Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht
Die Nichte des Scientology-Führers David Miscavige packt aus!
Jenna Miscavige Hill, die Nichte des Nachfolgers von Scientology-Gründer L. Ron Hubbard, David Miscavige, wuchs als Scientologin auf, verließ die...
Jenna Miscavige Hill, die Nichte des Nachfolgers von Scientology-Gründer L. Ron Hubbard, David Miscavige, wuchs als Scientologin auf, verließ die...
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Produktinformationen zu „Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht “
Die Nichte des Scientology-Führers David Miscavige packt aus!
Jenna Miscavige Hill, die Nichte des Nachfolgers von Scientology-Gründer L. Ron Hubbard, David Miscavige, wuchs als Scientologin auf, verließ die kontrovers diskutierte Organisation aber im Jahr 2005. In ihrer Biographie enthüllt sie die befremdlichen und verstörenden Details ihrer Kindheit. Sie gibt einen erschütternden Einblick in ihre Erfahrungen als Mitglied der Sea Organization, das Machtzentrum von Scientology, und legt die Überzeugungen, Rituale und Geheimnisse einer Organisation offen, die bereits Hollywood-Stars wie Tom Cruise und John Travolta in ihren Bann gezogen hat. Sie erzählt, wie sie von ihrer Familie abgeschirmt wurde, und berichtet schließlich auch von ihrer mutigen Entscheidung, mit Scientology endgültig zu brechen.
Nicht nur Hollywood-Stars wie Tom Cruise und John Travolta sind von Ron Hubbards Lehren in den Bann gezogen worden. Auch Jenna Miscavige Hill und ihre Familie erliegen den Verlockungen.
Im Zentrum der Macht
Als ehemaliges Mitglied der "Sea Organization", dem Machtzentrum Scientologys, gibt sie einen erschütternden Einblick in die Rituale, Geheimnisse und Überzeugungen dieser umstrittenen Organisation. Kindheits- und Jugenderinnerungen, die schockieren.
Terror statt Idylle
Scientology schafft eine idyllische Umgebung für Kinder - behauptet die Organisation. Jenna Miscavige Hill stellt klar: Kinderarbeit, Verhöre und Einschüchterung durch die organisationseigene Geheimpolizei "Special Affairs" gehörten zum täglichen Leben der Kinder. Bereits als Sechsjährige musste Jenna schwerste körperliche Arbeit verrichten
Auf ewig gebunden
Neben stundenlangen Verhören und Befragungen nach Verrätern und Abtrünnigen innerhalb der Kindergruppe, begann mit 6 Jahren das "auditing". Und mit 7 Jahren unterschrieb Jenna einen "Milliardenjahres-Vertrag", der sie auf ewig an die Organisation binden sollte. Erst mit 21 gelang der Ausstieg.
Jenna Miscavige Hill wuchs als Scientologin auf und konnte im Jahr 2005 die stark kritisierte Organisation verlassen. In ihrer Biografie enthüllt sie verstörende und unglaubliche Details ihrer Kindheit bei Scientology. Mit diesem sensationellen Insider-Bericht ist sie schlagartig "Scientologys schlimmster Feind." (NEW YORK POST)
"Das vernichtendste Urteil, das Scientology je einstecken musste."
HUFFINGTON POST
Jenna Miscavige Hill, die Nichte des Nachfolgers von Scientology-Gründer L. Ron Hubbard, David Miscavige, wuchs als Scientologin auf, verließ die kontrovers diskutierte Organisation aber im Jahr 2005. In ihrer Biographie enthüllt sie die befremdlichen und verstörenden Details ihrer Kindheit. Sie gibt einen erschütternden Einblick in ihre Erfahrungen als Mitglied der Sea Organization, das Machtzentrum von Scientology, und legt die Überzeugungen, Rituale und Geheimnisse einer Organisation offen, die bereits Hollywood-Stars wie Tom Cruise und John Travolta in ihren Bann gezogen hat. Sie erzählt, wie sie von ihrer Familie abgeschirmt wurde, und berichtet schließlich auch von ihrer mutigen Entscheidung, mit Scientology endgültig zu brechen.
Nicht nur Hollywood-Stars wie Tom Cruise und John Travolta sind von Ron Hubbards Lehren in den Bann gezogen worden. Auch Jenna Miscavige Hill und ihre Familie erliegen den Verlockungen.
Im Zentrum der Macht
Als ehemaliges Mitglied der "Sea Organization", dem Machtzentrum Scientologys, gibt sie einen erschütternden Einblick in die Rituale, Geheimnisse und Überzeugungen dieser umstrittenen Organisation. Kindheits- und Jugenderinnerungen, die schockieren.
Terror statt Idylle
Scientology schafft eine idyllische Umgebung für Kinder - behauptet die Organisation. Jenna Miscavige Hill stellt klar: Kinderarbeit, Verhöre und Einschüchterung durch die organisationseigene Geheimpolizei "Special Affairs" gehörten zum täglichen Leben der Kinder. Bereits als Sechsjährige musste Jenna schwerste körperliche Arbeit verrichten
Auf ewig gebunden
Neben stundenlangen Verhören und Befragungen nach Verrätern und Abtrünnigen innerhalb der Kindergruppe, begann mit 6 Jahren das "auditing". Und mit 7 Jahren unterschrieb Jenna einen "Milliardenjahres-Vertrag", der sie auf ewig an die Organisation binden sollte. Erst mit 21 gelang der Ausstieg.
Jenna Miscavige Hill wuchs als Scientologin auf und konnte im Jahr 2005 die stark kritisierte Organisation verlassen. In ihrer Biografie enthüllt sie verstörende und unglaubliche Details ihrer Kindheit bei Scientology. Mit diesem sensationellen Insider-Bericht ist sie schlagartig "Scientologys schlimmster Feind." (NEW YORK POST)
"Das vernichtendste Urteil, das Scientology je einstecken musste."
HUFFINGTON POST
Lese-Probe zu „Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht “
Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht von Jenna Miscavige Hill und Lisa PulitzerAus dem Amerikanischen von Ina Bell und Marianne Denkhaus
Prolog
Sonnenstrahlen drangen durch die Wolken, als ich in der Reihe der Kinder stand, die darauf warteten, zwei wichtigen Personen der Church of Scientology zu begegnen. Ich wusste nicht genau, wie lange ich dort schon ausharrte, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Als Siebenjährige fühlte sich beim Warten jede Minute wie eine Stunde an. Es standen noch mindestens zehn Kinder vor mir, also vertrieb ich mir mit meinen beiden Freundinnen die Zeit mit Singen und Abklatschspielen. Obwohl ich Spaß hatte, war ich vor allem ängstlich und nervös. Die beiden Besucher kamen aus dem internationalen Hauptquartier der Church in Hemet, Kalifornien, und sollten an den Klapptischen vor der Schule neue Mitglieder anwerben.
Ich stand zu weit hinten in der Schlange, um die genaue Erklärung zu hören, warum die beiden zur Ranch gekommen waren, dem scientologischen Internat, in dem ich mit etwa achtzig Kindern wohnte, deren Eltern führende Mitglieder der Church waren. Was auch immer ihr Grund sein mochte, ich konnte mir denken, dass es wichtig war, denn sonst hätten sie kaum den zwanzig Meilen langen Weg auf sich genommen, um mit uns persönlich zu sprechen. Sie wirkten beeindruckend und mächtig, denn sie trugen Anzüge, die wie Marineuniformen aussahen, komplett mit Kordeln und Streifen. Ich wusste, sie gehörten zur Sea Organization, der scientologischen Elitegruppe mit den verdientesten Mitgliedern. Meine Eltern waren Jahre zuvor, kurz vor meinem zweiten Geburtstag, selbst dieser Einheit beigetreten.
... mehr
Ein paar Lieder später war ich an der Reihe, an den Tisch zu treten. Die Mienen der beiden Anwerber waren streng und einschüchternd. Eifrig bestrebt, die Anerkennung Erwachsener zu gewinnen, bemühte ich mich, zu lächeln und süß auszusehen. Als sie das nicht zu beeindrucken schien, setzte ich eine kluge, fragende Miene auf.
Einer der beiden reichte mir ein Blatt Papier mit dem Wappen der Sea Org, dem Wort REVENIMUS in der Kopfzeile und mit Linien für Datum und Unterschriften in der Fußzeile.
»Was heißt ›revenimus‹?«, erkundigte ich mich neugierig.
»Das ist Lateinisch und heißt ›Wir kommen wieder‹«, erklärte die Anwerberin. Sichtlich erfreut, eine mögliche Kandidatin zu belehren, erklärte sie mir weiter, dass dies das offizielle Motto der Sea Organization war.
»Wohin kommen wir denn wieder?«, fragte ich.
»Leben für Leben«, erklärte sie. »Du unterzeichnest hier einen Vertrag, der eine Milliarde Jahre gültig ist.«
»Ach so«, sagte ich und erkannte, wie dumm und unwissend meine Frage geklungen haben musste.
Als Scientologen glaubten wir daran, dass unsere Seele, wenn unser Körper starb, ein neues Leben in einem neuen Körper begann. Unser Gründer, L. Ron Hubbard, sagte, dass wir als Geister schon Millionen von Jahren gelebt hatten und noch weitere Millionen Jahre leben würden, mit oder ohne Körper. Das hatte ich geglaubt, seit ich denken konnte. An diesem Tag war ich mehr als bereit, mich für die Sache zu verpflichten, die meinen Eltern so am Herzen lag. Die Sea Org bedeutete ihnen so viel, dass sie mich mit sechs Jahren auf der Ranch untergebracht hatten, um ihre ganze Zeit der Mission der Kirche widmen zu können. Sie sahen mich ausschließlich an den Wochenenden, und das auch nur für ein paar Stunden. Von niemandem waren die Eltern hier, um mitzuerleben, wie wir der Sea Org Treue gelobten. Aber dieses Dokument zu unterschreiben, bedeutete, ihnen einen Schritt näher in der Sea Org zu kommen und sie möglicherweise häufiger zu sehen. »Wohin soll ich meinen Namen schreiben?«, fragte ich eifrig.
Die Frau zeigte auf eine Stelle, verlangte aber, dass ich zuerst den Text las. Die unvermeidliche Schlussklausel lautete:
»DAHER VERPFLICHTE ICH MICH FÜR DIE NÄCHSTEN MILLIARDEN JAHRE DER SEA ORGANIZATION (laut Flag Order 323).«
Bevor ich unterschrieb, blitzten Bilder aus der Kleinen Meerjungfrau vor meinem inneren Auge auf, vor allem die, in denen Arielle das magische Abkommen mit der Meerhexe unterschreibt. Ich wusste, Verträge bedeuteten, dass ich mein Versprechen halten musste, also machte ich mir im Stillen Notizen über das, was ich versprach: dem Kodex folgen, die Sache voranbringen und eine Milliarde Jahre dienen.
Das schaffe ich, sagte ich mir. Und damit versuchte ich, meinen Namen in Schönschrift zu schreiben, mit der richtigen Verbindung der einzelnen Buchstaben, genau, wie ich es in der Schule gelernt hatte. Ich wollte, dass meine Unterschrift unter diesem wichtigen Dokument perfekt war, aber die Anwerber trieben mich zur Eile an, weil sie noch die Kinder hinter mir in der Schlange registrieren lassen mussten. Daher wurde meine Unterschrift nicht so schön wie erhofft.
Trotzdem hatte ich eine Gänsehaut, als ich mich vom Tisch abwandte. Nichts an dem Eine-Milliarden-Jahre-Vertrag wirkte auf mich befremdlich. Ich wusste, im Geiste waren meine Eltern bei mir, wo auch immer sie sein mochten. Mein Vertrag war derselbe, den sie unterzeichnet hatten, und zwar zum ersten Mal als Teenager. Außerdem hatte ich noch kein Verständnis für große Zahlen, weil ich so jung war. Für mich war eine Milliarde Jahre das Gleiche wie hundert Jahre - eine unvorstellbar lange Zeit. Wenn ich die nächste Milliarde Jahre mit meinen Eltern und Freunden zusammen sein wollte, musste ich einfach unterschreiben. Nacheinander setzten auch meine Freunde ihre Namen unter ihre Verträge - und verpflichteten sich zu einem Dienst, den keiner von uns wirklich begreifen konnte. Während ich auf der Straße zwischen dem Spielplatz und den weißen und rosafarbenen Oleanderbüschen stand, wusste ich weder um die wahre Bedeutung dessen, was ich gerade getan hatte, noch um die Erwartungen, die an mich gestellt werden würden. In der einen Minute hatte ich noch ein Liedchen geträllert, und in der nächsten hatte ich mich verpflichtet, meine Seele für eine Milliarde Jahre in den Dienst der Church of Scientology zu stellen. Was auch immer die Zukunft für mich vorgesehen hatte, eines war gewiss: Mein Leben gehörte nicht mehr mir.
Kapitel 1
Im Namen der Kirche
Eine meiner frühesten Erinnerungen im Zusammenhang mit Scientology war ein Gespräch, das ich mit etwa vier Jahren hatte. Zu der Zeit lebte meine Familie in Los Angeles, und zwar in einer Wohnung, die uns die Church zur Verfügung gestellt hatte. Eines Sonntagmorgens lag ich mit Mom und Dad im Bett und fragte mich, wie es wohl wäre, außerhalb meines Körpers zu sein.
»Wie komme ich aus meinem Körper?«, fragte ich.
Meine Eltern sahen sich lächelnd an, ähnlich wie mein Mann und ich uns jetzt ansehen, wenn unser Sohn eine jener schwierigen Fragen stellt, deren Antwort außerhalb seines Begriffsvermögens steht.
»Können wir alle zusammen aus unseren Körpern heraus und dann im Himmel herumfliegen?«, fragte ich.
»Vielleicht«, antwortete mein Vater. Er war immer darauf bedacht, mich bei Laune zu halten.
»Dann lasst uns das jetzt machen«, verlangte ich ungeduldig. »Sagt mir nur, was ich tun muss.«
»Okay, schließ einfach die Augen«, befahl er. »Sind sie geschlossen? Und jetzt denk an eine Katze.«
»Denken wir alle gleichzeitig daran?«, fragte ich, um mich zu vergewissern, dass ich es richtig machte.
»Ja«, lautete Dads Antwort. »Okay, eins, zwei, drei ...«
Mit geschlossenen Augen wartete ich, aber nichts passierte.
Ich hörte meine Eltern lachen, begriff aber nicht, was so komisch war und wieso sie mir nicht halfen. Durften sie mir nicht helfen, meinen Körper zu verlassen? Konnten sie mir nur zu bestimmten Zeiten helfen? Konnte ich erst meinen Körper verlassen, wenn ich älter war? Stimmte mit mir etwas nicht?
Ich wusste, dass ich ein Thetan war. Das hatte ich immer gewusst und auch nie etwas anderes geglaubt. Thetan war der Begriff der Scientologen für den unsterblichen Geist, der den menschlichen Körper beseelte, während der Körper selbst im Wesentlichen ein Stück Fleisch war, ein Gefäß für den Thetan. Ein Thetan lebte Leben um Leben, und wenn sein aktueller Körper starb, wählte er sich den nächsten aus und fing wieder von vorne an.
Die Vorstellung, vergangene Leben zu haben, faszinierte mich. Oft bat ich Erwachsene, mir Geschichten von ihren früheren Leben zu erzählen. Ich konnte mich an keines meiner eigenen erinnern, aber mir wurde immer wieder versichert, das käme noch mit der Zeit. Rosemary, die Sekretärin meines Vaters, berichtete mir von Dingen aus ihrem früheren Leben, als sie ein Indianermädchen gewesen war. Sie kamen mir alle sehr wundersam und romantisch vor. Ich konnte es kaum erwarten, mich auch mal an eines meiner früheren Leben zu erinnern. Ich hoffte nur, dass ich nicht böse gewesen war, oder ein einsamer alter Mann. Sicher war ich mindestens eine Prinzessin gewesen.
Damals schien es mir bei Scientology nur darum zu gehen: dass man frühere Leben hatte, seinen Körper verließ und ein Thetan war. Darüber hinaus wusste ich kaum etwas. Aber für ein Kind, das die Vielschichtigkeit dieses komplexen Glaubens nicht begreifen konnte, war das alles sehr aufregend. Ich war Teil von etwas Größerem, das sich in die Vergangenheit und in die Zukunft erstreckte; etwas, das unmöglich schien und doch irgendwie völlig glaubhaft.
So saß ich also mit geschlossenen Augen da und wartete darauf, meinen Körper zu verlassen und mit meinen Eltern im Himmel herumzufliegen. Damals wusste ich noch nicht, dass nur Scientologen an Thetane glauben. Denn jeder, den ich kannte, war in der Kirche, und als Scientologenkind in dritter Generation beherrschte Scientology mein ganzes Leben. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte Mitte der Fünfziger Jahre begonnen, die Bücher von L. Ron Hubbard zu lesen, dem Science-Fiction-Autor und Gründer von Scientology. Der Vater meines Vaters war in den Siebziger Jahren der Church beigetreten, als jemand ihm davon erzählt hatte. Beide waren sofort fasziniert gewesen.
Bei den Scientologen gab es keinen Gott, keine Gebete, keinen Himmel und keine Hölle - nichts von all dem, was man normalerweise mit Religion verbindet. Scientology war eine Philosophie und ein Selbsthilfeprogramm, das einem versprach, ein größeres Bewusstsein seiner selbst zu erlangen und sein volles Potential zu erreichen. Diese unkonventionelle Möglichkeit zur Selbsthilfe zog meine Großeltern an. Sowohl meinem Großvater als auch meiner Großmutter gefiel das Ziel der Scientologen, sein Schicksal zu kontrollieren und sein Leben mit Hilfe klarer Schritte zu verbessern; beide Familien brachten Kinder mit, neun auf der Seite meiner Mutter und vier auf der Seite meines Vaters. Meine Eltern traten schon als Kinder der Kirche bei und blieben. Als ich am 1. Februar 1984 in Concord, New Hampshire, geboren wurde, waren sie bereits über fünfzehn Jahre Scientologen. Von meinem ersten Atemzug an gehörte ich dazu, aber erst kurz vor meinem zweiten Geburtstag fing die Kirche wirklich an, mein Leben zu prägen. Da nämlich beschlossen meine Eltern, das Leben aufzugeben, das sie in New Hampshire hatten, mit der Familie nach Kalifornien zu ziehen und unser ganzes Leben in den Dienst von Scientology zu stellen. Bis dahin hatten wir in Concord gelebt, wo meine Eltern ihr Traumhaus gebaut hatten: ein Gebäude aus Holz und Glas mit vier Schlafzimmern und zwei Bädern auf einem großen Grundstück. Mom und Dad hatten gut bezahlte Jobs in einer Software-Firma, und mein neunjähriger Bruder Justin ging in die vierte Klasse der öffentlichen Schule. Zumindest von außen gesehen führte unsere Familie ein ganz normales Leben in einer kleinen Stadt.
Aber das änderte sich im Herbst 1985, als mein Vater, Ron Miscavige Jr., zur Flag Land Base, der Zentrale der Sea Organization, in Clearwater, Florida, ging. Dieser massive Gebäudekomplex nahm mehrere Blocks ein und diente als spirituelles Hauptquartier, als Ort, wo Scientologen aus aller Welt zusammenkamen und dort Wochen oder Monate verbrachten.
Mein Vater ging für ein paar Wochen dorthin, während sich die geistige Elite der Kirche, auch bekannt als Sea Organization oder Sea Org, gerade in einer riesigen Werbekampagne befand. Die Sea Org rekrutierte nur die eifrigsten Anhänger, die bereit waren, ihr ganzes Leben der Verbreitung von Scientology zu widmen. L. Ron Hubbard hatte diese Einheit 1967 auf einem Schiff namens Apollo gegründet, das auch das Flaggschiff genannt wurde. L. Ron Hubbard war bei der Navy gewesen und hatte eine Schwäche für alles, was mit Schifffahrt zu tun hatte. Es gab das Gerücht, er wäre zur See gegangen, um ungestört die geistige Komponente von Scientology erforschen zu können. Es hieß auch, er hätte sich auf internationale Gewässer begeben, um sich nicht vor dem amerikanischen Gesundheitsministerium, der United States Food and Drug Administration, verantworten zu müssen, nachdem ein paar seiner Behauptungen, zum Beispiel die, seine Lehren könnten psychosomatische Leiden und andere physische und psychische Erkrankungen heilen, von Medizinern wider legt und seine Wunderheilungen als Betrug entlarvt worden waren.
Ungeachtet der Gründe, die er hatte, vom Meer aus zu operieren, befahl er den Mitgliedern dieser Spezialeinheit, eine Art Marineuniform zu tragen, und gab der Sea Org Rangordnungen wie bei der Marine, die die Mitglieder von den anderen Scientolo gen absetzten. Er ging so weit, sich von seinen Crewmitgliedern als Commodore anreden zu lassen, und hochrangige Mitglieder sollten mit Sir angesprochen werden, ganz gleich, ob sie männlich oder weiblich waren. Er wählte sogar eine Gruppe persönlicher Stewards innerhalb der Sea Org aus, die seine Programme leiteten, seine Befehle überbrachten und dafür sorgten, dass sie auch ausgeführt wurden. Diese wichtige Gruppe nannte er die Commodore's Messenger Organization, die CMO. 1975 zog die Sea Org nach Clearwater auf die Flag Land Base, wo die Mitglieder in Räumlichkeiten, die man ihnen zur Verfügung stellte, zusammen lebten und aßen. Obwohl die Organisation nicht länger auf Schiffen stationiert war, behielt sie doch ihre Marineterminologie - Wohnhäuser waren Quartiere, die Mitglieder trugen Marineuniformen, und L. Ron Hubbard blieb der Commodore.
Zehn Jahre später geriet mein Vater mitten in eine umfassende Rekrutierungsmaßnahme. Später erzählte er mir, an verschiedenen Orten rund um die Base hätten Anwerber der Sea Org nach jungen, erfolgreichen, fähigen und moralisch einwandfreien Scientologen gesucht. Jeder, der der Sea Org beitrat, musste einen eine Milliarde Jahre währenden Vertrag unterschreiben, der den unsterblichen Thetan-Geist Leben um Leben für den Dienst in der Organisation verpflichtete. Die Mitglieder mussten auch sieben Tage die Woche endlose Stunden arbeiten, durften ihre Familien nur selten sehen und bekamen dafür oft gerade mal zwischen fünfzehn und fünfundvierzig Dollar pro Woche. Wer aufgenommen werden wollte, durfte weder jemals harte Drogen genommen noch jemals einen Selbstmordversuch verübt haben. Ebenso durfte man keine nahen Angehörigen haben, die Scientology-Gegner waren.
Mein Vater war früher ein Mitglied gewesen und meinte, immer noch den Qualifikationen zu entsprechen. Er war ein überzeugter Scientologe, er war bereit, sein Leben in den Dienst der Organisation zu stellen, und er war der ältere Bruder von David Miscavige, einem von L. Ron Hubbards wichtigsten Führungskräften, der als der kommende Mann in der Kirche galt. Schon mit fünfundzwanzig wurde mein Onkel Dave Vorsitzender des Aufsichtsrats von Author Services Inc. und kümmerte sich um alle finanziellen Aspekte von L. Ron Hubbards Texten, um die Urheber- und Verwertungsrechte seines geistigen Schaffens. Wie mein Vater war auch Onkel Dave Scientologe, seit mein Großvater die Familie in die Kirche eingeführt hatte. Von Anfang an war Dave so begeistert gewesen, dass er mit sechzehn - und der Erlaubnis seines Vaters - die Highschool verließ und der Sea Org beitrat.
Als mein Vater heimkehrte, teilte er meiner Mutter mit, er habe beschlossen, sich von der Sea Org erneut anwerben zu lassen. Obwohl meine Eltern eigentlich ihren Lebensmittelpunkt in New Hampshire hatten, fühlte er sich erneut berufen und wollte, dass unsere Familie zur Base der Church in Los Angeles zog, wo wir ein neues Leben beginnen würden. Mom würde ebenfalls wieder der Sea Org beitreten, weil Mitglieder dieser Organisation nicht mit Nichtmitgliedern verheiratet sein durften. Ohne zu zögern, stimmte meine Mutter zu.
So spontan das auch war, meinen Eltern war dennoch bewusst, worauf sie sich einließen. Sie waren nicht nur beide bereits in der Sea Org gewesen, sondern hatten sich mit gerade mal neunzehn Jahren in der Flag Land Base kennengelernt.
Damals allerdings waren beide mit jemand anderem aus der Sea Org verheiratet gewesen. Mein Vater hatte einen Stiefsohn, Nathan, und meine Mutter damals bereits die zweijährigen Zwillinge, Justin und Sterling. Meine Eltern verliebten sich ineinander, bekamen dadurch allerdings Schwierigkeiten, da sie gegen den Kodex der Church verstießen, und mussten hart arbeiten, um ihr Fehlverhalten wiedergutzumachen. Schließlich erhielten sie die Erlaubnis zu heiraten, Moms Exmann heiratete ebenfalls wieder. Sterling lebte bei seinem Vater und seiner neuen Frau, während Justin bei uns wohnte. Die Zwillinge durften ihre Zeit in beiden Familien verbringen, und damit waren alle zufrieden.
Meine Eltern waren ein schönes Paar. Mein Vater war eins siebzig groß und schlank, aber stark. Er hatte sandfarbenes Haar, einen Schnurrbart, blaue Augen, ein herzliches Lächeln und war immer freundlich und gut gelaunt. Meine Mom, Eli zabeth Blythe, von allen ›Bitty‹ genannt, war wunderschön, einen Meter fünfundsechzig groß und ziemlich dünn. Sie hatte braungrüne Augen und braunes Haar, das ihr bis zur Taille reichte. Ihre elfenbeinfarbene Haut hatte ein paar Sommersprossen. Im Gegensatz zu meinem Vater rauchte sie, und zwar schon, seit sie ein Teenager war. Fremden gegenüber war sie schüchterner und reservierter als mein Dad, aber unter Freunden war sie selbstbewusst, geradeheraus und lustig, mit einem sehr trockenen Humor. Sie war eigensinnig und manchmal sehr kritisch, aber eine unglaublich begabte Frau.
Obwohl die Sea Org sehr viel ihrer Zeit in Anspruch nahm, waren meine Eltern dort bis in die späten Siebziger Jahre glücklich, bis sie immer weniger damit einverstanden waren, wie die Flag Land Base geführt wurde. 1979, nach fünf Jahren in der Sea Org, kündigten sie beide ihren eine Milliarde Jahre dauernden Vertrag, was zu der damaligen Zeit aber noch keine Katastrophe war. Sie durften weiterhin sogenannte öffentliche Scientologen bleiben, waren zwar an die Church gebunden, mussten aber nicht mehr ihre gesamte Zeit der Sea Org zur Verfügung stellen. Nach dem Austritt verlief ihr Leben für einige Jahre ganz normal. Sie wohnten eine Zeitlang bei den Eltern meines Vaters in Philadelphia, bevor sie nach New Hampshire zogen, wo sie ein typisches bürgerliches Leben führten - zwei berufstätige Eltern mit Festanstellungen und zwei minderjährigen Kindern (sie hatten nach Verlassen der Sea Org das volle Sorgerecht für Justin bekommen), mit Tagesmutter und einem selbst entworfenen Haus. Viele Mitglieder unserer großen Familie, darunter die Schwestern meines Vaters, Lori und Denise, und meine Großmutter väterlicherseits, lebten ebenfalls in New Hampshire, und wir waren dabei, uns im Schoß unserer Familie fest niederzulassen. Es sah so aus, als läge meinen Eltern nichts ferner, als sich wieder den fanatischsten Anhängern von Scientology anzuschließen.
Und doch taten sie mit einer einzigen überstürzten Entscheidung genau das: Sie kehrten in die Sea Org zurück und bewirkten, dass unser Leben einen vollkommen anderen Verlauf nahm. Damals wussten meine Eltern bereits, was ich erst später erfahren würde: Ein Leben in der Sea Org bedeutete zugleich, dass sie oft von mir getrennt sein würden. Aber das beeinflusste ihre Entscheidung nicht. Die Church war ihnen das Wichtigste, und sie waren fest entschlossen.
Später sollten meine Eltern mir erzählen, dass sie ihre Entscheidung ganz spontan trafen, ohne lange nachzudenken. Im Rückblick erwies es sich als die schlechteste Entscheidung ihres Lebens. Zwar kann ich nicht sagen, ob sie damals Rücksicht darauf nahmen, welche Auswirkung ihre Entscheidung auf mein Leben haben würde; wahrscheinlich aber war ich nur eines der vielen Opfer, die sie im Namen der Church bereit waren zu erbringen. Da sie die Sea Org schon einmal verlassen hatten, dachten sie vielleicht, sie könnten es wieder tun, falls es nicht so gut lief. Möglicherweise glaubten sie auch wirklich daran, dass es wunderbar wäre, ein Kind bei Scientology aufzuziehen, denn dadurch würde ich alles von Anfang an kennenlernen. Wahrscheinlich trieb sie auch eine innere Unruhe, das Gefühl, dass ihnen etwas fehlte. Sie zogen es vor, mit einer wichtigen Mission hinaus in die Welt zu ziehen und einem höheren Zweck zu dienen, statt in New Hampshire ganz normalen Jobs nachzugehen und Kinder aufzuziehen. Sie waren durch die Mission der Church motiviert und wollten an etwas Größerem teilhaben. Eines ist mir ganz klar: Nach dieser Entscheidung gab es in unserem Leben keinen Platz mehr für Normalität. Für unser Leben und unsere Familie hatte es ganz andere Möglichkeiten gegeben; meine Eltern hatten sie in Betracht gezogen und sich dann von ihnen abgewandt.
Kapitel 2
LRH legt seinen Körper ab
Der Umzug nach Kalifornien war auch eine Art Familienzusammenführung, da Dads Vater Ron und sein Bruder Dave bereits dort lebten. Im Jahr zuvor war mein Grandpa ebenfalls der Rekrutierungskampagne gefolgt, hatte beschlossen, Philadelphia zu verlassen und der Sea Org beizutreten. Onkel Dave hingegen, der jahrelang ein neuer Stern am Himmel der Church war, wurde schon bald einer der mächtigsten Männer bei Scientology und sollte, was damals noch niemand von uns wusste, in naher Zukunft dessen Oberhaupt werden.
Am 11. Dezember 1985 kamen wir nach einer langen Reise quer durch das Land in unserer neuen Heimat an, der Pacific Area Command Base - kurz PAC - in Los Angeles. Die erste Church of Scientology war 1954 in dieser Stadt gegründet worden, und L. A. war immer noch die absolute Hochburg der Scientologen. Die PAC-Base bestand aus mehreren, nicht weit voneinander entfernt liegenden Gebäuden, die sich größtenteils auf der Fountain Avenue, der Franklin Avenue und dem Hollywood Boulevard befanden. Das Blue Building in der Fountain Avenue 4833 war das Herzstück der PAC-Base, während das einstige Cedars of Lebanon Hospital als das Wahrzeichen der Church galt. Hoch oben auf dem Dach sah man ein Kreuz mit acht Spitzen, das religiöse Symbol der Kirche, und in riesigen Buchstaben das Wort Scientology. Nachts war es beleuchtet und mehrere Blocks weit zu sehen. Das siebenstöckige Gebäude beherbergte jetzt die Verwaltung der Church, Unterkünfte für Mitarbeiter und die Galley and Mess Hall, der mit den nautischen Begriffen bezeichnete Küchen- und Speisebereich. Onkel Dave und seine Frau, meine Tante Shelly, hatten eine Wohnung im Blue Building, obwohl ihr Hauptwohnsitz zweieinhalb Stunden entfernt im internationalen Hauptquartier in Hemet, Kalifornien, lag.
Unsere erste Wohnung befand sich im Fountain Building auf der Fountain Avenue, einen Block vom Sunset Boulevard entfernt. Es war eine etwas dubiose Gegend in Hollywood, wo Gangs ihr Unwesen trieben. Die Wohnung bestand aus zwei schmuddeligen, dunklen Räumen von knapp fünf Quadratmetern und einem Badezimmer. Es roch nach Schimmel. Um sie etwas netter aussehen zu lassen, hatten meine Eltern Teppichboden über das ursprüngliche alte Linoleum gelegt. Sie gingen auch in einen nahe gelegenen Billigladen und kauften für Justin und mich ein Stockbett und ein paar andere Möbel. Das Stockbett kam in das eine Zimmer und ihr Bett in das andere. Ich schlief immer noch lieber mit meinen Eltern in einem Bett.
Diese nächtlichen Stunden mit meinen Eltern waren fast die einzige Zeit, in der ich mit ihnen zusammen sein durfte. Jedes Sea Org-Mitglied war verpflichtet, mindestens vierzehn Stunden täglich Dienst zu leisten, von etwa neun Uhr morgens bis halb zwölf Uhr nachts, sieben Tage die Woche, mit einer Stunde Pause Familienzeit am Abend, in der Eltern ihre Kinder sehen durften, bevor sie wieder zur Arbeit gingen. Gelegentlich bekamen sie einen Tag zur freien Verfügung, aber dafür gab es keine Garantie. Es war alle zwei Wochen höchstens ein Tag, und der galt als Belohnung für gute Leistungen.
Aber meine Eltern beklagten sich nicht über ihre langen Arbeitstage. Dads Büro lag günstigerweise direkt gegenüber unserer Wohnung. Er hatte eine leitende Stelle in einer Abteilung namens INCOMM bekommen, die sich um die Computerisierung von Scientology kümmerte. Bei den Scientologen bekam fast jede Abteilung, jedes Gebäude, jedes Büro, jedes Department und jeder Stützpunkt ein Akronym zur Identifizierung. Selbst die Jobs, Posten und Seminare, die wir bekamen, hatten welche. Sogar L. Ron Hubbard lief unter dem Akronym seiner Initialen: LRH.
Meine Mutter arbeitete beim Ship Project, einem riesigen Unternehmen, das mit dem Ankauf eines Schiffes betraut war, welches als Stützpunkt auf dem Meer dienen sollte. Es sollte Freewinds heißen und ähnlich wie das ursprüngliche Flaggschiff Apollo während der Anfangsjahre der Sea Org operieren.
Da meine Eltern Tag und Nacht arbeiteten, wurden Justin und ich von Fremden beaufsichtigt. In unserer Anfangszeit in L. A. verbrachte ich meine Tage in einer Kinderbetreuung im Fountain Building, bis meine Eltern mich zum Abendessen in der Mess Hall abholten. Danach gingen Mom, Dad, Justin und ich zur Familienzeit in unsere Wohnung. Wenn Mom und Dad wieder zur Arbeit gingen, musste ich zurück in die Kinderbetreuung. Dort gab es viele große und kleine Betten, wo die Kinder schlafen konnten, bis sie abgeholt wurden, meistens um dreiundzwanzig Uhr oder später. Tagsüber, wenn ich in der Kinderbetreuung war, ging Justin zur Apollo Training Academy, kurz ATA, in einem anderen Gebäude auf der Fountain Avenue. Die ATA war für ältere Kinder von Sea Org-Mitgliedern gedacht. Diese wurden als Kadetten bezeichnet, also als Sea Org-Mitglieder in der Ausbildung. Ich weiß nicht, was sie den ganzen Tag machten, aber Justin hasste es so, dass er meine Eltern anflehte, ihn zurück zu seinen Freunden nach New Hampshire gehen zu lassen.
Doch unser Tagesablauf wurde bald normale Routine. Ich war zu jung, um zu begreifen, dass es höchst ungewöhnlich war, wenn man seine Eltern nur eine Stunde pro Tag sah. Ich wusste nicht, was Eltern tun sollten, sondern nur, dass meine selten da waren.
Am 24. Januar 1986, nur sechs Wochen, nachdem wir in Los Angeles angekommen waren, starb L. Ron Hubbard im Alter von zweiundsiebzig Jahren. Er hatte die letzten sechs Jahre völlig zurückgezogen auf einem einsamen Fleckchen der kalifornischen Wüste gelebt und war von seinen engsten Vertrauten, einem Ehepaar namens Pat und Anne Broeker, betreut worden. Seit Jahren hatte er sich weder an einem der Stützpunkte noch in der Öffentlichkeit gezeigt, doch jeder behauptete, er arbeite eifrig an neuen, bahnbrechenden Forschungen, daher war seine Isolation verständlich.
Scientologen hatten LRH stets als Wissenschaftler und Philosophen geachtet, dessen Erzählungen über seine Entdeckungen für die Church durchsetzt waren mit Geschichten über seine Reisen und sein bewegtes Leben. Zum Zeitpunkt seines Todes galt er als charismatische, fast gottgleiche Führerfigur, die allen Scientologen den Weg zur Erlösung geebnet hatte. Alle betrachteten ihn als persönlichen Freund, ob sie ihn nun kannten oder nicht. Für uns sah er in allen Menschen das Gute.
L. Ron Hubbard hatte fünfzehn Jahre lang massenhaft Kurzgeschichten für Schundblätter geschrieben, bevor er 1950 sein erstes ernstzunehmendes Werk veröffentlichte: Dianetik: Der Leitfaden für den Menschlichen Verstand, ein Selbsthilfebuch, dessen Philosophie besagt, dass Menschen sich von ihrem persönlichen Leiden befreien müssten, um ihr persönliches Wachstum nicht zu behindern. Dieses Leiden begrenze uns, gefährde unsere Gesundheit und mindere unsere Lebensqualität. Doch wenn wir es direkt angehen und überwinden würden, könnten wir fast alles besiegen, was uns Leid bescherte. Schon direkt nach seinem Erscheinen verkaufte sich Dianetik millionenfach, Leser wurden über Nacht zu fanatischen Anhängern, die behaupteten, dieser neue Ratgeber für geistige Gesundheit biete hervorragende Mittel, um sich zu heilen und sein Leben zu verbessern. Natürlich hatte Dianetik auch skeptische Leser und ausgemachte Kritiker, die die angeblich wissenschaftlichen Methoden von LRH in Frage stellten. LRH seinerseits unterstellte diesen Kritikern, sie fühlten sich nur durch seine neuen Perspektiven bedroht.
Trotz aller Kritik wurde Dianetik eine solche Sensation, dass LRH in ganz Amerika Dianetik-Center eröffnete, damit die Menschen sich Einzelgesprächen mit ausgebildeten, von LHR als Auditor bezeichneten Coachs unterziehen konnten. In diesen Auditing-Sitzungen wurde der Schüler, oder auch Preclear, zu leidvollen Erfahrungen in seinem Leben zurückgeführt. Das konnte alles Mögliche sein: eine traumatische Geburt, ein Autounfall oder Momente körperlicher Schmerzen genauso wie Bilder, Gerüche, Gefühle oder Worte, die mit dieser leidvollen Erfahrung verbunden waren. L. Ron Hubbard glaubte, es gebe ganze Ketten leidvoller Erfahrungen und mit Hilfe des Auditors würden sie nacheinander verschwinden. Das Ziel war, sich mit jeder einzelnen zu konfrontieren, bis der Geist schließlich Cleared war: von der gesamten Kette befreit. Es war ein kontinuierlicher Prozess, einzelne Glieder dieser Kette aufzuspüren, von denen es Tausende geben konnte, und die Kette bis zum Ursprung zurückzuverfolgen. Erst dann würden sie verschwinden und den Preclear näher an den Zustand eines Clear bringen. Wenn man Clear war, galt das Ziel von Dianetics als erreicht und man hatte keine psychosomatischen Erkrankungen, Neurosen oder Psychosen mehr. Außerdem erlebte man einen erheblichen Anstieg seines Intelligenzquotienten und konnte sich komplett an seine Vergangenheit erinnern. Man war frei von dem, was LRH als Reac tive Mind - den Reaktiven Verstand - bezeichnete.
1952 betrachtete L. Ron Hubbard Dianetik nicht mehr als einfaches Selbsthilfeprogramm. Bei seinen Untersuchungen hatte er entdeckt, dass Preclears Ketten mit Schmerzerfahrungen aufwiesen, die über ihr aktuelles Leben hinausgingen. Tatsächlich konnten sie bis in mehrere Leben zurückreichen, was natürlich die Wiedergeburt nahelegte und die Tür zu dem Bereich des menschlichen Geistes aufstieß. Das führte LRH zu einer weiteren Entdeckung: Menschen bestanden aus drei Teilen - dem Körper, dem Verstand und dem Geist. Diesen Geist nannte er Thetan. Der Thetan war unsterblich und außerdem der wichtigste Teil des Menschen. Ohne diesen Teil gab es weder Körper noch Verstand. Ein Thetan war nichts Fassbares, sondern eher der Schöpfer alles Fassbaren und die belebende Kraft des Körpers. Der Verstand war der Computer, der Körper die Hülle für den Thetan, und der Thetan war die Lebenskraft. Damit war Scientology geboren.
Der Thetan wurde rasch ein wesentlicher Bestandteil von Scientology. Als LRH seine Lehre um eine spirituelle Komponente erweiterte, unternahm er den ersten Schritt, Scientology in eine Religion zu verwandeln, eine Bezeichnung, die eine Vielzahl von Vorteilen mit sich brachte. Plötzlich waren alle Zweifel an den wissenschaftlichen Methoden der Dianetik irrelevant. Wenn Diane tik Teil einer religiösen Praxis war, musste sie nicht wissenschaftlich bewiesen werden. Die Umwandlung in eine Religion brachte auch finanzielle und steuerliche Vorteile. Der wichtigste Grund jedoch war der, dass diese Religion mit ihrer allumfassenden spirituellen Komponente und ihren Reisen in vergangene Leben Menschen unbegrenzt an Scientology binden konnte, während bei der Dianetik Schüler einfach geheilt wurden und nie wieder zu einer Auditing-Sitzung zurückkamen.
LRH entwickelte einen Lehrplan, der festlegte, in welcher Reihenfolge Scientology gelehrt werden sollte. Dieses Programm wurde die Brücke zur vollkommenen Freiheit genannt und war in zwei Bereiche unterteilt: das Auditing, eine Art Einzelberatung; und das Training, ein Ausbildungsprogramm für Auditoren. Nach dieser Landkarte für die Reise zur spirituellen Freiheit musste jeder Scientologe ganz unten anfangen und sich schrittweise ein Level nach dem nächsten hinaufbewegen. Man konnte sich dabei erst einem Bereich widmen oder beiden gleichzeitig. Es gab auch viele Seminare für Scientologen, die nicht wirklich zur Brücke gehörten. Doch für den Aufstieg musste man erst ein gewisses Maß an Bewusstsein erreichen, bevor man zum nächsten Level wechseln und schließlich die Brücke zur vollkommenen Freiheit überqueren konnte.
Die einzelnen Level der Brücke bis zum State of Clear - der völligen geistigen Klarheit - basierten auf LRHs Dianetikforschungen. Doch mit der Entdeckung des Thetan musste er die spirituellen Level jenseits des State of Clear entschlüsseln. Diese wurden zu den höchsten Level der Brücke und hießen Operating Thetan Levels oder OT Level. Es gab acht Level, das letzte - OT VIII - wurde verlockenderweise Enthüllte Wahrheit genannt.
LRH warnte, dass niemand unter Umgehung eines Levels zu diesem letzten Geheimnis vordringen könne, und erklärte, es sei zwingend notwendig, sich umfassend darauf vorzubereiten. Unkontrolliertes Absolvieren der Level, behauptete er, könne zu schweren Störungen und sogar zum Tod führen. Aus diesem Grund durften Menschen des obersten Levels unter keinen Umständen ihr Wissen mit anderen teilen, die sich weiter unten auf der Brücke befanden. Außerdem konnten OT-Seminare nur von speziell ausgebildeten Sea Org-Mitgliedern erteilt werden. Eine Reihe Sea Org-Stützpunkte in der ganzen Welt konnten OT-Level bis zu Level V anbieten. Die Flag Base in Clearwater bot die Level VI und VII. Die Freewinds aber, das Schiff, mit dessen Kauf und Umbau meine Mutter beschäftigt war, würde der einzige Ort auf der Welt sein, wo man OT VIII, das höchste, gerade entschlüsselte Level erfahren könnte.
Obwohl LRH seine letzten Jahre im selbst auferlegten Exil verbrachte, ließ er über die Broekers übermitteln, dass er hart daran arbeitete, fortgeschrittene, noch nie zuvor enthüllte Level über OT VIII hinaus zu entschlüsseln.
Am Tag nach LRHs Tod sprachen mein Onkel Dave und Pat Broeker vor einem riesigen, nur aus Scientologen bestehenden Publikum im Hollywood Palladium, dem 40 000 Quadratmeter großen Konzertsaal auf dem Sunset Boulevard. Onkel Dave erklärte in dem im Art-déco-Stil gehaltenen Saal, dass LRH sich auf ein »neues Level seiner Forschungen« begeben habe. Man hörte ein paar ungläubige Aufschreie und hier und da verhaltenen Applaus, aber ansonsten vollkommene Stille. Dave erklärte weiter, L. Ron Hubbard habe entschieden, »sich seines Körpers zu entledigen«, da er »ihm nicht mehr genutzt habe, sondern vielmehr ein Hindernis für seine Arbeit sei, die er nun jenseits seiner Grenzen verrichten müsse«.
»Das Wesen, das wir als L. Ron Hubbard kennen, existiert immer noch«, verkündete er seinen Anhängern, um ihren Schock zu mildern.
Der Umstand, dass LRH sein eigenes Ableben derart gedeutet hatte, sowie die Tatsache, dass ihn seit Jahren niemand mehr gesehen hatte, machten seinen Tod erträglich.
Da sowohl mein Onkel als auch Pat Broeker an diesem Tag auf der Bühne standen, war nicht sofort klar, wer LRHs Nachfolger werden würde. Angeblich gab es zwischen den beiden einen Machtkampf um die Führung der Church. Man hörte widersprüchliche Geschichten zu dem, was genau geschah. Mein Onkel wurde beschuldigt, Pat mit fragwürdigen Methoden aus seiner führenden Position verdrängt zu haben. Ganz gleich, wie es geschah, letztlich wurde mein Onkel das Oberhaupt der Kirche, sein offizieller Titel lautete Chairman of the Board, Religious Technology Center. Von diesem Zeitpunkt an nannten alle in der Church ihn COB, doch für mich blieb er einfach Onkel Dave.
Mein Vater, Ronnie Miscavige Jr., war drei Jahre älter als Onkel Dave und damit der Älteste, gefolgt von Onkel Dave und seiner Zwillingsschwester Denise und zuletzt von Lori, dem Nesthäkchen. Als Kinder hatten mein Dad und Onkel Dave sich ein Zimmer geteilt und sich sogar oft zusammengetan, um ihren Schwestern Streiche zu spielen. Dad war sehr sportlich, und obwohl er in der Schule Football spielte, galt seine wahre Leidenschaft dem Turnen. Er kam sogar in die Jugendolympiamannschaft seiner Region. Dave hatte auch Spaß am Sport, aber wegen seiner Asthma-Erkrankung durfte er manchmal keinen Sport oder andere körperliche Tätigkeiten ausüben. Denise war freundlich, aufgeschlossen und tanzte gern, hatte aber oft Streit mit meinen Großeltern, weil die einige ihrer Freunde ablehnten. Die kleine Lori liebte es, zusammen mit ihrer großen Schwester tanzen zu gehen.
Ihr Vater, mein Großvater, Ron Miscavige Senior, war geboren und aufgewachsen in Mount Carmel, einer kleinen Bergbaustadt im Südwesten Pennsylvanias, wo er katholisch erzogen worden war. Er arbeitete als Vertreter und verkaufte alles, von Kochgeschirr bis hin zu Versicherungen. Groß war er nicht, aber laut, schroff, gesellig und etwas einschüchternd. Mit knapp achtzehn ging er zu den Marines, und 1957, ein Jahr nach seiner Entlassung, heiratete er meine Großmutter, Loretta Gidaro, eine schöne, junge Frau mit dicken, braunen Haaren, olivfarbener Haut und strahlend blauen Augen. Grandma Loretta war die Tochter eines Bergarbeiters deutsch-italienischer Abstammung. Sie war witzig, freundlich und sorgte sich stets um das Wohl der Familie. Die beiden ließen sich in Cherry Hill bei Philadelphia in New Jersey nieder, wo sie als Krankenschwester arbeitete, bis ihre Kinder geboren wurden: Dad 1957, David und Denise 1960 und Lori 1962.
Als Vertreter war Grandpa ein sehr geselliger Mensch. Er lud häufig Gäste zum Abendessen im Familienkreis ein, wo sie bei einem schönen Essen unterhaltsame Geschichten erzählten. Von einem Kollegen hörte er zum ersten Mal von der Church of Scientology. Scientology interessierte ihn nicht, weil er irgendein spezielles Problem hatte, sondern eher, weil er immer nach Antworten zum Thema Geist und Spiritualität suchte. Damals war er vierunddreißig, aber er hatte sich seit jeher für Philosophie interessiert. Schon als Kind hatte er Der Prophet von Khalil Gibran gelesen und war fasziniert gewesen von den Fragen, die das Buch zur Spiritualität und zum Leben des Menschen aufwarf. Schon früh weckte die Anthropologie seine Neugier; Fragen danach, wie die Menschen hierhergekommen waren und warum wir taten, was wir taten.
Sein Interesse für die Ursprünge des Menschen veranlasste ihn, eine in Cherry Hill ansässige Scientology Mission zu besuchen und eines von L. Ron Hubbards Büchern zu kaufen. Wie Grandpa später selbst sagte, musste er nach diesem Besuch nicht mehr überzeugt werden - er hatte Feuer gefangen. Er kaufte weitere Bücher, ging zurück zur Mission und fing mit dem Auditing-Prozess an. Er sagte, in den nächsten Monaten hätten ihn die positiven Auswirkungen von Scientology zum Topverkäufer seiner Firma gemacht. Er behauptete sogar, wegen seines Erfolgs hätte es in der Newsweek einen Artikel über ihn gegeben. Sein Chef war so beeindruckt, dass er die gesamte Firma mit etwa zwanzig Angestellten zur Mission in Cherry Hill schickte, denn wenn Ron davon profitierte, sollten sie es auch versuchen.
Grandma Loretta hatte nichts gegen sein Interesse für Scientology; im Gegenteil, es gefiel ihr, und sie ging ebenfalls zur Mission. Schon bald brachte Grandpa alle vier Kinder zum Auditing, angefangen mit meinem Vater, als er zwölf war. Außerdem hatte mein Vater davon gehört, dass die Scientologen vielversprechende Ergebnisse bei der Behandlung von Krankheiten wie Asthma erzielten. Daher meinte er, Dave sei dort gut aufgehoben. Laut Grandpa verbesserte sich Daves Zustand beträchtlich, was ihn noch mehr davon überzeugte, dass Scientology die Antworten hatte, nach denen er suchte. Er war bei der Arbeit erfolgreicher, konnte leichter wichtige Entscheidungen treffen und jetzt schien sich auch der Gesundheitszustand seines Sohnes zu verbessern.
Letztlich gefiel es Grandpa, dass Scientology eher eine Philosophie der Selbsthilfe als eine Religion war. Statt über Himmel, Hölle und Sünde zu reden, versprach Scientology bahnbrechende Verbesserungen in Beziehungen und Ehen, im Beruf, in der Kommunikation und beim physischen und psychischen Befinden. Er mochte auch das Utopische daran. Der Mensch wurde grundsätzlich als gut betrachtet, als verantwortlich für sein Seelenheil, doch dieses Seelenheil hing von der Kooperation mit dem Universum ab. L. Ron Hubbard meinte, es sei möglich, die Welt von menschlichem Elend zu befreien, Kriege zu beenden und allumfassende Harmonie zu erzeugen. Es war gleichzeitig idealistisch und rational, und diese Kombination sprach Grandpa an. Es störte ihn nicht im Mindesten, dass Scientology ganz anders war als jede Religion oder Glaubensrichtung, die er bis dahin kennengelernt hatte.
Zwei Jahre, nachdem er die Church für sich entdeckt hatte, entschloss er sich zu dem gewagten Schritt, verkaufte seine drei Wagen und zog von dem Geld mit der gesamten Familie nach Saint Hill Manor ins englische Sussex, wo sich seit über zehn Jahren das Hauptquartier der Scientologen befand.
1959 waren L. Ron Hubbard und seine Familie dorthin gezogen und hatten vom Maharadscha von Jaipur ein fünfzig Hektar großes Stück Land mit einer kleinen Burg gekauft, die zur Zentrale der Church of Scientology wurde. Saint Hill wurde bald Sammelplatz für Scientologen aus aller Welt. LRH war oft dort, arbeitete weiterhin an seinen Forschungen und präsentierte sie, wodurch die Anhänger das Gefühl bekamen, an etwas Neuem und Bedeutsamem teilzunehmen.
Trotz Grandpa Rons Wunsch, in der Nähe des scientologischen Mittelpunkts in Saint Hill zu leben, war mein damals vierzehnjähriger Vater skeptisch. Verständlicherweise war er kaum daran interessiert, aus Pennsylvania nach England zu ziehen und mitten in der Highschoolzeit all seine Freunde zurückzulassen. Schwerwiegender war es jedoch, dass er das Turnen und seinen Traum von Olympia aufgeben musste. Doch mein Großvater tat das, was er für das Beste hielt, und mein Dad folgte ihm, wenn auch widerstrebend.
Die Jahre in England endeten damit, dass mein Vater sich vollkommen Scientology verschrieb. Nachdem er fast ausschließlich von Scientologen umgeben war, widmete er sich immer eifriger der Sache, sodass er mit siebzehn in die Sea Org eintrat und in die Flag Land Base nach Clearwater zog.
Onkel Dave folgte ihm 1976, nachdem er an seinem sechzehnten Geburtstag die Highschool abbrach, um sich ganz der Religion zu widmen. In Clearwater begann Onkel Dave, eng mit L. Ron Hubbard zusammenzuarbeiten, und wurde dafür mit wichtigen Posten belohnt. Schließlich kam er zur internationa len Zentrale in Hemet, Kalifornien, wo er so rasch aufstieg, dass er während L. Ron Hubbards selbst gewähltem Exil zu einer mächtigen Persönlichkeit wurde. Und nun, nach
L. Ron Hubbards Tod, war er nicht mehr nur ein bekanntes Gesicht, sondern der Kopf der Church of Scientology.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Ein paar Lieder später war ich an der Reihe, an den Tisch zu treten. Die Mienen der beiden Anwerber waren streng und einschüchternd. Eifrig bestrebt, die Anerkennung Erwachsener zu gewinnen, bemühte ich mich, zu lächeln und süß auszusehen. Als sie das nicht zu beeindrucken schien, setzte ich eine kluge, fragende Miene auf.
Einer der beiden reichte mir ein Blatt Papier mit dem Wappen der Sea Org, dem Wort REVENIMUS in der Kopfzeile und mit Linien für Datum und Unterschriften in der Fußzeile.
»Was heißt ›revenimus‹?«, erkundigte ich mich neugierig.
»Das ist Lateinisch und heißt ›Wir kommen wieder‹«, erklärte die Anwerberin. Sichtlich erfreut, eine mögliche Kandidatin zu belehren, erklärte sie mir weiter, dass dies das offizielle Motto der Sea Organization war.
»Wohin kommen wir denn wieder?«, fragte ich.
»Leben für Leben«, erklärte sie. »Du unterzeichnest hier einen Vertrag, der eine Milliarde Jahre gültig ist.«
»Ach so«, sagte ich und erkannte, wie dumm und unwissend meine Frage geklungen haben musste.
Als Scientologen glaubten wir daran, dass unsere Seele, wenn unser Körper starb, ein neues Leben in einem neuen Körper begann. Unser Gründer, L. Ron Hubbard, sagte, dass wir als Geister schon Millionen von Jahren gelebt hatten und noch weitere Millionen Jahre leben würden, mit oder ohne Körper. Das hatte ich geglaubt, seit ich denken konnte. An diesem Tag war ich mehr als bereit, mich für die Sache zu verpflichten, die meinen Eltern so am Herzen lag. Die Sea Org bedeutete ihnen so viel, dass sie mich mit sechs Jahren auf der Ranch untergebracht hatten, um ihre ganze Zeit der Mission der Kirche widmen zu können. Sie sahen mich ausschließlich an den Wochenenden, und das auch nur für ein paar Stunden. Von niemandem waren die Eltern hier, um mitzuerleben, wie wir der Sea Org Treue gelobten. Aber dieses Dokument zu unterschreiben, bedeutete, ihnen einen Schritt näher in der Sea Org zu kommen und sie möglicherweise häufiger zu sehen. »Wohin soll ich meinen Namen schreiben?«, fragte ich eifrig.
Die Frau zeigte auf eine Stelle, verlangte aber, dass ich zuerst den Text las. Die unvermeidliche Schlussklausel lautete:
»DAHER VERPFLICHTE ICH MICH FÜR DIE NÄCHSTEN MILLIARDEN JAHRE DER SEA ORGANIZATION (laut Flag Order 323).«
Bevor ich unterschrieb, blitzten Bilder aus der Kleinen Meerjungfrau vor meinem inneren Auge auf, vor allem die, in denen Arielle das magische Abkommen mit der Meerhexe unterschreibt. Ich wusste, Verträge bedeuteten, dass ich mein Versprechen halten musste, also machte ich mir im Stillen Notizen über das, was ich versprach: dem Kodex folgen, die Sache voranbringen und eine Milliarde Jahre dienen.
Das schaffe ich, sagte ich mir. Und damit versuchte ich, meinen Namen in Schönschrift zu schreiben, mit der richtigen Verbindung der einzelnen Buchstaben, genau, wie ich es in der Schule gelernt hatte. Ich wollte, dass meine Unterschrift unter diesem wichtigen Dokument perfekt war, aber die Anwerber trieben mich zur Eile an, weil sie noch die Kinder hinter mir in der Schlange registrieren lassen mussten. Daher wurde meine Unterschrift nicht so schön wie erhofft.
Trotzdem hatte ich eine Gänsehaut, als ich mich vom Tisch abwandte. Nichts an dem Eine-Milliarden-Jahre-Vertrag wirkte auf mich befremdlich. Ich wusste, im Geiste waren meine Eltern bei mir, wo auch immer sie sein mochten. Mein Vertrag war derselbe, den sie unterzeichnet hatten, und zwar zum ersten Mal als Teenager. Außerdem hatte ich noch kein Verständnis für große Zahlen, weil ich so jung war. Für mich war eine Milliarde Jahre das Gleiche wie hundert Jahre - eine unvorstellbar lange Zeit. Wenn ich die nächste Milliarde Jahre mit meinen Eltern und Freunden zusammen sein wollte, musste ich einfach unterschreiben. Nacheinander setzten auch meine Freunde ihre Namen unter ihre Verträge - und verpflichteten sich zu einem Dienst, den keiner von uns wirklich begreifen konnte. Während ich auf der Straße zwischen dem Spielplatz und den weißen und rosafarbenen Oleanderbüschen stand, wusste ich weder um die wahre Bedeutung dessen, was ich gerade getan hatte, noch um die Erwartungen, die an mich gestellt werden würden. In der einen Minute hatte ich noch ein Liedchen geträllert, und in der nächsten hatte ich mich verpflichtet, meine Seele für eine Milliarde Jahre in den Dienst der Church of Scientology zu stellen. Was auch immer die Zukunft für mich vorgesehen hatte, eines war gewiss: Mein Leben gehörte nicht mehr mir.
Kapitel 1
Im Namen der Kirche
Eine meiner frühesten Erinnerungen im Zusammenhang mit Scientology war ein Gespräch, das ich mit etwa vier Jahren hatte. Zu der Zeit lebte meine Familie in Los Angeles, und zwar in einer Wohnung, die uns die Church zur Verfügung gestellt hatte. Eines Sonntagmorgens lag ich mit Mom und Dad im Bett und fragte mich, wie es wohl wäre, außerhalb meines Körpers zu sein.
»Wie komme ich aus meinem Körper?«, fragte ich.
Meine Eltern sahen sich lächelnd an, ähnlich wie mein Mann und ich uns jetzt ansehen, wenn unser Sohn eine jener schwierigen Fragen stellt, deren Antwort außerhalb seines Begriffsvermögens steht.
»Können wir alle zusammen aus unseren Körpern heraus und dann im Himmel herumfliegen?«, fragte ich.
»Vielleicht«, antwortete mein Vater. Er war immer darauf bedacht, mich bei Laune zu halten.
»Dann lasst uns das jetzt machen«, verlangte ich ungeduldig. »Sagt mir nur, was ich tun muss.«
»Okay, schließ einfach die Augen«, befahl er. »Sind sie geschlossen? Und jetzt denk an eine Katze.«
»Denken wir alle gleichzeitig daran?«, fragte ich, um mich zu vergewissern, dass ich es richtig machte.
»Ja«, lautete Dads Antwort. »Okay, eins, zwei, drei ...«
Mit geschlossenen Augen wartete ich, aber nichts passierte.
Ich hörte meine Eltern lachen, begriff aber nicht, was so komisch war und wieso sie mir nicht halfen. Durften sie mir nicht helfen, meinen Körper zu verlassen? Konnten sie mir nur zu bestimmten Zeiten helfen? Konnte ich erst meinen Körper verlassen, wenn ich älter war? Stimmte mit mir etwas nicht?
Ich wusste, dass ich ein Thetan war. Das hatte ich immer gewusst und auch nie etwas anderes geglaubt. Thetan war der Begriff der Scientologen für den unsterblichen Geist, der den menschlichen Körper beseelte, während der Körper selbst im Wesentlichen ein Stück Fleisch war, ein Gefäß für den Thetan. Ein Thetan lebte Leben um Leben, und wenn sein aktueller Körper starb, wählte er sich den nächsten aus und fing wieder von vorne an.
Die Vorstellung, vergangene Leben zu haben, faszinierte mich. Oft bat ich Erwachsene, mir Geschichten von ihren früheren Leben zu erzählen. Ich konnte mich an keines meiner eigenen erinnern, aber mir wurde immer wieder versichert, das käme noch mit der Zeit. Rosemary, die Sekretärin meines Vaters, berichtete mir von Dingen aus ihrem früheren Leben, als sie ein Indianermädchen gewesen war. Sie kamen mir alle sehr wundersam und romantisch vor. Ich konnte es kaum erwarten, mich auch mal an eines meiner früheren Leben zu erinnern. Ich hoffte nur, dass ich nicht böse gewesen war, oder ein einsamer alter Mann. Sicher war ich mindestens eine Prinzessin gewesen.
Damals schien es mir bei Scientology nur darum zu gehen: dass man frühere Leben hatte, seinen Körper verließ und ein Thetan war. Darüber hinaus wusste ich kaum etwas. Aber für ein Kind, das die Vielschichtigkeit dieses komplexen Glaubens nicht begreifen konnte, war das alles sehr aufregend. Ich war Teil von etwas Größerem, das sich in die Vergangenheit und in die Zukunft erstreckte; etwas, das unmöglich schien und doch irgendwie völlig glaubhaft.
So saß ich also mit geschlossenen Augen da und wartete darauf, meinen Körper zu verlassen und mit meinen Eltern im Himmel herumzufliegen. Damals wusste ich noch nicht, dass nur Scientologen an Thetane glauben. Denn jeder, den ich kannte, war in der Kirche, und als Scientologenkind in dritter Generation beherrschte Scientology mein ganzes Leben. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte Mitte der Fünfziger Jahre begonnen, die Bücher von L. Ron Hubbard zu lesen, dem Science-Fiction-Autor und Gründer von Scientology. Der Vater meines Vaters war in den Siebziger Jahren der Church beigetreten, als jemand ihm davon erzählt hatte. Beide waren sofort fasziniert gewesen.
Bei den Scientologen gab es keinen Gott, keine Gebete, keinen Himmel und keine Hölle - nichts von all dem, was man normalerweise mit Religion verbindet. Scientology war eine Philosophie und ein Selbsthilfeprogramm, das einem versprach, ein größeres Bewusstsein seiner selbst zu erlangen und sein volles Potential zu erreichen. Diese unkonventionelle Möglichkeit zur Selbsthilfe zog meine Großeltern an. Sowohl meinem Großvater als auch meiner Großmutter gefiel das Ziel der Scientologen, sein Schicksal zu kontrollieren und sein Leben mit Hilfe klarer Schritte zu verbessern; beide Familien brachten Kinder mit, neun auf der Seite meiner Mutter und vier auf der Seite meines Vaters. Meine Eltern traten schon als Kinder der Kirche bei und blieben. Als ich am 1. Februar 1984 in Concord, New Hampshire, geboren wurde, waren sie bereits über fünfzehn Jahre Scientologen. Von meinem ersten Atemzug an gehörte ich dazu, aber erst kurz vor meinem zweiten Geburtstag fing die Kirche wirklich an, mein Leben zu prägen. Da nämlich beschlossen meine Eltern, das Leben aufzugeben, das sie in New Hampshire hatten, mit der Familie nach Kalifornien zu ziehen und unser ganzes Leben in den Dienst von Scientology zu stellen. Bis dahin hatten wir in Concord gelebt, wo meine Eltern ihr Traumhaus gebaut hatten: ein Gebäude aus Holz und Glas mit vier Schlafzimmern und zwei Bädern auf einem großen Grundstück. Mom und Dad hatten gut bezahlte Jobs in einer Software-Firma, und mein neunjähriger Bruder Justin ging in die vierte Klasse der öffentlichen Schule. Zumindest von außen gesehen führte unsere Familie ein ganz normales Leben in einer kleinen Stadt.
Aber das änderte sich im Herbst 1985, als mein Vater, Ron Miscavige Jr., zur Flag Land Base, der Zentrale der Sea Organization, in Clearwater, Florida, ging. Dieser massive Gebäudekomplex nahm mehrere Blocks ein und diente als spirituelles Hauptquartier, als Ort, wo Scientologen aus aller Welt zusammenkamen und dort Wochen oder Monate verbrachten.
Mein Vater ging für ein paar Wochen dorthin, während sich die geistige Elite der Kirche, auch bekannt als Sea Organization oder Sea Org, gerade in einer riesigen Werbekampagne befand. Die Sea Org rekrutierte nur die eifrigsten Anhänger, die bereit waren, ihr ganzes Leben der Verbreitung von Scientology zu widmen. L. Ron Hubbard hatte diese Einheit 1967 auf einem Schiff namens Apollo gegründet, das auch das Flaggschiff genannt wurde. L. Ron Hubbard war bei der Navy gewesen und hatte eine Schwäche für alles, was mit Schifffahrt zu tun hatte. Es gab das Gerücht, er wäre zur See gegangen, um ungestört die geistige Komponente von Scientology erforschen zu können. Es hieß auch, er hätte sich auf internationale Gewässer begeben, um sich nicht vor dem amerikanischen Gesundheitsministerium, der United States Food and Drug Administration, verantworten zu müssen, nachdem ein paar seiner Behauptungen, zum Beispiel die, seine Lehren könnten psychosomatische Leiden und andere physische und psychische Erkrankungen heilen, von Medizinern wider legt und seine Wunderheilungen als Betrug entlarvt worden waren.
Ungeachtet der Gründe, die er hatte, vom Meer aus zu operieren, befahl er den Mitgliedern dieser Spezialeinheit, eine Art Marineuniform zu tragen, und gab der Sea Org Rangordnungen wie bei der Marine, die die Mitglieder von den anderen Scientolo gen absetzten. Er ging so weit, sich von seinen Crewmitgliedern als Commodore anreden zu lassen, und hochrangige Mitglieder sollten mit Sir angesprochen werden, ganz gleich, ob sie männlich oder weiblich waren. Er wählte sogar eine Gruppe persönlicher Stewards innerhalb der Sea Org aus, die seine Programme leiteten, seine Befehle überbrachten und dafür sorgten, dass sie auch ausgeführt wurden. Diese wichtige Gruppe nannte er die Commodore's Messenger Organization, die CMO. 1975 zog die Sea Org nach Clearwater auf die Flag Land Base, wo die Mitglieder in Räumlichkeiten, die man ihnen zur Verfügung stellte, zusammen lebten und aßen. Obwohl die Organisation nicht länger auf Schiffen stationiert war, behielt sie doch ihre Marineterminologie - Wohnhäuser waren Quartiere, die Mitglieder trugen Marineuniformen, und L. Ron Hubbard blieb der Commodore.
Zehn Jahre später geriet mein Vater mitten in eine umfassende Rekrutierungsmaßnahme. Später erzählte er mir, an verschiedenen Orten rund um die Base hätten Anwerber der Sea Org nach jungen, erfolgreichen, fähigen und moralisch einwandfreien Scientologen gesucht. Jeder, der der Sea Org beitrat, musste einen eine Milliarde Jahre währenden Vertrag unterschreiben, der den unsterblichen Thetan-Geist Leben um Leben für den Dienst in der Organisation verpflichtete. Die Mitglieder mussten auch sieben Tage die Woche endlose Stunden arbeiten, durften ihre Familien nur selten sehen und bekamen dafür oft gerade mal zwischen fünfzehn und fünfundvierzig Dollar pro Woche. Wer aufgenommen werden wollte, durfte weder jemals harte Drogen genommen noch jemals einen Selbstmordversuch verübt haben. Ebenso durfte man keine nahen Angehörigen haben, die Scientology-Gegner waren.
Mein Vater war früher ein Mitglied gewesen und meinte, immer noch den Qualifikationen zu entsprechen. Er war ein überzeugter Scientologe, er war bereit, sein Leben in den Dienst der Organisation zu stellen, und er war der ältere Bruder von David Miscavige, einem von L. Ron Hubbards wichtigsten Führungskräften, der als der kommende Mann in der Kirche galt. Schon mit fünfundzwanzig wurde mein Onkel Dave Vorsitzender des Aufsichtsrats von Author Services Inc. und kümmerte sich um alle finanziellen Aspekte von L. Ron Hubbards Texten, um die Urheber- und Verwertungsrechte seines geistigen Schaffens. Wie mein Vater war auch Onkel Dave Scientologe, seit mein Großvater die Familie in die Kirche eingeführt hatte. Von Anfang an war Dave so begeistert gewesen, dass er mit sechzehn - und der Erlaubnis seines Vaters - die Highschool verließ und der Sea Org beitrat.
Als mein Vater heimkehrte, teilte er meiner Mutter mit, er habe beschlossen, sich von der Sea Org erneut anwerben zu lassen. Obwohl meine Eltern eigentlich ihren Lebensmittelpunkt in New Hampshire hatten, fühlte er sich erneut berufen und wollte, dass unsere Familie zur Base der Church in Los Angeles zog, wo wir ein neues Leben beginnen würden. Mom würde ebenfalls wieder der Sea Org beitreten, weil Mitglieder dieser Organisation nicht mit Nichtmitgliedern verheiratet sein durften. Ohne zu zögern, stimmte meine Mutter zu.
So spontan das auch war, meinen Eltern war dennoch bewusst, worauf sie sich einließen. Sie waren nicht nur beide bereits in der Sea Org gewesen, sondern hatten sich mit gerade mal neunzehn Jahren in der Flag Land Base kennengelernt.
Damals allerdings waren beide mit jemand anderem aus der Sea Org verheiratet gewesen. Mein Vater hatte einen Stiefsohn, Nathan, und meine Mutter damals bereits die zweijährigen Zwillinge, Justin und Sterling. Meine Eltern verliebten sich ineinander, bekamen dadurch allerdings Schwierigkeiten, da sie gegen den Kodex der Church verstießen, und mussten hart arbeiten, um ihr Fehlverhalten wiedergutzumachen. Schließlich erhielten sie die Erlaubnis zu heiraten, Moms Exmann heiratete ebenfalls wieder. Sterling lebte bei seinem Vater und seiner neuen Frau, während Justin bei uns wohnte. Die Zwillinge durften ihre Zeit in beiden Familien verbringen, und damit waren alle zufrieden.
Meine Eltern waren ein schönes Paar. Mein Vater war eins siebzig groß und schlank, aber stark. Er hatte sandfarbenes Haar, einen Schnurrbart, blaue Augen, ein herzliches Lächeln und war immer freundlich und gut gelaunt. Meine Mom, Eli zabeth Blythe, von allen ›Bitty‹ genannt, war wunderschön, einen Meter fünfundsechzig groß und ziemlich dünn. Sie hatte braungrüne Augen und braunes Haar, das ihr bis zur Taille reichte. Ihre elfenbeinfarbene Haut hatte ein paar Sommersprossen. Im Gegensatz zu meinem Vater rauchte sie, und zwar schon, seit sie ein Teenager war. Fremden gegenüber war sie schüchterner und reservierter als mein Dad, aber unter Freunden war sie selbstbewusst, geradeheraus und lustig, mit einem sehr trockenen Humor. Sie war eigensinnig und manchmal sehr kritisch, aber eine unglaublich begabte Frau.
Obwohl die Sea Org sehr viel ihrer Zeit in Anspruch nahm, waren meine Eltern dort bis in die späten Siebziger Jahre glücklich, bis sie immer weniger damit einverstanden waren, wie die Flag Land Base geführt wurde. 1979, nach fünf Jahren in der Sea Org, kündigten sie beide ihren eine Milliarde Jahre dauernden Vertrag, was zu der damaligen Zeit aber noch keine Katastrophe war. Sie durften weiterhin sogenannte öffentliche Scientologen bleiben, waren zwar an die Church gebunden, mussten aber nicht mehr ihre gesamte Zeit der Sea Org zur Verfügung stellen. Nach dem Austritt verlief ihr Leben für einige Jahre ganz normal. Sie wohnten eine Zeitlang bei den Eltern meines Vaters in Philadelphia, bevor sie nach New Hampshire zogen, wo sie ein typisches bürgerliches Leben führten - zwei berufstätige Eltern mit Festanstellungen und zwei minderjährigen Kindern (sie hatten nach Verlassen der Sea Org das volle Sorgerecht für Justin bekommen), mit Tagesmutter und einem selbst entworfenen Haus. Viele Mitglieder unserer großen Familie, darunter die Schwestern meines Vaters, Lori und Denise, und meine Großmutter väterlicherseits, lebten ebenfalls in New Hampshire, und wir waren dabei, uns im Schoß unserer Familie fest niederzulassen. Es sah so aus, als läge meinen Eltern nichts ferner, als sich wieder den fanatischsten Anhängern von Scientology anzuschließen.
Und doch taten sie mit einer einzigen überstürzten Entscheidung genau das: Sie kehrten in die Sea Org zurück und bewirkten, dass unser Leben einen vollkommen anderen Verlauf nahm. Damals wussten meine Eltern bereits, was ich erst später erfahren würde: Ein Leben in der Sea Org bedeutete zugleich, dass sie oft von mir getrennt sein würden. Aber das beeinflusste ihre Entscheidung nicht. Die Church war ihnen das Wichtigste, und sie waren fest entschlossen.
Später sollten meine Eltern mir erzählen, dass sie ihre Entscheidung ganz spontan trafen, ohne lange nachzudenken. Im Rückblick erwies es sich als die schlechteste Entscheidung ihres Lebens. Zwar kann ich nicht sagen, ob sie damals Rücksicht darauf nahmen, welche Auswirkung ihre Entscheidung auf mein Leben haben würde; wahrscheinlich aber war ich nur eines der vielen Opfer, die sie im Namen der Church bereit waren zu erbringen. Da sie die Sea Org schon einmal verlassen hatten, dachten sie vielleicht, sie könnten es wieder tun, falls es nicht so gut lief. Möglicherweise glaubten sie auch wirklich daran, dass es wunderbar wäre, ein Kind bei Scientology aufzuziehen, denn dadurch würde ich alles von Anfang an kennenlernen. Wahrscheinlich trieb sie auch eine innere Unruhe, das Gefühl, dass ihnen etwas fehlte. Sie zogen es vor, mit einer wichtigen Mission hinaus in die Welt zu ziehen und einem höheren Zweck zu dienen, statt in New Hampshire ganz normalen Jobs nachzugehen und Kinder aufzuziehen. Sie waren durch die Mission der Church motiviert und wollten an etwas Größerem teilhaben. Eines ist mir ganz klar: Nach dieser Entscheidung gab es in unserem Leben keinen Platz mehr für Normalität. Für unser Leben und unsere Familie hatte es ganz andere Möglichkeiten gegeben; meine Eltern hatten sie in Betracht gezogen und sich dann von ihnen abgewandt.
Kapitel 2
LRH legt seinen Körper ab
Der Umzug nach Kalifornien war auch eine Art Familienzusammenführung, da Dads Vater Ron und sein Bruder Dave bereits dort lebten. Im Jahr zuvor war mein Grandpa ebenfalls der Rekrutierungskampagne gefolgt, hatte beschlossen, Philadelphia zu verlassen und der Sea Org beizutreten. Onkel Dave hingegen, der jahrelang ein neuer Stern am Himmel der Church war, wurde schon bald einer der mächtigsten Männer bei Scientology und sollte, was damals noch niemand von uns wusste, in naher Zukunft dessen Oberhaupt werden.
Am 11. Dezember 1985 kamen wir nach einer langen Reise quer durch das Land in unserer neuen Heimat an, der Pacific Area Command Base - kurz PAC - in Los Angeles. Die erste Church of Scientology war 1954 in dieser Stadt gegründet worden, und L. A. war immer noch die absolute Hochburg der Scientologen. Die PAC-Base bestand aus mehreren, nicht weit voneinander entfernt liegenden Gebäuden, die sich größtenteils auf der Fountain Avenue, der Franklin Avenue und dem Hollywood Boulevard befanden. Das Blue Building in der Fountain Avenue 4833 war das Herzstück der PAC-Base, während das einstige Cedars of Lebanon Hospital als das Wahrzeichen der Church galt. Hoch oben auf dem Dach sah man ein Kreuz mit acht Spitzen, das religiöse Symbol der Kirche, und in riesigen Buchstaben das Wort Scientology. Nachts war es beleuchtet und mehrere Blocks weit zu sehen. Das siebenstöckige Gebäude beherbergte jetzt die Verwaltung der Church, Unterkünfte für Mitarbeiter und die Galley and Mess Hall, der mit den nautischen Begriffen bezeichnete Küchen- und Speisebereich. Onkel Dave und seine Frau, meine Tante Shelly, hatten eine Wohnung im Blue Building, obwohl ihr Hauptwohnsitz zweieinhalb Stunden entfernt im internationalen Hauptquartier in Hemet, Kalifornien, lag.
Unsere erste Wohnung befand sich im Fountain Building auf der Fountain Avenue, einen Block vom Sunset Boulevard entfernt. Es war eine etwas dubiose Gegend in Hollywood, wo Gangs ihr Unwesen trieben. Die Wohnung bestand aus zwei schmuddeligen, dunklen Räumen von knapp fünf Quadratmetern und einem Badezimmer. Es roch nach Schimmel. Um sie etwas netter aussehen zu lassen, hatten meine Eltern Teppichboden über das ursprüngliche alte Linoleum gelegt. Sie gingen auch in einen nahe gelegenen Billigladen und kauften für Justin und mich ein Stockbett und ein paar andere Möbel. Das Stockbett kam in das eine Zimmer und ihr Bett in das andere. Ich schlief immer noch lieber mit meinen Eltern in einem Bett.
Diese nächtlichen Stunden mit meinen Eltern waren fast die einzige Zeit, in der ich mit ihnen zusammen sein durfte. Jedes Sea Org-Mitglied war verpflichtet, mindestens vierzehn Stunden täglich Dienst zu leisten, von etwa neun Uhr morgens bis halb zwölf Uhr nachts, sieben Tage die Woche, mit einer Stunde Pause Familienzeit am Abend, in der Eltern ihre Kinder sehen durften, bevor sie wieder zur Arbeit gingen. Gelegentlich bekamen sie einen Tag zur freien Verfügung, aber dafür gab es keine Garantie. Es war alle zwei Wochen höchstens ein Tag, und der galt als Belohnung für gute Leistungen.
Aber meine Eltern beklagten sich nicht über ihre langen Arbeitstage. Dads Büro lag günstigerweise direkt gegenüber unserer Wohnung. Er hatte eine leitende Stelle in einer Abteilung namens INCOMM bekommen, die sich um die Computerisierung von Scientology kümmerte. Bei den Scientologen bekam fast jede Abteilung, jedes Gebäude, jedes Büro, jedes Department und jeder Stützpunkt ein Akronym zur Identifizierung. Selbst die Jobs, Posten und Seminare, die wir bekamen, hatten welche. Sogar L. Ron Hubbard lief unter dem Akronym seiner Initialen: LRH.
Meine Mutter arbeitete beim Ship Project, einem riesigen Unternehmen, das mit dem Ankauf eines Schiffes betraut war, welches als Stützpunkt auf dem Meer dienen sollte. Es sollte Freewinds heißen und ähnlich wie das ursprüngliche Flaggschiff Apollo während der Anfangsjahre der Sea Org operieren.
Da meine Eltern Tag und Nacht arbeiteten, wurden Justin und ich von Fremden beaufsichtigt. In unserer Anfangszeit in L. A. verbrachte ich meine Tage in einer Kinderbetreuung im Fountain Building, bis meine Eltern mich zum Abendessen in der Mess Hall abholten. Danach gingen Mom, Dad, Justin und ich zur Familienzeit in unsere Wohnung. Wenn Mom und Dad wieder zur Arbeit gingen, musste ich zurück in die Kinderbetreuung. Dort gab es viele große und kleine Betten, wo die Kinder schlafen konnten, bis sie abgeholt wurden, meistens um dreiundzwanzig Uhr oder später. Tagsüber, wenn ich in der Kinderbetreuung war, ging Justin zur Apollo Training Academy, kurz ATA, in einem anderen Gebäude auf der Fountain Avenue. Die ATA war für ältere Kinder von Sea Org-Mitgliedern gedacht. Diese wurden als Kadetten bezeichnet, also als Sea Org-Mitglieder in der Ausbildung. Ich weiß nicht, was sie den ganzen Tag machten, aber Justin hasste es so, dass er meine Eltern anflehte, ihn zurück zu seinen Freunden nach New Hampshire gehen zu lassen.
Doch unser Tagesablauf wurde bald normale Routine. Ich war zu jung, um zu begreifen, dass es höchst ungewöhnlich war, wenn man seine Eltern nur eine Stunde pro Tag sah. Ich wusste nicht, was Eltern tun sollten, sondern nur, dass meine selten da waren.
Am 24. Januar 1986, nur sechs Wochen, nachdem wir in Los Angeles angekommen waren, starb L. Ron Hubbard im Alter von zweiundsiebzig Jahren. Er hatte die letzten sechs Jahre völlig zurückgezogen auf einem einsamen Fleckchen der kalifornischen Wüste gelebt und war von seinen engsten Vertrauten, einem Ehepaar namens Pat und Anne Broeker, betreut worden. Seit Jahren hatte er sich weder an einem der Stützpunkte noch in der Öffentlichkeit gezeigt, doch jeder behauptete, er arbeite eifrig an neuen, bahnbrechenden Forschungen, daher war seine Isolation verständlich.
Scientologen hatten LRH stets als Wissenschaftler und Philosophen geachtet, dessen Erzählungen über seine Entdeckungen für die Church durchsetzt waren mit Geschichten über seine Reisen und sein bewegtes Leben. Zum Zeitpunkt seines Todes galt er als charismatische, fast gottgleiche Führerfigur, die allen Scientologen den Weg zur Erlösung geebnet hatte. Alle betrachteten ihn als persönlichen Freund, ob sie ihn nun kannten oder nicht. Für uns sah er in allen Menschen das Gute.
L. Ron Hubbard hatte fünfzehn Jahre lang massenhaft Kurzgeschichten für Schundblätter geschrieben, bevor er 1950 sein erstes ernstzunehmendes Werk veröffentlichte: Dianetik: Der Leitfaden für den Menschlichen Verstand, ein Selbsthilfebuch, dessen Philosophie besagt, dass Menschen sich von ihrem persönlichen Leiden befreien müssten, um ihr persönliches Wachstum nicht zu behindern. Dieses Leiden begrenze uns, gefährde unsere Gesundheit und mindere unsere Lebensqualität. Doch wenn wir es direkt angehen und überwinden würden, könnten wir fast alles besiegen, was uns Leid bescherte. Schon direkt nach seinem Erscheinen verkaufte sich Dianetik millionenfach, Leser wurden über Nacht zu fanatischen Anhängern, die behaupteten, dieser neue Ratgeber für geistige Gesundheit biete hervorragende Mittel, um sich zu heilen und sein Leben zu verbessern. Natürlich hatte Dianetik auch skeptische Leser und ausgemachte Kritiker, die die angeblich wissenschaftlichen Methoden von LRH in Frage stellten. LRH seinerseits unterstellte diesen Kritikern, sie fühlten sich nur durch seine neuen Perspektiven bedroht.
Trotz aller Kritik wurde Dianetik eine solche Sensation, dass LRH in ganz Amerika Dianetik-Center eröffnete, damit die Menschen sich Einzelgesprächen mit ausgebildeten, von LHR als Auditor bezeichneten Coachs unterziehen konnten. In diesen Auditing-Sitzungen wurde der Schüler, oder auch Preclear, zu leidvollen Erfahrungen in seinem Leben zurückgeführt. Das konnte alles Mögliche sein: eine traumatische Geburt, ein Autounfall oder Momente körperlicher Schmerzen genauso wie Bilder, Gerüche, Gefühle oder Worte, die mit dieser leidvollen Erfahrung verbunden waren. L. Ron Hubbard glaubte, es gebe ganze Ketten leidvoller Erfahrungen und mit Hilfe des Auditors würden sie nacheinander verschwinden. Das Ziel war, sich mit jeder einzelnen zu konfrontieren, bis der Geist schließlich Cleared war: von der gesamten Kette befreit. Es war ein kontinuierlicher Prozess, einzelne Glieder dieser Kette aufzuspüren, von denen es Tausende geben konnte, und die Kette bis zum Ursprung zurückzuverfolgen. Erst dann würden sie verschwinden und den Preclear näher an den Zustand eines Clear bringen. Wenn man Clear war, galt das Ziel von Dianetics als erreicht und man hatte keine psychosomatischen Erkrankungen, Neurosen oder Psychosen mehr. Außerdem erlebte man einen erheblichen Anstieg seines Intelligenzquotienten und konnte sich komplett an seine Vergangenheit erinnern. Man war frei von dem, was LRH als Reac tive Mind - den Reaktiven Verstand - bezeichnete.
1952 betrachtete L. Ron Hubbard Dianetik nicht mehr als einfaches Selbsthilfeprogramm. Bei seinen Untersuchungen hatte er entdeckt, dass Preclears Ketten mit Schmerzerfahrungen aufwiesen, die über ihr aktuelles Leben hinausgingen. Tatsächlich konnten sie bis in mehrere Leben zurückreichen, was natürlich die Wiedergeburt nahelegte und die Tür zu dem Bereich des menschlichen Geistes aufstieß. Das führte LRH zu einer weiteren Entdeckung: Menschen bestanden aus drei Teilen - dem Körper, dem Verstand und dem Geist. Diesen Geist nannte er Thetan. Der Thetan war unsterblich und außerdem der wichtigste Teil des Menschen. Ohne diesen Teil gab es weder Körper noch Verstand. Ein Thetan war nichts Fassbares, sondern eher der Schöpfer alles Fassbaren und die belebende Kraft des Körpers. Der Verstand war der Computer, der Körper die Hülle für den Thetan, und der Thetan war die Lebenskraft. Damit war Scientology geboren.
Der Thetan wurde rasch ein wesentlicher Bestandteil von Scientology. Als LRH seine Lehre um eine spirituelle Komponente erweiterte, unternahm er den ersten Schritt, Scientology in eine Religion zu verwandeln, eine Bezeichnung, die eine Vielzahl von Vorteilen mit sich brachte. Plötzlich waren alle Zweifel an den wissenschaftlichen Methoden der Dianetik irrelevant. Wenn Diane tik Teil einer religiösen Praxis war, musste sie nicht wissenschaftlich bewiesen werden. Die Umwandlung in eine Religion brachte auch finanzielle und steuerliche Vorteile. Der wichtigste Grund jedoch war der, dass diese Religion mit ihrer allumfassenden spirituellen Komponente und ihren Reisen in vergangene Leben Menschen unbegrenzt an Scientology binden konnte, während bei der Dianetik Schüler einfach geheilt wurden und nie wieder zu einer Auditing-Sitzung zurückkamen.
LRH entwickelte einen Lehrplan, der festlegte, in welcher Reihenfolge Scientology gelehrt werden sollte. Dieses Programm wurde die Brücke zur vollkommenen Freiheit genannt und war in zwei Bereiche unterteilt: das Auditing, eine Art Einzelberatung; und das Training, ein Ausbildungsprogramm für Auditoren. Nach dieser Landkarte für die Reise zur spirituellen Freiheit musste jeder Scientologe ganz unten anfangen und sich schrittweise ein Level nach dem nächsten hinaufbewegen. Man konnte sich dabei erst einem Bereich widmen oder beiden gleichzeitig. Es gab auch viele Seminare für Scientologen, die nicht wirklich zur Brücke gehörten. Doch für den Aufstieg musste man erst ein gewisses Maß an Bewusstsein erreichen, bevor man zum nächsten Level wechseln und schließlich die Brücke zur vollkommenen Freiheit überqueren konnte.
Die einzelnen Level der Brücke bis zum State of Clear - der völligen geistigen Klarheit - basierten auf LRHs Dianetikforschungen. Doch mit der Entdeckung des Thetan musste er die spirituellen Level jenseits des State of Clear entschlüsseln. Diese wurden zu den höchsten Level der Brücke und hießen Operating Thetan Levels oder OT Level. Es gab acht Level, das letzte - OT VIII - wurde verlockenderweise Enthüllte Wahrheit genannt.
LRH warnte, dass niemand unter Umgehung eines Levels zu diesem letzten Geheimnis vordringen könne, und erklärte, es sei zwingend notwendig, sich umfassend darauf vorzubereiten. Unkontrolliertes Absolvieren der Level, behauptete er, könne zu schweren Störungen und sogar zum Tod führen. Aus diesem Grund durften Menschen des obersten Levels unter keinen Umständen ihr Wissen mit anderen teilen, die sich weiter unten auf der Brücke befanden. Außerdem konnten OT-Seminare nur von speziell ausgebildeten Sea Org-Mitgliedern erteilt werden. Eine Reihe Sea Org-Stützpunkte in der ganzen Welt konnten OT-Level bis zu Level V anbieten. Die Flag Base in Clearwater bot die Level VI und VII. Die Freewinds aber, das Schiff, mit dessen Kauf und Umbau meine Mutter beschäftigt war, würde der einzige Ort auf der Welt sein, wo man OT VIII, das höchste, gerade entschlüsselte Level erfahren könnte.
Obwohl LRH seine letzten Jahre im selbst auferlegten Exil verbrachte, ließ er über die Broekers übermitteln, dass er hart daran arbeitete, fortgeschrittene, noch nie zuvor enthüllte Level über OT VIII hinaus zu entschlüsseln.
Am Tag nach LRHs Tod sprachen mein Onkel Dave und Pat Broeker vor einem riesigen, nur aus Scientologen bestehenden Publikum im Hollywood Palladium, dem 40 000 Quadratmeter großen Konzertsaal auf dem Sunset Boulevard. Onkel Dave erklärte in dem im Art-déco-Stil gehaltenen Saal, dass LRH sich auf ein »neues Level seiner Forschungen« begeben habe. Man hörte ein paar ungläubige Aufschreie und hier und da verhaltenen Applaus, aber ansonsten vollkommene Stille. Dave erklärte weiter, L. Ron Hubbard habe entschieden, »sich seines Körpers zu entledigen«, da er »ihm nicht mehr genutzt habe, sondern vielmehr ein Hindernis für seine Arbeit sei, die er nun jenseits seiner Grenzen verrichten müsse«.
»Das Wesen, das wir als L. Ron Hubbard kennen, existiert immer noch«, verkündete er seinen Anhängern, um ihren Schock zu mildern.
Der Umstand, dass LRH sein eigenes Ableben derart gedeutet hatte, sowie die Tatsache, dass ihn seit Jahren niemand mehr gesehen hatte, machten seinen Tod erträglich.
Da sowohl mein Onkel als auch Pat Broeker an diesem Tag auf der Bühne standen, war nicht sofort klar, wer LRHs Nachfolger werden würde. Angeblich gab es zwischen den beiden einen Machtkampf um die Führung der Church. Man hörte widersprüchliche Geschichten zu dem, was genau geschah. Mein Onkel wurde beschuldigt, Pat mit fragwürdigen Methoden aus seiner führenden Position verdrängt zu haben. Ganz gleich, wie es geschah, letztlich wurde mein Onkel das Oberhaupt der Kirche, sein offizieller Titel lautete Chairman of the Board, Religious Technology Center. Von diesem Zeitpunkt an nannten alle in der Church ihn COB, doch für mich blieb er einfach Onkel Dave.
Mein Vater, Ronnie Miscavige Jr., war drei Jahre älter als Onkel Dave und damit der Älteste, gefolgt von Onkel Dave und seiner Zwillingsschwester Denise und zuletzt von Lori, dem Nesthäkchen. Als Kinder hatten mein Dad und Onkel Dave sich ein Zimmer geteilt und sich sogar oft zusammengetan, um ihren Schwestern Streiche zu spielen. Dad war sehr sportlich, und obwohl er in der Schule Football spielte, galt seine wahre Leidenschaft dem Turnen. Er kam sogar in die Jugendolympiamannschaft seiner Region. Dave hatte auch Spaß am Sport, aber wegen seiner Asthma-Erkrankung durfte er manchmal keinen Sport oder andere körperliche Tätigkeiten ausüben. Denise war freundlich, aufgeschlossen und tanzte gern, hatte aber oft Streit mit meinen Großeltern, weil die einige ihrer Freunde ablehnten. Die kleine Lori liebte es, zusammen mit ihrer großen Schwester tanzen zu gehen.
Ihr Vater, mein Großvater, Ron Miscavige Senior, war geboren und aufgewachsen in Mount Carmel, einer kleinen Bergbaustadt im Südwesten Pennsylvanias, wo er katholisch erzogen worden war. Er arbeitete als Vertreter und verkaufte alles, von Kochgeschirr bis hin zu Versicherungen. Groß war er nicht, aber laut, schroff, gesellig und etwas einschüchternd. Mit knapp achtzehn ging er zu den Marines, und 1957, ein Jahr nach seiner Entlassung, heiratete er meine Großmutter, Loretta Gidaro, eine schöne, junge Frau mit dicken, braunen Haaren, olivfarbener Haut und strahlend blauen Augen. Grandma Loretta war die Tochter eines Bergarbeiters deutsch-italienischer Abstammung. Sie war witzig, freundlich und sorgte sich stets um das Wohl der Familie. Die beiden ließen sich in Cherry Hill bei Philadelphia in New Jersey nieder, wo sie als Krankenschwester arbeitete, bis ihre Kinder geboren wurden: Dad 1957, David und Denise 1960 und Lori 1962.
Als Vertreter war Grandpa ein sehr geselliger Mensch. Er lud häufig Gäste zum Abendessen im Familienkreis ein, wo sie bei einem schönen Essen unterhaltsame Geschichten erzählten. Von einem Kollegen hörte er zum ersten Mal von der Church of Scientology. Scientology interessierte ihn nicht, weil er irgendein spezielles Problem hatte, sondern eher, weil er immer nach Antworten zum Thema Geist und Spiritualität suchte. Damals war er vierunddreißig, aber er hatte sich seit jeher für Philosophie interessiert. Schon als Kind hatte er Der Prophet von Khalil Gibran gelesen und war fasziniert gewesen von den Fragen, die das Buch zur Spiritualität und zum Leben des Menschen aufwarf. Schon früh weckte die Anthropologie seine Neugier; Fragen danach, wie die Menschen hierhergekommen waren und warum wir taten, was wir taten.
Sein Interesse für die Ursprünge des Menschen veranlasste ihn, eine in Cherry Hill ansässige Scientology Mission zu besuchen und eines von L. Ron Hubbards Büchern zu kaufen. Wie Grandpa später selbst sagte, musste er nach diesem Besuch nicht mehr überzeugt werden - er hatte Feuer gefangen. Er kaufte weitere Bücher, ging zurück zur Mission und fing mit dem Auditing-Prozess an. Er sagte, in den nächsten Monaten hätten ihn die positiven Auswirkungen von Scientology zum Topverkäufer seiner Firma gemacht. Er behauptete sogar, wegen seines Erfolgs hätte es in der Newsweek einen Artikel über ihn gegeben. Sein Chef war so beeindruckt, dass er die gesamte Firma mit etwa zwanzig Angestellten zur Mission in Cherry Hill schickte, denn wenn Ron davon profitierte, sollten sie es auch versuchen.
Grandma Loretta hatte nichts gegen sein Interesse für Scientology; im Gegenteil, es gefiel ihr, und sie ging ebenfalls zur Mission. Schon bald brachte Grandpa alle vier Kinder zum Auditing, angefangen mit meinem Vater, als er zwölf war. Außerdem hatte mein Vater davon gehört, dass die Scientologen vielversprechende Ergebnisse bei der Behandlung von Krankheiten wie Asthma erzielten. Daher meinte er, Dave sei dort gut aufgehoben. Laut Grandpa verbesserte sich Daves Zustand beträchtlich, was ihn noch mehr davon überzeugte, dass Scientology die Antworten hatte, nach denen er suchte. Er war bei der Arbeit erfolgreicher, konnte leichter wichtige Entscheidungen treffen und jetzt schien sich auch der Gesundheitszustand seines Sohnes zu verbessern.
Letztlich gefiel es Grandpa, dass Scientology eher eine Philosophie der Selbsthilfe als eine Religion war. Statt über Himmel, Hölle und Sünde zu reden, versprach Scientology bahnbrechende Verbesserungen in Beziehungen und Ehen, im Beruf, in der Kommunikation und beim physischen und psychischen Befinden. Er mochte auch das Utopische daran. Der Mensch wurde grundsätzlich als gut betrachtet, als verantwortlich für sein Seelenheil, doch dieses Seelenheil hing von der Kooperation mit dem Universum ab. L. Ron Hubbard meinte, es sei möglich, die Welt von menschlichem Elend zu befreien, Kriege zu beenden und allumfassende Harmonie zu erzeugen. Es war gleichzeitig idealistisch und rational, und diese Kombination sprach Grandpa an. Es störte ihn nicht im Mindesten, dass Scientology ganz anders war als jede Religion oder Glaubensrichtung, die er bis dahin kennengelernt hatte.
Zwei Jahre, nachdem er die Church für sich entdeckt hatte, entschloss er sich zu dem gewagten Schritt, verkaufte seine drei Wagen und zog von dem Geld mit der gesamten Familie nach Saint Hill Manor ins englische Sussex, wo sich seit über zehn Jahren das Hauptquartier der Scientologen befand.
1959 waren L. Ron Hubbard und seine Familie dorthin gezogen und hatten vom Maharadscha von Jaipur ein fünfzig Hektar großes Stück Land mit einer kleinen Burg gekauft, die zur Zentrale der Church of Scientology wurde. Saint Hill wurde bald Sammelplatz für Scientologen aus aller Welt. LRH war oft dort, arbeitete weiterhin an seinen Forschungen und präsentierte sie, wodurch die Anhänger das Gefühl bekamen, an etwas Neuem und Bedeutsamem teilzunehmen.
Trotz Grandpa Rons Wunsch, in der Nähe des scientologischen Mittelpunkts in Saint Hill zu leben, war mein damals vierzehnjähriger Vater skeptisch. Verständlicherweise war er kaum daran interessiert, aus Pennsylvania nach England zu ziehen und mitten in der Highschoolzeit all seine Freunde zurückzulassen. Schwerwiegender war es jedoch, dass er das Turnen und seinen Traum von Olympia aufgeben musste. Doch mein Großvater tat das, was er für das Beste hielt, und mein Dad folgte ihm, wenn auch widerstrebend.
Die Jahre in England endeten damit, dass mein Vater sich vollkommen Scientology verschrieb. Nachdem er fast ausschließlich von Scientologen umgeben war, widmete er sich immer eifriger der Sache, sodass er mit siebzehn in die Sea Org eintrat und in die Flag Land Base nach Clearwater zog.
Onkel Dave folgte ihm 1976, nachdem er an seinem sechzehnten Geburtstag die Highschool abbrach, um sich ganz der Religion zu widmen. In Clearwater begann Onkel Dave, eng mit L. Ron Hubbard zusammenzuarbeiten, und wurde dafür mit wichtigen Posten belohnt. Schließlich kam er zur internationa len Zentrale in Hemet, Kalifornien, wo er so rasch aufstieg, dass er während L. Ron Hubbards selbst gewähltem Exil zu einer mächtigen Persönlichkeit wurde. Und nun, nach
L. Ron Hubbards Tod, war er nicht mehr nur ein bekanntes Gesicht, sondern der Kopf der Church of Scientology.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Jenna Miscavige Hill, Lisa Pulitzer
Jenna Miscavige Hill, geboren 1984, ist die Nichte von David Miscavige, dem Nachfolger des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard, und wuchs in den höchsten Kreisen von Scientology auf. Seit sie die Organisation 2005 verließ, ist sie eine ihrer prominentesten Kritikerinnen. Sie ist Mitbegründerin einer Website, die derzeitigen und ehemaligen Scientologen die Möglichkeit bietet, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen, und unterstützt diejenigen, die sich entschlossen haben, die Organisation zu verlassen. Sie lebt mit ihrer Familie in Kalifornien.Lisa Pulitzer ist Korrespondentin der New York Times. Sie ist Autorin und Ghostwriterin zahlreicher Bücher aus dem Bereich True Crime.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Jenna Miscavige Hill , Lisa Pulitzer
- 2013, 480 Seiten, 8 farbige Abbildungen, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus dem Amerikanischen von Ina Bell, Marianne Denkhaus
- Übersetzer: Ina Bell, Marianne Denkhaus
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442754100
- ISBN-13: 9783442754106
- Erscheinungsdatum: 15.04.2013
Rezension zu „Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht “
»Noch nie zuvor hat ein Insiderbericht Scientology so erschüttert wie dieses Buch.«
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