Sturm über Sylt
Die Insel-Saga
Aletta wird auf Sylt groß, doch ihren großen Traum, Sängerin zu werden, wollen ihre Eltern ihr nicht erlauben. Kaum ist sie volljährig, verlässt sie die geliebte Insel und wird eine gefeierte Künstlerin. Als sie im Jahr...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sturm über Sylt “
Aletta wird auf Sylt groß, doch ihren großen Traum, Sängerin zu werden, wollen ihre Eltern ihr nicht erlauben. Kaum ist sie volljährig, verlässt sie die geliebte Insel und wird eine gefeierte Künstlerin. Als sie im Jahr 1914 zurückkehrt, um ein Konzert zu geben, wird Aletta von allen gefeiert - nur nicht von ihrer Familie. Ihr Vater ist tot, ihre Mutter liegt im Sterben und schafft es nicht mehr, ihrer Tochter ein Familiengeheimnis zu verraten - Alettas Schwester Insa verhindert das. Dann bricht der Erste Weltkrieg aus und plötzlich ist Aletta auf Sylt gestrandet. Nun versucht sie alles, um hinter das Geheimnis ihrer Mutter zu kommen.
Lese-Probe zu „Sturm über Sylt “
Sturm über Sylt von Gisa Pauly II.
Der Alte Kursaal erstrahlte im schönsten Glanz. Die Kristallleuchter, die über den Sitzreihen hingen, waren auf Hochglanz gebracht worden, die dunklen Holzböden schimmerten, die hölzernen Wandvertäfelungen waren noch am Morgen abgestaubt worden. Der Kurdirektor wollte alles tun, um die berühmte Tochter der Stadt in angemessener Umgebung zu würdigen. Die vierhundert Sitzplätze, die der Saal bot, waren noch erweitert worden durch Klappstühle neben den Sitzreihen und hinter der letzten Reihe. So würden vierhundertfünfzig Personen dem Konzert Aletta Lornsens beiwohnen können, damit würde der Saal zum Bersten gefüllt sein.
Schon eine Stunde vor Konzertbeginn füllten sich die Reihen. In den kleinen Raum hinter der Bühne, in dem Aletta ihre Stimme aufwärmte, sich mit Entspannungsübungen vorbereitete und sich schminken und frisieren ließ, drang schon bald das Stimmengewirr. In den großen Konzerthäusern achtete man darauf, die Künstler vom Publikum akustisch abzuschirmen, damit niemand schon vorher eine Ahnung davon bekam, wie gut oder schlecht die Vorstellung besucht sein würde, aber das Kurhaus von Westerland war eben nicht vergleichbar mit der Mailänder Scala oder der Staatsoper in Wien. Auch die Bühne, die Aletta vorfinden würde, war mit ihren fünfzehn Metern Breite mehr als bescheiden, dennoch war ihr Lampenfieber nie so groß gewesen wie in diesem Augenblick. Ihr war, als hinge ihre Zukunft von dem heutigen Auftritt ab.
... mehr
Zum Glück ließ Ludwig nicht erkennen, dass dieses Konzert anders war als jedes andere vorher! Er hatte alles so gemacht wie immer, hatte sie an den Ort ihres Auftritts gebracht, sie abgeschirmt, dafür gesorgt, dass sie nicht belästigt wurde, hatte mit ihr zusammen die Bühne besichtigt, Unklarheiten beseitigt, Fragen für sie beantwortet und sie dann in ihre Garderobe gebracht und ihr versprochen, dass niemand sie stören würde, dass nur die Garderobiere und die Friseurin zu ihr vorgelassen würden. Dann war er gegangen, aber Aletta wusste, dass er auch diesmal immer in ihrer Nähe sein würde und sie jederzeit nach ihm rufen konnte.
Sie lehnte sich zurück, atmete den Geruch dieses kleinen Raums ein, den sie nicht kannte und der ihr doch vertraut zu sein schien, weil er zu Sylt gehörte und jeder Raum der Insel einen Geruch trug, den es nirgendwo anders gab. Wo einmal der Wind eingedrungen war, der übers Meer kam, roch es nach Heimat.
Die Stimmen aus dem Zuschauerraum drangen durch die geschlossene Tür, auf dem Gang hörte sie Ludwig etwas sagen, was streng und kategorisch klang. Ja, Ludwig konnte unerbittlich sein, wenn es um ihre Sicherheit und ihren Frieden ging. Aletta lehnte sich zurück und schloss für eine Weile die Augen. Wie sehr sie ihn liebte! Wie dankbar sie ihm war! Er tat alles für sie, nur das eine konnte sie nicht von ihm haben. Seit Frau Wülfke sie mit dieser Frage bedrängt hatte, kreiste sie ständig in ihrem Kopf. Zwar hatte sie viele gute Argumente, die sie hundertmal von Ludwig gehört hatte, aber sie wusste, dass kein einziges ihre Eltern überzeugen würde.
Sie öffnete die Augen und setzte sich aufrecht hin. Dann klingelte sie nach der Friseurin. Warum eigentlich brauchte sie Argumente? Sie war nicht gekommen, um ihre Eltern zu überreden, sie war hier, um sich zu überzeugen, dass sie längst zur Einsicht gekommen waren. Sie wollte sich versichern lassen, dass sie noch immer geliebt wurde! Weil sie das Kind ihrer Eltern war, das ein Recht auf diese Liebe hatte, gleichgültig, was es getan hatte! Und weil sie Insas Schwester war! Wenn diese drei Ludwig Burger ablehnten, weil er sie zwar liebte, aber nicht heiraten würde ... dann wusste sie nicht, was sie tun würde.
Die Friseurin hatte ihr die Haare so straff wie möglich nach hinten gekämmt und mit einem Lack dafür gesorgt, dass sie im Bühnenlicht sanft schimmern würden. Mit einem schlichten Knoten waren sie befestigt worden, über den die Friseurin ein goldenes Netz legte, das mit grünen Federn besetzt war. Ihre Garderobiere war schon vor einer Woche nach Sylt gekommen und würde am nächsten Tag nach Wien zurückkehren. Ludwig hatte Aletta von diesem Plan abbringen wollen, weil sie den Syltern damit vor Augen führte, dass aus ihr ein Luxusgeschöpf geworden war, aber in diesem Fall war sie unerbittlich geblieben. Bei ihrem Makeup wollte sie kein Risiko eingehen. So hatte Ludwig dafür gesorgt, dass niemand erfuhr, wer die Dame aus Wien war, die im Grand-Hotel logierte, und Aletta hatte er verpflichtet, niemandem zu verraten, dass Ella Hofer die Reise nur unternommen hatte, um Aletta Lornsen zu schminken, vorher sämtliche notwendigen Utensilien einzukaufen und sich auf ihre wichtige Aufgabe vorzubereiten.
Niemand verstand die Kunst des Bühnen-Make-ups so wie Ella. Als Aletta in den Spiegel sah, war ihr Teint hauchzart überpudert, mit Rouge war ihm eine gesunde Farbe gegeben worden, ihre Augen waren so geschminkt, dass sie größer und sehr geheimnisvoll wirkten, und ihr Mund war eine einzige leuchtende Verlockung.
»Danke, Ella! Das hätte keiner so hinbekommen wie du!«
Als Aletta hinter die Bühne trat, war aus dem Stimmengewirr im Saal regelrechter Lärm geworden. Laute Rufe ertönten, wenn einer einem anderen über mehrere Köpfe etwas mitteilen wollte, Gelächter erklang, die Stimmung schien ausgelassen zu sein. Aletta wusste nicht genau, ob ihr das gefiel. Sie hätte einer gespannten Erwartung den Vorzug gegeben. Vielleicht, weil sie sich vorstellte, wie ihre Eltern und Insa sich in dieser lauten Vorfreude fühlen mochten. Sie selbst befanden sich vermutlich genau wie Aletta in einem fiebrigen Vorgefühl und litten womöglich unter der Leichtigkeit des übrigen Publikums.
Die Mitglieder des Kurorchesters kamen den Gang entlang, um sich hinter der Bühne aufzustellen. Sie würden als Erste ihren Auftritt haben, aber Ludwig drängte sich prompt hinter Aletta und verhinderte so eine Annäherung, von der er wusste, dass sie sie nicht wünschte. Sie brauchte das Alleinsein kurz vor dem Auftritt, an diesem Tag ganz besonders. Allein sein konnte sie auch, wenn viele Menschen um sie herum waren, vorausgesetzt, sie wurde nicht angesprochen oder über Gebühr beachtet. Auch Ludwig redete in der letzten halben Stunde vor einem Auftritt nur das Nötigste mit ihr, war nur da, immer in ihrer unmittelbaren Nähe, um sie abzuschirmen und zu schützen.
Dann sah Aletta an sich herab. Mit voller Absicht hatte sie ein dunkelgrünes Seidenkleid gewählt, von gleicher Farbe wie das Kleid, das Vera damals trug, als sie Aletta zu sich gerufen hatte, um sie mitzunehmen in ein anderes Leben. Vera sollte auf diese Weise bei ihr sein, sollte ihren Triumph miterleben, diesen Sieg über ihre Vergangenheit.
Aletta machte einen Schritt auf den Vorhang zu, zögerte, als Ludwig »Tu's nicht, Aletta!« flüsterte, und zerteilte ihn dann doch. Ganz vorsichtig, nur einen winzigen Spalt breit, so winzig, dass er nicht einmal von der ersten Zuschauerreihe zu erkennen sein würde. Mit dem linken Auge spähte sie in den Zuschauerraum, der noch hell erleuchtet war, wanderte von Reihe zu Reihe, von Gesicht zu Gesicht. Da, Pfarrer Frerich! Er saß in einer der ersten Reihen, die Hände über dem Bauch gefaltet, und strahlte höchste Zufriedenheit aus. In der Mitte entdeckte sie Jorit. Ganz still saß er da, beteiligte sich nicht an den Gesprächen, die rechts und links neben ihm geführt wurden. Anscheinend war er allein gekommen. Bewegungslos starrte er den Vorhang an, und Aletta schloss ihn erschrocken. Ihr war, als hätte er ihr linkes Auge entdeckt.
Ludwig strich ihr sanft über den Rücken. »Hast du sie gesehen? «
Aletta schüttelte den Kopf. Dann schloss sie die Augen, wie sie es immer tat, wenn der Auftritt kurz bevorstand, summte leise, machte Kaubewegungen und entspannte ihre Stimme durch Lippenflattern und erzwungenes Gähnen.
Nun wurde es im Zuschauerraum dunkel. Der Vorhang war so dicht, dass das Löschen der Lichter nicht zu sehen war, sondern nur akustisch wahrgenommen wurde, weil die Stimmen leiser wurden und es schließlich still im Saal geworden war. Schritte ertönten, Kurdirektor Wülfke betrat durch einen der beiden Treppenaufgänge an den Seiten die Bühne. Freundlicher Applaus begrüßte ihn, und Aletta hoffte, dass er sein Versprechen halten und ihren Auftritt mit nur wenigen Worten ankündigen werde.
Tatsächlich nahm er sich nur ein paar Minuten, um darauf hinzuweisen, dass ihnen allen ein außergewöhnlicher Abend bevorstand mit einer außergewöhnlichen Sängerin, die einmal unter ihnen gelebt hatte. Er betonte, wie lange es sein Wunsch gewesen sei, dass Aletta Lornsen ein Konzert auf Sylt gebe, und wie glücklich er sich schätze, dass sie seiner Einladung nun endlich gefolgt sei.
Er schöpfte tief Luft, diesen Augenblick nutzte das Publikum, um zu applaudieren und damit seine Worte zu bestätigen. Aletta befürchtete schon, dieser Zuspruch könnte Herrn Wülfke dazu ermutigen, seine Rede zu verlängern, aber er hielt tatsächlich Wort. Kurz und bündig stellte er das Westerländer Kurorchester und seinen Dirigenten vor, um dann, während die Musiker die Bühne betraten, wieder Teil des Publikums zu werden.
Aletta dachte nicht daran, wie es klang, wenn ein großes Orchester unter einem berühmten Dirigenten spielte, wie mächtig dann das Klangvolumen war, wie exorbitant der Wohlklang und wie sie die Flut dieser Musik dann nutzte, um sich auf die Bühne spülen zu lassen und in ihr unterzugehen. Diesmal tröpfelte die Musik nur, sie würde in keine Flut eintauchen, sondern sich in einen Regen stellen. Aber das spielte keine Rolle. Sie war in ihrer Heimat, dort unten saßen Menschen, die ihr etwas bedeuteten, denen sie etwas bedeutete und denen sie nun zeigen wollte, dass alles, was sie getan hatte, richtig gewesen war.
Der Jubel, mit dem sie begrüßt wurde, bestätigte sie schon, noch ehe sie einen Ton gesungen hatte. Und dann schaffte es auch die tröpfelnde Kurorchester-Musik, sie mitzureißen. Oder war es umgekehrt? Riss ihr Gesang die Musiker mit? Es spielte keine Rolle. Aletta Lornsen sang und sang, sie sang um ihr Leben. Und Applaus für Applaus wurde der Jubel größer. Die Zuhörer sprangen von ihren Sitzen und applaudierten im Stehen, ließen Bravo-Rufe hören und trampelten mit den Füßen, um den eigenen Applaus noch zu überbieten. Das Glück, das Aletta anfüllte, war von besonderer Art. Es war nicht das Glück, das im Gelingen, im Erfolg, im Triumph entstand, es war ein Glück, das so alt war wie ihr Leben und so unfassbar und wundervoll wie sein Ursprung. Allumfassend! Und so kostbar wie sonst nichts auf der Welt!
Dann sorgte sie für eine kleine Stille, wie immer vor ihrem letzten Lied. Im Zuschauerraum hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so gespannt war mit einem Mal die Erwartung. Mancher mochte auf eine ihrer größten Opernarien hoffen, andere auf etwas Modernes, vielleicht auf Jacques Offenbach, der zurzeit Furore machte ...
Aber Aletta Lornsen sang zum Abschluss »Guten Abend, gut' Nacht, mit Rosen bedacht ...«, das Lied, das ihr Vater immer dann angestimmt hatte, wenn ein schöner Tag zu Ende gegangen, wenn ein Fest verklungen war, wenn es Grund zur Dankbarkeit gegeben hatte. »Schau im Traum 's Paradies ...«
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2013
Zum Glück ließ Ludwig nicht erkennen, dass dieses Konzert anders war als jedes andere vorher! Er hatte alles so gemacht wie immer, hatte sie an den Ort ihres Auftritts gebracht, sie abgeschirmt, dafür gesorgt, dass sie nicht belästigt wurde, hatte mit ihr zusammen die Bühne besichtigt, Unklarheiten beseitigt, Fragen für sie beantwortet und sie dann in ihre Garderobe gebracht und ihr versprochen, dass niemand sie stören würde, dass nur die Garderobiere und die Friseurin zu ihr vorgelassen würden. Dann war er gegangen, aber Aletta wusste, dass er auch diesmal immer in ihrer Nähe sein würde und sie jederzeit nach ihm rufen konnte.
Sie lehnte sich zurück, atmete den Geruch dieses kleinen Raums ein, den sie nicht kannte und der ihr doch vertraut zu sein schien, weil er zu Sylt gehörte und jeder Raum der Insel einen Geruch trug, den es nirgendwo anders gab. Wo einmal der Wind eingedrungen war, der übers Meer kam, roch es nach Heimat.
Die Stimmen aus dem Zuschauerraum drangen durch die geschlossene Tür, auf dem Gang hörte sie Ludwig etwas sagen, was streng und kategorisch klang. Ja, Ludwig konnte unerbittlich sein, wenn es um ihre Sicherheit und ihren Frieden ging. Aletta lehnte sich zurück und schloss für eine Weile die Augen. Wie sehr sie ihn liebte! Wie dankbar sie ihm war! Er tat alles für sie, nur das eine konnte sie nicht von ihm haben. Seit Frau Wülfke sie mit dieser Frage bedrängt hatte, kreiste sie ständig in ihrem Kopf. Zwar hatte sie viele gute Argumente, die sie hundertmal von Ludwig gehört hatte, aber sie wusste, dass kein einziges ihre Eltern überzeugen würde.
Sie öffnete die Augen und setzte sich aufrecht hin. Dann klingelte sie nach der Friseurin. Warum eigentlich brauchte sie Argumente? Sie war nicht gekommen, um ihre Eltern zu überreden, sie war hier, um sich zu überzeugen, dass sie längst zur Einsicht gekommen waren. Sie wollte sich versichern lassen, dass sie noch immer geliebt wurde! Weil sie das Kind ihrer Eltern war, das ein Recht auf diese Liebe hatte, gleichgültig, was es getan hatte! Und weil sie Insas Schwester war! Wenn diese drei Ludwig Burger ablehnten, weil er sie zwar liebte, aber nicht heiraten würde ... dann wusste sie nicht, was sie tun würde.
Die Friseurin hatte ihr die Haare so straff wie möglich nach hinten gekämmt und mit einem Lack dafür gesorgt, dass sie im Bühnenlicht sanft schimmern würden. Mit einem schlichten Knoten waren sie befestigt worden, über den die Friseurin ein goldenes Netz legte, das mit grünen Federn besetzt war. Ihre Garderobiere war schon vor einer Woche nach Sylt gekommen und würde am nächsten Tag nach Wien zurückkehren. Ludwig hatte Aletta von diesem Plan abbringen wollen, weil sie den Syltern damit vor Augen führte, dass aus ihr ein Luxusgeschöpf geworden war, aber in diesem Fall war sie unerbittlich geblieben. Bei ihrem Makeup wollte sie kein Risiko eingehen. So hatte Ludwig dafür gesorgt, dass niemand erfuhr, wer die Dame aus Wien war, die im Grand-Hotel logierte, und Aletta hatte er verpflichtet, niemandem zu verraten, dass Ella Hofer die Reise nur unternommen hatte, um Aletta Lornsen zu schminken, vorher sämtliche notwendigen Utensilien einzukaufen und sich auf ihre wichtige Aufgabe vorzubereiten.
Niemand verstand die Kunst des Bühnen-Make-ups so wie Ella. Als Aletta in den Spiegel sah, war ihr Teint hauchzart überpudert, mit Rouge war ihm eine gesunde Farbe gegeben worden, ihre Augen waren so geschminkt, dass sie größer und sehr geheimnisvoll wirkten, und ihr Mund war eine einzige leuchtende Verlockung.
»Danke, Ella! Das hätte keiner so hinbekommen wie du!«
Als Aletta hinter die Bühne trat, war aus dem Stimmengewirr im Saal regelrechter Lärm geworden. Laute Rufe ertönten, wenn einer einem anderen über mehrere Köpfe etwas mitteilen wollte, Gelächter erklang, die Stimmung schien ausgelassen zu sein. Aletta wusste nicht genau, ob ihr das gefiel. Sie hätte einer gespannten Erwartung den Vorzug gegeben. Vielleicht, weil sie sich vorstellte, wie ihre Eltern und Insa sich in dieser lauten Vorfreude fühlen mochten. Sie selbst befanden sich vermutlich genau wie Aletta in einem fiebrigen Vorgefühl und litten womöglich unter der Leichtigkeit des übrigen Publikums.
Die Mitglieder des Kurorchesters kamen den Gang entlang, um sich hinter der Bühne aufzustellen. Sie würden als Erste ihren Auftritt haben, aber Ludwig drängte sich prompt hinter Aletta und verhinderte so eine Annäherung, von der er wusste, dass sie sie nicht wünschte. Sie brauchte das Alleinsein kurz vor dem Auftritt, an diesem Tag ganz besonders. Allein sein konnte sie auch, wenn viele Menschen um sie herum waren, vorausgesetzt, sie wurde nicht angesprochen oder über Gebühr beachtet. Auch Ludwig redete in der letzten halben Stunde vor einem Auftritt nur das Nötigste mit ihr, war nur da, immer in ihrer unmittelbaren Nähe, um sie abzuschirmen und zu schützen.
Dann sah Aletta an sich herab. Mit voller Absicht hatte sie ein dunkelgrünes Seidenkleid gewählt, von gleicher Farbe wie das Kleid, das Vera damals trug, als sie Aletta zu sich gerufen hatte, um sie mitzunehmen in ein anderes Leben. Vera sollte auf diese Weise bei ihr sein, sollte ihren Triumph miterleben, diesen Sieg über ihre Vergangenheit.
Aletta machte einen Schritt auf den Vorhang zu, zögerte, als Ludwig »Tu's nicht, Aletta!« flüsterte, und zerteilte ihn dann doch. Ganz vorsichtig, nur einen winzigen Spalt breit, so winzig, dass er nicht einmal von der ersten Zuschauerreihe zu erkennen sein würde. Mit dem linken Auge spähte sie in den Zuschauerraum, der noch hell erleuchtet war, wanderte von Reihe zu Reihe, von Gesicht zu Gesicht. Da, Pfarrer Frerich! Er saß in einer der ersten Reihen, die Hände über dem Bauch gefaltet, und strahlte höchste Zufriedenheit aus. In der Mitte entdeckte sie Jorit. Ganz still saß er da, beteiligte sich nicht an den Gesprächen, die rechts und links neben ihm geführt wurden. Anscheinend war er allein gekommen. Bewegungslos starrte er den Vorhang an, und Aletta schloss ihn erschrocken. Ihr war, als hätte er ihr linkes Auge entdeckt.
Ludwig strich ihr sanft über den Rücken. »Hast du sie gesehen? «
Aletta schüttelte den Kopf. Dann schloss sie die Augen, wie sie es immer tat, wenn der Auftritt kurz bevorstand, summte leise, machte Kaubewegungen und entspannte ihre Stimme durch Lippenflattern und erzwungenes Gähnen.
Nun wurde es im Zuschauerraum dunkel. Der Vorhang war so dicht, dass das Löschen der Lichter nicht zu sehen war, sondern nur akustisch wahrgenommen wurde, weil die Stimmen leiser wurden und es schließlich still im Saal geworden war. Schritte ertönten, Kurdirektor Wülfke betrat durch einen der beiden Treppenaufgänge an den Seiten die Bühne. Freundlicher Applaus begrüßte ihn, und Aletta hoffte, dass er sein Versprechen halten und ihren Auftritt mit nur wenigen Worten ankündigen werde.
Tatsächlich nahm er sich nur ein paar Minuten, um darauf hinzuweisen, dass ihnen allen ein außergewöhnlicher Abend bevorstand mit einer außergewöhnlichen Sängerin, die einmal unter ihnen gelebt hatte. Er betonte, wie lange es sein Wunsch gewesen sei, dass Aletta Lornsen ein Konzert auf Sylt gebe, und wie glücklich er sich schätze, dass sie seiner Einladung nun endlich gefolgt sei.
Er schöpfte tief Luft, diesen Augenblick nutzte das Publikum, um zu applaudieren und damit seine Worte zu bestätigen. Aletta befürchtete schon, dieser Zuspruch könnte Herrn Wülfke dazu ermutigen, seine Rede zu verlängern, aber er hielt tatsächlich Wort. Kurz und bündig stellte er das Westerländer Kurorchester und seinen Dirigenten vor, um dann, während die Musiker die Bühne betraten, wieder Teil des Publikums zu werden.
Aletta dachte nicht daran, wie es klang, wenn ein großes Orchester unter einem berühmten Dirigenten spielte, wie mächtig dann das Klangvolumen war, wie exorbitant der Wohlklang und wie sie die Flut dieser Musik dann nutzte, um sich auf die Bühne spülen zu lassen und in ihr unterzugehen. Diesmal tröpfelte die Musik nur, sie würde in keine Flut eintauchen, sondern sich in einen Regen stellen. Aber das spielte keine Rolle. Sie war in ihrer Heimat, dort unten saßen Menschen, die ihr etwas bedeuteten, denen sie etwas bedeutete und denen sie nun zeigen wollte, dass alles, was sie getan hatte, richtig gewesen war.
Der Jubel, mit dem sie begrüßt wurde, bestätigte sie schon, noch ehe sie einen Ton gesungen hatte. Und dann schaffte es auch die tröpfelnde Kurorchester-Musik, sie mitzureißen. Oder war es umgekehrt? Riss ihr Gesang die Musiker mit? Es spielte keine Rolle. Aletta Lornsen sang und sang, sie sang um ihr Leben. Und Applaus für Applaus wurde der Jubel größer. Die Zuhörer sprangen von ihren Sitzen und applaudierten im Stehen, ließen Bravo-Rufe hören und trampelten mit den Füßen, um den eigenen Applaus noch zu überbieten. Das Glück, das Aletta anfüllte, war von besonderer Art. Es war nicht das Glück, das im Gelingen, im Erfolg, im Triumph entstand, es war ein Glück, das so alt war wie ihr Leben und so unfassbar und wundervoll wie sein Ursprung. Allumfassend! Und so kostbar wie sonst nichts auf der Welt!
Dann sorgte sie für eine kleine Stille, wie immer vor ihrem letzten Lied. Im Zuschauerraum hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so gespannt war mit einem Mal die Erwartung. Mancher mochte auf eine ihrer größten Opernarien hoffen, andere auf etwas Modernes, vielleicht auf Jacques Offenbach, der zurzeit Furore machte ...
Aber Aletta Lornsen sang zum Abschluss »Guten Abend, gut' Nacht, mit Rosen bedacht ...«, das Lied, das ihr Vater immer dann angestimmt hatte, wenn ein schöner Tag zu Ende gegangen, wenn ein Fest verklungen war, wenn es Grund zur Dankbarkeit gegeben hatte. »Schau im Traum 's Paradies ...«
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2013
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Bibliographische Angaben
- Autor: Gisa Pauly
- 432 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863658825
- ISBN-13: 9783863658823
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