußboden neben den - mit regulären Patienten belegten - Krankenbetten abgestellt worden waren. Ein sechster, dessen linker Arm notdürftig bandagiert war, ging zwischen den anderen umher und redete leise mit ihnen.
Cecilia hatte nicht damit gerechnet, hier auch Deutsche vorzufinden, obwohl es natürlich nahelag, dass sie bei dem Angriff nicht ungeschoren davongekommen waren. Schließlich war es ihr Konvoi, den die Alliierten beschossen hatten.
Der Soldat mit dem bandagierten Arm drehte sich zu ihr um, als sie hereinkam. Sie kannte sich nicht sonderlich gut mit Rangabzeichen bei der deutschen Wehrmacht aus, aber an den Schulteraufschlägen meinte sie erkennen zu können, dass er einen höheren Offiziersrang bekleidete.
»Suora, können Sie meinen Männern helfen?«, sagte er in flüssigem, nahezu akzentfreiem Italienisch.
»Dottora.« Sie verbesserte ihn automatisch, so wie sie es immer tat, wenn Patienten sie für eine Krankenschwester hielten. Es kam immer wieder vor, denn der Prozentsatz an weiblichen Ärzten war in Italien verschwindend gering. An diesem Krankenhaus war sie zufälligerweise nicht die Einzige; eine weitere Ärztin arbeitete auf der Frauenstation. Doch zu Verwechslungen kam es immer wieder, und es verging kaum eine Woche, in der sie nicht mindestens einmal bei einem Patienten darauf hinweisen musste, dass sie weder für die Bettpfannen noch für das Servieren der Mahlzeiten zuständig war.
»Verzeihung, Dottora«, sagte der deutsche Offizier. Seine Blicke wanderten von ihrem Gesicht zu ihrem Hals, wo sie das Stethoskop hängen hatte, unverzichtbares ärztliches Gerät und zugleich deutlich sichtbarer Ausweis ihres Berufsstandes. »Meine Männer leiden Schmerzen«, fuhr er mit höflicher Stimme, aber leicht ungeduldigem Unterton fort. »Zwei von ihnen sind ziemlich schlimm verletzt, einer mit Bauchschuss. Bisher hat sich noch niemand um sie gekümmert. Ich sehe zwar, dass Sie hier alle Hände voll zu tun haben. « Er wies hinaus auf den Gang, wo immer noch das reinste Tohuwabohu herrschte. »Aber vielleicht bleibt zwischendurch Zeit, um meinen Männern wenigstens ein Schmerzmittel zu geben. Ich hätte es selbst getan, aber unser Laster ist eben da draußen mitsamt allen Medizinvorräten in Grund und Boden gebombt worden.«
Ein alter Mann in einem der Krankenhausbetten spuckte aus. »Nazis«, sagte er verächtlich. »Es ist euer Krieg, eure Schuld! Wärt ihr doch zu Hause geblieben, ihr Hitlerpack!«
Einer seiner Zimmergenossen, an Jahren um einiges jünger als der Alte, widersprach ihm verärgert. »Halt's Maul, du dämlicher Bolschewist! Wir werden den Sieg davontragen, daran gibt es keinen Zweifel! Benito Mussolini weiß, was er tut! Er allein hat unser Land groß gemacht, und er wird dafür sorgen, dass es noch größer wird!«
»Du armer Irrer«, sagte der Alte mit höhnischem Lachen. »Warte noch ein paar Wochen, dann sprechen wir uns wieder! Dann werdet auch ihr Faschisten merken, welchem Trugbild ihr so viele Jahre nachgelaufen seid! Ihr werdet alle noch kriegen, was ihr verdient!«
Der jüngere Mann, der ganz offensichtlich tatsächlich Mitglied der Fascia war, plusterte sich auf und setzte zu wütendem Protest an, doch Cecilia schnitt ihm das Wort ab. »Ruhe«, befahl sie. »Hier gibt es Kranke und Verletzte. Dies ist nicht der rechte Ort, um über Politik zu schwadronieren. Wer sich unbedingt darüber auslassen will, soll ins Parteibüro oder auf eine Versammlung gehen.«
Die Männer schwiegen, eher verblüfft als eingeschüchtert.
»Die hat aber Haare auf den Zähnen«, kam es murmelnd von einem der anderen Patienten.
Cecilia achtete nicht darauf. Sie beugte sich über einen der verletzten deutschen Soldaten, einen jungen Mann im selben Alter wie die Italiener, die sie vorhin draußen auf dem Gang versorgt hatte. Er lag verkrümmt auf einer Roll- trage und hatte tatsächlich einen Bauchschuss erlitten, aber Cecilia zweifelte ernstlich, dass er durchkommen würde. Auch bei einer sofortigen Notoperation wäre er vermutlich kaum zu retten. Sein Puls ging schwach und zitternd, seine Haut war kühl und feucht. Er war bewusstlos und hatte wahrscheinlich starke innere Blutungen. Doch natürlich musste für ihn getan werden, was möglich war, alles andere wäre sträflich gewesen. Cecilia eilte aus dem Zimmer, zu einem der beiden Operationssäle, aus dem gerade ein frisch operierter Patient auf den Gang geschoben wurde. »Ich habe hier drüben einen Bauchschuss«, rief sie quer durch das Gedränge zu dem Chirurgen hinüber, der in der offenen Tür stand.
»Einen Deutschen?«, fragte er.
»Einen Bauchschuss«, sagte sie mit Bestimmtheit.
Über seine blutbefleckte Gesichtsmaske hinweg musterte er zuerst sie und dann den Soldaten, dessen Hand abgerissen worden war und den zwei der Schwestern gerade als nächsten Patienten für eine Operation vorbereiteten.
»Er kann länger warten«, erklärte Cecilia kategorisch. »Sein Zustand ist stabil, genau wie der aller anderen hier auf dem Gang.«
Der Chirurg gab achselzuckend nach, und Cecilia beorderte die Schwestern in das Krankenzimmer, um mit ihrer Hilfe den verletzten Deutschen in den Operationssaal zu verfrachten.
Als sie zurückkam, um nach den anderen Verwundeten zu schauen, nickte der deutsche Offizier ihr zu. »Danke«, sagte er leise.
Sie musterte ihn scharf. Er war kreidebleich, und auf seiner Stirn stand in dicken Tropfen der Schweiß. Er zitterte, was zum Teil an seiner Verletzung, zum Teil aber mit Sicherheit auch an der Kälte lag. Sie froren alle hier drin, denn es zog eisig von draußen durch die zerbrochenen Fenster herein. Einige der regulären Patienten hatten sich schon lautstark beschwert, wie Cecilia am Rande mitbekommen hatte.
»Wie schwer ist Ihre Verletzung?«, fragte sie.
»Das kann warten. Kümmern Sie sich zuerst um meine Männer.«
Sie zuckte die Achseln. Er hatte recht. Solange er noch stehen konnte, war er nicht in akuter Lebensgefahr, was man von den anderen Soldaten vielleicht nicht behaupten konnte. Sie beugte sich über den Mann, den die Sanitäter auf einer Trage neben einem der Betten abgelegt hatten. Er war tot. Bedauernd blickte sie zu dem Offizier auf und schüttelte stumm den Kopf.
Er stieß einen Fluch auf Deutsch aus und wandte das Gesicht zur Seite. Sie sah, dass er stärker zitterte als vorher, und noch während sie dazu ansetzte, ihm zu sagen, er solle sich lieber setzen, wankte er leicht. Mit zwei Schritten war sie bei ihm und stützte ihn. Vage nahm sie wahr, dass er nach Schweiß und Pulver und Blut roch, jene besondere, durchdringend scharfe Ausdünstung, die seit dem Bombenangriff das ganze Krankenhaus erfüllte.
»Kommen Sie, ich sehe mir Ihre Verletzung an«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf und deutete auf den letzten seiner Männer, den sie sich noch nicht angeschaut hatte. »Er zuerst «, sagte er.
»Gehen Sie nur mit ihr, Herr Major«, sagte der Soldat auf Deutsch. »Ich halt's schon aus. Sie haben es ja schon untersucht und gesagt, dass das Bein dranbleibt. Mehr muss ich gar nicht wissen. Hauptsache, ich verliere es nicht, alles andere werde ich überstehen.«
»Was fehlt Ihnen denn?«, fragte Cecilia, ebenfalls auf Deutsch. Sie beugte sich über ihn.
»Da soll mich doch einer«, sagte der Soldat. Sein Gesicht war grau und verzerrt, und seine Stimme bebte vor Anstrengung, sich nichts von seinen Schmerzen anmerken zu lassen. »Eine italienische Ärztin, die unsere Sprache versteht!«
»Nur ein bisschen«, sagte sie.
»Was ist mit Ihrem Kopf passiert?«, wollte er wissen.
»Eine Scherbe von einem Fenster. Nichts Schlimmes.« Sie deutete auf sein Bein. »Das Knie?«
»Das Knie«, bestätigte der Soldat bereitwillig. Seine Zähne knirschten aufeinander, als sie die Wunde kurz untersuchte.
»Die Kniescheibe ist zerschmettert«, sagte der Offizier. Er war neben sie getreten und streckte den unversehrten Arm aus, um ein Stück von dem zerfetzten Hosenstoff am Bein des Soldaten zur Seite zu ziehen. »Er muss operiert werden, die Wunde ist voller Dreck und Knochensplitter.«
Er hatte recht, Cecilia sah es auf den ersten Blick. Das Knie des Soldaten war eine einzige Masse blutigen, zerfetzten Fleisches. Hier konnte nur eine ordentlich durchgeführte Operation helfen. Doch der Verwundete würde warten müssen, bis einer der beiden OP-Säle frei wurde. Danach wäre der Krieg für ihn vorbei. Das Bein würde steif bleiben, aber er würde es behalten. Und sein Leben dazu. Cecilia gab ihm rasch eine Spritze und drückte kurz seine Hand, bevor sie sich aufrichtete und sich dem Offizier zuwandte.
»Sind Sie ein Sanitäter?«
Er schüttelte den Kopf. »Ein Kollege. Stabsarzt.«
Sie nickte, leicht verwirrt von dieser unerwarteten Information, und betrachtete seinen behelfsmäßig verbundenen Arm. »Im Moment sind Sie eher Patient. Können Sie allein gehen?«
»Wohin?«
»Nur ein paar Schritte.«
*
Sie stützte ihn vorsorglich auf dem Weg über den Gang. In Ermangelung anderweitiger freier Behandlungsräume brachte sie ihn in das enge, mit Schränken und Regalen vollgestellte Materialzimmer und bot ihm den Schemel an, auf dem sie selbst vorhin noch gesessen hatte.
Während sie den stümperhaften Verband von seinem Arm entfernte und ihm anschließend aus der blutbesudelten, zerrissenen Uniformjacke half, konnte sie nicht umhin, ihn näher zu betrachten. Schon beim ersten Anblick war ihr aufgefallen, wie groß er war. Sie war selbst nicht gerade klein, aber wenn er neben ihr stand, überragte er sie fast um Haupteslänge. Sein Haar war dunkel und seine Haut stark gebräunt, sodass man ihn beinahe für einen Südländer hätte halten können, wenn nicht seine Augen gewesen wären - sie waren von einem überraschend hellen Blau.
»Wer hat das verbunden?«, wollte sie wissen, um sich abzulenken.
»Ich selbst, mit einer Hand. Danach sieht es vermutlich auch aus, wie? Normalerweise kann ich es besser.«
Cecilia gab keine Antwort, konnte aber nicht umhin, bei seiner Frage seinen Blick erneut zu erwidern. Winzige Fältchen lagen um seine Augen, und auch von der Nase bis zu den Mundwinkeln zogen sich sichtbare Kerben. Er war nicht mehr ganz jung. Sie schätzte, dass er ein paar Jahre älter war als sie, vielleicht Mitte dreißig.
Die Wunde an seinem Oberarm war ein Schnitt, um einiges größer und breiter als der an ihrer Stirn. Er ging bis tief in die unteren Muskelschichten.
»Wie ist das passiert?«, fragte sie, diesmal wieder auf Italienisch. Er konnte sich in ihrer Muttersprache weit besser verständigen als sie sich in seiner.
»Eine Scherbe von einem Fenster«, sagte er. Es klang ein wenig lakonisch. »Vom Fenster eines unserer Lastwagen.« Mit schwachem Grinsen setzte er hinzu: »Damit haben wir sozusagen eine Gemeinsamkeit, oder?«
Sie fand es nicht besonders komisch, dafür tat ihr der Kopf zu weh. Doch seine Schmerzen mussten deutlich schlimmer sein, zumal er, ebenso wie vorher seine Männer, noch kein Mittel dagegen bekommen hatte.
Sie wusch sich die Hände und betäubte dann den Bereich rund um seine Wunde mit einer Spritze. Er zuckte nur leicht zusammen, gab aber kein Geräusch von sich.
»Ich werde nähen«, sagte sie. »Wir müssen noch einen Moment warten, bis die Betäubung wirkt.«
»Dann sollte ich mich in der Zwischenzeit vielleicht vorstellen. « Er lüftete kurz die Sitzfläche und deutete eine Verbeugung an. »Major Alexander Behring aus Berlin. Stabsarzt bei der Heeresleitung Süd.«
»Cecilia Zaguri.« Ihre eigene Vorstellung kam eher mechanisch; im Normalfall hätte sie ihren Namen lieber für sich behalten. Es kam ziemlich oft vor, dass männliche Patienten versuchten, während der Behandlung mit ihr anzubandeln. In dem Punkt machten sie ebenso wenig einen Unterschied zwischen ihr und den Krankenschwestern wie sonst auch.
»Sie sind die erste Kollegin, die ich in Italien sehe«, sagte er.
»Vielleicht waren Sie noch nicht so oft in Italien.«
»Doch, sehr oft. Aber Ärztinnen habe ich hier noch keine getroffen.«
»Man merkt, dass Sie nicht zum ersten Mal in unserem Land sind. Sie sprechen sehr gut Italienisch.« Cecilia nahm steriles Nahtmaterial aus einer der Instrumentenschubladen
und legte Kompressen für einen frischen Verband bereit.
»Ich kam als Kind oft her«, erklärte Alexander Behring.
»Auch nach Neapel?«
»Manchmal. Meist fuhr ich aber woandershin. Nach Rom, Venedig, Florenz. Immer wieder nach Florenz. Mein Vater war Kunsthistoriker. Er liebte Florenz und kannte es bis in den letzten Winkel. Und meine Großmutter mütterlicherseits war Italienerin, bei ihr lernte ich die Sprache.«
»Wo lebte sie? Ihre Großmutter, meine ich.«
Cecilia sagte sich, dass sie ihn nur danach fragte, um die Zeit bis zum Legen der Wundnaht zu überbrücken. Sie redete immer mit ihren Patienten, das nahm ihnen die Angst und entspannte sie vor einem Eingriff. Doch die leise Unruhe, die sie unter dem Blick dieser durchdringend hellen Augen spürte, ließ sich nicht leugnen. Sie nahm seine Gegenwart nicht nur wie die eines beliebigen Patienten oder Kollegen wahr, sondern wie die eines Mannes. Es war ein Gefühl, das sie lange nicht gehabt hatte, und sie konnte nicht recht sagen, ob es ihr gefiel, und noch weniger, ob sie das überhaupt wollte.
»Meine Großmutter lebte in Arezzo«, sagte Alexander. »Das Haus, in dem sie bis zu ihrem Tod wohnte, gibt es immer noch, es wird von einem Vetter bewohnt. Ich besuche ihn und seine Familie manchmal.«
Sie hatte ebenfalls Verwandtschaft in Arezzo, es wäre also naheliegend gewesen, ihn nach dem Namen seines Vetters zu fragen. Vielleicht hatten sie sogar gemeinsame Bekannte. Doch sie rief sich rechtzeitig zur Ordnung. Dies war nicht die passende Zeit für lockere Konversation. Er war einer der Männer, die für den Krieg, den hierzulande niemand wollte, verantwortlich waren.
Schweigend begann sie, seine Wunde zu nähen, und ebenso schweigend ließ er es über sich ergehen. Sein Arm, an dem die Muskeln stark ausgeprägt waren, zuckte hin und wieder unter ihrer Berührung, doch das war eher reflexbedingt. Das Mittel musste die Schmerzempfindungen weitgehend ausgeschaltet haben.
»Stammen Sie aus Neapel?«, fragte Alexander nach einer Weile.
Sie schüttelte den Kopf. »Aus der Toskana.«
»Jetzt sagen Sie nur, aus Arezzo!«
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nein, so klein ist die Welt nun doch nicht. Aber sehr weit davon entfernt ist es auch nicht. Meine Familie hat ein Weingut oberhalb vom Val di Chiana, in der Nähe eines Örtchens namens Montechiano.«
»In der Gegend war ich schon«, entgegnete Alexander. »Es ist wunderschön dort. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Paradies gegen Neapel einzutauschen?«
»Es gab verschiedene Gründe«, sagte sie ausweichend.
Cecilia merkte, dass sein Blick ihre Hand streifte, und unwillkürlich fragte sie sich, ob man noch Spuren des Eherings sehen konnte. Doch das war unmöglich; sie trug seit über einem halben Jahr keinen mehr. Nach Giacomos Tod hatte sie eine Zeit lang beide Ringe getragen; ihren am Ringfinger, seinen am Mittelfinger. Doch Giacomos Ring war ihr zu groß gewesen, er war ihr ständig vom Finger gerutscht, sodass sie ihn nach einer Weile abgelegt hatte, aus Angst, ihn zu verlieren. Ihren eigenen Ehering danach trotzdem noch zu tragen war ihr mit der Zeit merkwürdig vorgekommen; sie hatte den Eindruck, als gehörte er nicht mehr an ihre Hand, sondern zu Giacomos Ring, und so hatte sie eines Tages ihren Ring zu dem seinen in die Schmuckschatulle zurückgelegt, mit der Giacomo damals zu ihr vor den Traualtar getreten war. Hin und wieder klappte Cecilia das Kästchen auf und schaute sie an. Zwei Teile eines Ganzen, passend zueinander gefertigt und für immer zusammengefügt. Zwei Stücke goldener Erinnerung, scheinbar unberührt auf nachtblauem Samt, als hätte es die vier Jahre, die sie getragen worden waren, nie gegeben.
»Soweit ich weiß, gibt es in der Toskana einige ordentliche Krankenhäuser«, meinte Alexander. »Und ein paar davon sind sicher größer als dieses hier.«
»Das ist mir bekannt«, versetzte Cecilia. »Ich habe sogar ein paar Jahre in einem davon gearbeitet, bis mir nach einem Ortswechsel war.« Sie merkte, dass es ablehnend klang, aber sie hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen.
Der Deutsche schien es zu bemerken und verfiel in Schweigen, doch sie spürte seine Blicke auf sich, während sie den Schnitt zu Ende vernähte. Anschließend verband sie den Oberarm, flink und mit geübten Bewegungen.
»Cecilia«, sagte er leise. »Darf ich Sie so nennen?«
Überrumpelt blickte sie zu ihm hoch, doch bevor sie etwas sagen konnte, streckte er die Hand aus und reichte sie ihr. »Ich möchte Ihnen danken. Sie sind selbst verletzt, ihr Kittel ist voll von ihrem eigenen Blut, und Sie sind so blass, dass Sie der gekalkten Wand da hinter Ihnen Konkurrenz machen könnten. Trotzdem haben Sie sich um meine Männer und um mich gekümmert. Das war anständig von Ihnen.«
»Ich bin Ärztin«, sagte sie ein wenig steif. »Außerdem haben Sie und Ihre Männer unsere Soldaten aus dem Wasser gefischt und hergebracht.«
»Ich bin ebenfalls Arzt«, gab er zurück. »Es war meine Pflicht. Sogar für die Tommies hätte ich das getan.«
Sie nickte müde. »Ich weiß. Es ist ... alles so furchtbar, nicht wahr?«
»Das ist es.« Er blickte sie unverwandt an. »Es ist so furchtbar, dass es für einen Arzt kaum zu ertragen ist.«
Sie erwiderte seinen Blick, und sie war überrascht, wie stark sie seine Verzweiflung nachempfand. Für ihn musste es weit schlimmer sein als für sie. Sie hatte vorhin zum ersten Mal Bombenopfer gesehen und versorgt. Er tat es vermutlich schon seit Jahren, so wie alle Ärzte im Krieg. Sicher sah er jeden Tag junge Männer, von Bomben, Granaten und Gewehrkugeln verstümmelt oder zerfetzt.
»Es war sehr mutig von Ihnen, die verletzten Kadetten hierherzufahren«, sagte sie impulsiv. »Sie haben sie gerettet!«
»Und dabei mit unserem Konvoi die Sturzbomber angelockt. Wer sollte uns dafür dankbar sein, außer Ihnen vielleicht? Von den anderen hier bestimmt keiner. Niemanden hat es gekümmert, dass auch wir verletzt waren und Schmerzen hatten.«
Cecilia fühlte sich auf unerklärliche Art schuldig. »Sie müssen das verstehen. Vieles ist nicht gerade leicht für meine Landsleute in dieser schrecklichen Zeit.«
Alexander senkte den Kopf. »Ich weiß. Es tut mir leid. Seit hier die Bomben fallen, denken längst nicht mehr alle Italiener, dass sie an der Seite der Deutschen ausharren und diesen Krieg bis zum Ende mit führen müssen. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich verbittert wirke. Ich bin ... ein bisschen durcheinander. Ich habe seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen.«
Cecilia musterte ihn besorgt. »Und dann noch die Verletzung! «
»Die ist schon vergessen, dank Ihrer kompetenten Hilfe. Ihre Nahtführung war übrigens hervorragend, wenn ich das sagen darf.« Ein schwaches Lächeln trat auf seine Lippen, das sie unwillkürlich erwiderte.
»Das war's«, sagte sie, während sie die Endstücke des Verbands befestigte. »Fertig.«
»Danke«, sagte er höflich. Er erhob sich von dem Schemel und zog die Reste seines zerfetzten Hemdärmels über die Mullbinde.
»Was tun Sie überhaupt hier in Neapel?«, entfuhr es Cecilia. Ihr wurde bewusst, wie absurd die Frage war, aber auch, was in Wahrheit unausgesprochen zwischen ihnen stand. Welche Richtung nahm der Krieg? Wohin würde es führen, dass die Alliierten seit Beginn des Monats italienische Städte bombardierten und zugleich mehr und mehr deutsche Divisionen einrückten? Wie tief würden die Deutschen Italien noch in das Unausweichliche hineinziehen?
»Wir sind gewissermaßen nur auf der Durchreise«, antwortete Alexander Behring. Er wirkte mit einem Mal zutiefst erschöpft. Zwischen seinen Brauen stand eine Furche, als er auf sie herabblickte. »Auf dem Weg nach Afrika.«
Plötzlich kam es ihr so vor, als zeichnete sich hinter der hochgewachsenen Gestalt des Deutschen ein zusätzlicher Schatten auf der Wand ab, wie ein dunkles Menetekel. Und dann war da noch etwas, das sie verunsicherte. Es hing mit ihm zusammen, mit dem Mann. Er hatte eine faszinierende Ausstrahlung, die etwas in ihr zum Schwingen brachte, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Die Art, wie er sie ansah, machte sie nervös, aber nicht in einer Weise, dass es unangenehm gewesen wäre, im Gegenteil.
»Afrika?«, wiederholte Cecilia mit gepresster Stimme.
Er nickte, und sie verstand, auch ohne dass er es weiter ausführen musste. Es war, als könnte sie auf einmal spüren, wie die Schrecken des Krieges näherkamen. Die Niederlage von El Alamein war erst der Anfang vom Ende gewesen. Die Alliierten würden die deutschen und italienischen Verbände in Nordafrika weiter und weiter zurücktreiben. Bald würden Landungstruppen über das Mittelmeer nach Norden vorstoßen. Nach Sizilien und Sardinien. Möglicherweise sogar auf das italienische Festland. Was danach kam, wusste der Himmel allein.
»Cecilia«, sagte er, und diesmal lag etwas Drängendes in seiner Stimme. Es klang beinahe verzweifelt. »Darf ich Sie wiedersehen?« Er holte Luft. »Ich würde mich gern für Ihre Hilfe revanchieren. Was halten Sie von einem Besuch in einem Konzert? Mögen Sie Musik?«
Sie mochte Jazz, aber in einer Vorstellung war sie noch nicht gewesen. »Für Konzerte habe ich keine Zeit.«
»Dann Kino. Oder ein Abendessen.«
»Lieber nicht. Mit dem Arm brauchen Sie noch Ruhe.«
»Ich will keine Ruhe. Ich möchte mit Ihnen ausgehen.«
»Aber Sie haben doch gar keine Zeit zum Ausgehen.« Sie lächelte, doch sie fühlte sich verunsichert. »Sie müssen in den Krieg.«
»Ich bin noch für ein paar Tage hier.«
»Major ...«
»Alexander.«
Sie zögerte und überlegte, ob sie behaupten sollte, verheiratet oder sonstwie in festen Händen zu sein, doch das würde er durchschauen, denn in dem Fall hätte sie seine Einladung sofort mit dieser Begründung abgelehnt. »Ich habe den Rest der Woche Nachmittagsdienst«, sagte sie daher wahrheitsgemäß. »Abends noch auszugehen wäre mir zu anstrengend. Sie müssten das eigentlich wissen, da Sie selbst Arzt sind.« Sie räusperte sich. »Welche Fachrichtung haben Sie eigentlich?«
»Ich bin Chirurg. Und Sie?«
»Kinderärztin.«
»Na ja, allgemein heißt es, dass die Chirurgie wesentlich anstrengender ist als die Pädiatrie. Würden Sie mir darin zustimmen? « Er schien nicht wirklich eine Antwort zu erwarten. Zum ersten Mal lächelte er, und Cecilia konnte sehen, dass er in der rechten Wange ein Grübchen hatte. Seine Nähe hatte sie schon vorher beunruhigt, und durch dieses Lächeln vergrößerte sich ihre Unsicherheit noch. Er ging zur Tür des kleinen Raums, und obwohl ihm die Anstrengungen der letzten Stunden ins Gesicht geschrieben standen, waren seine Bewegungen geschmeidig und mühelos. »Ich melde mich«, sagte er einfach.
Copyright © 2014 by Francesca Santini Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Francesca Santini
- 2014, 1, 655 Seiten, Taschenbuch
- ISBN-10: 3863657977
- ISBN-13: 9783863657970
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